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PROLOG

Der flackernde Fackelschein, kaum mehr als ein wenig Glut an Bündeln aus verfaulendem Holz, gab nicht länger vor, die Dunkelheit zurückzudrängen. Das schwache Licht überzeugte den Beobachter nur davon, dass zahlreiche Schrecken in der unterirdischen Nacht lauerten.

Ein Irrtum war das keineswegs, denn es lauerten tatsächlich zahlreiche Schrecken in der Finsternis. Doch hier, tief im Fels unter der Eisernen Burg, war das Schreckliche gewöhnlich und das Entsetzliche normal.

Die Steinplatten glänzten matt im Glühen der Fackeln, was sie einer Schicht aus lumineszierendem Schleim verdankten, die sich in vielen Jahren gebildet hatte – selbst den mächtigsten Magiern des Burgherrn war es nicht gelungen, diese grässliche Substanz zu entfernen. Das langsame, gleichmäßige Pochen näher kommender Schritte ging einher mit ekelerregenden schmatzenden Geräuschen, verursacht vom Schleim unter schweren Stiefeln.

Den Männern und Monstren unter seinem Befehl war er nur als Falchion bekannt. Eisblaue leere Augen blickten durch die schmalen Schlitze eines Topfhelms aus schmutzigem Stahl. Der Helm neigte sich zur Seite – vielleicht aus Abscheu? –, als sein Träger eine große braune Ratte sah, völlig verdreckt von Schleim und anderen, noch grässlicheren Substanzen, die an den Mauersteinen neben Falchion klebten. Ein Panzerhandschuh kam nach vorn, und das Kratzen von Eisen über Stein übertönte fast das kurze Quieken. Die tote Ratte fiel zu Boden, von dem Mann, der ihr das Leben genommen hatte, bereits vergessen, als er den Weg ruhig zum nächsten Raum fortsetzte.

»Wie nachlässig, Falchion. Plump und nachlässig.« Die nasale, wehleidige Stimme schien nicht viel mehr als Arroganz und Verachtung zum Ausdruck bringen zu können. »Bist du wirklich so dämlich, dass du noch immer nicht begriffen hast, wie empfindlich so ein Zauber sein kann? Es wäre durchaus möglich, dass der Tod dieser Ratte sein empfindliches Gleichgewicht gestört hat und …«

»Leck mich, Havarren.« Falchion stand locker in der einen Ecke und verschränkte die Arme, wobei es leise rasselte. Der Blick seiner kalten blauen Augen glitt nach unten übers rostige Kettenhemd, das ihn von den Schultern bis zu den Hüften bedeckte. Eine Braue bewegte sich und kam ein wenig nach oben, als bemerkte er erst jetzt, dass er ein solches Hemd trug.

»Lecken soll ich dich? Nein, lieber nicht.« Der zweite Mann beugte sich vor, wodurch sein Gesicht ins schwache Fackellicht geriet.

Falchion knurrte hinter seinem Visier, ein tief in ihm verankerter Reflex, ausgelöst allein von Havarrens Präsenz. Er selbst war kräftig gebaut, bepackt mit Muskeln, aber Havarren war so schmächtig, dass er schon ausgezehrt wirkte. Dichtes blondes Haar reichte bis unter die vorstehenden Schulterblätter. Ein eitles, ja geckenhaftes Gebaren haftete diesem Havarren an: Er trug helle Rüschen und kniehohe Reiterstiefel, aus dem Leder eines Geschöpfes mit mehr Intelligenz und weniger Beinen als eine gewöhnliche Kuh gegerbt, außerdem eine perfekt sitzende Jacke und eine Hose, die zu Falchions ewigem Verdruss so eng saß, dass sie betonte, anstatt zu verbergen, was sich darunter befand. Und im Gegensatz zum General, an dessen Seite die schwere Klinge baumelte, der er seinen Namen verdankte, bestand Havarrens Bewaffnung nur aus einem kleinen Dolch, mit dem sich höchstens etwas gegen einen nervösen Räuber ausrichten ließ.

Andererseits … Vigo Havarren konnte sich auf eine Weise schützen, die nichts mit scharfem Stahl zu tun hatte.

Ätzende Worte lagen auf Falchions Zunge, doch er presste die Lippen zusammen, als sich eine dritte Gestalt näherte und in die Mitte des Raums trat. Sie beobachtete beide Männer; ein unheilvolles gelbes Glühen ging von den beiden stecknadelkopfgroßen Punkten aus, die sich dort befanden, wo bei normalen Menschen die Augen saßen.

»General Falchion, Lord Havarren.« Die Stimme verriet nur einen sehr schwachen Akzent, und Falchion wusste nicht, ob Absicht dahintersteckte oder ob es das Ergebnis verwester Stimmbänder war. »Meine Herren, der Tod einer Ratte dürfte sich kaum auf einen meiner Zauber auswirken. Der Tod von zwei intelligenten Wesen hingegen könnte ihn verstärken. Soll ich es herausfinden? Oder kann ich auf Euer Schweigen zählen?«

Havarren erbleichte. »Schweigen ist kein Problem.«

Falchion nickte nur.

»Gut.« Der Herr der Eisernen Burg ging – oder schwebte, hätte man meinen können – zur großen steinernen Plattform an der Nordwand des Raums. Der pelzbesetzte Saum seines Mantels, der ein wundervolles Mitternachtsblau gezeigt hatte, als er neu gewesen war, vor etwa vierhundert Jahren, strich wie flüsternd über die Steinplatten. Aus irgendeinem Grund konnte ihm der Schleim nichts anhaben.

Ein großer eiserner Kessel stand vor einem granitenen Altar, und darin blubberte eine grässliche Flüssigkeit, erhitzt ohne die Hilfe sichtbarer Flammen. Jungfrauenblut, Drachentränen, Spinnenatem, Geisteressenz, das Herz eines Neugeborenen und andere so seltene Reagenzien, dass Jahrhunderte der Suche notwendig gewesen waren, um sie zu beschaffen – das alles zischte und spritzte in dem großen Kessel, gelegentlich aufgewirbelt von den lebenden Tieren, die der hochgewachsene Zauberer hineinwarf.

»Havarren?« Der Burgherr sah von dem Tisch auf, der eine weitere Mischung seltener und seltsamer Objekte präsentierte, darunter magische Werkzeuge und uralte Amulette. »Die Zeit?«

Der schmächtige Zauberer runzelte kurz die Stirn, als er sich konzentrierte. »Es ist fast so weit, Herr. Ihr könnt … jetzt beginnen.«

Das erste der überaus kostbaren arkanen Objekte wurde in den Kessel geworfen. Sofort erglühte das ekelhafte Gebräu darin und füllte den unterirdischen Raum mit dem Licht der Mittagssonne. Falchion zuckte zusammen, nicht wegen der plötzlichen Helligkeit, sondern weil ihm das jähe Licht seinen Herrn in aller Deutlichkeit zeigte; Morthûl, der Leichenkönig von Kirol Syrreth.

Gewänder, einst von königlicher Qualität, jetzt zerrissen und hoffnungslos zerfleddert, umhüllten einen Körper, wie sich ihn ein normaler Mensch kaum vorstellen konnte. Bei jeder Bewegung des Dunklen Lords knirschte mumifizierte Haut wie altes Leder. Die linke Hälfte des Gesichts war von dieser Haut bedeckt und zu einem ewigen Grinsen erstarrt; die rechte zeigte nur nackte Knochen. Das schauderhafte gelbe Glühen kam vor allem aus den Augen, zeigte sich aber auch in der Nasenöffnung und zwischen König Morthûls Zähnen. Würmer und Maden, Käfer, Kakerlaken und noch weitaus abscheulichere Kreaturen krabbelten auf der Kleidung des Leichenkönigs, und auch auf seinem seit langer Zeit toten Fleisch. Sie krochen zwischen frei liegenden Knochen und Rippen, fielen gelegentlich wie in einer Parodie von Tränen aus den Augenhöhlen. Rabenschwarze Locken, die unter einer fleckigen Silberkrone hervorragten, vervollständigten das Bild.

Falchion, General der Streitkräfte des Leichenkönigs, schauderte in diesem seltenen Moment der Selbstbesinnung, als der Plan, den der Leichenkönig seit Jahrhunderten verfolgte, hier und jetzt seine kritische Phase erreichte. Dies war der Mann – das Etwas –, dem er bei seinem Leben Treue geschworen hatte. Der Anblick genügte, selbst den widerstandsfähigsten Magen umzudrehen und auch die verdorbenste Seele zu veranlassen, sich vor Angst und Ekel wimmernd in eine dunkle Ecke zu ducken.

Aber Falchion war in erster Linie ein praktisch denkender Mann. Und wenn sich jemand anschickte, über die ganze bekannte Welt zu herrschen, so wollte er auf dessen Seite stehen, wie abscheulich und alt dieser Jemand auch sein mochte.

Morthûl versteifte sich plötzlich, als hätte ihn die Leichenstarre nach all den Jahren eingeholt. Dann erklang die Stimme des Dunklen Lords, in einer Mischung aus klangvollem Gesang und kehligem Heulen; er hob die Arme und ballte die Fäuste, die eine knöchern, die andere in ledrige Haut gehüllt. Sonderbare Energien knisterten rings um ihn, und eine blende Woge aus Licht, grün wie Galle, floss vom Kessel in den Leichenkönig und dann nach oben, verschwand durch die kalte Decke des Raums. Falchion stellte sich vor, wie das unheimliche Leuchten die Oberfläche erreichte und glühende Tentakel über den Kontinent schickte, auf der Suche nach bestimmten Zielen.

Havarren neigte den Kopf, und Falchion wusste, dass er ein eigenes Signal sendete und damit einen Teil des Rituals erfüllte, um den sich Morthûl nicht selbst kümmern konnte. Sofort reagierten Beauftragte von Kirol Syrreth, die im Osten und Süden der Verbündeten Königreiche gewartet hatten, und strömten auf die Straßen, um Gewalt zu säen. In einem Dutzend Städte überall im Land lauerten Menschen und Angehörige der Horden-Völker allen auf, die zu so später Stunde noch unterwegs waren. Innerhalb weniger Minuten gingen tausend Leben vorzeitig zu Ende: Junge und Alte, Reiche und Arme, Gute und Böse, sie alle starben einen plötzlichen Tod. Und jedes Leben, das in tiefer Nacht ausgelöscht wurde, stärkte den Zauber des Leichenkönigs und gab ihm mehr Kraft.

Über hundert Jahre lang hatte Morthûl Nachforschungen angestellt und Bücher gelesen, die noch vor seiner Geburt geschrieben worden waren, mit dem Ziel, die Magie zu lernen und zu beherrschen, die er nun anwandte. Noch einmal einige Jahrhunderte hatte er nach den notwendigen Objekten gesucht. Gesandte des Dunklen Lords hatten die ganze Welt durchkämmt, von Pol zu Pol, auf der Suche nach so seltenen Gegenständen, dass nicht einmal die größten Zauberer jener Zeit an ihre Existenz glaubten. Und schließlich, an diesem Abend, kam alles zusammen, in einigen wenigen Momenten – das größte Zauberwerk, das die Welt seit Generationen gesehen hatte.

Überall auf dem Kontinent erfuhren Könige und Königinnen, Kaiser, Fürsten und Päpste – alle, die herrschten oder eines Tages herrschen würden – solche Qualen, dass selbst die Götter voller Mitgefühl Grimassen geschnitten hätten. Der Zauber des Leichenkönigs strich über sie hinweg, benutzte ihre Körper als Tore, glitt durch den Strom der Zeit und bewirkte subtile Veränderungen, nicht bei den derzeitigen Königlichen, sondern bei ihren Vorfahren.

Morthûl sang noch immer, und seine Finger bewegten sich wie beim Zerreißen eines kostbaren Gewebes, als er damit begann, den Ereignissen längst vergangener Leben eine neue Form zu geben. Über Generationen hinweg säte er in den aufeinanderfolgenden Herrschern wachsende Loyalität, die dem Herrn von Kirol Syrreth galt. Es dauerte eine Weile: Die Manipulation jeder einzelnen Generation erforderte endlos scheinende Minuten. Doch wenn das Ritual schließlich zu Ende ging, kurz vor Morgengrauen, würde er die ganze Welt erobert haben, ohne dass eine einzige Seele protestierte, ohne dass sich ein einziges Schwert gegen ihn hob. Wenn er sich bis zu den aktuellen Herrschern vorgearbeitet hatte, würde ihre Treue, ihre Verehrung ihm gegenüber, absolut und unerschütterlich sein, das Ergebnis einer Loyalität, die über tausend Jahre in die Vergangenheit reichte.

Die letzte Seele der Getöteten löste sich in der vom Kessel ausgehenden Kraft auf. Das letzte alte Objekt versank in seinen Tiefen, schmolz in der brodelnden Flüssigkeit, die über den Rand zu kochen und auf den Boden zu spritzen drohte. Der kritische Moment war erreicht. Noch einige Sekunden, und der angerichtete Schaden war so groß, dass er nicht mehr repariert werden konnte; dann gab es kein Zurück mehr.

Falchion, Havarren und sogar der Leichenkönig zuckten zusammen, als es plötzlich krachte – eine eiserne Tür schmetterte gegen das Felsgestein einer Wand. Dem Krachen folgte das Geräusch von eiligen Schritten im Korridor. In die nicht erstarrte Hälfte von Morthûls Gesicht kam Bewegung.

Furcht. Zum ersten Mal sah Falchion Furcht im Gesicht des Dunklen Lords.

»Haltet sie auf!« Diese drei gezischten Worte waren eine große Anstrengung für Körper und Geist, denn Morthûl kanalisierte mehr pure Magie als jeder andere Zauberer vor ihm.

Ein metallisches Kratzen erreichte den Raum, und mit der Klinge in der Hand trat Falchion in den Korridor. Er nickte kurz, als Havarren neben ihm erschien; ihre Feindseligkeit war vorübergehend vergessen.

Doch die Entschlossenheit, die Falchion im Gesicht des Zauberers sah, verschwand schnell beim Anblick der näher kommenden Gestalten.

»Du! Du bist tot!« Havarrens Stimme klang nicht mehr arrogant, sondern verblüfft und entsetzt. »Wie …«

Die majestätische Gestalt lächelte, als sie Havarrens Fassungslosigkeit bemerkte. »Mein lieber Vigo, du hast doch nicht gedacht, dass ein kleiner Drache genügt, um mich in Verlegenheit zu bringen, wie?«

Sein Name lautete Ananias duMark: einer der größten Zauberer seiner Generation, geliebter Held der Verbündeten Königreiche und immerwährender Dorn in Morthûls Auge. Außerdem war er, wie Havarren wusste, ein Halbelf, obwohl Statur und Aussehen das Elfenblut in seinen Adern nicht verrieten. Er hatte ein markantes Kinn und erdbraunes Haar, trug ein schlichtes mahagonifarbenes Gewand und einen Stab aus eben solchem Holz, darin tausend kunstvoll geschnitzte Runen.

Einen Fluch auf den Lippen hob der schmächtige Diener des Dunklen Lords die Hände, und seine Finger begannen mit einem komplexen Tanz; sie flochten ein Gewebe aus Magie, das diesen Idioten endlich ins Jenseits schicken sollte.

Doch seine Finger bekamen keine Gelegenheit, ihren Tanz zu vervollständigen. Ein schrilles Kreischen, das ohrenbetäubend laut von den steinernen Wänden widerhallte, kam aus dem Korridor, und der erste Verbündete des Halbelfen sprang auf ihn zu, prallte gegen Havarrens Brust und riss ihn mit sich auf den schleimigen Boden.

Feuerrotes Haar fiel auf Havarrens Gesicht, und tierischer Moschusgeruch stieg ihm in die Nase. Das musste Lidia Lirimas sein, Späherin und Tierbändigerin. Er sammelte seine Kraft, stieß sie von sich und dachte dabei voller Spott an seinen Halbelf-Feind. Ließ er sich denn nie etwas Neues einfallen? Er ging immer auf die gleiche Weise vor: Alle paar Jahre streifte duMark umher und stellte eine neue Gruppe von »Helden« zusammen, die er aus den Besten ihrer Generation auswählte. Die Sache war zu einem derartigen Klischee geworden, dass Havarren am liebsten laut gelacht hätte.

Das Lachen blieb ihm im Halse stecken, als sein Versuch, wieder auf die Beine zu kommen, vereitelt wurde. Lirimas stieß einen zweiten Schrei aus, drehte sich auf dem linken Fußballen und stieß ihm die rechte Hacke ins Gesicht. Knochen gaben mit einem hässlichen Knirschen nach, und der Zauberer ging erneut zu Boden.

Triumph leuchtete in den hellblauen Augen der jungen Kriegerin, und sie hob ihr schleimbedecktes Schwert, um Havarren den Kopf abzuschlagen.

Es erwies sich jedoch als Fehler, dass sie so sehr auf Havarren konzentriert war …

Falchion parierte die Hiebe eines weiteren Gefährten von duMark – eines kräftig gebauten, dunkelhäutigen Mannes mit zotteligem Kinnbart und einem Kopf so haarlos wie ein Ei – und brachte sich dabei zwischen die Frau und den am Boden liegenden Havarren. Die Versuchung war groß gewesen, stattdessen ein wenig zurückzuweichen, sich ganz dem eigenen Gegner zu widmen und das Schwert den Hals durchtrennen zu lassen. Aber er wusste, dass der Dunkle Lord Havarrens Rat schätzte und es ihn gestört hätte, wenn der arrogante Mistkerl ums Leben gekommen wäre.

Da seine Klinge derzeit beschäftigt war, holte er mit der anderen Hand aus und rammte ihren Panzerhandschuh ins Gesicht der jungen Späherin. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor, und Lidias Nase verschwand in einer breiigen Masse aus Knorpeln und zerrissenem Fleisch. Die Kriegerin sackte in sich zusammen – tot war sie nicht, nein, aber zweifellos außer Gefecht gesetzt.

Der Zauberer zog sich hoch und nickte Falchion einen widerwilligen Dank zu. Diese kleine Bewegung genügte, um neuen Schmerz durch seinen gebrochenen Kiefer zu schicken. Mit einem kehligen Knurren hob er die Hand und wischte sich Blut aus dem Mundwinkel. Und wenn jemand in dem Raum bemerkte, dass das Blut nicht das übliche Rot zeigte und schneller gerann als gewöhnliches Blut, so hielt er es für eine optische Täuschung, hervorgerufen vom tanzenden Licht.

Fast wäre es Havarren lieber gewesen, gestorben zu sein, als sein Leben jenem Narren zu verdanken! Auf keinen Fall durfte er es dabei belassen; er musste die Schuld so schnell wie möglich zurückzahlen.

Hm. Der Kahlköpfige, der eine lederne Hose und kaum mehr trug, brachte den General ziemlich in Bedrängnis. Seine geradezu unverschämt große Axt hatte es noch nicht durch Falchions Verteidigung geschafft, aber im Kettenhemd des Generals zeigten sich einige dünne Linien, und der dunkelhäutige Angreifer schien unermüdlich zu sein. Mit einer wie beiläufig wirkenden Geste beschwor Havarren mehrere schimmernde Kugeln, die von seinen Fingerkuppen sprangen und in einem Feuer leuchteten, das direkt aus der Hölle stammte. Es zischte, es roch nach verkohltem Fleisch, und der Kahlköpfige brach schreiend und mit verbranntem Rücken zusammen.

Falchion nahm sich nicht einmal die Zeit, das vorherige kurze Nicken des Zauberers zu erwidern. Nach einem kurzen Blick zur Seite hob er die Klinge, um den nächsten Angreifer abzuwehren.

Arroganter Sack, dachte Havarren. Ich hätte ihn sterben lassen sollen.

Plötzliche Anspannung erfasste den schmächtigen Mann. Ein weiterer Zauber lag auf seiner Zungenspitze, und an den Händen glühte das Licht dämonischer Magie. Er wirbelte herum und suchte nach dem Gesicht des Mannes, mit dem alles begonnen hatte.

Zu spät. Der Halbelf hatte die Nordwand erreicht – irgendwie war es ihm gelungen, den verschiedenen Kämpfern auszuweichen. Und nun stand er direkt vor dem Dunklen Lord, nur eine Armeslänge von ihm entfernt.

Der Leichenkönig von Kirol Syrreth blieb auf seine eigene Magie konzentriert, war sich aber auch der Geschehnisse um ihn herum bewusst. Langsam drehte er den Kopf und sah Ananias duMark an. Innerhalb der größeren Aura des uralten Zaubers hinterließ sein unheilvolles Glühen einen leuchtenden Streifen, als er sich bewegte, wie der Schweif eines Kometen. Oder wie ein Aal, der sich durchs schmutzige Wasser eines Tümpels schlängelte.

»Du ödest mich an, Ananias.« Morthûls Stimme, verzerrt vom Wirbeln der magischen Energie, die ihn umgab, schien aus den tiefsten Ecken des Raums zu kommen, als wäre die wandelnde Leiche zum Sprachrohr von etwas Größerem und Dunklerem geworden, das sich jetzt nicht länger auf diesen Körper beschränken musste. »Der Zauber, den du hier Gestalt annehmen siehst, ist weitaus älter, als wir beide uns vorstellen können. Nicht einmal mit all deiner Macht könntest du hoffen, ihn zu stören. Und auch wenn es dir gelungen sein mag, den anderen etwas vorzumachen: Ich weiß sehr wohl, dass dir nicht deine ganze Macht zur Verfügung steht. Havarrens Drache hat dir mehr geschadet, als du zugibst, nicht wahr? Flieh, Ananias duMark. Flieh jetzt sofort, dann entkommst du mir vielleicht, bevor diese Nacht um ist.«

Das war natürlich ein Bluff, und ein ziemlich unverblümter noch dazu. Eigentlich hatte Morthûl keinen blassen Schimmer, was duMark – oder irgendein anderer Magier – gegen diesen alten Zauber unternehmen konnte. Vielleicht war doch jemand imstande, ihn zu beeinflussen, gar seine Vollendung zu verhindern. Das besorgte ihn, aber nicht so sehr wie der Umstand, dass es seine ganze Kraft erforderte, die beschworenen Magie unter Kontrolle zu halten. Wenn der verdammte Halbelf ihn dabei störte, so konnte er nichts tun, um ihn daran zu hindern.

Aber als der Angreifer die Hände hob, sah der Leichenkönig, wie zwischen Havarrens Fingern kobaltblaue Energie tanzte, die duMark erledigen würde. Das fratzenhafte Grinsen des Dunklen Lords wuchs in die Breite, und er fühlte, wie die magischen Kräfte um ihn herum wogten, als freuten auch sie sich auf das, was nun bevorstand.

Doch Morthûls Triumph über den bereits sicher geglaubten Sieg blieb von kurzer Dauer. Als er das Lächeln des Halbelfen sah, schwand sein Grinsen.

Ananias duMark setzte seinen eigenen Zauber ein. Es war keine großartige, welterschütternde Magie, kein mysteriöses Ritual, das auf die Anfänge der Zeit zurückging. Dünne Streifen purer arkaner Energie, wie Armbrustbolzen aus Licht und Willenskraft, sprangen von seiner Handfläche. Es war einer der einfachsten Zauber überhaupt, der Trick eines Anfängers, wie ihn selbst Zauberlehrlinge beherrschten. So simpel und schwach, dass er gegen die verschiedenen Zauber und Beschwörungen, die den Körper des Leichenkönigs schützten, überhaupt nichts ausrichten konnte.

Aber er zielte auch gar nicht auf ihn. Die beiden »Bolzen« flogen nach oben, über die Köpfe der Kämpfenden hinweg, und trafen die Decke. Der Leichenkönig stieß einen Schrei ohnmächtigen Zorns aus, der sich im Donnern berstenden Felsgesteins verlor.

Schwere Steinplatten krachten auf den Boden und zermalmten alles unter sich. Staub wirbelte auf, bildete dichte Wolken, und plötzlich brach in dem unterirdischen Raum ein Sturm los. Donnergrollen schüttelte die Fundamente der Eisernen Burg, und Echos vermischten sich mit Echos, bis sie alles ausfüllten und ebenso feste Substanz zu gewinnen schienen wie das herabstürzende Felsgestein. Der marmorne Altar wurde zu Staub zermahlen, und die darin enthaltene Magie verschwand, als hätte sie nie existiert. Einige scharfkantige Steine waren bereits in den Kessel gefallen, und jetzt löste sich ein besonders großer Brocken aus der Decke und knallte auf den Kessel herab, begrub ihn fast ganz unter sich. Der Teil von ihm, der noch darunter hervorragte, war so verbogen, dass er nie wieder Flüssigkeit aufnehmen konnte, von welcher Art auch immer. Das ekelhafte Glühen, das zuvor in der Luft gelegen hatte, verblasste wie die Licht eines seltsamen exotischen Sonnenuntergangs.

Die Felslawine schien kein Ende nehmen zu wollen. Inzwischen konnte es über den Köpfen der Kämpfer doch gar kein Gestein mehr geben! Eigentlich hätte das Loch inzwischen bis zur Oberfläche reichen müssen, aber das Donnern und Krachen dauerte an. Doch dann ließ die Lawine allmählich nach. Die herabfallenden Steine wurden kleiner und weniger, und die dichten Staubwolken lichteten sich nach und nach, was die Sicht allerdings kaum verbesserte, da alle Fackeln erloschen waren.

Und dann waren die letzten Brocken der Decke herabgefallen, und der letzte aufgewirbelte Staub hatte sich gesetzt. Stille herrschte, bis auf das gelegentliche Tropfen von Wasser.

Nach einer Weile regte sich etwas.

Wie ein Hund, der die Nässe eines leichten Sommerregens abschüttelte, kam Ananias duMark auf die Beine. Staub und Schutt rieselten von ihm herab, besser gesagt: von der schwach glühenden Aura, die ihn umgab und verhindert hatte, dass er für immer unter all den Trümmern begraben blieb. Wie beiläufig klopfte er sich den Schmutz von der Kleidung und blickte sich um. Selbst ein so mächtiges Geschöpf wie Morthûl konnte dies nicht überlebt haben, nicht ohne die Art von Schutzzauber, der duMark sein Überleben verdankte. Der Halbelf war sicher, dass die gottartige Macht des Königs ganz auf den alten Zauber konzentriert gewesen war. Nein, mit großer Wahrscheinlichkeit lag der Schrecken von hundert Generationen zerschmettert und zerquetscht unter dem tonnenschweren Gestein.

Andererseits … Dies war der Leichenkönig von Kirol Syrreth und Herr der Eisernen Burg, und bei ihm bedeutete »Wahrscheinlichkeit« herzlich wenig. DuMark hatte Licht beschwören wollen, überlegte es sich aber anders und gestattete es der Dunkelheit, ihn ganz einzuhüllen. Dann hielt er nach verräterischem gelben Glühen Ausschau.

»Ananias … Hilfe …«

Der Halbelf fluchte leise. Das hatte er völlig vergessen …

Mit einer Kraft, geboren aus Verzweiflung und arkanen Künsten, warf duMark einen großen Stein nach dem anderen zur Seite und arbeitete sich bis zum Ursprung der leisen Stimme vor. Ohne seine Gefährten wäre er nie so weit gekommen und hätte nicht all die Konfrontationen mit König Morthûl überlebt, aber manchmal konnten sie so lästig sein.

Da! Weitere Steine, mit Blut an ihren Kanten. Der Zauberer räumte noch mehr Schutt beiseite, bis er schließlich dunkle Haut sah.

»Kuren?«, flüsterte er. »Ist alles in Ordnung mit dir, Kuren?«

»Er kann dich nicht hören.« Dieselbe flüsternde Stimme. Und jetzt bemerkte duMark eine zweite Gestalt neben dem reglosen Krieger.

»Lidia?«

»Ja.« Die Stimme war schwach, ebenso ihr Atem, aber Lidia lebte, den Göttern sei Dank! »Er … er kroch auf mich, als die Decke einstürzte. Ich … ich glaube, er lebt noch. Ich meine, ich fühle seinen Herzschlag. Aber er blutet stark, Ananias. Sein Mund ist voller Blut und …«

Der Halbelf hörte gar nicht richtig zu. An seinen Händen glühte die ihm noch verbliebene Magie, und er schob die letzten Steinbrocken beiseite, die ihn noch von seinen Gefährten trennten. Für einen Augenblick fing etwas anderes seine Aufmerksamkeit ein, und ruckartig drehte er den Kopf zur Seite.

Aber es war nur eine Hand, die zwischen zwei großen Steinplatten hervorragte. Eine Hand mit langen, dünnen Fingern.

Trotz des Zustands seiner Freunde lächelte der Zauberer. Ob Morthûl tot war oder nicht, wenigstens ein Feind würde duMark nie wieder Ärger machen. Zufrieden darüber wandte er sich wieder seinen Gefährten zu. »Er ist schwer verletzt, Lidia. Gesplitterte Knochen, innere Blutungen. Selbst so weit von der Haupteinsturzstelle entfernt hat es ihn schlimm erwischt. Es ist ein Wunder, dass er bislang überlebt hat. Ein anderer Mensch wäre längst tot.«

Ein anderer, aber nicht Kuren Bekay. Selbst als Kind war er für seine Größe verblüffend stark und widerstandsfähig gewesen – eine Eigenschaft, die duMark vor einigen Jahren mit speziellen Zaubern verstärkt hatte. Der Mann konnte Bäume mit ihren Wurzeln ausreißen, und mehr als eine Steinlawine war nötig, um ihm den Garaus zu machen.

Hoffentlich.

»Holen wir ihn da raus«, sagte duMark und packte den muskulösen Krieger wie einen Haufen schmutziger Wäsche. Ein kurzer Blick zu Lidia, die gerade selbst auf die Beine kam, machte deutlicher als viele Worte, dass Kuren nicht der Einzige war, der Hilfe brauchte.

DuMark blickte der Frau in die Augen und versuchte, dem blutigen Durcheinander in ihrem Gesicht keine Beachtung zu schenken. »Kannst du gehen?«

»Von hier weggehen kann ich ganz bestimmt«, erwiderte Lidia mit einem schrecklichen Gurgeln in der Stimme.

»Gut.« Der Zauberer trat über die Steine hinweg. »Erris und Pater Thomas sind noch oben und halten die Wachen von uns fern. Vielleicht kann Thomas dir eine Tinktur geben oder etwas gegen die Schmerzen tun, bis er Zeit findet, euch beide richtig zusammenzuflicken.«

DuMark warf noch einen letzten Blick zurück und sah nur jede Menge Felsbrocken. Nichts regte sich in den Trümmern. Es war endlich vorbei.

»Und dann … können wir heimkehren.«

Die Tür fiel hinter ihnen zu, mit einem Knall, der sonderbar endgültig klang, als hätte jemand ein langes, ermüdendes Buch nach der letzten Seite zugeklappt. Und dann war es wieder still in dem dunklen Raum.

Die Luft schimmerte, wie durch einen Vorhang aus sich kräuselndem Wasser beobachtet. Das Gewebe des Raums teilte sich, ganz langsam, Zentimeter für Zentimeter, und Vigo Havarren kehrte zurück. Bei seinem plötzlichen Erscheinen breitete sich mattes Licht aus, wie von unsichtbaren Fackeln an den Wänden.

Staub und Schleim bedeckten den schmächtigen Zauberer. Blut – oder etwas, das fast Blut war – sickerte aus einem Dutzend kleiner Wunden, und der gebrochene Kiefer hing schief. Für einen Moment stand Havarren einfach nur reglos da und konzentrierte sich. Es knirschte und knackte, und der Kiefer rückte an den richtigen Platz. Ein kurzes Brummen war Havarrens einziges Zugeständnis an den Schmerz, der diesem Vorgang folgte.

Mit den Fingerspitzen der linken Hand betastete er vorsichtig sein Kinn, kniete neben seiner abgetrennten Rechten – die er absichtlich unter den Trümmern liegen gelassen hatte – und bedauerte, dass sich diese Sache nicht so leicht in Ordnung bringen ließ wie der Kiefer. Es hatten sich bereits kleine Ranken aus Fleisch am Armstumpf gebildet, aber es würde Wochen dauern, bis daraus eine neue Hand entstand.

Havarren richtete sich wieder auf und sah sich um. Ein schwacher Glanz von Metall zeigte sich in einer Lücke zwischen den Steinen, aber er achtete nicht darauf. Es kümmerte ihn nicht, ob Falchion überlebte hatte oder tot war. Seine Sorge galt …

In der Mitte des großen Raums kamen die herabgestürzten Steinmassen plötzlich in Bewegung. Etwas stieß die Felsbrocken auseinander, und eine Welle aus Feuer strömte über den Boden, verwandelte das Gestein in Schlacke. Havarren brachte sich mit einem Zauber nach oben und schwebte über dem plötzlichen Feuer, damit es ihm nicht die Beine verbrannte.

Ein Kreischen drang aus dem Teppich schmelzender Felsen, das Heulen von tausend verdammten Seelen. Hier und dort stieg Rauch auf und erfüllte den Raum mit dem Gestank von Schwefel. Übernatürliche Hitze ließ die Wände erglühen, und der schmächtige Zauberer fragte sich, ob die Eiserne Burg das überstehen konnte, was jetzt in ihren Fundamenten geschah. Ausläufer des Feuers krochen an den Wänden hoch und verwandelten sich dabei in die tastenden Tentakel von etwas Unbekanntem, etwas, das nicht einmal in den schrecklichsten Albträumen der Menschen erschien. Wie mit liebevoller Zärtlichkeit strichen sie über die Mauern, oder vielleicht wie ein Gefangener, der nach einem Weg in die Freiheit suchte.

Mit ausgebreiteten Armen stieg er auf, getragen von der Welle des Feuers. Er trat auf den verbrannten Boden, und die Glut teilte sich unter seinen Füßen. In den Augen ein Leuchten heller als das Feuer, kehrte der Leichenkönig von Kirol Syrreth aus den Klauen der Verdammnis zurück.

Doch duMarks Angriff hatte Spuren hinterlassen. Die vertrocknete, verschrumpelte Haut, die die linke Seite seines Körpers bedeckte, war aufgerissen, und darunter kamen Knochen und Muskeln zum Vorschein. Seine Kleidung war nicht mehr nur abgewetzt und abgenutzt – nur noch eine Art Spinnennetz aus baumelnden Fäden war davon übrig. Kakerlaken, Maden und andere kleine Geschöpfe krabbelten über seinen Leib und suchten nach Schutz vor dem Chaos. Hunderte von ihnen fielen ins Feuer und verbrannten, aber die meisten erreichten sichere Schlupfwinkel.

Ungewohnte Furcht ließ Havarren erzittern, als er beobachtete, wie Morthûl durch die höllische Glut trat und dicht vor ihm stehen blieb.

Sein Mund bewegte sich, und er sprach langsam, als bereitete ihm jedes Wort Mühe.

»Ich bin sehr enttäuscht«, teilte er seinem Diener mit, so leise, dass dieser ihn kaum verstehen konnte.

Vigo Havarren glaubte nicht an viele Götter, und er neigte dazu, jene zu verachten, an die er glaubte. Aber jetzt spürte er zum ersten Mal in seinem Leben den unwiderstehlichen Drang zu beten.

Ananias duMark, größter Zauberer der Verbündeten Königreiche, seufzte voller Wonne, als er langsam auf die mit Daunenfedern gefüllte Matratze sank. Sein Gewand hing an einem Haken auf der anderen Seite des kleinen Schlafzimmers, und sein Stab lehnte daneben an der Wand.

Während des vergangenen Monats, seit dem letzten Kampf gegen seinen alten Feind, hatte sich duMark jeden Tag bis an den Rand der Erschöpfung getrieben. Erst in der vergangenen Woche waren seine arkanen Fähigkeiten auf ein Niveau zurückgekehrt, das er für akzeptabel hielt. Erst jetzt durfte er ausruhen. Er war so müde wie nie zuvor in seinem Leben und schlief bereits, noch bevor seine Ohren mit den angedeuteten Spitzen das Kissen berührten.

König Dororam, der lange schneeweiße Bart vom Schlaf zerzaust, setzte sich plötzlich auf, und das Herz schlug ihm bis zum Hals. Zuerst dachte er, einem wirklich schrecklichen Traum entkommen zu sein, aber als er sich gerade wieder hingelegt hatte, hallte ein ohrenbetäubender Schrei durch die Flure von Schloss Bellatine, und er klang genauso wie jener, der den König aus dem Schlaf gerissen hatte. Die letzten Reste der Benommenheit fielen von ihm ab, und auf einmal begriff er, dass seine Gemahlin, die elegante Königin Lameya, nicht länger neben ihm lag, und dass es ihr Schrei war, der ihn durch die Dunkelheit erreichte. Vor Furcht fröstelnd, sprang der alternde Monarch aus dem Bett und streckte die Hand nach der Klinke der dicken Mahagonitür aus …

Wie der König, von dem er geträumt hatte, schreckte duMark hoch, das Gesicht schweißfeucht und in der Kehle die Reste seines eigenen Schreis. Noch bevor das Echo jenes Schreis verklungen war, eilte der Magier bereits durch den Raum und griff nach Gewand und Stab. In all den Jahrhunderten seines Lebens hatte duMark selten einen Traum von dieser Intensität erlebt, und selbst ein junger, unerfahrener Zauberlehrling hätte ihn als Hinweis auf bevorstehende Ereignisse verstanden. Kaum hatte sich duMark in seinen Umhang gehüllt, sprach er auch schon den Zauber, der ihn direkt zum Schloss Bellatine teleportierte. Doch seine Gedanken waren woanders.

Ihr Götter, steht mir bei. Ich hätte mich vergewissern sollen …

Am Zielort erwartete ihn Chaos. Alle Bewohner und Bediensteten des Schlosses eilten umher, erfüllt von Pflichtbewusstsein, aber niemand von ihnen schien zu wissen, was er oder sie tun sollte. Ein gehetzt wirkender Mann erschrak zwar, als duMark plötzlich im Flur erschien, erkannte den Zauberer aber und führte ihn sofort nach oben.

Mehr als zehn Wächter standen vor der Tür zu den königlichen Gemächern, wichen jedoch beiseite, als duMark sich näherte und eintrat.

Mit tränennassen Wangen saß Königin Lameya auf dem Stuhl in der Mitte des Raums, neigte den Oberkörper vor und zurück und schluchzte herzzerreißend. DuMark hatte sie immer für eine attraktive Frau gehalten, trotz ihres Alters. Doch jetzt hatte der Kummer ihr Gesicht in eine Grimasse des Schmerzes verwandelt, und das graue, struppige Haar zeigte ein sprödes Weiß.

»Meine Tochter, duMark!« König Dororam – er hatte hinter seiner Frau gestanden und die Hände auf ihre Schultern gelegt – stürmte durchs Zimmer, und sein Blick bohrte sich in die Augen des Magiers. Dororam war zehn Jahre älter als seine Frau und ein ehemaliger Krieger, der Körper und Geist immer in gutem Zustand gehalten hatte. Aber in dieser Nacht war sein Haar vom Schlaf wirr und der Bart so zerzaust, wie duMark ihn in seinem Traum gesehen hatte. Eine so starke Aura des Zorns umgab ihn, dass der Zauberer unwillkürlich einen Schritt zurückwich. »Meine Tochter!«

DuMark fasste sich wieder. »Euer Majestät«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Was ist passiert? Ich bin aus dem Schlaf geschreckt …«

»Was passiert ist? Was passiert ist? Oh, bei den Göttern!« Und dann vergoss auch er Tränen, obwohl der Zorn nicht aus seinen Augen verschwand.

Der Hauptmann der Wache – ein älterer Mann, der König Dororam seit Jahrzehnten diente – trat vor. Sein Harnisch rasselte, und der Wappenrock schwang bei jedem Schritt. »Lord duMark, Prinzessin Amalia …« Der ältere Soldat schluckte hörbar und gab sich sichtlich Mühe, seinen eigenen Kummer in den Griff zu bekommen. »Prinzessin Amalia ist ermordet worden.«

DuMark fühlte, wie ihm die Knie weich wurden. Wenn er nicht die Möglichkeit gehabt hätte, sich an der nahen Wand abzustützen, wäre er vielleicht zu Boden gesunken. Warum habe ich mich nicht vergewissert?

»Wie …?« Seine Stimme war kaum mehr ein Flüstern, nur ein Hauch. »Wie kam es dazu?«

»Wir wissen es nicht genau, Herr. Eins der Dienstmädchen glaubte, etwas zu hören, ein Schlurfen, und sie ging los, um nach dem Rechten zu sehen …«

»Man hat sie umgebracht, Ananias«, stieß Dororam hervor und packte den Magier an seinem Gewand. »Man hat sie abgeschlachtet wie ein Tier! Es … es blieb nicht einmal eine Leiche zurück, die wir begraben könnten.«

Langsam löste duMark die Hände des Königs von seinem Umhang. »Euer Majestät … Es tut mir unendlich leid. Wenn ich etwas tun kann …«

Dororam hob ruckartig den Kopf, und der Schmerz in seinem Gesicht wich neuerlichem Zorn. »Morthûl steckt dahinter, nicht wahr?«

DuMark nickte langsam. »Ich fürchte, ja.«

Die Lippen des Königs zuckten, und seine Zähne klapperten. »Ihr habt mir gesagt, er sei tot, duMark.«

»Ich habe fest an sein Ende geglaubt, Euer Majestät. Aber wer könnte sonst für den Tod Eurer Tochter verantwortlich sein? Wenn er gestorben wäre, hätte Falchion oder jemand anders übernommen, und Morthûls Nachfolger wäre zu sehr damit beschäftigt gewesen, seine Macht zu festigen, um an Vergeltung zu denken. Nein, mein König, nur der Dunkle Lord kann dies getan haben. Es tut mir leid.«

Dororam starrte einige Sekunden ins Leere. Und dann, von einem Augenblick zum anderen, schritt er durch den Raum, die rechte Hand fest ums Heft seines Schwertes geschlossen, das er aus der Scheide des Hauptmanns gerissen hatte.

»Holt die Soldaten!«, rief er den Wächtern zu. »Holt sie alle, und schickt Boten zu den Herzögen. Beim Morgengrauen reiten wir nach Kirol Syrreth!«

DuMark folgte dem König und schüttelte den Kopf. »Euer Majestät …«

»Was ist?« Dororam wirbelte herum und hob die Klinge an die Kehle des Halbelfen. »Ihr seid teilweise für dies verantwortlich, duMark! Wollt Ihr mir Gerechtigkeit vorenthalten?«

Es kostete den Zauberer nicht unerhebliche Mühe, den Ärger aus seinem Gesicht fernzuhalten. Warum sind alle so dumm?

»Ich teile Euren Kummer, Euer Majestät«, sagte er und wählte seine Worte mit Bedacht. »Läge es in meiner Macht, würde ich Euch morgen früh die Eiserne Burg übergeben.« Vorsichtig schob er mit dem Stab die noch immer auf seine Kehle zielende Klinge beiseite. »Doch in einigen Wochen beginnt der Winter. In den Höhenlagen der Schwefelberge schneit es bereits. Die Soldaten Eurer Streitkräfte, die nicht verhungern oder erfrieren, würden im Schlangenpass festsitzen, ohne imstande zu sein, auf die andere Seite der Schwefelberge zu gelangen. Und sie wären dort leichte Opfer für die Troglodyten des Leichenkönigs. Welche Gerechtigkeit brächte Euch das, Euer Majestät?«

Zuerst schien Dororam die Ohren vor der Vernunft in duMarks Worten zu verschließen. Aber langsam, ganz langsam, ließ der Zorn des Königs nach, und der Arm, der das Schwert hielt, senkte sich.

»Was schlagt Ihr vor?«, fragte er mit gepresst klingender Stimme.

DuMark seufzte innerlich. Die anderen hätten vielleicht feindselig reagiert, wenn er gezwungen gewesen wäre, den König mit Magie von seinen törichten Absichten abzubringen. »Nur dass Ihr wartet. Verschiebt Eure Rache, mein König. Shauntille ist längst nicht die einzige Nation, die Grund hat, Morthûl zu hassen. Nutzt die Gelegenheit, die Euch der Winter bietet, und schickt Boten zu den anderen. Mobilisiert die Streitkräfte aller Verbündeten Königreiche. Wenn Ihr mit einem solchen Heer aufbrecht, können Euch die Horden von Kirol Syrreth keinen Widerstand leisten. Ich werde an Eurer Seite reiten und dafür sorgen, dass die Abscheulichkeit namens Morthûl diesmal tot bleibt!«

Dororam nickte nachdenklich. »So sei es, Ananias. Wir warten und versammeln alle Kämpfer, die dieses Land zu bieten hat. Der Frühling wird die letzte Schneeschmelze bringen, die der Dunkle Lord erlebt. Ich werde nicht nur die Eiserne Burg dem Erdboden gleichmachen, sondern ganz Kirol Syrreth zerstören!« Das Schwert entglitt seinen zitternden Fingern und fiel mit einem lauten Klappern auf den Boden. Der Zorn des Königs von Shauntille schwand und wich einer überwältigenden Flut des Kummers.

»Und nun, Ananias, wenn Ihr uns bitte entschuldigen würdet … Wir haben eine Tochter zu betrauern.«

Der Halbelf verbeugte sich und ging. Als er durch die mit dicken Teppichen ausgelegten Flure des Schlosses Bellatine marschierte, jagte hinter seiner Stirn ein Gedanke den anderen. König Dororam und seine Streitkräfte mochten durch ein bisschen Schnee in Schwierigkeiten geraten, aber er, duMark, war der größte Zauberer der Verbündeten Königreiche, und mehr als ein Wechsel der Jahreszeiten war nötig, ihn aufzuhalten. Er hatte geschworen, Morthûls Macht diesmal wirklich ein Ende zu bereiten, und diesen Schwur wollte er halten.

DuMarks Gestalt löste sich auf und verschwand wie eine Fata Morgana aus den Gemäuern des Schlosses. Vorbereitungen mussten getroffen werden, und selbst einem Mann, der so mächtig und einfallsreich war wie er, blieb dafür nur wenig Zeit.

1   WÜSTES LAGER

Schatten tanzten in trägen Kreisen durch den Thronraum der Eisernen Burg. Die undurchdringlichen Wände, geschmückt mit zahlreichen Schädeln aus Dutzenden von Völkern, schienen sich im wechselhaften Licht zu bewegen. Und vielleicht bewegten sie sich tatsächlich, gelenkt von den Launen ihres Herrn und Meisters.

Auf dem großen Marmorthron saß der Leichenkönig, nach vorn gebeugt. Der rechte Ellenbogen ruhte auf der Armlehne des großen Throns, und das Kinn war auf die knochige Faust gestützt. Ledrige Haut, die sich nach dem von Ananias duMark angerichteten Schaden nur teilweise neu gebildet hatte, schuf eine Grimasse, die zu gleichen Teilen Zorn, Langeweile und Niedergeschlagenheit zeigte. Wenn Morthûl menschlich gewesen wäre, hätte man von … Melancholie und Schwermut sprechen können.

Das Geräusch von Schritten vertrieb die fast heilige Stille aus dem Raum, und Vigo Havarren näherte sich dem Leichenkönig.

»Herr?« Der schmächtige Zauberer sprach leise. »Herr, Ihre Majestät die Königin ersucht um eine Audienz.«

Morthûl bewegte sich nicht. Die in den Marmor des Throns geritzten Gesichter – Dutzende von schmerzerfüllten Fratzen – wirkten lebendiger als er. »Ich habe gesagt, dass ich niemanden sehen will. Das gilt auch für meine liebevolle Frau.«

»Nun gut, mein König, ich …«

»Übrigens erinnere ich mich nicht, für Euch eine Ausnahme gemacht zu haben«, fügte der Leichenkönig unerbittlich hinzu.

»Ich … das heißt, Königin Anne hat mir ausdrücklich befohlen, in ihrem Namen um eine Audienz zu bitten. Ihr habt uns oft darauf hingewiesen, dass wir in Eurer Abwesenheit der Königin so gehorchen sollten, als kämen die Anweisungen von Euch. Ich dachte …«

»Ihr sollt nicht denken, Havarren. Das könnt Ihr nicht besonders gut.« Der Herr der Eisernen Burg hob schließlich den Kopf und sah den blonden Zauberer an. »Da Ihr schon einmal hier seid … Gibt es irgendwelche Fortschritte?«

Der Magier schüttelte widerstrebend den Kopf. »Leider nicht, Herr. DuMarks Zauber haben sich als besonders mächtig erwiesen.«

Ohne weiteren Kommentar stützte Morthûl das Kinn wieder auf die Knochenfaust und starrte erneut ins Leere.

Havarren schüttelte ein zweites Mal den Kopf, aber diesmal fast unmerklich. Morthûl hatte sich an Dororam gerächt, dem Monarchen, der duMark und seinen Gefährten oft dabei geholfen hatte, die Verteidiger von Kirol Syrreth zu überwinden. Seit gut einem Monat suchte der Dunkle Lord nach den Leuten, denen es gelungen war, in die Eiserne Burg einzudringen, nach dem Abschaum, der es gewagt hatte, den uralten Zauber des Leichenkönigs zu stören.

Doch diese Bemühungen waren ohne Ergebnis geblieben. DuMark wusste natürlich, dass seinen Freunden Gefahr drohte, und offenbar hatte er einen so guten Tarn- und Schutzzauber gewoben, dass nicht einmal die gemeinsamen Anstrengungen von Morthûl und Havarren imstande gewesen waren, die betreffenden Personen ausfindig zu machen. Auch die vielen Spione des Leichenkönigs hatten sie nicht finden können.

Schließlich hatte das alles seinen Tribut gefordert. Das Versagen des großen Zaubers, der die Krönung all seiner Arbeit hatte darstellen sollen, das vergebliche Bemühen, die Schuldigen zur Verantwortung zu ziehen … Es schien den Dunklen Lord gebrochen zu haben. Morthûl hatte sich immer mehr von den täglichen Aufgaben der Herrschaft über sein Reich zurückgezogen. Die verschiedenen Horden-Völker, unzuverlässige Verbündete selbst in besten Zeiten, kehrten zu ihren traditionellen Rivalitäten zurück. Die menschlichen Offiziere hatten bisher den Frieden gewahrt, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis ihr Einfluss nicht mehr ausreichte.

Schlimmer noch: Havarren hatte vor kurzer Zeit erfahren, dass König Dororam, erzürnt über den Tod von Prinzessin Amalia, eine große Streitmacht aus den Heeren der Verbündeten Königreiche zusammenstellte. Elfen bereiteten sich darauf vor, neben Zwergen zu marschieren, Halbelfen neben Feen, Gilorale neben Menschen. Wenn das Frühjahr die Schneeschmelze brachte …

Havarren hatte sich umdrehen und den Raum schnell verlassen wollen, doch plötzlich zögerte er. Morthûl hatte sich so sehr von allem zurückgezogen, dass er vielleicht gar nichts von Dororams Mobilmachung wusste!

Er wandte sich wieder dem Thron zu und räusperte sich nervös. »Äh … Herr, es gibt da noch eine andere Angelegenheit …«

Wieder kam der Kopf nach oben, die eine Hälfte Knochen, die andere von rissiger Haut bedeckt. »Und die wäre?«

Der Dunkle Lord hörte wie teilnahmslos zu, während Havarren von den Ereignissen jenseits der Schwefelberge erzählte. Als der Magier seinen Bericht beendete, starrte der Leichenkönig von Kirol Syrreth noch immer ins Leere, als hätte er nicht verstanden.

Dann erhob sich Morthûl ganz langsam von seinem Thron. Das uralte Gewand, das ihn umhüllte, schien froh zu sein, der Enge des marmornen Throns zu entkommen; raschelnd und weit fiel es bis zum Boden. Selbst das vom Dunklen Lord ausgehende Glühen wurde etwas heller.

»Dororam will mich herausfordern? Hier, in Kirol Syrreth?« Ein kurzes Lachen schüttelte die hagere Gestalt des Leichenkönigs; Staub und Käfer lösten sich aus den Falten des Gewands und fielen zu Boden. Hinter dem Lachen hörte Havarren Zorn angesichts der Hybris eines Sterblichen, der es wagte, sich gegen den Dunklen Lord zu wenden.

»Kommt, Havarren«, sagte Morthûl und schritt zur Tür. »Stellen wir fest, was die liebe Königin von mir will. Und anschließend beginnen wir damit, Vorbereitungen zu treffen. Ich werde Dororam eine Lektion erteilen.«

Havarren nickte und folgte dem Leichenkönig. »Habt Ihr einen Plan, Herr?«

»Wann habe ich keinen? Aber er erfordert sorgfältige zeitliche Abstimmung. Ruft meine Boten, Havarren. Ich werde ein Dämonen-Korps zusammenstellen.«

Der Magier nickte. »Bevorzugt Ihr bestimmte Volksgruppen?«

»Nein. Sorgt nur dafür, dass es die Besten sind, denn ich werde ziemlich viel von ihnen verlangen.«

»Natürlich. Und dann?«

»Und dann? Dann werden wir dafür sorgen, das König Dororam sein verdientes Ende findet, und mit ihm alle, die so dumm sind, ihm zu folgen.«

Havarren grinste voller Boshaftigkeit. Gewisse Aspekte seines Dienstes für Morthûl behagten ihm nicht, aber er freute sich, dass der Dunkle Lord wieder ganz der Alte zu sein schien.

Es bedeutete, dass viele sterben würden, wahrscheinlich sogar ziemlich viele.

Die Insel Dendrakis, auf derem felsigen Boden sich die Eiserne Burg erhob, lag abseits in der nordwestlichen Ecke des großen Königreichs. Das Meer der Tränen trennte sie von Kirol Syrreths zentralen Bereichen, und nur wenige Bewohner jenes Landes, ob Menschen oder andere, besuchten die Insel.

Obgleich der wichtigste Bereich der Domäne des Leichenkönigs, war Dendrakis doch nur ein winziger Teil davon. Hier und dort in Kirol Syrreth gab es Horden-Gemeinschaften, oft in Bereichen, durch die Menschen nicht zu reisen und in denen sie erst recht nicht zu wohnen wagten. Gremlins und Oger, Trolle und Kobolde, sie alle waren dort zu Hause, wo bestimmte Regionen letzte Zuflucht boten vor der sich immer weiter ausbreitenden »Zivilisation«. Einst hatten sie ständig gegeneinander Krieg geführt, ohne Rücksicht darauf, wer in ihre Auseinandersetzungen verwickelt wurde. Die Menschenstädte von Kirol Syrreth umgaben sich mit Mauern und Wachtürmen, Erinnerungen an eine Zeit, als eine Staubwolke am Horizont auf eine heranrückende Armee der Horde hindeuten konnte.

Morthûls Aufstieg vor Jahrhunderten hatte all das geändert. Doch als sich nun Gerüchte über seine große Niederlage ausbreiteten, blickten die Menschen erneut zum Horizont und warteten auf den Tag, an dem das Chaos unter den anderen Völkern wieder zu wahllosem Blutvergießen führen würde.