Anselm Grün

Bleib deinen Träumen
auf der Spur

Buch der Sehnsucht

Herausgegeben von Anton Lichtenauer

Impressum

Titel der Originalausgabe: Bleib deinen Träumen auf der Spur

Buch der Sehnsucht

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2004, 2013

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2014

Alle Rechte vorbehalten

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Umschlaggestaltung und Konzeption: R·M·E München/Roland Eschlbeck, Liana Tuchel

Umschlagmotiv: Ferdinand Hodler, Die Waadtländer Alpen von den Rochers-de-Naye aus, 1917 (Ausschnitt)

E-Book-Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

ISBN (E-Book): 978-3-451-80369-7

ISBN (Buch): 978-3-451-05550-8

Inhalt

Vorwort

I.
Sprache der Seele

II.
Wie wir sind. Und wie wir sein könnten

III.
Im Innersten berührt

IV.
Größer als unser Herz

V.
Das Schönste am Ende

VORWORT

von Anton Lichtenauer

Nie ist die Sehnsucht unbändiger als in der Jugend. Die erste Liebe, die große Freundschaft – und der Himmel steht offen. Alles scheint möglich – irgendwann, nein: bald. Leben muss phantastisch sein, und es fängt gleich hinter dem Horizont an. Nichts wie hin.

Und später? Eine Straßenbahnlinie, die ihre immer gleiche Strecke abfährt, hat Tennessee Williams zum beiläufigen Sinnbild des Lebens gemacht: „A Streetcar Named Desire.“ „Endstation Sehnsucht“ ist der deutsche Titel dieses Stücks über ein Leben, das festgefahren ist in den Gleisen des Scheiterns. Die Umsteigelinie heißt „Cemetery“ und führt – zum Friedhof. Das Stück handelt von Menschen, die im Wirbel von Wünschen und Begierden, Sehnsüchten und Trieben am Ende sich selbst zerstören. Und die zentrale Aussage: „Tod – der Gegensatz dazu heißt Sehnsucht.“

Der Banalität verweigern sich beide, die jugendliche Sehnsucht und die Verzweiflung Erwachsener. „Göttlich sind die Liebenden, die Spötter/ alles Verzweifeln, Sehnsucht, und wer hofft.“ Gottfried Benns Satz trifft sich mit dem, was Tennessee Williams in seinem Stück sagt. Verzweiflung und Hoffnung, Zynismus und Sehnsucht sind nah beieinander, weil sie weit über das Gegebene hinaus wollen. Es ist diese Grenzüberschreitung, die den spirituellen Autor Anselm Grün an der Sehnsucht interessiert.

Sehnsucht ist überall. Die Plakatsäulen unserer Städte, die Hochglanzanzeigen der Illustrierten verheißen: Tausche Geld gegen Glück! Hier und jetzt und ohne Warten, gegen cash. Nicht ein Auto kauft man, sondern Vitalität und Vorsprung. Die Kreditkarte, das ist Verfügung über Träume. Der Bausparvertrag – Selbstverwirklichung. Eine Versicherungspolice – Geborgenheit. Zigaretten stehen für wilde Ungebundenheit oder kultivierten Stil, je nach Marke. Und der Diamant als Geschenk verspricht: unvergängliche Liebe.

Sehnsucht macht der Kauflust Dampf und vernebelt Kopf und Herz. Die Versicherung: Haben kann man alles. Und: Was man haben kann, das ist auch schon alles. Der reinste Versicherungsbetrug. Das Hamsterrad der Gier gibt keine Ruhe, immer schneller wird die Drehung, angetrieben vom Wunsch nach immer mehr.

Sehnsucht trägt ein doppeltes Gesicht. Sie erfüllt – oder zehrt und nagt. Sie kann die Seele wärmen oder sie auch schier verbrennen. Und der Traum, das Paradies hier auf Erden zu verwirklichen, hat in der Vergangenheit immer wieder auch eine zerstörerische Kraft freigesetzt, die alles kurz und klein schlug.

Wer den Mangel empfindet, kennt die Sehnsucht. Aber auch, wer einmal das berauschende Glück erlebt hat: „Wirklich oben ist man nie“, sagen die Bergsteiger, die nach der Gipfelbesteigung beim Abstieg ins Tal vom nächsten Gipfel träumen. Wo Leere ist, ist Sehnsucht. Aber auch das ist Sehnsucht: Ein Versprechen liegt in der Luft, ein Traum lockt. Sehnsucht zielt auf Erfüllung und verheißt dem Leben Sinn, Ziel, Bedeutung, Glanz. Wie die Liebe.

Liebe und Sehnsucht gehören zusammen. Auch die Liebe will Grenzen überspringen, die dem eigenen Ich gesetzt sind. Nach der griechischen Mythologie ist Eros ein Dämon, ein Zwischenwesen zwischen den Göttern und den Menschen. Penia, die Armut, ist seine Mutter und sein Vater der Gott Poros. Weil er an beiden Welten teilhat, kann Eros zwischen dem Göttlichen und dem Menschlichen vermitteln. Er weiß, dass Menschen bedürftig sind: arm und liebeshungrig. Und er hält die Sehnsucht nach der Liebe wach. Die Sehnsucht träumt davon, all das aufzuheben, was an uns Begrenzung ist. Und im Eros lebt die Lust auf ein Glück, das nie aufhört: „Alle Lust will Ewigkeit.“ Sehnsucht hofft, endgültig und für immer, in allem unerlösten Lärm das entscheidende Wort zu hören, das Trost gibt und Geborgenheit. Im hektischen Auf und Ab des Alltags den erfüllten Augenblick zu erleben, in dem die Zeit ganz aufgehoben ist. In all der Lust die Liebe, die mich meint, zu finden. Wenn wir dieser Sehnsucht in uns folgen, so Grün, führt uns das auf unsere eigentliche Lebensspur.

Natürlich weiß Anselm Grün um das Doppelgesicht der Sehnsucht. Trotzdem hält er sie für die wichtigste spirituelle Kraft in uns. Sie zeigt den Weg zum wahren Glück.

Eine sehnsuchtslose Welt wäre ein Alptraum – wenn das Leben nur die „letzte Gelegenheit“ wäre, alles noch in sich hineinzustopfen, oder alles zu horten in der Gefriertruhe des Ego. Anselm Grüns Vorstellung vom Glück ist anders: Das Feuer in der Seele nicht ausgehen lassen, sondern es schüren, damit die Welt nicht erkaltet und verhärtet. Die Ziele weit stecken – und so Raum lassen für Hoffnung und Traum. Das Herz weit machen, denn in unserer Sehnsucht erst finden wir wirkliche Heimat. Geborgenheit suchen – aber nicht stehen bleiben beim einmal Erreichten. Sein Rat: Lass deine Träume nicht versanden. Suche Räume, in denen du sein und werden kannst, was du bist. Lebe Beziehungen, die heilsam sind. Verlass die starren Gleise des Gewohnten, bleib auf dem Weg. Geh deiner Sehnsucht auf den Grund – und halte sie wach.

Nichts anderes ist übrigens Spiritualität. Anthony de Mello, auf den sich Anselm Grün gerne bezieht, hat einmal gesagt: „Um in dem Abenteuer, genannt Spiritualität, Erfolg zu haben, muss man fest entschlossen sein, aus dem Leben so viel wie möglich herauszuholen. Viele Menschen begnügen sich mit Nichtigkeiten wie Reichtum, Ruhm, Bequemlichkeit und Sozialprestige.“ Ziele, die viel zu klein sind, im Vergleich zu dem, was wirklich möglich ist.

Also: Endstation Sehnsucht? Nein – Sehnsucht ist der Anfang jeder Lebenskunst. Mehr noch: Sehnsucht ist der Anfang von allem.

I.
SPRACHE DER SEELE

EINE EMOTION VOLLER KRAFT

Das deutsche Wort Sehnsucht ist kaum in andere Sprachen zu übersetzen. Und auch das griechische Wort, das der Sehnsucht zugrunde liegt, hat nicht die Bedeutungsfülle, die der Begriff in der deutschen Sprache angenommen hat. Das griechische Wort epithymía meint eigentlich Verlangen. Es kommt aus dem thymós, aus dem emotionalen Bereich. Thymós heißt ursprünglich Luft, Sturm, das Bewegte und Bewegende, die Lebenskraft. Ursprünglich meint das griechische Wort also eine Erregung, ein heftiges Verlangen, das mit der ganzen Vitalität des Menschen gefüllt ist. So benutzt es noch Lukas, wenn er von Jesus sagt: „Epithymía epethýmesa = mit Sehnsucht habe ich mich danach gesehnt, dieses Paschamahl mit euch zu essen“ (Lukasevangelium 22, 15). Jesus spricht hier von einer Sehnsucht nicht nur des Geistes, sondern seiner ganzen Person, von einer Sehnsucht, die voller Kraft ist, voller Erregung des Herzens. In der griechischen Philosophie wird das Wort häufig abgewertet als Begehren des Fleisches, das dem Geist widerspricht. Und auch in der Bibel wird das Wort meistens in dieser negativen Weise benutzt, als etwas Sündiges, Gottwidriges.

Das lateinische Wort desiderium meint ursprünglich „Verlangen, Begehren“. Es hat offensichtlich mit sidus = „Gestirn“ zu tun. Die lateinischen Schriftsteller sprechen vom Feuer der Sehnsucht oder von der brennenden Sehnsucht nach etwas, das man nicht hat. Die Sterne kann man nur sehen. Aber man kann sie nicht greifen.

In der stoischen Philosophie wurde das Begehren häufig mit desiderium carnis, mit dem fleischlichen Verlangen, gleichgesetzt. Doch bei Augustinus bekommt dieses Wort wieder seine ursprüngliche Bedeutung von Sehnsucht. Er spricht davon, dass jedes menschliche Verlangen und Begehren letztlich über diese Welt hinauszielt. Thomas von Aquin hat diese Vorstellung des Augustinus aufgegriffen und die Lehre vom desiderium naturale entwickelt. Der Mensch hat eine angeborene Sehnsucht nach der Gottesschau, nach der Vereinigung mit Gott. Er kann seine Menschwerdung nur vollenden, wenn er mit Gott eins wird.

Das deutsche Wort „Sehnsucht“ sagt uns in seinen Bestandteilen noch etwas anderes: Es ist zusammengesetzt aus den zwei Bestandteilen: „Sehne“ und „Sucht“. Das erinnert an die Sehne, die gespannt ist, wenn der Mensch zum Sprung ansetzt, oder an die Bogensehne, bevor der Pfeil abgeschossen wird. Sehnsucht hat also mit einem inneren Gespanntsein zu tun. Mit seiner ganzen Energie wartet der Mensch auf den Sprung, um das zu greifen, worauf seine Sehnsucht zielt, oder auf den Schuss, der ins Ziel trifft.

Der Duden sagt, dass das Wort „sich sehnen“ nur im deutschen Sprachgebiet gebraucht werde. Er verbindet es nicht mit der „Sehne“, sondern mit dem mittelhochdeutschen Wort „senen = sich härmen, liebend verlangen“. Es klingt das Schmerzliche mit und erinnert an eine Liebe, die noch nicht erfüllt ist. Der Verliebte sehnt sich nach der Freundin, um sich ihrer Liebe zu vergewissern. Sehnsucht kann auch wehtun. Wer verliebt ist, ist ganz und gar auf den geliebten Menschen ausgerichtet und wartet darauf, dass seine Liebe erwidert wird. Er hat den Eindruck, er würde sterben, wenn seine Liebe ins Leere ginge.

Das Wort „Sucht“ kommt nicht von „suchen“, sondern von „siech sein, krank sein“. Sucht meint also ein krankhaftes Verlangen, eine krankhafte Abhängigkeit. Sehnsucht ist aber keine Abhängigkeit von einem Stoff wie Alkohol oder Drogen, auch nicht von Geltung oder Ruhm. Die Sehnsucht zielt auf etwas anderes, auf Heimat, Geborgenheit, Glück, Liebe, Schönheit, Erfüllung. Sie zielt auf die Vollendung. Aber wie der Mensch sich manchmal krank vor Liebe fühlt, so kann auch die Sehnsucht nach dem Ewigen in ihm so stark werden, dass er keinen Geschmack mehr am Alltäglichen findet. Dann fühlt er sich krank vor Sehnsucht.

Die Verbindung von Sehnen und Sucht hat wohl dazu geführt, dass im letzten Jahrhundert das Wort „Sehnsucht“ verpönt war. Man assoziierte damit eher etwas Krankhaftes. Menschen geben sich ihrer Sehnsucht nach Unerfüllbarem hin, anstatt sich den konkreten Herausforderungen der Gegenwart zu stellen.

Die Romantik war noch voller Sehnsucht. Eichendorff und Novalis sind Zeugen dieser romantischen Sehnsucht. Für sie und ihre Zeit ist es ein durchaus als positiv und wertvoll verstandenes authentisches Gefühl. Doch nachdem Sehnsucht als Flucht vor der Wirklichkeit verfälscht wurde, mied man lange Zeit dieses Wort. Es verschwand aus dem Wörterbuch der positiven Emotionen. Erst in unserer Zeit ist es wieder zu einem Urwort geworden.

Die Menschen spüren, dass unser Leben ohne Sehnsucht langweilig wird. Es verliert die Spannung, die Offenheit für das Geheimnis, die Weite und Lebendigkeit. Wir leben in der Spannung zwischen der Kraft, die in der „Sehne“ steckt, und der krankhaften Trägheit der Sucht. Wenn nur ein Pol – Ruhe oder Anspannung – gelebt wird, wird der Mensch krank. Wer nur die Ruhe sucht, versinkt leicht in Bequemlichkeit. Wer nur auf seine Sehne, auf seine eigene Kraft baut, verausgabt sich. Dann reißt die Sehne. Wenn jemand süchtig wird, verliert er seine Freiheit.

Die Anstrengung des Sehnens muss in die angespannte, aber zugleich gelassene Haltung der Sehnsucht einmünden. Und die Sucht muss in die Dynamik und Kraft der Sehnsucht verwandelt werden. Nur so kann sie geheilt werden.

Vielleicht sind viele der Süchte, die wir heute beobachten, Ausdruck verdrängter Sehnsucht. Daher ist es höchste Zeit, und ein Zeichen von Realismus, sich wieder seiner eigenen Sehnsucht zu stellen. Nur wenn wir uns ihr stellen, sie anerkennen und in unser Leben integrieren, können wir frei werden von der Sucht, die uns im Griff hat.

Die Sehnsucht hält uns nicht fest. Sie weitet unser Herz und lässt uns frei atmen. Sie verleiht unserem Leben seine menschliche Würde.

II.
WIE WIR SIND. UND WIE WIR SEIN KÖNNTEN

ZIGEUNER IM SESSEL

Anthony de Mello erzählt gerne Geschichten, die uns über unsere eigene Realität aufklären. Wir sind im Käfig der Gewohnheiten eingesperrt, sagt er einmal, wie jener Bär, der in seinem sechs Meter langen Käfig hin- und hergeht. Als die Gitterstäbe nach mehreren Jahren entfernt werden, geht der Bär weiter diese sechs Meter hin und her, her und hin. So als ob der Käfig noch da wäre. Für ihn war er da. Seine Sehnsucht war durch die lange Gefangenschaft abgestorben.

In anderen kurzen Erzählungen nimmt de Mello auch die Vorstellung von Sehnsucht auf den Arm. Er zeigt, wie klein sich die Sehnsucht nach dem Unendlichen manchmal gebärden kann:

„Nach dreißig Jahren gemeinsamen Fernsehens sagt ein Mann zu seiner Frau:

,Lass uns heute Abend etwas wirklich Aufregendes unternehmen!‘

Sofort tauchen vor ihrem Auge Visionen von einer Nacht in der Stadt auf.

,Phantastisch!‘ sagt sie. ,Was wollen wir machen?‘

,Wir könnten einmal die Sessel tauschen.‘“

Für den Mann bestand die ganze Sehnsucht nach etwas Aufregendem darin, – den Sessel zu tauschen. Offensichtlich kannte er keine größeren Sehnsüchte, keinen weiter ausgreifenden Drang. Das dreißig Jahre lange Fernsehen hat ihn so genügsam gemacht in seiner Sehnsucht, dass wir darüber unwillkürlich lachen müssen.

Aber stimmt es nicht wirklich? Auf welch kleines Maß hat sich heute die Sehnsucht vieler Menschen reduziert!

Humor ergibt sich aus der Spannung zwischen Idealität und Realität. Seine Funken sprühen, wenn die Welt, so wie sie sein könnte, mit der Wirklichkeit zusammenprallt, wie sie nun einmal ist.

Eine andere Geschichte de Mellos – ebenfalls mitten aus dem Leben erzählt. „Der Zigeuner“, so nennt er sie:

„In einer kleinen Grenzstadt lebte ein alter Mann schon fünfzig Jahre in dem gleichen Haus. Eines Tages zog er zum Erstaunen seiner Umgebung in das Nachbarhaus um. Reporter der Lokalzeitung sprachen bei ihm vor, um nach dem Grund zu fragen: ,Ich glaube, das ist der Zigeuner in mir‘, sagte er mit zufriedenem Lächeln.“

Das muss man nicht mehr kommentieren. Das „sitzt“: So treffsicher hat de Mello unsere klein gewordene, durch unsere Selbstzufriedenheit geschrumpfte Sehnsucht beschrieben.

Wir machen uns kleiner als wir sind.

Viel kleiner.

DER VERLORENE STERN

Es gibt eine in der Nachkriegszeit viel gelesene Geschichte von Ernst Wiechert: „Der verlorene Stern“. Sie erzählt von einem jungen deutschen Soldaten, der aus russischer Gefangenschaft nach Hause kommt, überglücklich, endlich daheim zu sein. Aber nach einigen Wochen spürt er, dass er sich nicht wirklich daheim fühlt. Er spricht mit seiner Großmutter darüber, und sie entdecken: Der Stern in diesem Haus ist verloren gegangen. Das Geheimnis wohnt nicht mehr in diesem Haus. Es wird nur noch an der Oberfläche gelebt. Man plant, baut, bessert aus, kümmert sich, dass das Leben funktioniert. Man unternimmt alles Mögliche und engt sein eigenes Leben dabei ein. Aber das Eigentliche ist verloren gegangen. Das Leben hat keine innere Ausrichtung und keine Weite mehr. Der Stern der Sehnsucht ist erloschen. Dort, wo der Stern der Sehnsucht aus unserem Herzen gefallen ist, dort können wir uns auch nicht mehr zu Hause fühlen. Daheim sein kann man nur, wo das Geheimnis wohnt. Es geht nicht um ein fernes Ziel. Nicht um eine Orientierung an etwas Fremdem oder um eine Leistung, die zu erbringen wäre und die uns vor anderen wichtig macht. In uns selbst ist dieser Raum, in dem das Geheimnis wohnt. Es ist ein Raum der Stille. Dieser Raum ist frei von den lärmenden Gedanken, die uns sonst bestimmen, frei von den Erwartungen und Wünschen der Menschen um uns herum. Er ist auch frei von den quälenden Selbstvorwürfen, Selbstentwertungen, Selbstbeschuldigungen. In diesem Raum, in dem Gott selbst in uns wohnt, sind wir frei von der Macht der Menschen. Da kann uns niemand verletzen. Dort sind wir heil und ganz. Dort sind wir ganz wir selbst. Und dort, wo das Geheimnis in uns wohnt, können wir bei uns selbst daheim sein. Wer bei sich selbst daheim ist, der kann überall Heimat erfahren. Heimat entsteht um ihn herum. Wenn wir in der Stille immer nur auf uns selbst stoßen, auf unsere Probleme, auf unsere Defizite, auf unsere Verdrängungen, auf die Komplexe unserer Psyche, müssen wir ja irgendwann davonlaufen. Niemand kann es aushalten, nur mit sich selbst konfrontiert zu sein. So ist es verständlich, dass manche vor der eigenen Wahrheit flüchten. Doch wenn ich weiß, dass unter all diesen Verdrängungen und Verwundungen Gott selbst in mir wohnt, dann kann ich es bei mir aushalten, dann erfahre ich in mir einen Raum, in dem ich daheim sein kann, weil das Geheimnis selbst in mir lebt.

Dann kann ich auch am Himmel Maß nehmen.

EIN FROSCH IM BRUNNEN

Ein Frosch, der im Brunnen lebt, beurteilt das Ausmaß des Himmels nach dem Brunnenrand.“ So lautet ein mongolisches Sprichwort. Die Mongolen sind ein Volk, das die Weite der Steppe liebt. Ihre Beweglichkeit und ihr Drang nach Offenheit sind aus der Geschichte bekannt. Und diese Eigenschaften prägen noch heute die nomadisierenden Stämme. Das zitierte Sprichwort macht ihre Weisheit gegenüber jeglicher geistigen Enge deutlich. Manchmal gleichen wir selbst dem Frosch, der das Ausmaß des Himmels nach dem Brunnenrand beurteilt. Wir sehen nur das Vordergründige. Der Frosch schwimmt im Wasser und blickt nur manchmal nach oben. So schwimmen wir in den vielen Aufgaben unseres Alltags. Ab und zu erheben wir unseren Blick und sehen den Himmel. Doch wir erkennen nicht seine unendliche Weite. Nur wer die Sehnsucht nach dem Unendlichen in sich trägt, kann die Unendlichkeit des Himmels wahrnehmen. Und darin liegt ein Paradox: Nur wer nach innen blickt, vermag richtig nach außen zu sehen. Nur wer in sich die Sehnsucht nach einer Welt trägt, die alles Diesseitige übersteigt, hat den rechten Blick für diese Welt. Sie ist nicht mehr alles für ihn. Die Sehnsucht korrigiert das, was er sieht, so dass alles sein rechtes Maß bekommt.

DER GESCHMACK DES LEBENS

Manche leben mit einer so erstaunlichen Routine, dass es schwer fällt zu glauben, sie lebten zum ersten Mal.“ Der polnische Autor Stanislaw Jerzy Lec, einer der scharfsichtigsten Kritiker unserer Zeit, hat damit etwas auf den Punkt gebracht: Lec meint damit nicht Reinkarnation, sondern den Eindruck, den diese Menschen im Alltag auf ihn machen. Nichts im Leben hat für sie das Geheimnis, den Reiz der Einmaligkeit: Sie sind jung, sie stehen in der Blüte ihres Lebens, sie reifen und werden alt. Und immer leben sie so, als hätten sie es schon tausendmal erlebt. Sie haben kein Gespür für das Neue, das jeder Tag mit sich bringt, für das Einmalige, das jedes Lebensalter in sich birgt. Sie tun so, als wüssten sie schon alles. Doch in Wirklichkeit wissen sie nichts. Wissen kommt von vidi (ich habe gesehen). Diese Menschen sehen nichts. Sie leben blind dahin. Ihr Leben spielt sich ab wie im Marionettentheater. Sie leben nicht selbst, sie werden gelebt. Sie werden von außen gesteuert und machen phantasielos die immer gleichen Bewegungen. Sie haben keine Träume, die ihrem Dasein Leben einhauchen.

Aber genau darum ginge es doch: Dass wir uns unserer Einmaligkeit bewusst werden. Dass wir die immer gleiche Routine durchbrechen und den Sinn für das Einzigartige des Lebens spüren. Dass wir spüren, was es bedeutet: Ich atme, also bin ich. Ich bin da. Ich schmecke den Geschmack des Lebens, jeden Tag aufs Neue. Kein Tag gleicht dem andern.

Jeder von uns ist einzigartig und einmalig. Gott hat sich von jedem Menschen ein Bild gemacht, das allein in diesem Menschen Wirklichkeit wird. Unsere Aufgabe im Leben ist es, dieses ursprüngliche Bild in uns sichtbar werden zu lassen.

LANGEWEILE UND UNRUHE

Als ich kürzlich einen Vortrag über die Psychologie der Mönchsväter hielt und ausführte, was sie zum Phänomen der Akedia – was mit Langeweile oder Überdruss übersetzt werden könnte – gesagt haben, meinte eine Frau nachher zu mir, das passe genau auf ihren Mann. Und sie schilderte sein Verhalten: Wenn es neblig ist, wird er unausstehlich. Er wandert von einem Raum in den andern. Während sie in der Küche arbeitet, liest er Zeitung. Doch auch dabei kann er es nicht aushalten. Er steht auf, setzt sich wieder hin, ist von einer ständigen Unruhe getrieben. Doch er tut letztlich nichts. Wenn sie ihn bittet, einen Handgriff im Haushalt zu machen, ist es ihm zu viel. Er hat ständig Wünsche an sie und hält sie von der Arbeit ab. Er schimpft auf das Wetter, auf die Kirche, auf die Politik, auf den Gemeinderat, auf den Nachbarn. Alles ist gegen ihn. Er hat Widerwillen gegen alles. Aber er weiß nicht, was er will. Er ist überdrüssig, verdrossen.

Das deutsche Wort „verdrießen“ heißt im Mittelhochdeutschen: „Langeweile erregen“. Es kommt von einer älteren Wurzel, die „ermüden, beschwerlich fallen“ bedeutet. Wer Langeweile hat, ist ständig müde. Alles fällt ihm schwer.

Was diese alten Mönche Akedia nennen, ist aber mehr als Langeweile. Es ist die Lustlosigkeit, die Trägheit, die Unzufriedenheit, der Überdruss, die Unfähigkeit, im Augenblick zu leben. Sie ist die Folge frustrierter Begehrlichkeit und eine Mischung aus Traurigkeit und Groll. Für Evagrius ist sie der gefährlichste Dämon, der nicht nur einzelne Seelenteile bekämpft, sondern die ganze Seele lahm legen kann.

Evagrius, ein griechischer Mönch, den man als den Psychologen unter den frühen Mönchen bezeichnen könnte, nennt den Dämon der Akedia den Mittagsdämon, weil er um die Mittagszeit kommt. Um 15.00 Uhr gab es Essen. In der Zeit der größten Hitze und vor dem Essen ist das Leben offensichtlich besonders beschwerlich. Der Mönch spürt seinen Hunger und kann ihn nicht mehr aushalten. Deshalb muss er ständig Ausschau halten nach der Sonne, ob es nicht bald Zeit zum Essen ist.

Der Mittagsdämon ist aber auch ein Bild für die Krise der Lebensmitte. In der Lebensmitte erleben viele Menschen, dass sie sich selbst nicht mehr aushalten können. Sie fühlen sich in sich selbst zerrissen und ruhelos. In dieser Zerrissenheit können sie weder sich selbst aushalten noch die andern. Auf der einen Seite sehnen sie sich nach einem Menschen, damit sie nicht allein sind. Doch wenn dann einer kommt, geht er ihnen auf die Nerven. Und so steigern sie sich in das Urteil hinein, dass die Liebe zwischen den Menschen erstorben sei, dass es keinen mehr gäbe, der Zeit für sie hätte.

Für die frühen Mönche war der Umgang mit den Emotionen und Leidenschaften ein zentrales Thema ihres spirituellen Lebens. Die graue Erfahrung der Langeweile, das bleierne Gefühl des Überdrusses, die Schwere des Eingeengtseins auf sich selbst ist nichts, was erst in der Moderne auftaucht. Aber es gehört zu den Versuchungen des Menschseins bis heute.

SCHMOLLWINKEL

In Gesprächen höre ich immer wieder die Klage darüber, dass Menschen sich allein fühlen, dass sie niemanden haben, der sie in den Arm nimmt, mit dem sie über ihre persönlichen Anliegen sprechen können. Es ist die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit, die ich aus dieser Klage heraushöre. Ich versuche, diese Sehnsucht anzusprechen und den Gesprächspartner oder die Gesprächspartnerin zu fragen, was er oder sie sich von der Nähe eines anderen Menschen verspricht. Dann höre ich Worte wie: „Ich möchte einen Menschen, der einfach da ist, der es mit mir aushält, der mir beisteht, wenn es mir mal nicht so gut geht, der mich versteht, der mich nicht beurteilt, vor dem ich keine Angst haben muss. Es ist die Sehnsucht nach einem, der mich zärtlich streichelt, dem ich ungeschützt sagen kann, was gerade in mir ist.“ Ich frage dann oft zurück: „Können Sie sich selbst nahe sein? Können Sie selbst zärtlich zu sich sein? Können Sie sich selbst einfach wahrnehmen, ohne sich zu beurteilen oder zu verurteilen? Können Sie dem kleinen verletzten Kind in sich Geborgenheit schenken?“ Und ich erlebe oft, dass die Menschen von anderen erwarten, was sie sich zuerst einmal selbst geben könnten. Je unfähiger aber ein Mensch ist, sich selbst nahe zu sein, desto größer ist in ihm die Sehnsucht nach Nähe und Geborgenheit. Wir können uns diese Sehnsucht nicht selbst erfüllen. Wir brauchen Menschen, die uns Geborgenheit schenken. Und wir brauchen Gottes heilende und liebende Nähe, in der wir uns geborgen wissen. Doch wenn wir nur und ausschließlich von anderen Menschen oder von Gott diese bergende Nähe ersehnen, werden wir sie nie erfahren. Wir müssen also etwas ganz Elementares lernen: Uns selbst nahe zu sein, es bei uns selbst auszuhalten, liebevoll mit uns umzugehen, damit wir auch die Nähe und Geborgenheit genießen können, die wir von anderen Menschen und von Gott erleben. Die Sehnsucht nach Geborgenheit darf uns nicht in die Passivität führen. Vielmehr soll sie uns in Bewegung bringen, damit wir uns selbst nahe kommen und uns für die Menschen öffnen, die schon in unserer Nähe sind. Wenn wir ihnen nahe kommen, werden wir auch ihre Nähe erfahren. Wenn wir uns nur allein gelassen fühlen und im Schmollwinkel unserer Einsamkeit sitzen bleiben, wird allerdings nie jemand in unsere Nähe gelangen.

WUNSCHLOSES UNGLÜCK

Der österreichische Schriftsteller Peter Handke hat als junger Mann ein Buch geschrieben, das den Titel trägt „Wunschloses Unglück“. Es ist ein gerade in seiner nüchternen Beschreibung beeindruckender Bericht über das Leben seiner Mutter. Die ist in engen katholischen Verhältnissen auf dem Land aufgewachsen und hat sich nach einer unglücklichen Ehe mit einundfünfzig Jahren das Leben durch eine Überdosis Schlaftabletten genommen. Ganz sachlich, und doch sehr bewegend beschreibt das schmale Buch das Leben dieser Frau. Sie hatte alle Illusionen verloren, ihre kleinen und großen Hoffnungen unterdrückt und war, da sie nicht mehr nach vorne schauen konnte, immer depressiver geworden. Das trostlose Milieu ihres Daseins ist von einem bleiernen Grau bestimmt: „Nicht das Nichtstun war süß, sondern das Arbeiten. Es blieb einem ohnehin nichts anderes übrig. Man hatte für nichts mehr Augen. Neugier war kein Wesensmerkmal, sondern eine weibliche oder weibische Unart.“ Es gab keinen Raum für Träume. Alles war nur grauer, trostloser Alltag. Man hatte sich an alles gewöhnt. Phantasielos, lustlos funktionierte man, um die Eintönigkeit zu bewältigen. Sogar den Kindern waren die Wünsche ausgetrieben. Es war – so erinnert sich der Sohn – lächerlich, ernsthaft Wünsche zu äußern. Selbst an Weihnachten brach nichts Neues in diese Welt ein: „Weihnachten: das, was ohnedies nötig war, wurde als Geschenk verpackt. Man überraschte einander mit dem Notwendigen, mit Unterwäsche, Strümpfen, Taschentüchern, und sagte, dass man sich gerade das auch gewünscht hätte.“ So fasst der Sohn die Beschreibung seiner Mutter in dieser Welt des traumlosen Pragmatismus zusammen mit den Worten: „Selten wunschlos und irgendwie glücklich, meistens wunschlos und ein bisschen unglücklich.“ Und im Rückblick bewundert der Sohn sogar seine Mutter für ihre Konsequenz, dass sie aus diesem trostlosen Leben einfach „weggegangen“ ist.

Mit seiner Beschreibung trifft Peter Handke nicht nur das Wesen seiner Mutter, sondern das unausgesprochene Lebensgefühl vieler Menschen. Wir kennen im Deutschen den Ausdruck „wunschlos glücklich“. Wenn einer ja sagen kann zu sich, so wie er ist, und zu seiner Lebenssituation, dann kann das durchaus eine Voraussetzung für inneres Glück sein. Aber nur der wird sich glücklich fühlen, der in sich einen inneren Reichtum findet, den Reichtum des Geistes.