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Gemeinsam mit Gina verließ Dühnfort das Polizeipräsidium. »Sollen wir erst zu Marcello gehen, oder willst du dich gleich ins Gewühl stürzen?«
»Erst die Arbeit, dann das Vergnügen.« Gina schmunzelte. »Ein Espresso ist doch ein gutes Ziel beim Marathon durch die Möbelhäuser.«
»Ich dachte eher an Doping vor dem Start.«
Gina erklärte sich kurzentschlossen zur Anti-Doping-Beauftragten, versprach aber, bei akuten Entzugserscheinungen seinerseits Milde walten zu lassen. »Neuerdings gibt es ja an jeder Straßenecke drei Coffeeshops.«
Als sie die Fußgängerzone erreichten und aus dem Blickfeld ihres Arbeitsplatzes verschwanden, glitt seine Hand für einen Moment in ihre.
Gina, die eigentlich Regina hieß, wie sie ihm neulich nach Abnehmen eines Schweigegelöbnisses anvertraut hatte, war nicht nur seine Kollegin, gute Freundin und vor allem seine Lebensretterin, die ihn aus dem eiskalten Starnberger See gezogen hatte. Seit beinahe vier Monaten waren sie auch ein Paar. Ein heimliches, dessen Beziehung außerdem keinen leichten Start gehabt hatte.
Während einer Ermittlung im Sommer hatte Dühnfort bemerkt, dass er sich nach mehr sehnte als nur Ginas Freundschaft. Doch er hatte seinen Gefühlen nicht getraut und sich zurückgezogen, obwohl er wusste, was sie für ihn empfand. Ich wäre lieber mit dir gestorben, als ohne dich zu leben. So, nun weißt du das! Zornig hatte sie ihm diese Worte an den Kopf geworfen. Bei dieser Erinnerung musste er lächeln. Sicher die ungewöhnlichste Liebeserklärung, die er je erhalten hatte. Nun ja, viele waren es ohnehin nicht gewesen. Und das war gut so. Er war keiner, der Kerben in seine Bettpfosten schnitzte, wie Gina das mal in Bezug auf ihren Kollegen Alois Fünfanger genannt hatte.
Obwohl er seinen Gefühlen nicht traute, waren Gina und er dennoch eines Nachts im Bett gelandet. Danach hatte sie so getan, als wäre nichts gewesen. Selbstschutz, wie er vermutete. Denn sie glaubte, dass er sich noch immer zu Agnes hingezogen fühlte, zu der Frau, die sich ein Jahr zuvor von ihm getrennt hatte. Kurz und gut: Es war kompliziert gewesen. Bei einer Flasche Merlot mit seinem Freund Schorsch war ihm jedoch klar geworden, dass eigentlich alles ganz einfach war. Er hatte sich in Gina verliebt.
»Wo ist das Problem, Tino?«, hatte der Schorsch gesagt. »Lad sie ein. Koch was Leckeres, und der Rest ergibt sich von ganz allein.«
Gina hakte sich bei ihm ein. »Wollen wir mit dem Möbelladen im Tal anfangen?«
»Warum nicht? Er liegt am nächsten.«
Sie hatten sich den Nachmittag freigenommen und bauten so einige ihrer unzähligen Überstunden ab, um endlich ein neues Bett für ihn zu kaufen. Denn seines war mit einem Meter zwanzig auf Dauer zu schmal für zwei. Einer lag meist absturzbedroht an der Kante, und das war nicht nur unbequem, sondern sorgte mittelfristig für ein Schlafdefizit, das in seinem Alter zu Gereiztheit führte. Es war also höchste Zeit, diesen Zustand zu ändern.
Die Suche entwickelte sich allerdings schwieriger als gedacht. Es gab kaum Betten, die ihm gefielen. Und die, die ihm zusagten, passten entweder nicht zu seiner Schlafzimmereinrichtung oder waren zu teure Designerstücke. Nach über drei Stunden hatten sie alle Möbelgeschäfte der Innenstadt durch und landeten, einem Tipp von Ginas Mutter folgend, nun bei Radspieler.
Als der Verkäufer sie durch die Ausstellungsräume führte, sah Dühnfort es sofort. Das Bett, nachdem er unbewusst gesucht hatte. Eines von Lloyd Loom aus einem Geflecht, das wie Rattan aussah, aber aus gedrehten Papierketten bestand, die einen Metalldraht als Kern enthielten. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts hatte man Salons und Decks von Ozeandampfern mit Stühlen und Sesseln aus diesem Material ausgestattet. Hohe Qualität und zeitloses Design, das zu seinen Möbeln passte. »Warum sind wir nicht gleich hierhergegangen?«
Gina hob die Hände. »Wir könnten schon längst bei einem Cappuccino sitzen.« Mit einem schelmischen Funkeln in den Augen wandte sie sich an den Verkäufer. »Wir nehmen es. Packen Sie es ein.«
»Unsere Tüten sind leider nicht passend für dieses Format«, entgegnete der Mann. »Wir könnten es liefern.«
Dühnfort liebte Gina, und in diesem Augenblick spürte er es intensiver als je zuvor. Sie machte sein Leben leichter, fröhlicher, unbeschwerter, und vor allem hatte sie die Einsamkeit daraus vertrieben. Fasziniert folgte er dem Dialog, der noch ein Weilchen auf demselben Niveau weiterging, bis der Kauf abgeschlossen und ein Liefertermin vereinbart war.
Als sie auf die Straße traten, nahm er sie in den Arm, küsste sie und dachte nicht daran, dass man sie dabei beobachten und sie auffliegen könnten.
»He, hallo!« Ein wenig atemlos löste Gina sich von ihm. »Das Bett wird erst in ein paar Tagen geliefert, und irgendwie sind wir hier so öffentlich.« Rasch zog sie ihn in einen Hauseingang und erwiderte seinen Kuss.
Dühnfort fühlte sich, als wäre er siebzehn und müsste sich beim Knutschen vor seinem Vater verstecken. Aber es war nicht der Vater, sondern die Kollegen und Vorgesetzen, die nicht wissen durften, dass Gina und er ein Paar waren. Jedenfalls, wenn es nach ihr ging. Er hätte es gerne offiziell gemacht. Doch das würde eine Entscheidung nach sich ziehen, die Gina noch hinauszögern wollte. Es ging allerdings schon zu lange gut. Irgendwann würde jemand eine der vertraulichen Gesten bemerken, die zwischen ihnen so selbstverständlich geworden waren, dass sie immer häufiger vergaßen, auf das Umfeld zu achten. Über kurz oder lang würden sie sich beruflich trennen müssen, denn er war ihr Chef.
Als seine Partnerin hatte sie ein Aussageverweigerungsrecht, falls es wegen eines Einsatzes zu Ermittlungen gegen ihn kommen sollte, und umgekehrt. Außerdem musste Dühnfort als Vorgesetzter nicht nur Beurteilungen über seine Mitarbeiter schreiben, sondern auch über Urlaubsanträge entscheiden, ebenso über Einsätze und Weiterbildungskurse, und dabei konnte er seine Partnerin bevorzugen. Auch wenn er das nicht tat und objektiv blieb, konnte der Eindruck von Parteilichkeit entstehen und Unruhe ins Team tragen. Also musste einer von ihnen in eine andere Kommission oder Abteilung wechseln. Und wer das war, sah der Dienstherr ebenfalls vor. Nicht der Vorgesetzte.
Gina war mit Leib und Seele Mordermittlerin und seit Jahren unersetzliche Kollegin in Dühnforts Team. Sie grub sich regelrecht in die Fälle ein und zog regelmäßig mit erstaunlicher Hartnäckigkeit neue Fakten ans Tageslicht. Sie war einfach gut. Eigentlich wollte er sie in seinem Team nicht missen. Und sie wollte nicht gehen. Doch es ließ sich nicht verhindern, und deshalb drängte Dühnfort in letzter Zeit darauf, das Versteckspiel zu beenden.
»Du grübelst wieder.« Gina strich über eine Falte an seiner Nasenwurzel. »Helmbichler? Oder lässt dich das kalt?«
Dühnfort schob das eine Problem beiseite und besann sich auf das andere. »Nein. Das nicht. Aber man sollte es auch nicht überbewerten. Es ist beinahe sieben Jahre her, dass er Rache geschworen hat, und in der letzten Zeit hat er es nicht wiederholt.«
»Vielleicht Taktik. Jetzt ist er raus. Jetzt hat er die Möglichkeit. Vorher, den Umständen entsprechend, nicht.« Ein halbherziges Lächeln erschien auf Ginas Gesicht.
Dühnfort nahm die Warnung nicht auf die leichte Schulter, die sein Chef, Kriminaloberrat Leonhard Heigl, ihm vor einigen Tagen hatte zukommen lassen, aber er sah auch keinen Grund, in Panik oder übertriebene Vorsicht zu verfallen. Helmbichler war letzte Woche entlassen worden und in Passau bei Verwandten untergekommen.
»Komm, lass uns zu Marcello gehen.« Er legte seinen Arm um ihre Schultern, in der Erwartung, dass sie ihn gleich wieder abschütteln würde. Er liebte Gina und wollte das auch zeigen. Andererseits … Er verstand sie ja. Also ließ er den Arm wieder sinken. Schweigend gingen sie die Hackenstraße entlang. Ihr Atem kondensierte in der kalten Luft. Die Sonne verschwand hinter den Dächern der Stadt und ließ die kahlen Bäume, flanierenden Menschen und dichtstehenden Häuser lange Schatten werfen. Marcellos kleine Espressobar am Rindermarkt war überfüllt. Sie schlenderten weiter über den Viktualienmarkt zum Stadtcafé.
»Passau ist nicht aus der Welt. Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.« Gina schob die Hände fröstelnd in die Manteltaschen. »Ich habe mich mal umgehört. Helmbichlers Frau hat sich scheiden lassen, während er saß. Das Geschäft ist in Konkurs gegangen, und das Haus wurde versteigert. Er hat alles verloren. Und er fühlt sich von dir geleimt. Er wird dir die Schuld an seinem Untergang geben.«
Eine Messerstecherei vor sieben Jahren war Dühnforts erster Fall in München gewesen. Es gab Zeugen und es gab Sachbeweise. Unauffindbar blieb allerdings die Tatwaffe, laut Aussagen ein Butterflymesser. Helmbichler rückte schnell in den Fokus der Ermittlungen, die Beweislage war erdrückend. Was fehlte, um den Fall rundum abzuschließen, waren die Waffe und ein Geständnis. Und das hatte Dühnfort ihm in einer langen Nacht ebenso entlockt wie den Hinweis, wo das Messer zu finden war. Am nächsten Tag hatte Helmbichler das Geständnis widerrufen. Trotzdem wurde er aufgrund einer lückenlosen Indizienkette wegen Totschlags zu sieben Jahren Haft verurteilt und hatte damals geschworen, an Dühnfort Rache zu nehmen, dem Mistkerl, der ihn gelinkt hatte.
»Schuld hat alleine er.« Ein Stein lag auf dem Pflaster. Dühnfort kickte ihn beiseite. »Die Verantwortung für sein Handeln trägt jeder selbst. Helmbichler hat seine Strafe verbüßt und kann neu beginnen. Diese Chance sollte er nutzen.« So weit die Theorie, fügte er in Gedanken hinzu. Einfacher war es natürlich, die Schuld von sich zu weisen und anderen unterzujubeln. So wurde man zum bemitleidenswerten Opfer. »Mach dir keine Sorgen. Ich passe schon auf mich auf.« Er strich ihr eine der dunklen Haarsträhnen hinters Ohr, die ihr immer wieder ins Gesicht fielen.
»Jedenfalls solltest du deine Dienstwaffe in nächster Zeit immer bei dir tragen. Versprich mir das, ja?« In ihren dunklen Augen lag Sorge, die von einem Lächeln vertrieben wurde. »Auch wenn du im Ernstfall vermutlich danebenschießt. Es würde mich trotzdem beruhigen.«
Er stimmte in ihr Lachen ein. Beim letzten Schießtraining hatte er keinen guten Tag gehabt. Ganz im Gegensatz zu Alois. Der hatte wieder einmal die volle Punktzahl abgeräumt, was Gina zu der Vermutung veranlasst hatte, er verwende ferngesteuerte Projektile.
Sie erreichten das Stadtcafé. Gina rieb sich die Hände. »Saukalt heute. Jetzt freue ich mich richtig auf einen heißen Cappuccino mit ganz viel Milchschaum.«
Das Handy in Dühnforts Manteltasche begann zu vibrieren. Er zog es hervor, während er Gina die Tür aufhielt. Staatsanwalt Christoph Leyenfels meldete sich. »Hallo, Tino, tut mir leid, dich zu stören. Wir haben hier einen etwas seltsamen Verkehrsunfall mit einem Toten. Ich würde mich wohler fühlen, wenn ihr das übernehmt.«