Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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1. Auflage 2015
© 1953, 1997, 2015 der deutschsprachigen Ausgabe:
cbj Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Neubearbeitung 2015
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Die Originalausgabe erschien 1945 unter dem Titel:
»Five Go to Smuggler’s Top« bei
Hodder and Stoughton Ltd, London.
Enid Blytons Unterschrift und »Fünf Freunde«
sind eingetragene Warenzeichen von Hodder and Stoughton Ltd.
© 2015 Hodder and Stoughton Ltd.
Alle Rechte vorbehalten
Übersetzung: Dr. Werner Lincke
Bearbeitung: Kerstin Kipker
Umschlagabbildung und Innenillustrationen: Gerda Raidt
Umschlaggestaltung: semper smile, München
SaS · Herstellung: AJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-17081-3
V003
www.cbj-verlag.de
Daheim im Felsenhaus
Eines Tages, kurz nach Beginn der Osterferien, saßen vier Kinder und ein Hund zusammen in einem Zug in Richtung Küste.
»Bald werden wir da sein«, sagte Julian, ein großer Junge mit entschlossenem Gesichtsausdruck.
»Wau!«, bellte Timmy, der Hund. Er richtete sich auf und versuchte aus dem Fenster zu schauen.
»Setz dich, Timmy, und versperr uns nicht die Aussicht! Anne ist auch noch da.«
Anne war die kleine Schwester von Julian. Sie steckte ihren Kopf zum Fenster hinaus. »Wir sind gleich am Ziel!«, rief sie aufgeregt.
»Es ist doch schön heimzufahren«, sagte ihre Cousine Georgina, die von allen nur George genannt werden wollte. Sie glich mehr einem Jungen als einem Mädchen, denn sie trug ihr lockiges Haar ganz kurz und war ein richtiger Wildfang. »Ich gehe gern zur Schule, aber daheim im Felsenhaus ist es noch viel schöner. Vielleicht rudern wir auch wieder hinaus zur Felseninsel und besuchen die Burgruine. Seit letztem Sommer waren wir nicht mehr dort.«
»Wir sind gleich da, Dick. Kannst du nicht endlich aufhören zu lesen?« Julian wandte sich an seinen jüngeren Bruder, der, in ein Buch vertieft, in einer Ecke des Abteils saß.
»Wenn du eine Ahnung hättest, wie spannend das Buch ist«, gab Dick zur Antwort und klappte es zu. »Jede Menge Abenteuer.«
»Pah! Ich kann mir nicht denken, dass dein Buch spannender ist als die Abenteuer, die wir selbst erlebt haben«, warf Anne ein.
Die Fünf Freunde, einschließlich Timmy, der immer und überall dabei war, hatten tatsächlich schon die erstaunlichsten Abenteuer miteinander bestanden. Im Augenblick sah es jedoch so aus, als ob sie ganz friedlichen Ferien entgegenfuhren, ausgefüllt mit weiten Spaziergängen über die Klippen, mit Baden am Strand und vielleicht auch mit Fahrten in Georges Ruderboot zur Felseninsel.
»Wird Tante Fanny uns abholen?«, fragte Anne.
»Natürlich!«, sagte George und alle freuten sich auf die Tante, die sie sehr gern hatten. Ihren Onkel Quentin dagegen fürchteten sie ein wenig. »Ich hoffe, dass mein Vater in diesen Ferien in besserer Stimmung sein wird. Er hat nämlich einige neue Versuche beendet, die recht erfolgreich ausgefallen sind. Meine Mutter hat’s mir geschrieben.«
Georges Vater war ein Wissenschaftler, der an neuen Erfindungen arbeitete. Er liebte die Stille.
Der Zug hielt. Tante Fanny stand am Bahnsteig, um die Kinder in Empfang zu nehmen. Sie sprangen von der Plattform und stürzten auf ihre Tante zu. George war die Erste. Timmy drehte sich im Kreis und bellte vor lauter Freude.
Tante Fanny streichelte ihn und er versuchte an ihr hochzuspringen und ihr das Gesicht zu lecken. »Timmy ist wilder denn je«, sagte sie lachend. »Setz dich, Junge! Du wirfst mich sonst noch um!«
Timmy war in der Tat aufgeregt. Er spürte die Wiedersehensfreude der Kinder und nahm daran teil, wie an allem, was die Kinder betraf, die er sehr gern hatte. Aber am meisten liebte er George. Sie nahm ihn sogar mit zum Unterricht, denn George und Anne besuchten ein Internat, in dem es erlaubt war, Haustiere mitzubringen.
Vor dem Bahnhof wartete der Ponywagen. Sie setzten sich hinein und auf ging’s zum Felsenhaus. Es war windig und kalt, die Kinder fröstelten und wickelten sich fest in ihre Mäntel.
»Es ist furchtbar kalt«, stellte Anne fest, und ihre Zähne schlugen aufeinander. »Kälter als im Winter.«
»Schon seit zwei Tagen bläst hier ein so scharfer Wind«, sagte ihre Tante und zog die Decke fester um sich. »Die Fischer haben ihre Boote bereits am Ufer festgemacht, weil sie fürchten, dass wir einen schweren Sturm bekommen.«
Die Kinder sahen im Vorbeifahren die verankerten Boote am Strand, wo sie so oft gebadet hatten. Der Wind heulte über die See. Wolkenfetzen rasten darüber hin. Die Wellen brachen sich am Strand und verursachten ein fürchterliches Getöse. Der Lärm regte Timmy so auf, dass er anfing zu bellen.
»Sei ruhig, Timmy«, sagte George und streichelte ihn. »Du musst dir Mühe geben, ein vernünftiger Hund zu werden, und still und brav sein, wenn wir wieder zu Hause sind. Sonst wird mein Vater mit Sicherheit ärgerlich.«
Bald waren sie angekommen, hatten Onkel Quentin begrüßt und saßen alle am gedeckten Tisch. Tante Fanny wusste von früher her, dass die Kinder nach der langen Reise Hunger mitbrachten. Deswegen hatte sie auch diesmal aufgetischt, was das Herz begehrte.
Der Wind fegte um das Haus. Die Fensterläden klapperten, die Türen schlugen auf und zu, und die Läufer hoben sich durch den Luftzug vom Boden.
»Als ob sich Schlangen unter ihnen ringeln«, sagte Anne.
Die Kinder hatten gehofft, dass ihr Onkel sich nach dem Essen wieder an seine Arbeit begeben würde. Aber er schien zu einem Schwätzchen aufgelegt.
»Kennt ihr einen Jungen namens Pierre Lenoir?«, fragte Onkel Quentin und zog einen Brief aus der Tasche. »Er besucht, glaube ich, dieselbe Schule wie Julian und Dick.«
»Pierre Lenoir? Ach, du meinst Blacky«, sagte Julian. »Ja, er ist in Dicks Klasse. Ein ganz verrückter Kerl!«
»Ich hatte kürzlich einen Briefwechsel mit seinem Vater. Uns beide beschäftigen die gleichen wissenschaftlichen Fragen. Daraufhin habe ich ihn gebeten, mich einige Tage zu besuchen und seinen Jungen, Pierre, mitzubringen.«
»Prima!«, sagte Dick und strahlte. »Es wäre nett, wenn Blacky, ich meine Pierre, mitkäme, Onkel. Aber er ist ziemlich verrückt. Er tut nie das, was er soll, und hat es faustdick hinter den Ohren.«
Georges Augen leuchteten. Sie fand verrückte Menschen wunderbar.
Ein Schreck in der Nacht
»Wenn nur der schreckliche Sturm nachlassen würde«, seufzte Anne, als sie später im Mädchenschlafzimmer waren. Sie zog den Vorhang zur Seite, öffnete das Fenster und sah hinaus in die Nacht.
»Mir ist kalt, Anne. Beeile dich, oder willst du dir bei der Kälte eine Grippe holen?«
»Hör doch, wie der Sturm durch die Äste der alten Esche pfeift und sie schüttelt.«
»Timmy, auf, komm zu mir ins Bett!«, befahl George. Der Hund legte sich auf ihre kalten Füße. »So ist’s recht, Timmy, mein Guter, wärme mir die Füße. Gute Nacht, Timmy! Gute Nacht, Anne!«
»Gute Nacht«, sagte Anne müde, gähnte und schloss das Fenster.
Doch an Schlaf war nicht zu denken. Der Sturm ließ nicht nach. Er tobte sogar immer heftiger um das Haus. Niemand konnte schlafen. Irgendwann fing Timmy zu winseln an, es wurde ihm angst und bange von dem Rütteln, Beben und Toben da draußen.
Die Kinder und auch Onkel Quentin und Tante Fanny schreckten immer wieder hoch, fielen dann in einen unruhigen Schlaf, um beim nächsten Sausen oder Klappern wieder hochzuschrecken.
Plötzlich ertönte ein seltsames Geräusch. Ein lautes und jammervolles Stöhnen und Knirschen, als sterbe jemand in großer Not. Die Mädchen setzten sich erschrocken auf. Was mochte das sein?
Die Jungen nebenan hatten es auch gehört. Julian sprang aus dem Bett und rannte ans Fenster. Draußen stand die alte Esche, groß und schwarz. Ab und zu fiel das fahle Licht des Mondes auf sie. Die Äste und der Stamm neigten sich immer näher auf das Haus zu.
»Die Esche stürzt um!«, schrie Julian. »Sie wird auf das Haus fallen!«
Julian rannte auf den Treppenabsatz und schrie, so laut er konnte: »Onkel! Tante! George und Anne! Kommt sofort her! Die alte Esche stürzt um!«
George sprang aus dem Bett, rüttelte Anne und raste zur Tür, Timmy hinter ihr her. Anne war im nächsten Moment an ihrer Seite.
Onkel Quentin war schnell in seinen Bademantel geschlüpft und erschien an der Tür.
»Was soll der Lärm? Was ist los?«
»Der Baum wird gleich aufs Dach fallen und die Schlafzimmer zerstören. Schnell! Gleich ist es so weit!«, schrie Julian.
Alle eilten atemlos die Treppe hinab. Keine Sekunde zu früh. Mit einem entsetzlichen Jammerlaut stürzte der große, alte Baum entwurzelt auf das Dach des Felsenhauses. Es gab einen furchtbaren Krach. Dann hörte man den Lärm von herunterfallenden Ziegeln.
»Ach Gott!«, rief Tante Fanny, den Tränen nahe. »Ich hatte schon immer das Gefühl, dass einmal so etwas passieren würde.«
Dem großen Krach folgten andere Geräusche: das Fallen, Dröhnen und Aufschlagen von allerlei Gegenständen. Die Kinder konnten immer noch nicht fassen, was geschehen war. Timmy bellte laut. Onkel Quentin schlug so heftig mit der Faust auf den Tisch, dass die anderen in die Höhe fuhren.
»Der Hund soll das Bellen lassen, ich werfe ihn sonst raus!«, tobte er.
»Ich könnte selbst losheulen«, sagte Anne. »Ich kann Timmy gut verstehen.«
Onkel Quentin stieg mit einer Kerze die Treppe hinauf, um sich den Schaden anzusehen. Er war recht blass, als er zurückkehrte.
»Der Baum hat das Dach durchstoßen und das Schlafzimmer der Mädchen zerstört«, berichtete er. »Ein dicker, schwerer Ast ist ins Jungenzimmer gefallen, ohne weiteren Schaden anzurichten. Aber das andere ist hinüber! Hätten die Mädchen in ihren Betten gelegen, wären sie ums Leben gekommen.«
Alle schwiegen. Es war ein entsetzlicher Gedanke, wie knapp George und Anne dem Tod entronnen waren.
»Ich bin der Meinung, dass jetzt ein heißer Kakao willkommen wäre«, meinte Tante Fanny, die sich von dem ersten Schreck etwas erholt hatte.
Im Arbeitszimmer brannte noch ein Feuer. Sie setzten sich alle um den Kamin.
»Quentin, wir müssen Gott danken, dass keiner von uns verletzt oder getötet wurde«, begann Tante Fanny und blickte ihren Mann ernst an. »Wohl ein dutzend Mal habe ich dich gebeten, die Esche fällen zu lassen. Der Baum war zu mächtig und auch zu alt und morsch. Ich hatte immer Angst, wenn es stürmte.«
»Ich weiß, du hast recht«, erwiderte Onkel Quentin und rührte verlegen in seinem Kakao. »Aber ich hatte in den letzten Monaten sehr viel zu tun.«
»Du hast immer eine Entschuldigung, wenn dringende Dinge erledigt werden müssen«, sagte die Tante mit einem Seufzer.
»Na, so etwas kommt wohl alle Jubeljahre einmal vor!« Onkel Quentin fuhr wütend hoch. Er beruhigte sich jedoch schnell wieder, als er sah, wie sehr seine Frau außer Fassung war und mit den Tränen kämpfte.
Er stellte seine Tasse ab und legte einen Arm um sie. »Der Schreck ist dir in die Glieder gefahren«, sagte er begütigend. »Quäl dich nicht. Morgen, am hellen Tag, sieht alles nicht mehr so schlimm aus.«
An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Die oberen Räume waren teils zerstört, teils mit Steinbrocken und heruntergebrochenem Mörtel übersät, sodass es unmöglich war, sich dort aufzuhalten.
Tante Fanny begann Notquartiere herzurichten. Ein Sofa stand in Onkel Quentins Arbeitszimmer, ein weiteres im Wohnzimmer und ein kleines im Speisezimmer. Außerdem stellte sie mit Julians Hilfe ein Feldbett auf.
Die Kinder konnten nach den Aufregungen der Nacht nur schwer Schlaf finden. Anne quälte vor allem ein Gedanke: Würden sie jetzt alle noch im Felsenhaus bleiben können?