Von Lauren Oliver bei Carlsen erschienen:

Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie

Das Zitat im 26. Kapitel stammt aus E.E. Cummings Gedicht „like a perhaps hand“, dt. „Ich trage dein Herz bei mir. Ich trage es in meinem Herzen. Ich habe es stets dabei …”. Übersetzung von Lars Vollert, aus: “like a perhaps hand. Poems – Gedichte”, © Verlag C.H.Beck, München 2010, S. 97. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

CARLSEN-Newsletter

Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!

www.carlsen.de

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2011

Originalcopyright © 2011 by Laura Schechter

Published by arrangement with Laura Schechter

Originalverlag: HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, New York

Originaltitel: Delirium

Umschlaggestaltung: formlabor

Umschlagfotografie: Getty Images © Ryan McVay

Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier

Lektorat: Kerstin Claussen

Layout und Herstellung: Karen Kollmetz

Satz und E-Book-Umsetzung: Greiner & Reichel, Köln

Lithografie: Longo Spa, Bozen

ISBN 978-3-646-92207-3

Alle Bücher im Internet unter

www.carlsen.de

Für all diejenigen, die mich in der Vergangenheit mit Amor deliria
nervosa infiziert haben – ihr wisst, wer gemeint ist.
Für all diejenigen, die mich in Zukunft infizieren werden –
ich kann es kaum erwarten, euch kennenzulernen.
Und an euch alle: Danke.

eins

Die gefährlichsten Krankheiten sind die, die einem das Gefühl geben,
gesund zu sein.

Spruch 42, Das Buch Psst

Es ist jetzt vierundsechzig Jahre her, dass der Präsident und das Konsortium die Liebe als Krankheit identifiziert haben, und vor dreiundvierzig Jahren haben die Wissenschaftler ein Heilmittel dagegen entwickelt. In meiner Familie haben alle den Eingriff bereits hinter sich. Meine ältere Schwester Rachel ist jetzt seit neun Jahren gesund. Sie ist schon so lange gegen die Liebe immun, dass sie sagt, sie erinnere sich noch nicht einmal mehr an ihre Symptome. Mein Eingriff findet in genau fünfundneunzig Tagen statt, am 3.September. Meinem Geburtstag.

Viele Leute haben Angst vor dem Eingriff. Manche Leute wehren sich sogar dagegen. Aber ich habe keine Angst. Ich kann es kaum erwarten. Mir wäre es am liebsten, er wäre gleich morgen, aber man muss mindestens achtzehn sein, bevor man geheilt wird, manchmal sogar noch ein bisschen älter. Sonst funktioniert der Eingriff nicht richtig: Die Folgen können Hirnschäden, partielle Lähmungserscheinungen, Blindheit oder Schlimmeres sein.

Der Gedanke, dass ich immer noch die Krankheit im Blut habe, gefällt mir nicht. Manchmal kann ich sie regelrecht spüren, wie sie sich in meinen Adern windet wie etwas Verdorbenes, saure Milch oder so etwas. Ich fühle mich schmutzig. Ich muss an Kinder mit Wutanfällen denken. An Widerstand, an kranke Mädchen, die mit ihren Fingernägeln über den Asphalt kratzen und sich die Haare ausreißen, während ihnen Speichel aus dem Mund tropft.

Und natürlich muss ich an meine Mutter denken.

Nach dem Eingriff werde ich für immer glücklich und immun sein. Das sagen alle, die Wissenschaftler, meine Schwester und Tante Carol. Erst wird der Eingriff gemacht und dann wird mir ein Junge zugeteilt, den die Gutachter für mich auswählen. In ein paar Jahren heiraten wir. In letzter Zeit träume ich nachts von meiner Hochzeit. Ich stehe mit Blumen im Haar unter einem weißen Baldachin und halte die Hand von jemandem. Aber immer, wenn ich mich zu ihm umdrehe, verschwimmt sein Gesicht und ich kann ihn nicht erkennen. Doch seine Hände sind kühl und trocken und mein Herz klopft gleichmäßig in meiner Brust – und in meinem Traum weiß ich, dass es immer in diesem Rhythmus weiterschlagen wird, nicht aussetzen oder hüpfen, flattern oder rasen, einfach nur bumm, bumm, bumm, bis ich sterbe.

Immun und schmerzlos.

Es war nicht immer alles so gut wie jetzt. In der Schule haben wir gelernt, dass die Leute früher, in den dunklen Zeiten, nicht wussten, was für eine tödliche Krankheit die Liebe ist. Sie hielten sie lange sogar für etwas Gutes, etwas, worüber man sich freuen und wonach man streben sollte. Aber genau deshalb ist sie ja so gefährlich: »Sie beeinträchtigt den Verstand, bis man nicht mehr in der Lage ist, klar zu denken oder rationale Entscheidungen über das eigene Wohlergehen zu treffen.« (Das ist Symptom Nummer zwölf aus dem Abschnitt über Amor deliria nervosa im Persönlichen Sicherheits- und Schutztraktat. Glück und Gesundheit für alle, 12. Auflage, oder, wie wir es nennen, Das Buch Psst.) Die Leute damals sprachen von anderen Krankheiten – von Stress, Herzbeschwerden, Angstzuständen, Depressionen, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit, bipolarer Störung –, ohne zu bemerken, dass dies nur Symptome der Amor deliria nervosa waren.

Natürlich sind wir in den Vereinigten Staaten noch nicht völlig erlöst von der Deliria. Solange der Eingriff nicht perfektioniert wird, solange er nicht sicher für unter Achtzehnjährige ist, werden wir nie vollkommen vor der Krankheit gefeit sein. Sie bewegt sich immer noch mit unsichtbaren, suchend ausgestreckten Tentakeln unter uns und nimmt uns in ihren Würgegriff. Ich habe unzählige Ungeheilte gesehen, die zu ihrem Eingriff gezerrt wurden, gequält und gezeichnet von der Liebe. Sie hätten sich lieber die Augen ausgekratzt oder versucht, sich an den Stacheldrahtzäunen um die Labors herum aufzuspießen, anstatt sich von ihr loszusagen.

Vor einigen Jahren gelang es einem Mädchen am Tag des Eingriffs, aufs Dach des Laboratoriums zu klettern. Sie fiel schnell, ohne einen Schrei. Noch Tage später brachten sie das Gesicht des toten Mädchens in den Nachrichten, um uns an die Gefahren der Deliria zu erinnern. Ihre Augen waren offen und ihr Hals unnatürlich verrenkt, aber so, wie ihre Wange auf dem Asphalt ruhte, hätte man meinen können, sie habe sich hingelegt, um ein Nickerchen zu halten. Es war überraschend wenig Blut zu sehen – nur ein kleines dunkles Rinnsal in ihren Mundwinkeln.

Noch fünfundneunzig Tage, dann bin ich immun. Natürlich bin ich aufgeregt. Ich frage mich, ob der Eingriff wohl wehtun wird. Ich will es hinter mich bringen. Es ist nicht leicht, geduldig zu sein. Es ist nicht leicht, keine Angst zu haben, solange ich noch nicht geheilt bin, obwohl ich bisher nicht von der Deliria befallen worden bin.

Trotzdem mache ich mir Sorgen. Es heißt, die Liebe habe die Leute früher in den Wahnsinn getrieben. Das ist schon schlimm genug. Das Buch Psst berichtet aber auch von Menschen, die gestorben sind, weil sie die Liebe verloren oder nie gefunden haben. Und das macht mir am meisten Angst.

Die gefährlichste aller Krankheiten. Sie endet auf jeden Fall tödlich, ob man sie hat oder nicht.

zwei

Wir müssen ständig auf der Hut vor der Krankheit sein;

die Gesundheit unserer Nation, unseres Volkes, unserer Familien und

unseres Geistes hängt von ständiger Wachsamkeit ab.

»Wesentliche Maßnahmen zum Gesundheitsschutz«,
Das Buch Psst

Der Geruch nach Orangen erinnert mich immer an Beerdigungen. Am Morgen meiner Evaluierung wache ich von genau diesem Geruch auf. Ich werfe einen Blick auf den Wecker, der auf dem Nachttisch steht. Es ist sechs Uhr.

Das Licht ist noch grau, die Sonne dringt nur langsam in das Zimmer, das ich mir mit den beiden Töchtern meiner Cousine teile. Grace, die jüngere, kauert bereits angezogen auf ihrem Bett und beobachtet mich. Sie hält eine ganze Orange in der Hand und versucht mit ihren kleinen Kinderzähnen hineinzubeißen wie in einen Apfel. Mein Magen zieht sich zusammen und ich schließe die Augen, um die Erinnerung an das warme, kratzige Kleid zu vertreiben, das ich anziehen musste, als meine Mutter gestorben war; die Erinnerung an die murmelnden Stimmen, eine große, raue Hand, die mir ein Stück Orange nach dem anderen reichte, damit ich daran sog und still war. Während der Beerdigung aß ich vier Orangen, Stück für Stück, und als nur noch ein Haufen Schalen auf meinem Schoß übrig war, begann ich an ihnen zu saugen. Der bittere Geschmack half mir, die Tränen zurückzuhalten.

Ich schlage die Augen auf und Grace beugt sich vor, die Orange in der ausgestreckten Handfläche.

»Nein, Gracie.« Ich schiebe die Decke weg und stehe auf. Mein Magen ballt sich zusammen wie eine Faust und entspannt sich wieder. »Und die Schale kann man übrigens nicht mitessen.«

Sie blinzelt weiterhin mit ihren großen grauen Augen zu mir auf, ohne etwas zu sagen. Ich seufze und setze mich neben sie. »So«, sage ich und zeige ihr, wie sie die Orange mit dem Fingernagel schälen kann. Ich pelle leuchtend orangefarbene Kringel ab und lasse sie in ihren Schoß fallen, wobei ich die ganze Zeit die Luft anhalte, um den Geruch nicht einzuatmen. Grace sieht mir schweigend zu. Als ich fertig bin, hält sie die geschälte Orange in beiden Händen, als wäre es eine Glaskugel und sie hätte Angst, sie zu zerbrechen.

Ich gebe ihr einen Stups. »Los, jetzt kannst du sie essen.« Sie starrt sie bloß an und ich seufze erneut und fange an, die Orange nach und nach für sie in Stücke zu teilen. Dabei flüstere ich so freundlich wie möglich: »Weißt du, die anderen wären netter zu dir, wenn du gelegentlich etwas sagen würdest.«

Sie antwortet nicht. Nicht, dass ich wirklich damit gerechnet hätte. Tante Carol hat Grace in den sechs Jahren und drei Monaten ihres Lebens kein Wort sagen hören – nicht eine einzige Silbe. Carol glaubt, mit Gracies Gehirn sei etwas nicht in Ordnung, aber bisher haben die Ärzte nichts gefunden. »Sie ist strohdoof«, hat Carol erst neulich ungerührt festgestellt, als sie Grace dabei beobachtete, wie sie einen bunten Block in den Händen drehte wie etwas Wunderschönes und Geheimnisvolles, als erwartete sie, dass er sich jeden Moment in etwas anderes verwandeln würde.

Ich stehe auf und gehe zum Fenster, weg von Grace und ihren großen, starrenden Augen und ihren dünnen, schnellen Fingern. Sie tut mir leid.

Marcia, Gracies Mutter, ist tot. Sie hatte ursprünglich immer gesagt, sie wolle keine Kinder. Das ist eine der Kehrseiten des Eingriffs: Ohne die Deliria nervosa ist manchen Leuten die Vorstellung, Eltern zu werden, zuwider. Glücklicherweise gibt es nur selten Fälle ausgeprägter Ablehnung – in denen ein Elternteil unfähig ist, eine normale, pflichtgemäße und verantwortungsvolle Bindung zu seinen Kindern aufzubauen, und sie schließlich ertränkt, ihnen die Luft abdrückt oder sie totschlägt, weil sie weinen.

Aber die Gutachter entschieden, dass Marcia zwei Kinder bekommen sollte. Damals schien das sinnvoll. Ihre Familie hatte in der Jahresuntersuchung hohe Stabilitätswerte erreicht. Ihr Mann war ein renommierter Wissenschaftler. Sie wohnten in einem riesigen Haus in der Winter Street. Marcia war eine begeisterte Köchin und gab in ihrer Freizeit Klavierunterricht.

Aber als Marcias Ehemann in den Verdacht geriet, ein Sympathisant zu sein, änderte sich natürlich alles. Marcia und ihre Kinder Jenny und Grace mussten wieder zu Marcias Mutter, meiner Tante Carol, ziehen, und überall, wo sie hingingen, tuschelten die Leute und zeigten mit dem Finger auf sie. Grace erinnert sich daran bestimmt nicht mehr; es würde mich wundern, wenn sie überhaupt irgendwelche Erinnerungen an ihre Eltern hätte.

Marcias Mann verschwand, bevor der Prozess begann. Wahrscheinlich war das gut so. Es sind meistens Schauprozesse. Sympathisanten werden fast immer hingerichtet. Wenn nicht, bekommen sie dreimal lebenslänglich und werden in die Grüfte gesperrt. Das wusste Marcia natürlich. Tante Carol glaubt, dass Marcias Herz deshalb nur wenige Monate nach dem Verschwinden ihres Ehemanns den Geist aufgegeben hat, als sie an seiner Stelle angeklagt wurde. Einen Tag nachdem ihr die Unterlagen zugestellt wurden, ging sie die Straße entlang und – zack! Herzinfarkt.

Herzen sind zerbrechlich. Deshalb muss man so vorsichtig damit sein.

Heute wird ein heißer Tag, das merkt man. Es ist jetzt schon heiß im Zimmer, und als ich das Fenster einen Spaltbreit öffne, um den Orangengeruch rauszulüften, fühlt sich die Luft draußen so dick und schwer an wie eine Zunge. Ich atme den sauberen Geruch von Seetang und feuchtem Holz ein, höre auf die entfernten Schreie der Möwen, die irgendwo hinter den niedrigen grauen Gebäuden über der Bucht ihre endlosen Kreise ziehen. Ein Automotor heult draußen auf. Das Geräusch erschreckt mich und ich zucke zusammen.

»Nervös wegen deiner Evaluierung?«

Ich drehe mich um. Tante Carol steht mit gefalteten Händen in der Tür.

»Nein«, sage ich, obwohl das gelogen ist.

Sie lächelt kaum wahrnehmbar, nur ein kurzes Zucken. »Keine Sorge, das wird schon. Geh duschen, nachher helfe ich dir mit deinen Haaren. Auf dem Weg können wir deine Antworten noch mal durchgehen.«

»Okay.« Meine Tante starrt mich weiter an. Ich winde mich innerlich und kralle meine Fingernägel ins Fensterbrett hinter mir. Ich habe es schon immer gehasst, gemustert zu werden. Aber ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen. Während der Prüfung werden mich vier Gutachter zwei Stunden lang aus nächster Nähe anstarren. Und dabei werde ich nichts als einen dünnen Plastikkittel tragen – halb durchsichtig –, damit sie meinen Körper sehen können.

»Sieben oder acht Punkte, schätze ich«, sagt meine Tante und schürzt die Lippen. Das wäre ein anständiges Ergebnis und darüber wäre ich froh. »Allerdings wirst du nicht mehr als sechs Punkte bekommen, wenn du dich jetzt nicht wäschst.«

Die zwölfte Klasse ist fast vorbei und die Evaluierung ist mein letzter Test. In den vergangenen vier Monaten hatte ich alle meine Abschlussprüfungen – Mathe, Naturwissenschaften, mündliche und schriftliche Leistungstests, Soziologie, Psychologie und Fotografie (als Wahlfach) –, und irgendwann in den nächsten paar Wochen erfahre ich meine Noten. Ich bin ziemlich sicher, dass ich gut genug abgeschnitten habe, um aufs College zu dürfen. Ich war schon immer eine gute Schülerin. Die akademischen Sachverständigen werden meine Stärken und Schwächen analysieren und mir dann eine Uni und ein Studienfach zuweisen.

Die Evaluierung ist der letzte Schritt, bevor ich einem Partner zugeteilt werde. In den kommenden Monaten werden mir die Gutachter eine Liste mit vier oder fünf genehmigten Treffern zuschicken. Einer davon wird dann nach meinem Collegeabschluss mein Ehemann (vorausgesetzt, ich habe alle meine Abschlussprüfungen bestanden. Mädchen, die durchfallen, heiraten den ihnen zugeteilten Partner direkt nach der Highschool). Die Gutachter werden ihr Bestes tun, um mich mit jemandem zusammenzubringen, der ein ähnliches Ergebnis in der Evaluierung erreicht hat. So weit wie möglich versuchen sie große Unterschiede bei Intelligenz, Temperament, sozialer Herkunft und Alter zu vermeiden. Natürlich hört man gelegentlich auch Horrorstorys: Fälle, in denen ein armes achtzehnjähriges Mädchen an einen wohlhabenden Achtzigjährigen vergeben wurde oder so.

Die Treppe gibt ihr grässliches Ächzen von sich und Gracies Schwester Jenny erscheint. Sie ist neun und groß für ihr Alter, aber sehr dünn: Sie ist nur Haut und Knochen und ihre Brust ist eingesunken wie ein gewölbtes Backblech. Es ist nicht nett von mir, aber ich mag sie nicht besonders. Sie sieht genauso verhärmt aus wie ihre Mutter früher.

Sie stellt sich neben meine Tante in die Tür und starrt mich an. Ich bin nur eins siebenundfünfzig groß und Jenny ist erstaunlicherweise nur ein paar Zentimeter kleiner als ich. Es ist albern, vor meiner Tante und meinen Cousinen verlegen zu sein, aber ein heißes Kribbeln kriecht meine Arme hinauf. Ich weiß, dass sie sich alle Sorgen um mein Abschneiden bei der Evaluierung machen. Es ist wichtig, dass mir jemand Gutes zugeteilt wird. Für Jenny und Grace sind es noch Jahre bis zu ihrem Eingriff. Wenn ich eine gute Partie mache, bedeutet das in einigen Jahren ein Extraeinkommen für die Familie. Es würde vielleicht auch das Getuschel zum Verstummen bringen, die Fetzen hämischen Singsangs, die uns vier Jahre nach dem Skandal immer noch überallhin zu folgen scheinen wie das Geräusch raschelnder Blätter im Wind: Sympathisant, Sympathisant, Sympathisant.

Das ist nur geringfügig besser als das andere Wort, das mich nach dem Tod meiner Mutter jahrelang verfolgte, ein schlangenähnliches Zischen, das dahinkriecht und eine Giftspur hinter sich zurücklässt: Selbstmord. Ein Wort, das zur Seite gesprochen wird, ein Wort, das die Leute flüstern, wispern und hüsteln; ein Wort, das hinter vorgehaltener Hand gesagt oder in verschlossenen Räumen gemurmelt wird. Nur in meinen Träumen hörte ich, wie das Wort gebrüllt, herausgeschrien wurde.

Ich hole tief Luft, dann bücke ich mich, um die Plastikkiste unter meinem Bett hervorzuziehen, damit meine Tante nicht sieht, dass ich zittere.

»Heiratet Lena heute?«, fragt Jenny. Ihre Stimme erinnert mich immer an Bienen, die träge in der Hitze summen.

»Red keinen Unsinn«, sagt meine Tante, aber sie klingt nicht ärgerlich. »Du weißt doch, dass sie nicht heiraten kann, bevor sie geheilt ist.«

Ich hole mein Handtuch aus der Kiste und richte mich auf, das Handtuch gegen die Brust gedrückt. Von diesem Wort – heiraten – bekomme ich einen ganz trockenen Mund. Alle heiraten, sobald sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben. So ist das nun mal. »Die Ehe steht für Ordnung und Stabilität, sie ist das Kennzeichen einer gesunden Gesellschaft. (siehe Das Buch Psst, »Grundlagen der Gesellschaft«, S.114). Aber beim Gedanken daran beginnt mein Herz trotzdem heftig zu flattern wie ein Insekt hinter Glas. Ich habe noch nie einen Jungen berührt – natürlich nicht, denn Körperkontakt mit Ungeheilten des anderen Geschlechts ist verboten. Ehrlich gesagt habe ich noch nicht mal mehr als fünf Minuten mit einem Jungen geredet, abgesehen von meinen Cousins, meinem Onkel und Andrew Marcus, der meinem Onkel im Stop-N-Save hilft, dauernd in der Nase bohrt und seine Popel unter die Gemüsekonserven schmiert.

Und wenn ich meine Abschlussprüfungen nicht bestanden habe – bitte, bitte, guter Gott, mach, dass ich bestanden habe –, wird meine Hochzeit stattfinden, sobald ich geheilt bin, in weniger als drei Monaten. Was bedeutet, dass auch meine Hochzeitsnacht stattfinden wird.

Der Orangengeruch ist immer noch sehr intensiv und mein Magen zieht sich erneut zusammen. Ich vergrabe das Gesicht in meinem Handtuch und atme ein, um die Übelkeit zu vertreiben.

Von unten ist Geschirrklappern zu hören. Meine Tante seufzt und sieht auf die Uhr.

»Wir müssen in weniger als einer Stunde los«, sagt sie. »Du machst besser voran.«

drei

Herr, hilf uns, mit den Füßen auf der Erde zu bleiben

Und mit den Augen auf dem Weg

Und immer der gefallenen Engel zu gedenken,

Die beim Versuch, sich zu erheben,

Von der Sonne versengt wurden und mit verglühenden Flügeln

Ins Meer stürzten.

Herr, hilf mir, den Blick auf der Erde zu halten

Und ihn nicht vom Weg abzuwenden,

Auf dass ich niemals stolpere.

42. Psalm

Meine Tante besteht darauf, mich zu den Labors zu begleiten, die bei den anderen Regierungsbüros unten am Pier stehen: eine Reihe leuchtend weißer Gebäude, die wie Zähne über dem schlürfenden Mund des Ozeans glitzern. Als ich noch klein und gerade erst zu ihr gekommen war, brachte sie mich jeden Tag zur Schule. Meine Mutter, meine Schwester und ich hatten näher an der Grenze gewohnt, und ich war fasziniert und entsetzt von all den gewundenen, düsteren Straßen, die nach Müll und altem Fisch stanken. Ich wünschte mir immer, meine Tante würde meine Hand halten, aber das tat sie nie, und ich ballte die Fäuste, folgte dem hypnotisierenden Rascheln ihrer Cordhose und fürchtete mich vor dem Augenblick, in dem die St.-Anne-Mädchenschule über der Kuppe des letzten Hügels auftauchen würde, dieses dunkle Gebäude aus Stein, das von Rissen und Furchen überzogen war wie das wettergegerbte Gesicht eines der Industriefischer, die im Hafen arbeiteten.

Erstaunlich, wie sich die Dinge verändern. Damals hatte ich Angst vor den Straßen Portlands und wäre meiner Tante nicht von der Seite gewichen. Jetzt kenne ich die Wege so gut, dass ich ihren Neigungen und Windungen mit geschlossenen Augen folgen könnte, und wäre heute am liebsten allein. Ich kann das Meer riechen, obwohl man es noch nicht sehen kann, und das macht mich ruhiger. Durch das Salz, das vom Meer hergeweht wird, fühlt die Luft sich strukturiert und schwer an.

»Denk dran«, sagt Tante Carol zum tausendsten Mal, »sie wollen zwar etwas über deine Persönlichkeit erfahren, aber je allgemeiner du antwortest, desto größer sind deine Chancen, für eine Vielzahl von Positionen in Betracht gezogen zu werden.« Wenn meine Tante über die Ehe spricht, zitiert sie immer aus dem Buch Psst und benutzt mit Vorliebe Wörter wie Pflicht, Verantwortung und Beständigkeit.

»Verstanden«, sage ich. Ein Bus donnert an uns vorbei. An seiner Seite erkenne ich das Emblem der St.-Anne-Schule und ich ziehe schnell den Kopf ein, als ich mir vorstelle, wie Cara McNamara oder Hillary Packer aus dem dreckverkrusteten Fenster sehen und kichernd auf mich zeigen. Alle wissen, dass heute meine Evaluierung ist. Es gibt nur vier pro Jahr und die Termine werden lange im Voraus vergeben.

Von dem Make-up, auf dem Tante Carol bestanden hat, fühlt sich meine Haut verklebt und glatt an. Im Badezimmerspiegel zu Hause sah ich aus wie ein Fisch, vor allem, weil meine Haare mit Klammern und Spangen vollgesteckt sind: ein Fisch, dem ein Haufen Metallhaken aus dem Kopf ragen.

Ich mag kein Make-up, habe mich nie für Kleider oder Lipgloss interessiert. Meine beste Freundin Hana hält mich für verrückt, aber das ist auch kein Wunder. Sie sieht absolut großartig aus – selbst wenn sie ihre Haare nur zu einem unordentlichen Knoten dreht, sieht es aus, als hätte sie sich absichtlich so gestylt. Ich bin nicht hässlich, aber auch nicht hübsch. Alles ist so mittelmäßig. Meine Augen sind weder grün noch braun, sondern eine Mischung. Ich bin nicht dünn, aber auch nicht dick. Das Einzige, was man eindeutig über mich sagen kann, ist, dass ich klein bin.

»Wenn sie dich – da sei Gott vor – nach deinen Cousins und Cousinen fragen, sagst du, du hättest sie nicht gut gekannt …«

»Mh-mhm.« Ich höre nur mit einem Ohr zu. Es ist heiß, zu heiß für Juni, und mein Rücken und meine Achseln jucken bereits vom Schweiß, obwohl ich mich am Morgen großzügig mit Deo eingesprüht habe. Rechts von uns liegt die Casco Bay, eingerahmt von Peaks Island und Great Diamond Island, wo die Wachtürme stehen. Dahinter ist das offene Meer – und dahinter wiederum befinden sich all die zerfallenen Länder und Städte, die von der Krankheit zerstört wurden.

»Lena? Hörst du mir überhaupt zu?« Carol legt mir eine Hand auf den Arm und dreht mich zu sich herum.

»Blau«, plappere ich ihr nach. »Blau ist meine Lieblingsfarbe. Oder Grün.« Schwarz ist zu makaber. Rot wird sie nervös machen. Rosa ist zu kindlich. Orange ist schräg.

»Und was machst du gerne in deiner Freizeit?«

Ich entwinde mich sanft ihrem Griff. »Das sind wir doch schon durchgegangen.«

»Das hier ist wichtig, Lena. Wahrscheinlich der wichtigste Tag deines ganzen Lebens.«

Ich seufze. Mit einem mechanischen Sirren schwingen vor uns langsam die Tore auf, die die Regierungslabors abriegeln. Es haben sich bereits zwei Schlangen gebildet: auf einer Seite die Mädchen und fünfzehn Meter weiter an einem anderen Eingang die Jungen. Ich blinzele ins Sonnenlicht und versuche Bekannte zu entdecken, aber die auf dem Meer glitzernde Sonne treibt mir schwarze Punkte vor die Augen.

»Lena?«, hakt meine Tante nach.

Ich hole tief Luft und leiere die Rede herunter, die wir eine Milliarde Mal geprobt haben. »Es macht mir Spaß, bei der Schülerzeitung mitzuarbeiten. Ich interessiere mich für Fotografie, weil man dabei einen einzelnen Augenblick einfangen und bewahren kann. Ich bin gerne mit meinen Freunden zusammen und gehe häufig zu Konzerten im Deering Oaks Park. Ich laufe gern und war zwei Jahre lang Vize-Kapitänin der Crosslaufmannschaft. Im 5-km-Lauf bin ich Schulmeisterin. Ich kümmere mich oft um meine jüngeren Familienmitglieder und mag Kinder.«

»Du schneidest eine Grimasse«, sagt meine Tante.

»Ich mag Kinder sehr«, wiederhole ich und verziehe den Mund zu einem Lächeln. Ehrlich gesagt mag ich nicht besonders viele Kinder außer Gracie. Sie sind immer so unruhig und laut, sie fassen alles an und sabbern und machen in die Hose. Aber ich weiß, dass ich irgendwann eigene Kinder haben muss.

»Schon besser«, sagt Carol. »Weiter.«

Zum Abschluss sage ich: »Meine Lieblingsfächer sind Mathe und Geschichte«, und sie nickt zufrieden.

»Lena!«

Ich drehe mich um. Hana steigt gerade aus dem Auto ihrer Eltern, ihre blonden Haare fallen in Strähnen und Wellen um ihr Gesicht, ihre halb durchscheinende Tunika entblößt eine sonnengebräunte Schulter. Alle Mädchen und Jungen, die vor den Labors in der Schlange warten, haben sich umgedreht und sehen sie an. Hana hat diese Macht über Menschen.

»Lena! Warte!« Hana rennt die Straße entlang und winkt mir überschwänglich zu. Der Wagen hinter ihr wendet langsam: vor und zurück, vor und zurück in der engen Einfahrt, bis er in die andere Richtung weist. Das Auto von Hanas Eltern ist so schnittig und dunkel wie ein Panther. Die wenigen Male, die wir zusammen damit gefahren sind, habe ich mich gefühlt wie eine Prinzessin. Kaum jemand besitzt heutzutage ein Auto und noch weniger Leute haben ein Auto, das fährt. Öl ist streng rationiert und sehr teuer. Einige Leute aus der Mittelschicht haben vor ihren Häusern noch Autos wie Denkmäler stehen, kalt und ungenutzt, die Räder makellos und neu.

»Hallo, Lena«, sagt Hana atemlos, als sie uns eingeholt hat. Eine Zeitschrift fällt aus ihrer halb geöffneten Tasche und sie bückt sich, um sie aufzuheben. Es ist eine der Regierungsveröffentlichungen, Heim und Familie, und als Reaktion auf meine gehobenen Augenbrauen verzieht sie das Gesicht. »Mom hat gesagt, ich soll sie mitnehmen und darin lesen, während ich auf meine Evaluierung warte. Sie meint, das würde einen guten Eindruck machen.« Hana steckt einen Finger in den Hals und tut so, als würde sie sich übergeben.

»Hana«, flüstert meine Tante scharf. Die Angst in ihrer Stimme lässt mein Herz aussetzen. Carol verliert praktisch nie die Beherrschung, noch nicht mal für einen Moment. Sie dreht schnell den Kopf in beide Richtungen, als rechnete sie damit, dass an diesem sonnigen Morgen Aufseher oder Gutachter auf der Straße herumstünden.

»Keine Sorge. Wir werden nicht beobachtet.« Hana kehrt meiner Tante den Rücken zu und formt mit den Lippen: noch nicht. Dann grinst sie.

Die doppelte Schlange aus Mädchen und Jungen vor uns wird länger und reicht inzwischen bis auf die Straße. Jetzt gleiten die Glastüren der Labors auf, mehrere Krankenschwestern mit Klemmbrettern tauchen auf und schicken Leute in die Wartezimmer. Meine Tante legt mir eine Hand auf den Ellbogen, leicht und flüchtig wie ein Vogel.

»Ihr stellt euch besser an«, sagt sie. Ihre Stimme klingt wieder normal. Ich wünschte, ein wenig von ihrer Ruhe würde auf mich abfärben. »Und – Lena?«

»Ja?« Mir ist unwohl zu Mute. Die Labors wirken weit entfernt und sind so weiß, dass ich es kaum ertragen kann, sie anzusehen, der Bürgersteig vor uns schimmert in der Hitze. Die Worte der wichtigste Tag deines ganzen Lebens gehen mir wieder und wieder im Kopf herum. Die Sonne fühlt sich an wie ein riesiger Scheinwerfer.

»Viel Glück.« Meine Tante schenkt mir ihr Millisekundenlächeln.

»Danke.« Irgendwie wünschte ich, Carol würde noch etwas sagen – so etwas wie: Du schaffst das, oder: Mach dir keine Gedanken –, aber sie steht einfach nur blinzelnd da, ihr Gesicht so beherrscht und undurchdringlich wie immer.

»Keine Sorge, Mrs Tiddle.« Hana zwinkert mir zu. »Ich kümmere mich darum, dass sie es nicht völlig vermasselt. Versprochen.«

All meine Nervosität ist wie weggeblasen. Hana steht der ganzen Sache so gelassen gegenüber, so gleichgültig und normal.

Gemeinsam gehen wir auf die Labors zu. Hana ist fast eins fünfundsiebzig. Wenn ich neben ihr hergehe, muss ich nach jedem zweiten Schritt einen kleinen Hüpfer machen, um mit ihr mitzuhalten, und fühle mich schließlich immer wie eine Ente, die im Wasser auf und nieder hopst. Heute macht mir das allerdings nichts aus. Ich bin froh, dass sie bei mir ist. Ansonsten wäre ich jetzt schon völlig fertig.

»Gott«, sagt sie, als wir uns den Schlangen nähern. »Deine Tante nimmt diese ganze Sache ziemlich ernst, was?«

»Na ja, es ist ernst.« Wir stellen uns hinten an. Jetzt erkenne ich einige Leute: ein paar Mädchen aus der Schule; ein paar Typen, die ich hinter einer der Schulen für Jungen, der Spencer-Schule, Fußball spielen gesehen habe. Einer von ihnen sieht in meine Richtung und bemerkt, dass ich zu ihm rüberstarre. Er hebt die Augenbrauen und ich senke schnell den Blick, während mein Gesicht sofort ganz heiß wird und mein Magen anfängt zu kribbeln. In nicht mal drei Monaten wird dir ein Partner zugeteilt, sage ich mir, aber die Wörter bedeuten nichts und klingen bloß lächerlich wie bei einem der Spiele, die wir als Kinder gespielt haben, bei denen immer Quatsch-Sätze herauskamen: Ich will eine Banane zum Rennboot. Gib meinen nassen Schuh deinem blubbernden Muffin.

»Ja, ich weiß. Glaub mir, ich habe Das Buch Psst auch gelesen, genau wie alle anderen.« Hana schiebt ihre Sonnenbrille hoch, klimpert mir mit ihren Wimpern zu und sagt mit zuckersüßer Stimme: »Der Tag der Evaluierung ist ein aufregendes Übergangsritual und ermöglicht dir eine Zukunft des Glücks, der Stabilität und Partnerschaft.« Sie lässt ihre Sonnenbrille wieder zurück auf die Nase fallen und verzieht das Gesicht.

»Glaubst du etwa nicht daran?« Ich senke meine Stimme zu einem Flüstern.

Hana benimmt sich seltsam in letzter Zeit. Sie war schon immer anders als viele Leute – offener, unabhängiger, furchtloser. Das ist einer der Gründe, warum ich ursprünglich ihre Freundin sein wollte. Ich war schon immer schüchtern und habe ständig Angst, das Falsche zu sagen oder zu tun. Hana ist das genaue Gegenteil.

Aber seit neuestem ist es mehr als das. Zum Beispiel wurde sie in der Schule nachlässig und ist mehrmals zum Direktor gerufen worden, weil sie den Lehrern widersprochen hat. Und manchmal hört sie mitten im Satz auf zu sprechen und klappt den Mund zu, als wäre sie gegen ein Hindernis gestoßen. Dann ertappe ich sie gelegentlich dabei, dass sie aufs Meer hinausstarrt, als würde sie darüber nachdenken, einfach wegzuschwimmen.

Als ich sie jetzt so ansehe, ihre klaren grauen Augen und ihren Mund, der so dünn und angespannt ist wie eine Bogensehne, versetzt es mir einen Stich. Ich muss daran denken, wie meine Mutter einen Augenblick durch die Luft ruderte, bevor sie wie ein Stein ins Meer fiel; ich muss an das Gesicht dieses Mädchens denken, das vor all den Jahren vom Dach des Laboratoriums gesprungen ist, an ihre Wange auf dem Asphalt. Aber ich verdränge die Gedanken an die Krankheit. Hana ist nicht krank. Das kann nicht sein. Das wüsste ich.

»Wenn es ihnen wirklich um unser Glück ginge, würden sie uns selbst jemanden auswählen lassen«, grummelt Hana.

»Hana«, sage ich mit scharfer Stimme. Das System zu kritisieren ist das schlimmste Vergehen, das es gibt. »Nimm das zurück.«

Sie hebt die Hände. »Okay, okay. Ich nehm’s zurück.«

»Du weißt doch, dass das nicht funktioniert. Guck dir an, wie es früher war. Die ganze Zeit über Chaos, Kämpfe und Krieg. Den Leuten ging es schlecht.«

»Ich hab doch gesagt, ich nehm’s zurück.« Sie lächelt mich an, aber ich bin immer noch sauer und sehe weg.

»Außerdem«, fahre ich fort, »haben wir sehr wohl eine Wahl.«

Normalerweise erstellen die Gutachter eine Liste mit vier oder fünf genehmigten Treffern und man darf sich daraus jemanden aussuchen. So sind alle zufrieden. In all den Jahren, seit der Eingriff durchgeführt und die Ehen vermittelt werden, gab es weniger als zwölf Scheidungen in Maine und weniger als tausend in den gesamten Vereinigten Staaten – und in fast all diesen Fällen stand entweder der Ehemann oder die Ehefrau im Verdacht, Sympathisant zu sein, weshalb die Scheidung nötig war und vom Staat genehmigt wurde.

»Eine beschränkte Wahl«, verbessert sie mich. »Wir dürfen aus Leuten wählen, die für uns ausgewählt wurden.«

»Jede Wahl ist beschränkt«, gebe ich giftig zurück. »So ist das Leben.«

Sie macht den Mund auf, wie um etwas zu erwidern, aber stattdessen fängt sie einfach an zu lachen. Dann nimmt sie meine Hand und drückt sie, zweimal kurz, zweimal lang. Das ist unser altes Zeichen, eine Gewohnheit, die wir in der zweiten Klasse entwickelt haben, wenn eine von uns Angst hatte oder aufgeregt war, eine Art auszudrücken: Keine Sorge, ich bin hier.

»Schon gut. Jetzt werd nicht gleich aggressiv. Es gibt nichts Besseres als die Evaluierungen, okay? Lang lebe der Tag der Evaluierung.«

»Das klingt schon besser«, sage ich, aber ich bin immer noch nervös und ärgerlich. Die Schlange schiebt sich langsam vorwärts. Wir durchqueren die Eisentore mit ihrer verworrenen Krone aus Stacheldraht und betreten die lange Auffahrt, die zu den verschiedenen Laborkomplexen führt. Wir gehen auf Gebäude 6C zu. Die Jungen gehen zu 6B und die Schlangen führen langsam voneinander weg.

Als wir weiter nach vorne kommen, trifft uns jedes Mal, wenn die Glastüren aufgleiten und sich summend wieder schließen, ein Schwall klimatisierter Luft. Es fühlt sich herrlich an, als würde man einen Moment lang von Kopf bis Fuß in eine dünne Schicht Speiseeis getaucht, und ich drehe mich um und hebe meinen Pferdeschwanz an. Ich wünschte, es wäre nicht so verdammt heiß. Zu Hause haben wir keine Klimaanlage, nur große, unförmige Ventilatoren, die immer mitten in der Nacht den Geist aufgeben. Und meistens dürfen wir noch nicht mal die benutzen. Sie verbrauchen zu viel Strom, sagt Carol, und den sollen wir nicht verschwenden.

Schließlich sind nur noch wenige Leute vor uns. Eine Krankenschwester kommt mit einem Stapel Klemmbretter und einer Handvoll Stifte aus dem Gebäude und fängt an, sie in der Schlange zu verteilen.

»Bitte füllt alle nötigen Felder aus«, sagt sie, »medizinische und familiäre Vorgeschichte eingeschlossen.«

Mein Herz klopft mir bis zum Hals. Die ordentlich nummerierten Kästchen auf der Seite – Nachname, Vornamen, Rufname, aktuelle Adresse, Alter – verschwimmen. Ich bin froh, dass Hana vor mir steht. Sie macht sich schnell daran, die Formulare auszufüllen, wozu sie das Klemmbrett auf ihrem Unterarm abstützt und mit dem Stift über das Papier saust.

»Die Nächste.«

Die Türen gleiten wieder auf und eine andere Krankenschwester erscheint und macht Hana ein Zeichen einzutreten. In der kühlen Dunkelheit hinter ihr kann ich ein leuchtend weißes Wartezimmer mit einem grünen Teppich erkennen.

»Viel Glück«, wünsche ich ihr.

Sie dreht sich um und schenkt mir ein kurzes Lächeln. Aber ich merke, dass sie jetzt doch nervös ist. Zwischen ihren Augenbrauen steht eine dünne Falte und sie kaut an ihrer Lippe.

Sie macht sich auf den Weg ins Labor, dann dreht sie sich plötzlich wieder um und kommt zu mir zurück. Ihr Gesicht sieht wild und fremd aus, sie packt mich an beiden Schultern und hält ihren Mund direkt an mein Ohr. Ich bekomme einen solchen Schreck, dass mir das Klemmbrett runterfällt.

»Du weißt doch, dass man nicht glücklich sein kann, ohne manchmal auch unglücklich zu sein, oder?«, flüstert sie und ihre Stimme ist rau, als hätte sie gerade geweint.

»Was?«

Ihre Nägel bohren sich in meine Schultern und in diesem Augenblick habe ich Angst vor ihr. »Man kann nicht glücklich sein, wenn man nicht manchmal auch unglücklich ist. Das weißt du doch, oder?«

Bevor ich etwas erwidern kann, lässt sie mich los, und plötzlich ist ihr Gesicht wieder so gelassen, hübsch und gefasst wie immer. Sie bückt sich, um mein Klemmbrett aufzuheben, und reicht es mir mit einem Lächeln. Dann dreht sie sich um und ist hinter den Glastüren verschwunden, die sich so sanft öffnen und hinter ihr schließen wie Wasser, das über einem sinkenden Gegenstand zusammenschlägt.