Silke van Dyk
Tine Haubner

Community-Kapitalismus

Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

© der E-Book-Ausgabe 2021 by Hamburger Edition

© der Print-Ausgabe 2021 by Hamburger Edition

Inhalt

1Die (Wieder-)Entdeckung der Gemeinschaft im Krisenkapitalismus

2Was bisher geschah: Zur Analyse gemeinschaftsbasierter Sorgepotenziale in Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung

3Gemeinschaft(en) als Forschungsgegenstand – Herausforderungen, Leerstellen und Anschlüsse

4Freiwilliges Engagement als Pfeiler der sozialen Daseinsvorsorge

5Sorgende Gemeinschaften und die Mobilisierung informeller Pflegepotenziale

6Die Vielfalt der Posterwerbsarbeit im Community-Kapitalismus

7Wo ist das Problem? Kehrseiten gemeinschaftsförmiger Sorge

8Warum Community-Kapitalismus?

9Ist der Community-Kapitalismus ein hegemoniefähiges Projekt?

10Quo vadis Community? Alternativen zum Community-Kapitalismus

Literaturverzeichnis

1Die (Wieder-)Entdeckung der Gemeinschaft im Krisenkapitalismus

Der Gegenwartskapitalismus steckt nicht nur in einer ökonomischen, sondern längst auch in einer ökologischen, politischen und sozialen Funktionskrise, worauf Gegenwartsdiagnosen der »multiplen« oder »Vielfachkrise« hinweisen.1 Spätestens seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 ff. besteht zudem wenig Zweifel an einer fundamentalen Hegemonie- und Legitimationskrise des Neoliberalismus. Dieser ist als lebendiger Untoter, als »Zombie-Kapitalismus«2 zwar weiterhin dominant, hat aber vom liberalen Triumphalismus der Vergangenheit in den Katastrophenmodus umgeschaltet und wird für seine sozialen und ökonomischen Verwerfungen zunehmend kritisiert. Die multiplen Krisendynamiken verdichten sich zudem zu einer fundamentalen Krise der sozialen Reproduktion: Jahrzehnte der Privatisierung, Deregulierung und Kommodifizierung haben private und öffentliche Sorgekapazitäten erodieren lassen, auf die der Kapitalismus mit seiner strukturellen »Sorglosigkeit«3 konstitutiv angewiesen ist. Die Krise der sozialen Reproduktion wird zusätzlich vom Wandel der Familien- und Geschlechterverhältnisse und der Alterung der Gesellschaft vorangetrieben und schlägt sich in Zeiten, da immer weniger Frauen ganztägig als »heimliche Ressource der Sozialpolitik«4 zur Verfügung stehen, in wachsenden Sorgeengpässen nieder. Hat sich der neoliberale Kapitalismus also gewissermaßen selbst zu Tode gesiegt – wie manche Autor*innen im Lichte dieser Dynamiken mehr prognostizieren als diagnostizieren?

Nein – lautet die Antwort dieses Buches. Der Kapitalismus stellt vielmehr aufs Neue seine enorme Wandlungsfähigkeit unter Beweis, nimmt vom jahrelang gepredigten sowie politisch exerzierten radikalen Individualismus Abstand und treibt die Suche nach gemeinschaftsförmigen Krisenlösungen und gemeinschaftsbasierter Solidarität – als neuer Ressource der Sozialpolitik – voran. Der Ego-Gesellschaft scheint die Puste auszugehen, und allenthalben ist von Gemeinschaft und Community die Rede: Die Bundesregierung bewirbt Konzepte »sorgender Gemeinschaften« als neues Paradigma einer nachhaltigen Sozial- und Pflegepolitik, Bürgerkommunen gelten als lokalpolitische Reformmodelle der Zukunft, freiwilliges Engagement, Gabentausch und kollektive Sharing-Economy-Projekte florieren. In digitalen Netzwerken gilt die Devise »community is the brand«5, Facebook-Gründer Mark Zuckerberg preist sein Netzwerk als Meta-Community und soziale Infrastruktur der Zukunft. Und schon Toni Blair ließ mit seiner Strategie des Dritten Weges vor 20 Jahren keinen Zweifel an diesem Kurswechsel: »Die Erneuerung der Gemeinschaft ist die Antwort auf die Herausforderungen einer sich verändernden Welt.«6 Zuletzt hat das Lob des Engagements und der Nachbarschaftshilfe in der Corona-Pandemie eine zentrale Rolle gespielt, wenn es darum ging, evidente Sorgelücken zu schließen: »Das Ehrenamt ist systemrelevant. Die Pandemie zeigt, was unsere Gesellschaft zusammenhält: Aktive Bürger, die Solidarität leben.«7

Unbezahlte Arbeit war und ist, so wird erneut deutlich, das Lebenselixier des Kapitalismus. Aus der internationalen Arbeitsforschung wissen wir, dass es dabei nicht nur um die sogenannte Hausarbeit geht, sondern dass regulär entlohnte Erwerbsarbeit nur die Spitze des Eisbergs globaler Arbeitsverhältnisse ist, der mehrheitlich aus informeller Arbeit jenseits arbeitsvertraglicher und -rechtlicher Grundlagen besteht. Tatsächlich blieb nicht nur die modernisierungstheoretisch gerahmte Hoffnung der Durchsetzung regulärer Lohnarbeit im globalen Maßstab unerfüllt; auch in den Zentren des globalen Nordens ist eine Rückkehr informeller, rechtlich ungeschützter Arbeitsverhältnisse zu beobachten, die von neoliberalen Akteuren als Bürokratieabbau und Deregulierung begrüßt und durchgesetzt wurden. Und je weniger selbstverständlich unbezahlte Arbeit im Privathaushalt – eingebettet in eine entsprechende Geschlechterordnung – erbracht wird, desto größer wird die Bedeutung informeller Sorgearbeit außerhalb der Familie, die in Zeiten der Krise der sozialen Reproduktion zum Gegenstand politischer Steuerung und Aktivierung avanciert: Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung einer Konfiguration zu beobachten, die wir Community-Kapitalismus nennen, deren politische und moralische Ökonomie sich durch die Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage und die Verknüpfung von nicht regulär entlohnter Arbeit (im Folgenden: Posterwerbsarbeit) und Gemeinschaftspolitik auszeichnet.

Natürlich sind nicht regulär entlohnte Arbeitstätigkeiten jenseits von Privathaushalten kein neues Phänomen, und auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen wirft seit mehreren Jahrzehnten neue Fragen der Organisation von (Für-) Sorge auf. Auch historisch lässt sich zeigen, dass Konzepte der Gemeinschaft oft in Krisenzeiten Konjunktur hatten, zumal wenn die Grenzen des Liberalismus zur Debatte standen. Und doch ist die aktuelle Situation von neuer Qualität, da sich die – unterschiedlichen Dynamiken geschuldete – Krise der sozialen Reproduktion mit der fundamentalen Legitimations- und Hegemoniekrise des Neoliberalismus verbindet, während die rasante technologische Entwicklung zugleich digital gestützte neue Vergemeinschaftungen befördert. Im Lichte dieser heterogenen Entwicklungen hat der Community-Kapitalismus, so die These des Buches, das Potenzial, hegemoniefähig zu werden: Er bietet eine Antwort auf die multiplen (Krisen-)Dynamiken der Gegenwart, indem er Lösungen für die Reproduktionskrise mit einer legitimationsstiftenden Antwort auf die Hegemoniekrise des Neoliberalismus verbindet und einen Deutungsrahmen schafft, der zentrale Muster der zunehmend einflussreichen digitalen Vergemeinschaftungen aufgreift. Zudem ist der Anti-Etatismus der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage, wie wir zeigen werden, anschlussfähig an Akteure sehr unterschiedlicher politischer Provenienz, während die Anrufung von Gemeinschaft und Gemeinsinn auf der Ebene der Subjekte auf ein reales Begehren nach Verbundenheit und Solidarität nach jahrelanger Konjunktur des Hyper-Individualismus und Sozialabbaus antwortet. Das Regieren durch Community spricht etwas an, das vielen Menschen im Alltag wichtig ist, was ein aktives »Mittun« befördert, ohne dass damit eine dezidierte Bejahung der gesellschaftlichen Neuverhandlung des Sozialen als fürsorgliche Gemeinschaft verbunden sein muss.

Die wissenschaftliche Literatur ist ebenso wie der politische und mediale Diskurs reich an Lob für die Zivilgesellschaft und das Engagement von Freiwilligen und Umsonstarbeitenden; der Lobpreis von Gemeinschaft und Gemeinsinn ist allgegenwärtig. Diese breit verankerte Affirmation aufbrechend, ist das vorliegende Buch eine Kritik des Community-Kapitalismus. Es ist keine Kritik an Freiwilligen und Engagierten, keine Kritik an alltäglichen Formen der Solidarität unter Nachbar*innen und Freundinnen, keine Kritik an Selbstorganisation und Alternativökonomien. Es ist eine Kritik der politischen und moralischen Ökonomie des Community-Kapitalismus, die – wie wir zeigen wollen – auf der Ausbeutung von Posterwerbsarbeit, der Informalisierung und Deprofessionalisierung von Arbeit, der Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften und der Überführung sozialer Rechte in soziale Gaben beruht. Diese Konfiguration empirisch und zeitdiagnostisch zu rekonstruieren, theoretisch-konzeptionell zu durchdringen und im Blick auf ihre Kehrseiten zu befragen ist unser Anliegen.

Als analytischer Begriff findet Community-Kapitalismus im wissenschaftlichen Diskurs bislang keine Verwendung, er taucht allerdings in affirmativer Diktion in zwei politiknahen Zusammenhängen auf. In den 1990er Jahren haben Expert*innen aus dem privaten und öffentlichen Sektor einen an Präsident Bill Clinton, Kabinetts- und Kongressmitglieder und Unternehmer*innen adressierten Report veröffentlicht, der den Titel Community Capitalism: Rediscovering the Markets of America’s Urban Neighborhoods trägt. Konkret geht es um die Entwicklung von privatwirtschaftlichen Kapitalinvestitionen in städtischen Nachbarschaften und eine stärkere Zusammenarbeit von Unternehmen mit Nonprofitorganisationen. Das im Eigenverlag veröffentlichte Buch des Aktivisten Michael Garjian Community Capitalism. How Communities Can Use Capitalism to Create a Shared Economy that Works for Everyone trägt ein aus Menschen gebildetes Dollarzeichen auf dem Titel und plädiert dafür, dass Communitys als ökonomische Akteure auftreten sollen, »to use the tool of capitalism to create as much wealth for itself as it wants«.8 In beiden Fällen wird Community-Kapitalismus als Investmentstrategie begriffen und positiv besetzt, ohne dass diese Verwendung weitere Debatten und Anschlüsse an das Konzept angestoßen hätte.9

Unsere kritische Analyse des Community-Kapitalismus setzt empirisch am deutschen Fallbeispiel an, wird theoretischkonzeptionell aber in einer Weise verdichtet, die beansprucht, auch ähnliche Entwicklungen in anderen Wohlfahrtsstaaten der frühindustrialisierten Länder des globalen Nordens zu erfassen. Die Analyse beruht auf unserer langjährigen empirischen und theoretischen Arbeit zu Fragen des wohlfahrtsstaatlichen Wandels, der Organisation von Arbeit und Sorge im Gegenwartskapitalismus, der Rolle von Engagement und Freiwilligenarbeit und der Krise der sozialen Reproduktion. Hierzu zählen die Arbeiten von Silke van Dyk zum aktivierenden Sozialstaat, zu Gemeinsinn, Gemeinschaft und Solidarität sowie zur Bedeutung von post-wage politics10 und Tine Haubners Arbeiten zur Ausbeutung informeller Sorgearbeit sowie zu Prozessen der Informalisierung und Deprofessionalisierung im Bereich sozialer Dienstleistungen.11 Die empirischen Beispiele dieses Buches stammen mehrheitlich aus dem gemeinsam verantworteten und mit Emma Dowling und Laura Boemke bearbeiteten Forschungsprojekt »Schattenökonomie oder neue Kultur des Helfens? Engagement und Freiwilligenarbeit im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats«, das von 2017 bis 2020 am Institut für Soziologie der Universität Jena angesiedelt war und von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde. Untersucht wurde die sozialstaatliche Indienstnahme von Engagement und Freiwilligenarbeit im Bereich der Pflege, der sozialen Arbeit, der Geflüchtetenhilfe und der kommunalen Infrastruktur.12

Wir starten im folgenden Kapitel mit einem Blick auf den Stand der für uns einschlägigen Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung und fragen, warum eine kritische Analyse der Indienstnahme von Gemeinschaft(lichkeit) für die Bearbeitung von Sorge- und Versorgungslücken im Gegenwartskapitalismus bislang randständig geblieben ist (Kapitel 2). Im dritten Kapitel werfen wir einen Blick auf Gemeinschaft(en) als Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung, loten Anschluss- und Leerstellen für unsere Analyse aus und systematisieren die Begriffsbestimmung. Die Kapitel 4, 5 und 6 stellen das empirische Herzstück des Buches dar: Hier analysieren wir unterschiedliche Felder und Formen der Posterwerbsarbeit im Engagement und der Freiwilligenarbeit (Kapitel 4), im Feld der (Alten-)Pflege (Kapitel 5) sowie in der informellen Nachbarschaftshilfe, auf digitalen Plattformen und in Form von Mehrarbeit in der Erwerbsarbeit (Kapitel 6). Die Kapitel 7, 8 und 9 sind der Systematisierung, konzeptionellen Verdichtung und theoretischen Unterfütterung unserer Diagnose gewidmet: In Kapitel 7 analysieren wir die Kehrseiten informeller Unterstützung und Hilfe, um dann im achten Kapitel in vier Schritten die Treiber des Community-Kapitalismus (Krise der sozialen Reproduktion, Hegemoniekrise des Neoliberalismus, Digitalisierung), seine Dynamik (die Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage), seine Ressource (die Posterwerbsarbeit) sowie die politische und moralische Ökonomie dieser Konfiguration zu plausibilisieren. Im neunten Kapitel diskutieren wir die Hegemoniefähigkeit des Community-Kapitalismus, um dann im abschließenden zehnten Kapitel nach Alternativen zu fragen.

1Z. B. Demirović u. a. (Hg.), VielfachKrise.

2Zelik, Wir Untoten des Kapitals.

3Aulenbacher u. a., Feministische Kapitalismuskritik, S. 7.

4Beck-Gernsheim, »Frauen – die heimliche Ressource der Sozialpolitik«.

5Botsman/Rogers, What’s Mine is Yours.

6Macmillan/Townsend, »A ›New Institutional Fix‹?«, S. 16; eigene Übersetzung.

7Chebli, »Das Ehrenamt ist systemrelevant«.

8Garjian, Community Capitalism, S. 79.

9Ebenfalls zu unterscheiden von unserem Konzept ist der gebräuchlichere Begriff des Compassionate Capitalism, der in Abgrenzung zur klassischen Philanthropie auf die Zusammenführung von Profitorientierung und sozialer Verantwortung zielt. Hier handelt es sich, ebenso wie beim Konzept des Philanthrokapitalismus (vgl. für eine kritische Einordnung Adloff/Degens, »›Muss nur noch kurz die Welt retten‹«), um eine Businessstrategie, die mit der Ökonomisierung des Sozialen auf die Neubestimmung der Grenzen zwischen Zivilgesellschaft und Markt zielt.

10Vgl. u. a. van Dyk, »Post-wage Politics« und »Rethinking Community in Aging Studies«.

11Vgl. u. a. Haubner, Die Ausbeutung der sorgenden Gemeinschaft und »Grauzonen der Sorgearbeit«.

12Das Untersuchungssample des Projektes umfasst problemzentrierte Interviews mit 46 Engagierten und leitfadengestützte Gespräche mit 80 Expert*innen in jeweils zwei Mittelstädten und Landkreisen in Brandenburg und Baden-Württemberg. Daneben wurde der bundesweite, engagementpolitische Diskurs von 2011 bis 2017 im Rahmen einer Dokumentenanalyse untersucht. Zu zentralen Ergebnissen und dem Forschungsdesign vgl. van Dyk, »Umsonst und freiwillig«; Haubner, »Die neue ›heimliche Ressource der Sozialpolitik‹?«, Boemke u. a., »Freiwilligenarbeit als Ressource«.

2Was bisher geschah: Zur Analyse gemeinschaftsbasierter Sorgepotenziale in Wohlfahrtsstaats- und Care-Forschung

Die 1980er und 1990er Jahre gelten in der Wohlfahrtsstaatsforschung als Jahrzehnte sozialstaatlichen Strukturwandels. Den gesellschaftlichen Hintergrund des Wandels liefert das Ende der »growth-security alliance«13 und der wohlfahrtsstaatlichen Expansion nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei sich die Herausforderungen seinerzeit als vielschichtig erwiesen: Die Wachstumseinbrüche der 1970er und 1980er Jahre, die hohe Sockelarbeitslosigkeit und die kommunale Überschuldung haben ebenso wie die wachsende liberalkonservative Kritik an staatlicher Bürokratie, die Expansion des Dienstleistungssektors und die zunehmende Pluralisierung von Lebensstilen den Boden für die Einführung neuer sozialpolitischer Paradigmen und Konzepte bereitet. Für die Zeit ab den 1990er Jahren konstatiert die sozialwissenschaftliche Forschung eine »neue Generation von Sozialpolitiken«14, die trotz unterschiedlicher (partei-)politischer Akzentuierungen recht einhellige Antworten auf das Ende des »alten« Sozialstaates liefert. Mit dem Bedeutungsverlust von Prinzipien der Umverteilung, Sicherheit und Versorgung und der Hinwendung zu Sozialinvestment, ökonomischer Wachstumsorientierung und Wirtschaftsmodernisierung stärken die neuen aktivierenden und investiven Sozialpolitiken die Bedeutung des Marktes und seiner Verteilungslogiken. Neben der Einführung marktförmiger Steuerungsmodelle in Verwaltung und Sozialsektor steht mit einer neuen Politik der Aktivierung die Förderung individueller Autonomie und Marktfähigkeit als »Gütekriterium einer erfolgreichen Sozialpolitik«15 im Zentrum.

Die kritische Wohlfahrtsstaatsforschung hat sich lange auf die sozialpolitische Stärkung von individueller Eigenverantwortung und Employability konzentriert. Ihr verdanken wir die politisch-soziologische Diagnose einer Entwicklung »von der ›Staatsversorgung‹ zur Selbstsorge, von der öffentlichen zur privaten Sicherungsverantwortung, vom kollektiven zum individuellen Risikomanagement« sowie Thesen einer »neosozialen Transformation«16 oder »Vermarktlichung des Sozialstaats«17. Diese Beiträge stellen eine zentrale Referenz für unsere Überlegungen dar, vernachlässigen aber einen für uns entscheidenden Punkt: die zur Aktivierungspolitik zeitlich versetzt eintretende wohlfahrtspolitische Entwicklungslinie, die seit den späten 1990er Jahren nicht mehr nur um das unternehmerische Subjekt kreist, sondern gemeinschaftsförmige (Selbst-)Hilfepotenziale der Zivilgesellschaft adressiert. Die liberalkonservative Kritik am alten Wohlfahrtsstaat und der anschließende sozialpolitische Kurswechsel zielen demnach nicht nur auf individuelle Marktfähigkeit ab. Sie streben darüber hinaus auch die Stärkung von Gemeinsinn an, um »die Anonymität von Großorganisationen […] durch die bedürfnisgerechte Vertrautheit persönlicher und örtlicher Nähe [zu ersetzen]«, damit »das kalte Perfektionsstreben der an festgelegten Standards orientierten Professionen […] dem spontanen Engagement von Laien [weicht]«.18 Seither stehen neben der Aktivierung der Bürger*innen nicht nur Leitbilder der Dezentralisierung und Kommunalisierung von Sozialpolitik, sondern auch Formen der gemeinschafts- und netzwerkbasierten Steuerung sowie die Stärkung von bürgerschaftlichem Engagement auf der sozialpolitischen Tagesordnung. Für die kritische Analyse dieses Wandels können wir vor allem an wenige ältere Beiträge anschließen, die die Gemeinschaftsorientierung der liberal-konservativen Kritik am alten Wohlfahrtsstaat in den Blick genommen haben.19

Die beschriebene Entwicklung antwortet auf einen Zwiespalt des konservativen deutschen Wohlfahrtsmodells, der sich angesichts schrumpfender familiärer Sorgekapazitäten, Alterungsprozesse und der Versorgungsengpässe des auf Kosteneffizienz getrimmten Sozialsektors zuspitzt: Die unbezahlten informellen Dienstleistungen (die überwiegend von Familien geleistet werden) stellen die Grundlage der Sozialpolitik dar, werden aber durch die steigende weibliche Erwerbsbeteiligung und zunehmend diversifizierte Haushaltsstrukturen aufgezehrt. Während die Bedeutung der »primären sozialen Netzwerke« der Bürger*innen für die alltägliche Reproduktion des Lebens ungebrochen ist, sind ihre Grundlagen in der globalen Leistungs- und Erwerbsgesellschaft immer weniger selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund zielt die neue Sozialpolitik darauf ab, Verantwortlichkeiten im Wohlfahrtsdreieck neu zu bestimmen, um informelle Unterstützungspotenziale auch außerhalb der Familie nutzbar zu machen. Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich so eine wachsende Aufmerksamkeit für Leitbilder wie »Corporate Citizenship«20 oder »Bürgerkommune«21 beobachten, die allesamt auf eine Verflüssigung der Grenzen zwischen Markt, Staat und Zivilgesellschaft zielen. Während sich der Sozialstaat auf die Rolle eines sparsamen Managers im »Wohlfahrtsmix« konzentriert, werden neben dem Markt auch der Dritte Sektor, die Zivilgesellschaft und ihre informellen Unterstützungsnetzwerke als wohlfahrtspolitische Koproduzenten adressiert.

Einen weiteren Schub erhält der auf informelle Unterstützungspotenziale gerichtete politische Eroberungswille aus dem herben Imageschaden, den der Neoliberalismus mit der Finanzmarktkrise 2008 ff. erlitten hat. Die als »bürgerschaftlich« akzentuierte Sozialpolitik will die Selbstheilungskräfte der Gesellschaft fördern, um Marktversagen zu kompensieren, ohne jedoch vom Prinzip marktförmiger Effizienzorientierung abzurücken. Die Interpretation des Subsidiaritätsprinzips ist für diese Entwicklung exemplarisch: Das aus der katholischen Soziallehre stammende und äußerst deutungsoffene Leitprinzip des deutschen Wohlfahrtsstaates steht für eine hierarchisch abgestufte Verantwortungszuteilung und Fürsorgepflicht verschiedener gesellschaftlicher Ebenen und sozialer Gemeinwesen. Diese Verantwortungszuweisung ist allerdings stark umkämpft: Anfang der 1980er Jahre wird Subsidiarität neu interpretiert und ab den 1990er Jahren in das Leitbild des aktivierenden Sozialstaats integriert. Subsidiarität wird nun weniger im Sinne staatlicher Vorleistungsverpflichtungen, sondern als »Hilfe zur Selbsthilfe« und Prinzip fiskalischer Staatsentlastung bestimmt.22 Im Zuge dessen werden auch die sozialen Nahräume, Quartiere und Nachbarschaften der Bürger*innen als eigenständige Ebene sozialpolitischen Handelns neu bestimmt und ihre Wohlfahrtseffekte durch bürgerschaftliches Engagement beschworen. Zugleich bleiben die Hoffnungen auf zivilgesellschaftliche »Selbststeuerungsressourcen«23 überwiegend holzschnittartig, werden doch die Ermöglichungsbedingungen einer »Hilfe zur Selbsthilfe« der Bürger*innen ebenso wenig ausbuchstabiert, wie die Formen, Möglichkeiten und Grenzen »neu-subsidiärer« Verantwortungsteilung und Leistungserbringung ausgelotet werden.

Obwohl in der Sozialberichterstattung der Bundesregierung seit der Jahrtausendwende vermehrt Topoi der Bürgernähe, Gemeinschaftlichkeit und lokalen Governance auftauchen, bleibt es in der deutschsprachigen Wohlfahrtsforschung, mit wenigen Ausnahmen, seltsam still um die kritische Einordnung dieser Entwicklung. Stattdessen gilt die Anrufung von Gemeinschaft und Gemeinsinn auch zahlreichen Forscher*innen als Lösung für den Sozialstaat in der Krise, und entsprechende Leitbilder und Konzepte wie »sorgende Kommunen und lokale Verantwortungsgemeinschaften«24 oder »sorgende Gemeinschaften«25 werden auch von sozialwissenschaftlicher Seite in den politischen Diskurs eingespeist. Der in diesen Leitbildern enthaltene affirmative Rekurs auf Gemeinschaft und Community geht mit einer ausgeprägten Profillosigkeit des Konzepts einher. Obwohl die informelle Wohlfahrtsproduktion durch die Stärkung von Gemeinschaftsbezügen vielen als Mittel der Wahl gilt, um »trotz immer engerer Haushaltsspielräume, eine breite Leistungspalette städtischer Angebote aufrechtzuerhalten«,26 bleiben Fragen der konkreten institutionellen und materiellen Ermöglichung sowie der spezifischen Struktur und Qualität der allerorten gelobten lokalen Verantwortungsgemeinschaften auffallend blass. Der Community- oder Gemeinschaftsbegriff gleicht einem leeren Signifikanten, der für sehr unterschiedliche Akteure anschlussfähig ist – auch Kirchen, Gewerkschaften, Sozialraumplaner*innen oder Akteure in Sozialberufen berufen sich auf die Stärken der Gemeinschaft, ohne dass diesem Umstand bislang die erforderliche kritische Aufmerksamkeit zuteilwird.27

Im angelsächsischen und angloamerikanischen Kontext wird dagegen das Phänomen eines »neoliberalism with a community face«28 schon länger kritisch thematisiert. In Großbritannien haben sowohl New Labour als auch die konservativliberale Regierung unter David Cameron in den vergangenen zwei Jahrzehnten unter den Schlagworten »Community Development Challenge«29 und »New Localism«30 die Re-Lokalisierung und Vergemeinschaftung öffentlicher Infrastruktur vorangetrieben. In der angelsächsischen Forschung ist umstritten, ob es sich dabei lediglich um den neuen Governance-Modus einer im Kern unveränderten neoliberalen Politik handelt31 oder ob sich im Sinne einer »changing fortune of community«32 neue Spielräume für Partizipation von unten auftun. Im deutschsprachigen Kontext werden dagegen Konzepte des Community-Development überwiegend affirmativ rezipiert, ohne diese oder ähnliche Fragen kritisch zu diskutieren; mitunter wird sogar, ganz im Gegenteil, der Ab- und Umbau des deutschen Wohlfahrtsstaates als Chance für den positiv bewerteten Transfer der Community-Orientierung liberaler Wohlfahrtsstaaten in die »Gemeinwesenarbeit« des deutschen Sozialstaats angesehen.33

Die Care-Forschung, die »doppelte Privatisierung« von Sorgearbeit und die Leerstelle gemeinschaftsbasierter Sorge

Neben Einsichten aus der kritischen Wohlfahrtsstaatsforschung rekurrieren unsere Überlegungen zum Community-Kapitalismus auf zentrale Konzepte und Diagnosen aus der Forschung zu Care, Sorgearbeit und sozialer Reproduktion. Um das Feld der Posterwerbsarbeit zu konturieren, greifen wir auf den Begriff der Sorgearbeit zurück, der »alle praktischen Relationen zwischen Menschen, […] die sich […] aus dem Werden und Vergehen des Lebens ergeben«,34 bezeichnet. Es handelt sich um überwiegend von Frauen, bezahlt oder unbezahlt verrichtete Arbeitstätigkeiten, die einerseits auf die essenzielle Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und damit die Reproduktion gesellschaftlicher Existenzgrundlagen abzielen und andererseits in Spannung zu den Imperativen kapitalistischer Verwertungslogik stehen.

Die Anfänge der Forschung zu Care und sozialer Reproduktion lassen sich auf die Frauenbewegung der 1960er Jahre zurückdatieren und speisen sich ursprünglich aus zwei Quellen: der marxistisch-feministisch geprägten Hausarbeitsdebatte der zweiten Frauenbewegung, die mithilfe der Marx’schen Gesellschaftstheorie die kapitalistische Ausbeutung von Hausarbeit analysiert, sowie der feministischen Sorgeethik, die menschliches Handeln moralphilosophisch in Bezug auf Sorgebedürftigkeit bewertet. In diesem theoretisch-konzeptionellen »Zweistromland« stand ursprünglich die unbezahlte Hausarbeit von Frauen in der fordistischen Ära im Zentrum des Interesses. Angetrieben von der Erosion des Ernährermodells, steigender Erwerbsbeteiligung von Frauen und sozialstaatlichem Strukturwandel, hat sich die Forschung seitdem aber stark ausdifferenziert, und Forschungsschwerpunkte haben sich verschoben. Mit dem Ende des fordistischen Hausfrauenmodells und dem Siegeszug neoliberaler Governance- und Wirtschaftsformen sowie der Herausbildung einer globalen Sorgearbeitsteilung ist die Dominanz der Erforschung unbezahlter, privater Haus- und Sorgearbeit von Frauen an ein Ende gelangt. Wie Brigitte Aulenbacher, Fabienne Décieux und Birgit Riegraf zeigen,35 prägen in der jüngeren Zeit stattdessen drei Entwicklungstendenzen einer neuen »Vergesellschaftung des Sorgens«36 die internationale Care-Forschung: Erstens stellen die Erforschung einer zunehmenden Kommodifizierung von Sorgearbeit und die wachsende Nachfrage nach privatwirtschaftlichen Sorgedienstleistungen einen – wenn nicht den – zentralen Forschungsschwerpunkt dar. Hier finden sich, um nur ein paar Beispiele zu nennen, sowohl Arbeiten zu den Effekten marktförmiger Organisation auf die Form und Qualität von Care,37 zum Einsatz neuer Technologien38 als auch Arbeiten zur Zunahme gewerkschaftlicher »Sorgekämpfe«39 und zu neuen Investitionsstrategien im Sozial- und Sorgebereich40. Zweitens wird die zunehmende Transnationalisierung und Ausbeutung migrantischer Sorgearbeit unter Berücksichtigung intersektionaler Ungleichheiten beforscht,41 und drittens bilden Arbeiten zu Transformationsprozessen wohlfahrtsstaatlicher Governance und dem Wandel nationalstaatlicher Care-Regime42 einen Schwerpunkt. Weitgehende Einigkeit in dem sich ausdifferenzierenden Feld der Care-Forschung besteht dahingehend, dass der finanzmarktgetriebene Kapitalismus durch die umfassende Kommodifizierung und Erwerbsvergesellschaftung seine reproduktiven Grundlagen zunehmend gefährdet. Es wird eine »Krise der sozialen Reproduktion« diagnostiziert,43 die durch die gesellschaftliche Alterung, den Wandel der Arbeits- und Familienverhältnisse, gestiegene Ansprüche an Sorge und Erziehung sowie ein auf Kostenreduktion ausgerichtetes Sorgeregime verschärft wird.

Konzeptionell ist der jüngste Wandel sozialer Reproduktion unter Krisenbedingungen als »doppelte Privatisierung« von Sorgearbeit analysiert worden:44 Einerseits wird Sorgearbeit privatisiert und kommodifiziert und damit zunehmend Marktlogiken unterworfen, andererseits werden vormals öffentliche Angebote sowie die Bearbeitung neuer Bedarfe in die Verantwortung privater Haushalte (zurück-)verlagert. So instruktiv und anschlussfähig diese Doppeldiagnose zum Wandel der Reproduktionsverhältnisse ist, so bemerkenswert ist eine auffällige Leerstelle, die im Zentrum unserer Überlegungen steht: Sorgearbeit wird tatsächlich nicht nur in private Haushalte verlagert und marktförmig organisiert. Im Kontext des Rückbaus sozialstaatlicher Versorgungsstrukturen, der Expansion privatwirtschaftlicher Angebote und der schrumpfenden Sorgekapazitäten der Familien wird sie außerdem zunehmend an informelle Unterstützungsnetzwerke außerhalb von Familie und Privathaushalt verwiesen. Informelle Sorgearbeit bezeichnet dabei all die nicht formell geregelten Sorgearbeiten, die nicht regulär entlohnt oder unbezahlt, ohne arbeitsvertragliche Grundlage oder durch Verletzung arbeitsvertraglicher und -rechtlicher Bestimmungen durchgeführt werden,45 und weitet damit den Blick über die privat-häusliche Sphäre hinaus. Die Perspektive der doppelten Privatisierung ist also, so unsere zentrale These, um eine Analyse der Verzivilgesellschaftlichung von Sorgetätigkeiten unter besonderer Berücksichtigung gemeinschaftsbasierter Sorgepotenziale zu ergänzen. Neue Formen der Sorgearbeit in sozialen Gemeinschaften und kollektiven Bezügen außerhalb der Familie werden in der Care-Forschung zwar vereinzelt erwähnt: So spricht Aulenbacher von einer »neuen Stufe der Vergemeinschaftung von Care und Care-Arbeit«,46 Bei Fine findet sich wiederum die Beobachtung, dass sich die Grenzen zwischen formeller und informeller Sorgearbeit seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verflüssigen,48 So wichtig diese Impulse sind, so sehr bleiben aber Struktur, Ausmaß und Bedeutung gemeinschaftsbasierter, zivilgesellschaftlicher Sorge jenseits von Markt, Staat und Familie bislang konzeptuell unbestimmt und empirisch unterbelichtet.