Ole Nymoen Wolfgang M. Schmitt

Influencer

Die Ideologie der Werbekörper

Suhrkamp

Vorwort

Der Influencer ist eine der wichtigsten Sozialfiguren des digitalen Zeitalters. Er ist ein die Pop- und Konsumkultur, die Werbebranche und den Kapitalismus prägendes Phänomen, das längst nicht mehr nur auf das Netz begrenzt ist. »Lavendel-Bauern in der Provence klagen über Influencer«, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung im August 2019, als Instagram-Stars auf der Suche nach dem perfekten Schnappschuss Felder zertrampelten.1 Auch Nationalparks haben sich bereits über den zerstörerischen Ansturm der Selfie-Berühmtheiten beschwert; in Paris wurden gar besonders fototaugliche Straßen gesperrt, um die Anwohner zu schützen. Die Konsumgüterindustrie hingegen empfängt die neuen Celebrities mit offenen Armen: Ihre Konterfeis zieren eine wachsende Zahl von Produktlinien in Supermärkten und Drogeriegeschäften; Fachjournalisten müssen bei Modenschauen in Paris oder Mailand auf die hinteren Plätze ausweichen, weil die vorderen Reihen für Instagram-Stars mit Millionen Followern reserviert sind; große Zeitungshäuser erreichen mit ihrer Printauflage nur einen Bruchteil der Abonnenten, die ein erfolgreicher Youtuber hinter sich versammelt. Der klassische Anzeigenmarkt ist weiter rückläufig, und TV-Spots verlieren, seitdem junge Leute immer weniger fernsehen, an Reichweite, während das Influencer-Marketing ungebremst wächst. In einer in der Werbebranche häufig zitierten Studie von 2019 heißt es: »Deutsche Marketer sind bereit, Top-Influencern bis zu 38 ‌000 Euro pro Post zu bezahlen«;2 außerdem planten deutsche Marketer im selben Jahr, »42 Prozent ihres Gesamtbudgets für Influencer-Marketing auszugeben«.3 Die Influencer besitzen also eine große ökonomische, aber auch ideologische Macht, die, wie wir zeigen wollen, nicht nur zu Werbezwecken, sondern ebenso zu einer bedenklichen kulturellen wie politischen Beeinflussung ihrer Follower-Scharen eingesetzt wird.

Das englische Verb to influence meint »beeinflussen«. Eben das tun die Influencer in unterschiedlichster Weise, was aber im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass jeder, der Einfluss hat, ein Influencer ist. Der Kolumnist einer Zeitung, der Kommentator in den Tagesthemen, der Spitzensportler, der sich für Kinder in Not engagiert, der Musiker, der gegen oder für etwas singt – sie alle beeinflussen zwar den Diskurs, die Gesellschaft, die Wirtschaft oder gar die Politik, Influencer sind sie dennoch nicht. Würde man jeden, der ein gewisses Publikum hat, als Influencer bezeichnen, wäre der Begriff völlig beliebig und damit unbrauchbar. Der Influencer, von dem man im Marketing etwa seit 2007 spricht, ist stattdessen zu verstehen als eine Person, die in den sozialen Medien zu Bekanntheit gelangt ist und sowohl eigene Inhalte als auch Werbe-Content für Produkte aller Art (von Kleidung über Fitness- und Kosmetikprodukte bis hin zu Finanzdienstleistungen) in Form von Posts, Fotos oder Videos veröffentlicht. Der Influencer ist in der Regel nicht der Botschafter einer einzigen Marke, sondern bewirbt verschiedene Produkte. Dabei ist entscheidend, dass er diese möglichst eng mit der eigenen Person verknüpft, indem er zeigt, wie er sie verwendet, und sich zugleich als Konsument und Präsentator inszeniert. »Einen authentischeren Multiplikator gibt es gar nicht, als jemand aus der Zielgruppe«, erklärt der Betreiber einer Agentur für Influencer-Marketing das Prinzip.4

Authentizität, wobei zu klären sein wird, inwieweit es sich lediglich um eine Authentizitätsmaske handelt, ist der wichtigste Faktor beim Influencer-Marketing. Das heißt, der Influencer ist weder eine fiktive Persona wie etwa die von der Schauspielerin Johanna König gespielte Klementine von Ariel oder die von Jan Miner verkörperte Palmolive-Werbefigur Tilly, noch ist er bloß ein Prominenter, der für eine Werbekampagne seine Gesichtsbekanntheit und Reputation mit einem Produkt verquickt wie ein George Clooney, der in Werbeclips an einem Espresso nippt, oder eine Heidi Klum, die beherzt in einen Burger beißt. Gewiss soll auch in diesen Fällen durch bekannte Persönlichkeiten ein dem Produkt dienliches, glaubwürdiges Gesamtbild erzeugt werden, doch die Stars werben lediglich mit ihrem öffentlichen Image, das nicht dem privaten entsprechen muss. Zudem kommt es beim Influencer-Marketing darauf an, dass die Influencer über eigene Follower-starke Profile bzw. Kanäle – überwiegend auf Instagram, Youtube und Tiktok – verfügen, um per »Auf-du-und-du-Kommunikation« Zuschauer direkt ansprechen zu können.

Jahrzehntelang wurde Werbung zumeist nolens volens hingenommen. So nutzte man beim Fernsehen die Unterbrechung für den Gang zum Kühlschrank. Gelegentlich nahm man Reklame als störend wahr oder oft einfach gleichgültig hin (wenngleich sie trotzdem eine zugegebenermaßen schwer messbare Wirkung entfaltete). Eher selten wurden Spots selbst – es sei denn, sie waren außergewöhnlich witzig, erotisch oder skandalträchtig – als Unterhaltung rezipiert. Mit den Influencern ändert sich nicht nur der Konsum von Waren, sondern auch der von Werbung fundamental: Plötzlich wird sie freiwillig, bewusst, ja, gern geschaut. Was Werbung ist und was nicht, wird nicht bloß (trotz Kennzeichnungspflicht) schwieriger zu durchschauen, es ist auch immer mehr Menschen schlichtweg egal. Alles ist Unterhaltung, alles ist Werbung, und alles kann zur Ware werden – auch das eigene Ich.

Im Folgenden werden wir das Phänomen Influencer in zehn Kapiteln beleuchten: Seine popkulturelle Vorhut wird im Kino der neunziger und nuller Jahre sichtbar (Kapitel 1), während zur selben Zeit der Kapitalismus wegen mangelnder Nachfrage in die Bredouille gerät, aus der das Influencer-Marketing einen vermeintlichen Ausweg verspricht (Kapitel 2). Es entstehen Werbekörper, deren Klassenzugehörigkeit uneindeutig ist (Kapitel 3) und die von einer paradoxen Mischung aus Individualismus und Nachahmung gekennzeichnet sind (Kapitel 4). Der Körper wird zu einer Verkaufsfläche (Kapitel 5), alte und neue Geschlechterrollen werden etabliert (Kapitel 6), stets im angeblich direkten Dialog mit der Community (Kapitel 7). Influencer-Content besteht seit einer Weile auch aus Werbung für gesellschaftspolitische Anliegen wie Feminismus oder Antirassismus (Kapitel 8). Zudem denkt und agiert der Influencer häufig global, ist ständig auf Reisen und repräsentiert einen konsumaffinen Kosmopolitismus (Kapitel 9). Und schließlich bietet er etwas, das verzweifelt gesucht wird: ein Aufstiegsversprechen (Kapitel 10).

Die Influencer zeichnen wir keineswegs in rosigem Licht, wir sehen in ihnen eine ernst zu nehmende Gefahr, da sie antiaufklärerisch agieren und ihre Follower manipulieren. Sie erzeugen ein falsches Bewusstsein, das sie wiederum gewinnbringend auszubeuten wissen, ja, sie verherrlichen das »beschädigte Leben« im Spätkapitalismus.

1. Patrick Batemans Kinder

Eine junge Influencerin sitzt auf einem schneeweißen Flokatiteppich, den Hintergrund bildet ein ebenso weißer Vorhang. Dies ist kein Zimmer, sondern ein Kokon. Die Influencerin, lediglich einen schwarzen Spitzenbody, ein goldenes Halskettchen und verspielte Ohrringe tragend, hat auf ihr Gesicht eine weiße Tuchmaske gelegt. Ein Pfeil in der Bildmitte stupst den Zuschauer zu einer Interaktion: Klickt man auf das Symbol, beginnt ein nur wenige Sekunden dauerndes Instagram-Video, in dem sich die Influencerin die Maske behutsam abzieht, um dann beglückt in die Kamera zu lächeln, die zugleich ein Spiegel zu sein scheint. Kokett legt sie sich eine blonde Strähne hinter ihr rechtes Ohr und stößt einen zarten, kaum hörbaren Seufzer der Glückseligkeit aus. Sie zeigt nun ihr angeblich wahres Gesicht, das von der Maske mit ausreichend Feuchtigkeit versorgt wurde. Ungeschminkt, authentisch, real – lautet die implizite Werbebotschaft. Die mit Mandelöl und Hyaluronsäure versehene Tuchmaske, so die persönlich gehaltene Beschreibung neben dem Video, ist ein Produkt der Eigenmarke einer Supermarktkette, zu der ein Link führt. Die Maske, heißt es weiter, mache unser »Homeoffice zum Beautysalon« – ein rotes Herzchen ersetzt den Punkt und beschließt den Text. Die Frage, warum das Zuhause wie selbstverständlich Homeoffice genannt wird, stellt sich im Neoliberalismus, der das Ich zum permanent zu optimierenden Projekt erklärt hat, nicht mehr. Die Arbeit für und an sich selbst hebt die Trennung von innen und außen, von privat und öffentlich auf – die neoliberale Subjektivität ist wie ein Möbiusband, worauf der angefügte Hashtag #schönvoninnenundaussen treffend verweist.

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