Die Welt verdient keinen Weltuntergang
Aufsätze und Kritiken
Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Michael Krüger
Wallstein Verlag
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© Wallstein Verlag, Göttingen 2021
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Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
ISBN (Print) 978-3-8353-3892-0
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4612-3
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4613-0
Goethes Nöte – Nöte mit Goethe
»Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt«
Deutschsprachige Lyrik nach 1945
Gedichte und Katastrophen
Zu einer außergewöhnlichen Anthologie von Wulf Kirsten
Woher? Wohin?
Lyrische »Luftfracht«: Harald Hartungs anthologischer Versuch,das »Museum der modernen Poesie« fortzuführen
Der Krieg wird nicht mehr erklärt, sondern fortgesetzt
Politische Poesie des zwanzigsten Jahrhunderts in einer Anthologie von Joachim Sartorius
»Am meisten leben in unserem Lande die Toten«
Zu einer Anthologie moderner Poesie in der Schweiz
Bertolt Brecht – ein Klassiker?
Anmerkungen zu Suhrkamps Gesamtausgabe
Der Affe Pessoas oder Die fette Sphinx
Vor hundert Jahren starb der portugiesische Dichter Mário de Sá-Carneiro
Selbst Pessoa selbst ist nicht Pessoa selbst
Zum Erscheinen des Buches »Pessoa – Er selbst«
Auf Fernando Pessoas Spuren
Antonio Tabucchis »Lissabonner Requiem«
Den Wind betrachten oder Umzingelung meiner selbst
Antonio Tabucchi geht auf Reisen
»In der Mitte der Dinge die Trauer«
Zum hundertsten Geburtstag von Peter Huchel
Bescheidenes und dauerhaftes Entsetzen
Zum sechzigsten Geburtstag von Günter Eich
Gedenkblatt für Ilse Aichinger
Ich gehe über den Strom …
Zum Tod des Ostberliner Dichters Johannes Bobrowski
Das Leben hat die Gnade, uns zu zerbrechen
Zum Briefwechsel Nelly Sachs – Paul Celan
Der letzte Meister des Liedes
Erinnerung an den Dichter Georg von der Vring
Unversöhnt
Etwas über Christine Lavant
Langeweile mit Denkmälern
Ein unbekanntes Gedicht von Günter Grass und eine Erinnerung an den Dichter
Weithin schallende Selbstgespräche oder Walsers Wohl und Walsers Wehe
Zu seinem fünfundsiebzigsten Geburtstag präsentiert Martin Walser einen Auswahlband aus seinem Werk
Was von der Herzkönigin blieb
Heiner Müllers Gedichte
Ein gewinnender Verlierer
Peter Rühmkorf als Tagebuchschreiber
Zornige Klagen, scharfe Fragen
Volker Brauns Arbeitsbuch »Werktage 1990-2008« als Wende-Chronik
Der Provokateur aus Schwäche oder Ein Nachzügler
Laudatio auf Josef W. Janker
Der Schlaf schlich herbei …
Adelheid Duvanels Erzählungen besitzen eine herzzerreißende Zauberkraft
»Wo ich auch bin, bin ich nicht«
Laudatio auf Klaus Merz
Nach den Katastrophen der Kindheit
Über John Burnsides zweites Erinnerungsbuch und seine neuen Gedichte
Die Welt verdient keinen Weltuntergang
Das lyrische Vermächtnis der polnischen Dichterin Wisława Szymborska
Das einzigartige Vermächtnis des Zbigniew Herbert
Zum Erscheinen der sämtlichen Gedichte des polnischen Lyrikers
Der Krieg des Lichts
Zbigniew Herberts Buch über die Holländer und ihre Malerei »Stilleben mit Kandare«
Dem Unglück nicht den ganzen Platz überlassen
Notate von Philippe Jaccottet aus der Zeit von 1952 bis 2005
Tadeusz Borowski, »Auschwitz«
George Tabori, » Unterammergau oder Die guten Deutschen
Elias Canetti, »Die Provinz des Menschen«
Schöne Bescherung
Gottfried Keller, »Weihnachtsmarkt«
Etwas wie eine Erlösung
Georg Trakl, »Ein Winterabend«
Der Gezeichnete
Marcel Reich-Ranickis Memoiren
Ins Herz des Labyrinths
Zu den gesammelten Schriften von Walter Warnach
»Der Gang des Geistes von Wort zu Wort«
Zum Briefwechsel Ernst Robert Curtius – Max Rychner
Nachwort
von Michael Krüger
Impressum
EDITION PETRARCA
Herausgegeben von Hubert Burda, Peter Hamm (†),
Peter Handke, Alfred Kolleritsch (†)
und Michael Krüger
»Manchmal habe ich das Gefühl, als ob Goethe nicht durch die Hölle des menschlichen Daseins gegangen ist, wie etwa Hölderlin und van Gogh, Poe und Dostojewski, und dass ihm darum doch manchmal etwas fehlt, das, was eben gerade die Allergrößten kennzeichnet«: Das schrieb 1944 im KZ Dachau der Häftling und glühende Goethe-Bewunderer Nico Rost.
Es gibt eine Sorte von Schriftstellern, es sind die Märtyrer der Literatur, vor denen wird alles, was man über sie sagt, vergröbernd, profan, unangemessen. Ihnen kann man nur entsprechen – oder nicht entsprechen. Sie appellieren weniger an unser Verständnis als an unsere Existenz. Hölderlin, Kafka, Robert Walser waren solche Autoren. Denen gegenüber ist, solange man sich selbst noch zweckmäßig zu verhalten versteht, Scham wohl die einzig angemessene Reaktion. Zu anderen Autoren, es sind die Repräsentanten, darf man Ansichten äußern, Widerspruch anmelden. Auch zu Goethe? Vom armen Mann im Tübinger Turm bis zum Herrn Geheimen Staatsminister in Weimar: Das ist jedenfalls der denkbar weiteste Weg. Und umgekehrt, von Weimar nach Tübingen, führt da überhaupt ein Weg?
Den Märtyrern der Literatur war alles vorgeschrieben, der Frankfurter Großbürgersohn hatte die Wahl. Scheinbar. Aber er brauchte ein Programm, ein Rechtfertigungs-Programm. Wenn Goethe die Märtyrer der Literatur so auffallend heftig abwehrte und das Klassische als das Gesunde gegen sie ausspielte, tat er es gewiss nicht aus mangelndem Verständnis, sondern als Verfechter seines Programms. Ihm passte die ganze Richtung nicht, die Richtung nach unten. In diese Richtung, in Richtung Abgrund und »Lazarettpoesie«, wollte er sich nicht ziehen lassen. Aber zog es ihn überhaupt? Musste er sich wehren? Der sich vor Beerdigungen so fürchtete, dass er zu keinem Begräbnis – nicht einmal dem der eigenen Frau – erschien, war ja wohl nicht lediglich eifersüchtig auf die anderen, die Schmerzensmänner, denen die Todesnähe selbstverständlich war. Werthers Leiden waren schließlich von der Art, dass dem Jüngling mit gelber Hose und blauem Frack nur der Griff zur Pistole blieb. In »Faust II« heißt es: »Jeder Trost ist niederträchtig, und Verzweiflung nur ist Pflicht.« Dass er sich, wo immer es ging, dieser Pflicht zu entziehen suchte, ist das nur vernünftig-verständlich oder vielleicht doch noch mehr?
Nachdem Goethe 1812 in Teplitz Beethoven kennengelernt hatte, schrieb er an Zelter: »Sein Talent hat mich in Erstaunen gesetzt; allein er ist leider eine ganz ungebändigte Persönlichkeit, die zwar gar nicht unrecht hat, wenn sie die Welt detestabel findet, aber sie freilich dadurch weder für sich noch für andere genussreicher macht.« Das ist Goethes Rechtfertigungs-Programm in nuce. Es lautet: Nur Bändigung garantiert ein bisschen Genuss! Aber der ungebändigte Beethoven leuchtet in der Teplitzer Konstellation freilich viel stärker. Der Bändigungspanzer des Repräsentanten (der Goethe damals längst ist) schützt nicht nur, er verbirgt und verfremdet auch.
»Goethes dauernde Fremdheit«, so überschrieb Joachim Fest eine noble Rede, mit der er sich für die Verleihung der Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt bedankte. Fests Titel zielt auf zweierlei: wie sehr Goethe der Nation, die sich so gern seines Namens bedient, im Grunde fremd geblieben ist, aber auch, wie sehr er jene, die sich ihm zu nähern versuchten, immer wieder befremdete und abstieß. Schon Schiller bekannte: »Öfters um Goethe zu sein, würde mich unglücklich machen: er hat auch gegen seine nächsten Freunde kein Moment der Ergießung, er ist an nichts zu fassen … Er machte seine Existenz wohltätig kund, aber nur wie ein Gott, ohne sich selbst zu geben … Ein solches Wesen sollten die Menschen nicht um sich herum aufkommen lassen.« Dieses wahrhaft entsetzliche Resümee inspirierte Thomas Mann dann zu seiner Schiller-Erzählung »Schwere Stunde«.
1912 plante Franz Kafka, laut Tagebuch, einen Aufsatz des Titels: »Goethes entsetzliches Wesen«. Wenige Wochen später vermeldet das Tagebuch: »Goethe, Trost im Schmerz«. Was nun, Entsetzen oder Trost? Offensichtlich löst Goethe beide Reaktionen, beide Gefühle aus. Seine Widersprüchlichkeit entspricht genau seiner Größe. Und Entsetzliches und Tröstlich-Erhebendes liegen bei ihm noch näher beisammen als die beiden Eintragungen in Kafkas Tagebuch, ja sie sind oft ineinander verwirkt bis zur Ununterscheidbarkeit. Schon deshalb ist Goethe das Gegenteil von einem populären Autor. Zur Popularität gehört Eindeutigkeit, die Eindeutigkeit Schillers etwa.
»Warum stehen sie davor? / Sind doch Türe da und Tor! / Kämen sie getrost herein, / Würden wohl empfangen sein«: Um eine Bildunterschrift zu der 1827 von O. Wagner verfertigten Zeichnung seines Hauses am Frauenplan gebeten, lieferte Goethe diesen – ziemlich geschwindelten – Vierzeiler. Wahrhaftiger war wohl seine Tagebucheintragung von 1778: »Ich bin nicht zu dieser Welt gemacht. Wie man aus seinem Haus tritt, geht man auf lauter Kot.« Tatsächlich waren ihm die impertinenten Goethe(haus)gaffer genauso zuwider wie die Goethe-Indifferenten, die Masse, über die er skandalöse Sätze geschrieben hat, etwa diesen: »Gestern tief in dem Geschwirre der Messegeleits-Zeremonien fiel mir Ariostens Wort vom Pöbel ein: wert des Tods, vor der Geburt.« Eine andere seiner Auslassungen über die Masse ist schon schwerer abzuweisen: »Nichts ist widerwärtiger als die Majorität: denn sie besteht aus wenigen kräftigen Vorgängern, aus Schelmen, die sich akkomodieren, aus Schwachen, die sich assimilieren, und der Masse, die nachtrollt, ohne nur im mindesten zu wissen, was sie will.«
Kein Zweifel: Sich selbst zählte er zu den kräftigen Vorgängern, und sein Lebensmotto könnte lauten: »Sagt es niemand, nur den Weisen, / Weil die Menge gleich verhöhnet …« Ihm schien »edlen Seelen vorzufühlen wünschenswertester Beruf«. Noch der Greis gestand Eckermann: »Liebes Kind, ich will Ihnen etwas vertraun … Meine Sachen können nicht populär werden; wer daran denkt und dafür strebt, ist in einem Irrtum. Sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne Menschen, die etwas Ähnliches wollen und suchen.«
Nun war es allerdings gerade der junge Goethe-Anbeter Eckermann, der diesen Irrtum, Goethe populär machen zu wollen, beging: Seine Gespräche mit Goethe haben das bis heute nachwirkende Goethebild vom Olympier, vom tönenden Gips-Denkmal in die Welt gesetzt. Durch dieses Buch, das doch lediglich die letzten neun Jahre eines dreiundachtzigjährigen Lebens weniger spiegelt als in ein majestätisches Biedermeier projiziert, wird Goethe jener »joviale Alterspräsident der europäischen Literatur, der auf die verschiedensten Fragen prompt mit druckreifen Aphorismen antwortet« (Josef Hofmiller). Derselbe Nietzsche, der Eckermanns Gespräche mit Goethe als das beste deutsche Buch überhaupt rühmte, beklagte, dass Goethe in der Geschichte der Deutschen »ein Zwischenfall ohne Folgen« gewesen sei. Dass diese Folgenlosigkeit eben auch mit Eckermanns Goethe-Zubereitung zu tun hatte, wie konnte ihm das entgehen? Auch bei den Goethe-Bewunderern also ebenso viele Widersprüche wie beim Objekt ihrer Bewunderung?
Schon dem jungen Gottfried Keller, den es schmerzte, »daß das große Genie (Goethe) einen solchen Privatcharakter oder vielmehr Privatnichtcharakter hatte«, ging der Goethekult nicht nur deswegen fürchterlich auf die Nerven: »Es existiert eine Art Muckertum im Goethe-Kultus, das nicht von Produzierenden, sondern von wirklichen Philistern, vulgo Laien, betrieben wird. Jedes Gespräch wird durch den geweihten Namen beherrscht, jede neue Publikation über Goethe beklatscht – er selbst aber nicht mehr gelesen.« Ein gelesener Autor war Goethe im Grunde tatsächlich nur einmal, mit seinem »Werther«. Alles Spätere und Weitere war Lektüre für Wenige. Der eminent schwierige »Hesperus« des Jean Paul war, gemessen am vergleichsweise süffigen »Wilhelm Meister«, ein Bestseller.
Als 1832 Goethe starb, war das der führenden deutschen Zeitschrift, dem »Stuttgarter Literaturblatt«, keine Notiz wert, obwohl diese Zeitschrift bei Cotta erschien, dem Verlag also, der das ausschließliche Verlagsrecht an Goethes Werken innehatte.
Der Mann der Stunde, ja des Jahrhunderts war Schiller. Ihm und nicht Goethe wurde kaum fünf Jahre später in Stuttgart das erste Denkmal errichtet, das nicht einen Feldherrn oder Regenten zeigte, sondern einen Schriftsteller. Wieder einige Jahre später, 1849, blieb der hundertste Geburtstag Goethes in Deutschland fast unbemerkt, während ein Jahrzehnt darauf, bei Schillers Hundertstem, ganz Deutschland in einen Begeisterungstaumel ohnegleichen geriet. Man – genauer: das sich emanzipierende deutsche Bürgertum – verzieh Goethe den Höfling nicht, den Fürstendiener, sein Ausweichen vor der Politik und der Revolution.
»Wie sich in der politischen Welt irgendein Ungeheures, Bedrohliches hervortat, so warf ich mich eigensinnig auf das Entfernteste«: Was uns, nach den letzten Kriegen und gescheiterten Revolutionen, bereits wieder als Zeugnis von Goethes Lebensklugheit vorkommen mag, erschien seinen jüngeren progressiven Zeitgenossen unannehmbar. »Stabilitätsnarr« nannte ihn Börne und – eine Spur respektvoller – »einen Adler, der unter einer Dachtraufe nistet«. Beethoven schrieb nach der Teplitzer Begegnung an seinen Verleger: »Goethe behagt die Hofluft sehr, mehr als einem Dichter ziemt. Es ist nicht vielmehr über die Lächerlichkeit der Virtuosen hier zu reden, wenn Dichter, die als die ersten Lehrer der Nation angesehen sein sollten, über diesem Schimmer alles andere vergessen können.« Das war wohl exakt das, was man in Deutschland damals über Goethe dachte, es bestand das dringende Bedürfnis nach Lehrern der Nation; doch Goethe war etwas weniger und viel mehr zugleich, nämlich Lehrer der Einzelnen.
Und seine Nation, sein Vaterland musste nicht erst erkämpft werden, sondern bestand schon längst: »Das Wahre war schon längst gefunden, / Hat edle Geisterschaft verbunden. / Das alte Wahre, fass es an!« Das alte Wahre, das war für Goethe das organische, das Ganze, die Natur – und mit ihr konnte das erwachende Deutschland wenig anfangen. Auch die Natur war nur als domestizierte genehm, als Ausbeutungsfeld und als Kulisse, als Zweck. Im Namen der Natur aber verwarf Goethe gerade Zweckdenken und Zweckdichter: »Natur und Kunst sind zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und haben’s auch nicht nötig, denn Bezüge gibt’s überall und Bezüge sind das Leben.«
Bezüge bedeuteten ihm mehr als Behauptungen, Polarität mehr als Parteinahme. »Mir scheint …, dass sich alles gut verbindet, wenn man den Begriff der Polarität zum Leitfaden nimmt …«, schrieb er zur Erläuterung der »Farbenlehre«. Die in Hegels Dialektik »konkret« genannte Einheit von Gegensätzen versuchte auch Goethe an allen Erscheinungen wahrzunehmen. Mit »elbischer Dichtergesinnungslosigkeit«, die Thomas Mann ihm attestierte (um die eigne zu legitimieren), hat das nichts zu tun.
Im Übrigen sah Goethe im Alter etwa die Französische Revolution, die er zunächst so schroff abgelehnt hatte, sehr wohl als »Folge einer großen Notwendigkeit«, auch wenn ihm ihre direkte Übertragung auf Deutschland, sicher zu Recht, immer noch nicht möglich schien. »Das kollektive Wesen, das den Namen Goethe trägt« – es ist der Greis Goethe, der sich selbst so charakterisiert –, hatte sich entferntere Ziele als bloß politisch-parteiische gesteckt. »Willst du ins Unendliche schreiten, / Geh im Endlichen nach allen Seiten«: so eine Maxime sorgte bei der aufs Endliche orientierten verspäteten Nation – bei den Deutschen – nicht für Beliebtheit. Dass Goethe allerdings geradezu undeutsch gewesen wäre, lässt sich auch nicht behaupten; gerade an deutschen Defiziten partizipierte er heftig, man denke nur an seine Angst vor Unordnung. »Es liegt nun einmal in meiner Natur, ich will lieber eine Ungerechtigkeit begehen, als eine Unordnung ertragen«: Dieser so eminent deutsche Satz Goethes ist ebenso wenig zu retten wie seine philiströse »Lebensregel«: »Willst du dir ein hübsch Leben zimmern, / Mußt dich um’s Vergangne nicht bekümmern«, eine Devise, an die sich nach 1945 die kurz zuvor gerade wieder einmal zu heftig erwachte Nation getreulich gehalten hat.
Als der Tod sich nicht länger abweisen ließ und ans Zimmern eines hübschen Lebens wahrlich nicht mehr zu denken war, kümmerte sich Goethe auch dergestalt ums Vergangne, dass er sich Briefe, die er ein halbes Jahrhundert zuvor geschrieben hatte, von den Empfängern zurückerbat: Er wollte sich ein hübsches Nachleben zimmern. Goethe war ums künftige Goethe-Bild penibel besorgt und wahrscheinlich desto mehr, je weniger Echo sein Werk in seinen letzten Lebensjahren auslöste. Dass er sein Nachleben sichern wollte, indem er das eigne Bild so abschliff und aufs Gesunde und Lebenstüchtige hinbog, wie es durch Eckermann – dem er sich ja bewusst so präsentierte – auf uns gekommen ist, darin darf man wohl auch seine Angst am Werk sehen, die Angst, mit dem Tod im Rachen des »ewig verschlingenden, ewig wiederkäuenden Ungeheuers« zu verschwinden, das für ihn Natur auch war – und die menschliche Gesellschaft ohnehin.
Überhaupt seine Angst! Wie hat er sich bemüht, sie zu kaschieren, sie zu leugnen, er, der doch die Schönheit »eine Tochter der Angst« nannte! Man sollte ja nicht vergessen, dass das neugeborene Kind Wolfgang drei Tage lang um sein Leben zu kämpfen hatte und wie bereits den Sechsjährigen die »schrankenlose Willkür der Natur« entsetzt hat, als er 1755 vom Erdbeben in Lissabon hörte. Hier, in den frühen traumatischen Erfahrungen der Zerstörung und des Kampfes gegen den Tod, hat der »Dämon des Schreckens« eine der Wurzeln gelegt für Goethes Hypersensibilität und sein zeitlebens beharrlich verfolgtes Harmonisierungs- und Ganzheitsprogramm.
An Frau von Stein schrieb Goethe im Juni 1787 aus Rom: »Übrigens habe ich glückliche Menschen kennenlernen (dürfen), die es nur sind, weil sie ganz sind, auch der Geringste, wenn er ganz ist, kann glücklich und in seiner Art vollkommen sein, das will und muss ich nun auch erlangen, und ich kann’s, wenigstens weiß ich, wo es liegt und wie es steht, ich habe mich auf dieser Reise unsäglich kennen lernen.« Diesen Brief schrieb kein glücklicher, kein ganzer, sondern ein ziemlich zersplitterter Mensch (und dass Goethe erst in Italien zu sich zu finden begann und die alte Angst ein wenig abschütteln konnte, ist noch einmal ein bezeichnendes Kapitel im Buch »Goethe und die Deutschen«). Das Harmoniegefühl der Griechen, das er so pries, hatte er selbst sicher nicht, er hätte es sonst schwerlich in Italien suchen müssen; der »harmonische Mensch« Goethe ist ebenso eine Legende wie der gesunde Goethe, allerdings konnte er, wie Gottfried Benn betonte, »seine Zusammenbrüche gut verschleiern«.
»Ich suchte mich vor diesem furchtbaren (dämonischen) Wesen zu retten, indem ich mich nach meiner Gewohnheit hinter ein Bild flüchtete«, so lesen wir’s im »Wilhelm Meister«. – Bild, das bedeutet Flucht – Goethe sagt es selbst –, und wie seine Reise nach Italien Flucht war, so war Flucht seine lebenslange Abwehr des Tragischen, des Negativen; bekanntlich ertrug er das Bild des Gemarterten am Kreuze nicht, auch diesem wollte er ausweichen, wenn er Beerdigungen mied. Und Flucht war wohl auch sein Ausweichen in das, was er für Naturwissenschaft hielt, was aber doch mehr Naturglaube war. »Goethes morphologische Betrachtungsweise«, sagt Adolf Muschg, »ist ja nichts anderes als die Entdeckung eines ›heilsgeschichtlichen Prinzips‹ in der Natur! Und im Grunde bleibt es für Goethe ein Leben lang die einzige Form von Geschichte, die ihn interessiert, während er in der politischen Weltgeschichte keinen Sinn zu erkennen vermag. Sinnvoll wird die Geschichte durch die immanente Autorität eines Gesetzes, und bei den Subjekten durch den Glauben an dieses Gesetz, der sich zu dessen Wahrnehmung und frommen Anschauung steigert.«
Auch noch sein Insistieren auf der reinen Anschauung ist Flucht, Flucht vor der eigenen Ruhelosigkeit und Getriebenheit in die Ruhe der Naturbetrachtung. »Die verfluchte Unnatur«, so hat er Kleist abgewehrt, dem die Flucht in die ruhige Naturbetrachtung nicht gelang, sondern nur in einen inmitten der Naturkulisse schön inszenierten Freitod. Aus seiner »Campagne in Frankreich« wissen wir, wie Goethe dem verzweifelten Plessing (den er – wohl auch im Versuch seiner Abwehr des Tragischen – incognito aufsuchte) riet, »… man werde sich aus einem schmerzlichen, selbstquälerischen, düstern Seelenzustande nur durch Naturbeschauung und herzliche Teilnahme an der äußern Welt retten und befreien; schon die allgemeinste Bekanntschaft mit der Natur, gleichviel von welcher Seite, ein tätiges Eingreifen, sei es als Gärtner oder Landbebauer, als Jäger oder Bergmann, zieht uns von uns selbst ab.« Darauf also kommt es an: sich von sich selbst abzuziehen. Selbstwerdung durch Selbstminimalisierung.
Cioran hat einmal Goethes »großartige Mittelmäßigkeit« nicht etwa polemisch angeprangert, sondern gepriesen. Großartig ist diese Mittelmäßigkeit, weil ein so maßloser, so von Gegensätzen zerrissener Mensch wie Goethe sich permanent zwang, statt der Extreme das Mittlere anzustreben, sein Maß in der Mäßigung zu finden, auch auf die Gefahr hin, philiströs zu erscheinen. Seine großartige Mittelmäßigkeit ist seine Humanität. Und zu dieser gehört eben auch, dass Goethe stets ein Feind alles Finsteren und ein der Schöpfungsformel »Es werde Licht!« Verpflichteter blieb. Der sich 1775 den »herrlichen Morgenstern« zum Wappen wählte, schrieb im »Divan«: »Laß mich nicht so der Nacht, dem Schmerze, / Du Allerliebstes, du mein Mondgesicht, / O du mein Phosphor, meine Kerze, / Du meine Sonne, du mein Licht.« Dass wir fürs Licht geboren sind, das war seine Überzeugung: »Wär’ nicht das Auge sonnenhaft, / Die Sonne könnt’ es nie erblicken. / Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, / Wie könnt’ uns Göttliches entzücken?«
Nicht nur als Stabilitätsnarr, sondern auch als den Dichter der Glücklichen, dessen Religion die Bequemlichkeit sei, beschimpfte ihn der rebellische Börne. Heute, zwanzig Jahre nach einer Rebellion, die jene Verhältnisse, die sie verändern wollte, nur noch stabilisierte, sind wir nicht mehr leichtfertig genug, Glück, Bequemlichkeit und Mäßigung als unbedingt reaktionäre Attribute zu denunzieren. Unser Bedarf an Zerschlagung, Chaos und Maßlosigkeit ist ebenso einigermaßen gedeckt wie unser Bedarf an einer politisierenden Bedürfnisliteratur, die ihre winzigen Wahrheiten auch stilistisch nur in kleinster Münze auszuzahlen in der Lage ist.
»Der große Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt«, das meinte Nietzsche mit Blick auf Goethe. »Den höheren Stil lehret die Liebe dich nur«, so deklarierte es Goethe selbst in den »Römischen Elegien«. Kein anderer Autor unserer Literaturgeschichte ließ sich so gern und so gut wie er von Liebe belehren, das ist sicher. Der Fünfundsiebzigjährige schrieb dann noch den beherzigenswerten Satz: »Wer mich nicht liebt, der darf mich auch nicht beurteilen.«
Martin Walser, dem es lange Zeit ziemlich schwerfiel, Goethe zu lieben, weil er sich unmittelbarer zu denen hingezogen fühlte, die Selbstbewusstsein nur fingieren konnten, den Märtyrern der Literatur, die für ihn identisch sind mit Kleinbürgern, sieht inzwischen Goethe seine großbürgerliche Herkunft großzügig nach und hat hinter dem Selbstbewusstseins-Panzer des Weimarer Repräsentanten einen ganz anderen Goethe entdeckt, einen, dessen »vorsätzliche Güte« ihn mehr anzieht »als die vorsätzliche Ungüte, die jetzt in der Kunst so prächtig gedeiht«, einen, dessen Angezogensein »von dem jeweils Lebendigsten« ihn dazu befähigte, wenn schon nicht die deutsche Gesellschaft, so doch »das Gefühl und die Sprache aus dem Hof- und Kirchendienst zu befreien«.
Walsers Goethefindungs-Prozess scheint symptomatisch für die Wandlungen des Goethe-Bildes seit den Gründerjahren und ihrer »Sophienausgabe«. Wenn Walser etwa als Goethes »größtes Lebenswerk … seine Gemeinschaft mit der sechzehn Jahre jüngeren Christiane Vulpius«, der von der Weimarer Gesellschaft geschnittenen Kleinbürgerin, preist, preist er nichts anderes als Cioran, eben Goethes großartige Mittelmäßigkeit, die ihn auch dazu befähigte, Klassenschranken zu ignorieren. Undenkbar allerdings, dass zu der Zeit, als die »Sophienausgabe« seiner Werke veranstaltet wurde, irgendwer Goethe ausgerechnet wegen seiner Beziehung zu Christiane gerühmt hätte – oder wegen seiner großartigen Mittelmäßigkeit! Die Epoche musste erst entsetzlich viel Extremes erzeugen, um diesen mittleren Goethe schätzen zu lernen.
Jede Zeit, jede Generation hat ebenso ihren Goethe, wie jeder einzelne Leser seinen Goethe hat, jeweils konstruiert nach dem akuten Empfindungsbedürfnis. Die »Goethe-Gott-Puppe«, die Thomas Mann in seiner »Lotte in Weimar« auftreten ließ, Thomas Mann, dieser sich bei Goethe »ankumpelnde Imitator …, der sich für jedes konservative Gelüst rücksichtslos Zitate holte bei ihm« (Martin Walser), sie ist nur eine, wenn auch eine äußerst abstoßende Goethe-Vergegenwärtigung. Tatsächlich ist bei dieser Allnatur Goethe immerzu das zu holen, was die eigene Sehnsucht und die eigene Tendenz momentan gerade braucht. Goethe war sich, selbstredend, auch dessen bewusst: »Gewöhnlich hören die Menschen etwas anderes, als was ich sage«, schrieb er an Zelter – und dann folgt der für Goethes manchmal so abstoßende und dann wieder so anziehende Gelassenheit bezeichnende Zusatz: »und das mag denn auch gut sein«.
Erstdruck in: DIE ZEIT, 4. 12. 1987.
Deutschsprachige Lyrik nach 1945
Wer sich anschickt, die Entwicklung der deutschsprachigen Nachkriegslyrik in einer auch nur einigermaßen repräsentativen Auswahl zu dokumentieren, der gelangt rasch an einen Punkt, an dem immer mehr Fragezeichen sein Unternehmen begleiten, zumal wenn dieses für lyrikverwöhnte amerikanische Augen bestimmt ist. Angesichts der Wohltemperiertheit, die das Gros jener Gedichte kennzeichnet, die in den letzten Jahrzehnten zwischen Berlin und Wien, Hamburg und Zürich entstanden sind, muss ihn ebenso Resignation befallen wie angesichts der sprachlichen Unvermittelbarkeit dessen, was aus der neueren deutschsprachigen Dichtung unverwechselbar und bedeutsam herausragt.
Deutsch ist offenkundig keine Weltsprache mehr. Ein deutsch schreibender Dichter ist nicht mehr von vornherein im Vorteil gegenüber einem polnisch, tschechisch oder schwedisch schreibenden. Im Konzert der modernen Weltpoesie wird jedenfalls eine englische oder romanische – auch eine russische – Stimme weit eher und besser vernommen als eine deutsche. So ging von keinem deutschsprachigen dieses Jahrhunderts, nicht einmal von Rilke (erst recht nicht von Benn und Brecht), eine vergleichbare epochale und d. h. innovatorische Wirkung aus wie etwa von Walt Whitmans »Leaves of Grass«, Wallace Stevens’ »The Man with the Blue Guitar«, T. S. Eliots »The Waste Land«, William Carlos Williams’ »Paterson«, W. H. Audens »The Age of Anxiety«, Robert Lowells »For the Union Dead« oder zuletzt noch von Allen Ginsbergs »Howl« (um nur die allerwichtigsten jener englischsprachigen Gedichtbände zu nennen, die das Bild der modernen Poesie weit über den englischen Sprachraum hinaus geprägt haben). Ironischerweise erzielte nur ein einziger deutscher Dichter – und zwar einer aus dem achtzehnten Jahrhundert – so etwas wie eine moderne Weltwirkung, es war Friedrich Hölderlin, der allerdings auch im deutschen Sprachraum erst von Dichtern unseres Jahrhunderts in seiner wahrhaft überragenden Bedeutung erkannt worden war.
Die Ursache für die mangelnde Welthaltigkeit der lyrischen Durchschnittsproduktion einerseits und die eingeschränkte Weltwirkung der bedeutenden Ausnahmeerscheinungen unter den modernen deutschsprachigen Lyrikern andererseits ist aber nicht nur im Sprachlichen gegründet, sondern mehr noch im Geschichtlichen, nämlich in der Diskontinuität ihres Erscheinungsbildes, die eine Folge der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft von 1933 bis 1945 ist. In einem Land wie den USA und aus einer Perspektive wie jener der Zeitschrift »Poetry«, die 1912 begründet wurde und bis zum heutigen Tage die englischsprachige Lyrikentwicklung kontinuierlich kommentiert und begleitet, kann man sich vermutlich nur schwer vorstellen, was es für einen jungen deutschsprachigen Dichter der vierziger und fünfziger Jahre bedeutete, von jeder Entwicklung der modernen deutschen und erst recht der modernen Weltpoesie abgeschnitten zu sein. So fragwürdig der Begriff von der »Stunde Null«, mit dem in Deutschland gern der Beginn der Nachkriegszeit belegt wurde, politisch auch war (weil er implizierte, es sei davor nichts gewesen, und also der Verdrängung diente), so fraglos traf er auf die literarische Situation zu.
In den zwölf Jahren von 1933 bis 1945 hatte nicht nur nichts, woran man später hätte anknüpfen können, entstehen dürfen, es war auch alles, was von der Moderne der Vorkriegszeit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung wert gewesen wäre, als ›entartet‹ geächtet gewesen. Und erst recht wurde der Blick über die Landes- und Sprachgrenzen hinaus unter Strafe gestellt. Das erklärt, warum dann, als Ende der vierziger Jahre Einflüsse von draußen ebenso wieder erfolgten, wie die Wiederfindung der eigenen Moderne möglich war, diese Einflüsse oft eine eher negative Wirkung ausübten. Sie waren so überwältigend neu, dass sie zumeist ziemlich ungefiltert und unreflektiert übernommen wurden und entsprechend epigonale Resultate zeitigten. Es gab in Deutschland plötzlich lauter kleine deutsche Eliots, Pounds, Éluards, Benns und Brechts.
Weit mehr noch als derartig formalästhetische Probleme machten aber moralische Aporien den deutschen und österreichischen Nachkriegsdichtern zu schaffen. Der Zivilisationsbruch, der soeben stattgefunden hatte, war so über alle Maßen unfassbar und ungeheuerlich, dass er eigentlich jedem Fühlenden die Stimme verschlagen musste. Nur noch der Schrei oder schamhaftes Verstummen schienen eine einigermaßen angemessene Reaktion darauf. Die »Tendenz zum Verstummen« attestierte denn auch Paul Celan, selbst ein Überlebender des Holocaust, dem neuen Gedicht insgesamt. Bezeichnenderweise wurde in den Lyrikdebatten der Nachkriegszeit und noch bis in die siebziger Jahre hinein kein anderer Satz so häufig zitiert und so heftig diskutiert wie jener des aus dem amerikanischen Exil nach Frankfurt zurückgekehrten Kulturphilosophen Theodor W. Adorno, der besagte, es sei barbarisch, ja unmöglich, nach Auschwitz noch ein Gedicht zu schreiben. Mit gleichem Recht hätte Adorno freilich dekretieren können, es sei barbarisch, nach Auschwitz noch weiter essen und atmen zu wollen.
So viel jedoch ist sicher: ohne Reflexion der anthropologischen Möglichkeit Auschwitz ließ sich kein deutsches – und wahrscheinlich überhaupt kein Gedicht mehr – beglaubigen. Wer nach 1945 das alte Wagnis des Gedichts noch einmal einging, musste mehr als artistisches Vermögen oder poetische Gestimmtheiten vorweisen können, er stand mit jedem neuen Gedicht auch auf dem moralischen Prüfstand. Doch ebendiese moralische Hypothek war es nun wiederum, die so viele Gedichte – und Dichter – erdrückte, sie ins völlige Verstummen trieb oder aber, noch schlimmer, ins Predigen. Das übermächtige Gefühl der Verantwortung für den Zustand des menschlichen Gewissens schlug sich genauso oft als ästhetisches Defizit nieder wie moralische Bedenkenlosigkeit oder naive Arglosigkeit.
Schon vor Kriegsbeginn hatte Bertolt Brecht sein programmatisches Gedicht »An die Nachgeborenen« geschrieben, in dem er die Unmöglichkeit, noch arglos zu sprechen, beklagte: »Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!« Diese Brecht-Zeilen wurden in den literarischen Nachkriegsdebatten fast so häufig zitiert wie Adornos Auschwitz-Verdikt, zumal wichtige Lyriker der Nachkriegszeit noch zur Schule des naturmagischen Gedichts in der Nachfolge Oskar Loerkes und Wilhelm Lehmanns zählten und sich im Krieg mittels einer relativ unangreifbaren Naturlyrik in »das Gespräch über Bäume« gerettet hatten (so Peter Huchel, Günter Eich, Karl Krolow, Elisabeth Langgässer, Oda Schäfer, Horst Lange und Johannes Bobrowski). Spät in den sechziger Jahren, nicht lange vor seinem Freitod, hat Paul Celan noch mit einem Gedicht Brecht geantwortet, das schlechthin jede Form eines unschuldigen Sprechens verwirft: »EIN BLATT, baumlos, / für Bertolt Brecht: // Was sind das für Zeiten / wo ein Gespräch / beinahe ein Verbrechen ist, / weil es soviel Gesagtes / mit einschließt?« Die »Tendenz zum Verstummen« ist diesem Gedicht ebenso eingegraben wie die Forderung an den Dichter, das Unmögliche möglich zu machen und das Unsagbare zu sagen. Solches Sagen aber impliziert eine radikale Absage an jede geläufige Art des Sprechens, es verlangt eine neue, ganz andere, eine wahrhaft unerhörte Sprache.
Rekapituliert man heute die Lyriksituation nach 1945, ergreift einen Bestürzung, denn kaum irgendwo findet sich der Versuch, das Unsagbare zu sagen, vielmehr zeigt sich vorherrschend eine unsägliche Unversehrtheit, von der bereits die Titel der Gedichtbände künden, die damals herauskamen: »Des alten Mannes Sommer« (Rudolf Alexander Schröder), »Stern über der Lichtung« (Hans Carossa), »Entzückter Staub« (Wilhelm Lehmann), »Der Laubmann und die Rose« (Elisabeth Langgässer), »Die Silberdistelklause« (Friedrich Georg Jünger), »Mittagswein« (Anton Schnack), »Die Holunderflöte« (Peter Gan), »Unter hohen Bäumen« (Georg Britting) lauteten einige dieser Titel, und sogar »Die heile Welt« (Werner Bergengruen) wurde damals dem deutschen Lyrikleser, der inmitten der Verwüstung und Zerstörung hauste, allen Ernstes aufgetischt. Verräterisch auch noch der Titel der ersten repräsentativen Nachkriegs-Anthologie deutschsprachiger Gegenwartslyrik: »Ergriffenes Dasein«!
Um wie viel angemessener und das heißt weniger ergriffen als vielmehr entsetzt und empört hatten deutsche Dichter noch auf die Katastrophe des Ersten Weltkrieges reagiert. »Menschheitsdämmerung« betitelte Kurt Pinthus 1920 seine aufsehenerregende und folgenreiche Anthologie neuer deutscher Dichtung, in der die expressionistische Generation erstmals geschlossen auf den Plan trat und gewissermaßen als Vollstrecker von Nietzsches Testament eine gottlose und schuldbeladene Gesellschaft beklagte und anklagte.
»Abgelegene Gehöfte«: Auch dieser Titel eines 1948 erschienenen Gedichtbandes von Günter Eich wirkte eher idyllisch, signalisierte jedenfalls nicht, dass gerade ein Zivilisationsbruch wie nie zuvor stattgefunden hatte. Doch finden sich in diesem Eich-Gedichtband neben vielen vor dem Krieg und im Krieg geschriebenen Naturgedichten, die eher das Misstrauen gegen den Innerlichkeitskult der sogenannten Inneren Emigration zu nähren vermögen, erstmals auch Gedichte, die ihr Vokabular zwar weitgehend aus dem alten Fundus der Naturlyrik beziehen, aber von einer Schwermut durchwirkt sind, aus der eine tiefe Irritation der Welt- und Ich-Erfahrung spricht. Wenn diese auch ihren geschichtlichen Grund nirgends konkret benennt (was Günter Eich veranlasste, sich später von diesen frühen Gedichten zu distanzieren), so erscheint sie doch nicht nur als Affekt bloßer Furcht oder Ohnmacht, sondern enthält auch einen subversiven Kern, nämlich den der Verweigerung jeglicher Positivität.
Eichs Gedichtband »Abgelegene Gehöfte« enthält zudem zwei Gedichte, die neben Paul Celans »Todesfuge« zu den berühmtesten Nachkriegsgedichten überhaupt wurden: »Latrine« und »Inventur«. Beide verdanken sich der Erfahrung des Lagers, allerdings keines deutschen Konzentrationslagers, sondern eines amerikanischen Gefangenencamps am Rhein, und der Autor, der dort unter kläglichsten Bedingungen zu existieren gezwungen ist, weiß doch, dass er ein Recht auf Klage angesichts der Gräuel, die nicht zuletzt durch deutsche Armeen geschahen oder doch begünstigt wurden, nicht hat. Illusionslosigkeit ist daher erstes Gebot und zu dieser zählt vor allem die Einsicht in die Fragwürdigkeit des Guten, Alten, Wahren, Schönen, sprich: die Fragwürdigkeit einer humanistischen kulturellen Tradition, die Auschwitz zu verhindern weder die Kraft noch den ernstlichen Willen besaß. Wenn Günter Eich im Gedicht »Latrine« auch noch nicht auf den Reim und damit auf versöhnlichen Wohlklang verzichtet, so reimt sich in seinem Gedicht doch auf Hölderlin Urin (»Irr mir im Ohre schallen / Verse von Hölderlin. / In schneeiger Reinheit spiegeln / Wolken sich im Urin«). Das galt 1948 und auch noch einige Jahre später in Deutschland als ebenso unerhörte Provokation wie die nackte Aufzählung der lebensnotwendigen Utensilien eines Gefangenen im nunmehr reimlosen Gedicht »Inventur«, dessen hartnäckiges understatement bereits Eichs Bruch mit der naturmagischen Schule antizipierte.
Im selben Jahr 1948 wie »Abgelegene Gehöfte« erschien auch ein erster Band »Gedichte« des 1903 geborenen Peter Huchel, der mit dem vier Jahre jüngeren Günter Eich nicht nur die literarische Herkunft aus der Vorkriegs-Schriftstellergruppe, sondern auch das Schicksal der Inneren Emigration teilte, d. h., die meisten der Gedichte, die Huchel vorlegte, waren entweder vor dem Krieg oder unter den Bedingungen des Krieges und der Nazi-Diktatur entstanden. Auch Peter Huchel hatte, wie vorsichtig und hilflos auch immer, gesellschaftlich-politische Sachverhalte mit den Mitteln einer naturmagischen Metaphorik zu benennen versucht: »o öder Anhauch bleicher Lippen, / mit Blut und Regen kam der Tag, / da auf des Flusses steingen Rippen / das Morgenlicht zerschmettert lag«. Auch Huchels Gedichte legitimierte nur die verweigerte Positivität und die Schwermut, die sie gegen jede Vereinnahmung durch die Nazis geschützt hatte.
Eine wirklich adäquate Sprache für die Epoche der großen Verfolgungen und Verwüstungen fand Huchel erst dann, als er selbst zu den Verfolgten gehörte und Opfer einer neuen Gewaltherrschaft, diesmal einer kommunistischen, wurde, die sich in Ostdeutschland mit Hilfe Sowjetrusslands etabliert hatte. Huchel war ihr übrigens zunächst keineswegs ablehnend gegenübergestanden, wie sowohl sein 1948 entstandener Gedichtzyklus »Das Gesetz«, der die sowjetzonale Bodenreform preist, als auch die Tatsache zeigt, dass Huchel sich ab 1949 zum Chefredakteur der im Auftrag der Ost-Berliner Akademie der Künste erscheinenden Zeitschrift »Sinn und Form« küren ließ. Das Schlussgedicht seines Gedichtbandes, »Heimkehr« betitelt, endet entsprechend mit einer Hoffnungsperspektive. Aber die Figur, an die sich diese Hoffnung knüpft, ist keine konkrete, sondern eine mythische, und dieser zur Urmutter stilisierten wendischen Bäuerin, die in ihr zerstörtes Dorf heimkehrt, haftet – bei allem Respekt vor Huchel sei das gesagt – noch ein Rest jener Mütter- und Bauernverklärung an, wie sie nahezu nahtlos von der faschistischen in die kommunistische Ästhetik überführt wurde: »Aber am Morgen, / es dämmerte kalt, / als noch der Reif / die Quelle des Lichts überfror, / kam eine Frau aus wendischem Wald. / Suchend das Vieh, das dürre, / das sich im Dickicht verlor, / ging sie den rissigen Pfad. / Sah sie schon Schwalbe und Saat? / Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug. // Da war es die Mutter der Frühe, / unter dem alten Himmel / die Mutter der Völker. / Sie ging durch Nebel und Wind. / Pflügend den steinigen Acker, / trieb sie das schwarzgefleckte / sichelhörnige Rind«.
Heimkehrer ganz anderer Art gab es, als dieses Huchel-Gedicht entstand, nämlich jene Schriftsteller, die von den Nazis vertrieben worden waren und nun in ihre deutsche Heimat zurückkehrten. Der bedeutendste von ihnen, der von McCarthy-Hysterie aus den USA verjagte Bertolt Brecht, sollte in Ostdeutschland bald den stärksten, freilich auch den lähmendsten Einfluss auf die jüngeren Lyriker dort ausüben, die Brecht meist sogar habituell kopierten. Doch bevor hier Brecht und seine Folgen ins Blickfeld geraten, soll erst jener gedacht sein, die nicht mehr heimkehrten, entweder weil sie nicht mehr wollten oder nicht mehr konnten, wie etwa Gertrud Kolmar, die 1943 nach Auschwitz deportiert worden war.
Von Gertrud Kolmar, übrigens einer Cousine Walter Benjamins, brachte Peter Suhrkamp (der für Samuel Fischer dessen berühmten Verlag relativ unbeschädigt über die Nazijahre gerettet hatte und zuletzt selbst noch ein KZ-Opfer gewesen war) 1947 den Gedichtband »Welten« in seinem frisch gegründeten eigenen Verlag heraus. Leider ohne jedes Echo. Dabei handelte es sich hier um die Manifestation der wohl bedeutendsten modernen deutschsprachigen Lyrikerin nach Else Lasker-Schüler und neben Nelly Sachs, der späteren Nobelpreisträgerin. Meist in traditioneller Strophenform geschrieben, überbrücken die stärksten Gedichte Gertrud Kolmars den blutigen Zeitenraum bis zurück zu Kain und Abel mit der Inbrunst einer biblischen Stimme, wobei viele dieser Gedichte sogar einer Sphäre des Vormenschlichen, des Tellurischen und Anorganischen angehören – oder dort Schutz zu suchen scheinen. Viele werden nur von Pflanzen und Tieren bevölkert und hier wiederum vorwiegend von verachteten oder von Menschen gemiedenen Tieren – wie etwa der Kröte, die in einem späten Kolmar-Gedicht zum Inbild jenes wie Ungeziefer vernichteten auserwählten Volkes wird, dem die Dichterin angehörte: »Komm denn und töte! / Mag ich nur ekles Geziefer dir sein: / Ich bin die Kröte / Und trage den Edelstein«.
Nicht nur Gertrud Kolmars Gedichte fanden in den Nachkriegsjahren kein Gehör, auch auf die im Stockholmer Exil lebende Nelly Sachs, von der 1947 in Ost-Berlin der Gedichtband »In den Wohnungen des Todes« und 1949 bei einem Amsterdamer Emigranten-Verlag der Band »Sternverdunkelung« erschienen waren, wurde man in Westdeutschland erst in den späten fünfziger Jahren aufmerksam, als der zwar kleine, aber renommierte Verlag Heinrich Ellermann in München ihren Gedichtband »Und niemand weiß weiter« druckte. Im Gegensatz zu Gertrud Kolmar, die nur in ganz wenigen Gedichten unverschlüsselt vom Schicksal ihres Volkes gesprochen hatte, war nahezu jedes Nelly-Sachs-Gedicht eine unmittelbare Reaktion auf den Holocaust, war leidenschaftliche Klage und Flehen nach Erlösung von der »Totschlägerwirklichkeit«. Wie im Falle Gertrud Kolmars ist auch die Kraft der Gedichte von Nelly Sachs nicht aus Biblischem geborgt, sondern dort gegründet. Das wilde kosmische Sprechen und die verzückt visionäre Metaphorik der Propheten und Psalmisten feiern in diesen Gedichten Auferstehung und heben sie weit hinaus über jeden individuellen Kunstanspruch und jede ästhetische Doktrin.
Zwar wurde nach 1945 ein Wort wie »Vergangenheitsbewältigung« Mode, aber praktiziert wurde diese eher als Vergangenheits-Verdrängung. Das erklärt, warum Gertrud Kolmar, Nelly Sachs und so viele andere verfolgte und emigrierte deutsche Dichter damals – und oft bis heute – ungehört blieben. Weder die erste frei gewählte westdeutsche Nachkriegs-Regierung noch eine spätere Bundesregierung kam je auf die Idee, die Vertriebenen und Überlebenden offiziell zur Rückkehr in die alte Heimat aufzufordern (im Gegensatz zum kommunistischen deutschen Teilstaat, der geradezu warb um emigrierte Künstler und sehr vielen auch eine neue deutsche Heimstatt bot). Also blieben die westdeutschen Autoren erst einmal unter sich und mithin auch abgeschnitten von der eigenen literarischen Tradition, die seit 1933 gewaltsam unterbrochen und nur von den vertriebenen jüdischen oder antifaschistischen Autoren fortgeführt worden war. (Um nur zwei Bedeutende von ihnen zu nennen, die bis heute auch vermeintlichen Lyrikkennern hierzulande unbekannt sind: Franz Baermann Steiner, 1909 in Prag geboren und 1952 in Oxford gestorben, und Jesse Thoor alias Peter Höfler, 1905 in Berlin geboren und 1952 in Lienz gestorben.)
Einen einzigen Dichter allerdings gab es, der nach 1945 so etwas wie den Anschluss an die Moderne der Vorkriegszeit zu garantieren schien und der in den fünfziger Jahren denn auch zur allseits bewunderten und imitierten Vaterfigur der jüngeren Lyriker des Westens avancierte. Es war dies der 1886 geborene Gottfried Benn, seines Zeichens Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten in Berlin. Einst, in seiner expressionistischen Frühphase, hatte Benn mit seinem Gedichtband »Morgue« (1912) für Aufruhr gesorgt, fanden sich dort doch Gedichte, die den Geschmack des wilhelminischen Bürgertums tief verletzten (»Europa, dieser Nasenpopel / aus einer Konfirmandennase, / wir wollen nach Alaska gehn …«). Inzwischen schrieb Benn längst Gedichte von einer müden und mondänen Melancholie, die mühelos konsumierbar waren – und konsumiert wurden wie Drogen. Einem gerade noch einmal davongekommenen Bürgertum erschien Benn auch deshalb in einem fatalen Sinne ›vertrauenerweckend‹, weil er selbst mit dem Makel des Mitmachens behaftet war. In seinem Buch »Kunst und Macht« hatte Benn 1934 den Nationalsozialismus und seinen »Rassegedanken« emphatisch begrüßt (»Die weiße Rasse, das ist Deutschland, Jugend, vergiß es nie, ihre letzte Züchtung, ihr letzter Glanz bist du«).