Die Wahrheit findet immer einen Weg –

ebenso die Liebe.

Für meinen Engel.

Prolog

Es kommt eine Zeit im Leben, da musst du dich entscheiden. Ich habe meine Entscheidung nie angezweifelt, mich nie gefragt, ob ich auf der falschen Seite stehe, ich wusste immer, wo in dieser Welt mein Platz ist.

Schon als Kind war ich anders. Ich habe die Welt auf meine eigene, etwas düstere Weise gesehen. Als schlage mein Herz in einem fremdartigen, dunklen Takt. Eines stand für mich unumstößlich fest: Es gibt mehr auf dieser Welt als das Offensichtliche; etwas Finsteres und Böses – und genau da wollte ich dazugehören.

Doch wie wird man Mitglied der bösen Seite? Wie findet man einen Job in der Hölle? Auf die Stellenanzeigen in der Tageszeitung kannst du dich hierbei nicht verlassen. Ein freundschaftlicher Rat an dieser Stelle: Bewirb dich niemals auf ein Angebot, das mit den Worten »höllische Dienste« ausgeschrieben ist. Glaub mir, das ist nichts für uns anständige Unterweltler.

Mal sehen, wie ginge es denn noch … Die Herbeirufung des Teufels? Dämonenbeschwörung? Alles Humbug!

Die Hölle vertritt das Credo: Rufen Sie nicht uns an, wir rufen Sie an! Eines ist so sicher wie der Tod und die Steuern – der Teufel findet dich, wenn du bereit bist. Und dann kannst du wählen. Die Höllenverwaltung bietet so manch interessante Tätigkeit – von Einzelverträgen über kleinere und größere Schandtaten bis hin zur Oberliga, die sogenannten Big Deals, und den dauerhaften Verträgen auf Provisionsbasis.

Von den ewig bindenden Verträgen rate ich allerdings ab, wenn du dich nicht gerne über den Tisch ziehen lässt. Sicher, du darfst dich nach dem Vertragsabschluss Vampir oder Werwolf nennen – aber denk mal darüber nach … Kann man wirklich etwas sein, das in Wahrheit gar nicht existiert? Zumindest nicht existiert hat, bevor der Teufel die Legenden als gewinnbringende Marketingstrategie entdeckte?

»Ach, Toni, das ist wie die Sache mit dem Huhn und dem Ei«, würde mein bester Freund Lestat jetzt sagen. Aber er muss so reden. Schließlich ist er einer von denen, die darauf reingefallen sind. Von der romantischen Vorstellung geblendet, wie eine Romanfigur zu sein und ewig leben zu können, hat er einen dieser ewig bindenden Verträge unterschrieben. Das Kleingedruckte aber, damit meine ich die Pflichten und Regeln, die ein Dasein als Vampir mit sich bringen, hat er offenbar überlesen. Und damit ist er nicht allein. Womit wir bei dem Punkt angekommen wären, an dem ich aufs Spielfeld trete.

Ich bin eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen, die Luzifer in jedem Bezirk beschäftigt: die Kopfgeldjägerin. Zuständig dafür, Vertragsbrüchige aufzuspüren und in die Hölle zu verbannen, wo sie – sofern der große Boss gut gelaunt ist – noch einmal mit dem Teufel verhandeln können. Zugegeben, verhandeln ist das falsche Wort. Besser, du tust das, was er verlangt, wenn du nicht für immer in der Hölle schmoren willst. Steht alles im Kleingedruckten und trotzdem sind die Leute jedes Mal überrascht, wenn ich vor ihnen stehe.

Ob ich Mitleid mit meinen Zielpersonen habe? Nein, sicher nicht. Ist es meine Schuld, dass sie ihre Verträge nicht einhalten? Ich mache diesen Job seit zehn Jahren und eines kann ich dir versprechen: Unschuldig ist keiner.

Menschen verkaufen ihre Seelen aus den immergleichen Gründen: Geld, Macht und Sex. Meist in dieser Reihenfolge. Dieses raffgierige Gesindel ist mein Mitleid nicht wert.

Allerdings muss ich zugeben, dass auch ich mich von der Bezahlung habe verleiten lassen. Schließlich könnte ich in keinem irdischen Job jemals so viel Geld verdienen. Aber was noch viel cooler ist: Seit meinem Vertragsabschluss altere ich nicht mehr. Für immer einundzwanzig sein – ist das nicht der Traum aller Frauen?

Natürlich hätte ich genauso gut einen anderen Vertrag abschließen können. Einen, der mich nicht ewig an meinen Arbeitgeber kettet. Aber wäre meine Arbeit dann auch sinnvoll? Oder bedeutend? Eines musst du wissen: Kopfgeldjäger sind die Hüter des Gleichgewichts. Wo kämen wir denn hin, wenn plötzlich jeder Vertragsbruch beginge, ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden? Schließlich kann ohne das Böse das Gute nicht existieren und umgekehrt. Und mir fällt die bedeutsame Aufgabe zu, Gut und Böse im Gleichgewicht zu halten.

Ich bin Antonia Stark, Kopfgeldjägerin, und stolz darauf.

Der Humor des Zufalls

Kann dieser geldgeile Sack nicht endlich Feierabend machen? Toni bläst ihren Kaugummi zu einer klebrigen Blase auf, ohne den Blick von ihrem Ziel abzuwenden: die Tür des Eckhauses mit dem rosafarbenen Neonschild, auf dem ihr in großen, klobigen Lettern das Wort Bavarian Dreams entgegenleuchtet. Es hüllt das Gebäude in ein merkwürdig fahles Licht, welches die großen Fenster im Obergeschoss jedoch nicht erreicht. Dadurch wirken sie wie schwarze Augen in einer geisterhaft weißen Fratze. Durch die verschmierte Fensterscheibe ist nur eine vage Silhouette ihrer Zielperson zu erkennen, aber Toni weiß, dass der Kerl an der Bar sitzt, feinstes bayrisches Bier schlürft und sich schamlos in Sicherheit wähnt. Er glaubt wohl, er sei mit seinem Vertragsbruch vor fünf Jahren davongekommen, und ahnt anscheinend nicht, dass auch die Mühlen der Höllenjustiz langsam mahlen.

Toni reibt sich die verkrampften Hände, um ihre Finger aufzuwärmen. Einmal mehr überlegt sie, ob sie sich von den kurzen, fingerlosen Lederhandschuhen trennen und sich etwas Wärmeres zulegen sollte. Wäre doch peinlich, wenn ihr irgendwann das Schwert aus den steifen Fingern rutschen würde. Allerdings wäre ihr Griff dann auch nicht mehr so sicher.

Sie stopft die Hände in ihre Jackentaschen, um sie aufzuwärmen, und lehnt sich an die Hausecke. Im Großen und Ganzen gefällt ihr der aufregende und abwechslungsreiche Job, aber das Warten zerrt erbarmungslos an ihrem Geduldsfaden. Es ist, wie wenn man in der Schlange vor der Achterbahn ansteht und diese gespannte Vorfreude spürt, vermischt mit einer ungeduldigen Anspannung. Letztendlich siegt jedes Mal die Anspannung. Vor allem wenn Toni in Windrichtung eines Hinterhofs steht, der mieft, als diente er allen Obdachlosen der Gegend als Gemeinschaftstoilette. Aber sie muss warten, damit sie ihre Zielperson allein erwischt. Ein Kopfgeldjäger ist schließlich zur Diskretion verpflichtet.

Es gibt Dinge, die normale Menschen nicht unbedingt sehen sollten, und dazu gehört definitiv die Beseitigung eines höllischen Angestellten mit einem Dämonenschwert. Noch dazu durch eine Frau in einer ledernen Kampfmontur. Das könnte unter Umständen für Irritationen sorgen.

»Hey, Süße! Ganz schön gefährlich für einen so heißen Feger in solch dunklen Hausecken. Sollen wir dich heimbegleiten?« Die lallende Stimme schallt von der anderen Straßenseite zu Toni.

Sie wirbelt herum, pustet eine widerspenstige Haarsträhne aus ihren Augen und mustert die beiden torkelnden Gestalten. Das anzügliche Grinsen auf den Gesichtern bestätigt ihre Vermutung: Die beiden Passanten scheren sich wohl kaum um ihre Sicherheit.

Verdammt, wieso trägt sie überhaupt nachtschwarze Kleidung, wenn sie doch jeden Idioten magnetisch anzieht? Entnervt stöhnt sie auf und zeigt diesen Nervensägen den Stinkefinger, in der Hoffnung, sie zögen danach beleidigt ab.

»Das ist aber nicht sehr nett, Baby«, lallt einer der Männer mit selbstgefälligem Grinsen.

Toni verschränkt die Arme vor der Brust und hebt das Kinn. Ihre ablehnende Haltung scheint die beiden jedoch nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil, sie kommen ihr unangenehm nah und versuchen anscheinend die vermeintlich wehrlose Frau mit ihrer bloßen Präsenz gegen die Hauswand zu drängen. Aber Toni weicht keinen Millimeter zurück. In ihrem Kopf legt sich automatisch ein Schalter um: Kampfmodus.

Sie spürt bereits das übliche Kribbeln in ihren Fingerspitzen, während ihr Blick über die beiden Gestalten wandert, um sie einzuschätzen. Beide sind um die zwanzig und weder besonders groß noch kräftig – einer von ihnen ist sogar kleiner und schmächtiger als die trainierte Jägerin. Außerdem stinken sie nach Whisky und Pot. Das sind keine Gegner, sondern kleine Jungs.

Mit einem überheblichen Schmunzeln, das dem der Männer in nichts nachsteht, hebt Toni eine Braue. »Jungs, zieht ab. Ich bin im Moment sehr beschäftigt. Und ich verspreche euch, ihr wollt euch nicht ernsthaft mit mir anlegen.«

Der Kleinere lacht wie die Hexe, die Gretel ins Lebkuchenhaus locken will, während der andere ihm kichernd den Ellbogen in die Seite stößt. Eine Sekunde später ist der Spaß allerdings vorbei und auf dem kanisterförmigen Gesicht des Größeren formt sich eine anzügliche Grimasse. Grob packt er Toni am Oberarm.

»Schwerer Fehler«, raunt sie. Ohne weitere Vorwarnung rammt sie dem Angreifer die Faust in den Magen und setzt, als er sich hustend zusammenkrümmt, mit dem Ellbogen gegen sein Kinn nach. Eine schnelle und altbewährte Schlagkombination, welche die Leute noch immer zur Vernunft gebracht hat.

Keuchend torkelt der Kerl von ihr weg und hebt abwehrend eine Hand. Sein Freund blinzelt sie mit großen Augen an, dann weicht auch er zurück und stützt den Größeren.

»Haut jetzt ab, Jungs, bevor ihr mir noch alles versaut.« Toni wedelt mit der Hand, als wollte sie zwei lästige Fliegen verscheuchen.

»Komm schon«, drängt der Kleinere seinen Freund, die Stimme zwei Oktaven höher als zuvor. »Die ist ja völlig irre!«

Kopfschüttelnd blickt sie den Männern nach, die in Schlangenlinien und aufeinandergestützt die dunkle Straße entlangschwanken. Hoffentlich denken die beiden Clowns beim nächsten Mal länger darüber nach, ob sie eine vermeintlich wehrlose Frau belästigen. Bei so etwas kennt Toni keine Gnade.

Ohnehin hasst sie nichts mehr, als unterschätzt zu werden. Als Frau in einem Männerberuf passiert ihr das jedoch ständig, weshalb sie sich schnell angewöhnt hat keine Schwäche zu zeigen und immer angriffsbereit zu sein.

Die Jungs sind inzwischen aus ihrem Blickfeld verschwunden und sie wendet sich wieder ihrem Ziel zu. Just in diesem Moment öffnet sich die Tür und Stimmengewirr, Gelächter und Blasmusik hallen durch die Straße. Jedoch nur so lange, bis der übergewichtige Mann mittleren Alters die schützenden Wände des Bavarian Dreams verlassen hat. Als hinter ihm die Tür scheppernd ins Schloss fällt, wird das Oktoberfest wieder im Inneren des Gebäudes eingeschlossen und zurück bleibt nur das sanfte Rauschen des Windes.

Der Mann knöpft sich mit flinken Fingern den Mantel zu und stellt den Kragen auf, ehe er sich in Bewegung setzt.

»Showtime«, flüstert Toni.

Das Kribbeln in ihren Fingerspitzen breitet sich über ihren ganzen Körper aus. Schnell klebt sie ihren Kaugummi an die Hauswand und steckt sich die Stöpsel ihres iPods in die Ohren; eine Angewohnheit, die sie seit ihrem ersten Arbeitstag begleitet.

Alle Kopfgeldjäger haben ihre Eigenheiten. Und nicht wenige von ihnen entwickeln spezielle Bräuche im Umgang mit ihren Zielpersonen. Toni hat beispielsweise für jede ein persönliches Abschiedsgeschenk: den passenden Song für das Finale. Für ihre heutige Zielperson hat sie »Straight To Hell« von Rage ausgewählt – der direkte Weg in die Hölle. Nur für den Fall, dass das Schwert in ihren Händen eine zu subtile Botschaft senden sollte.

Der Mann hat die Hausecke, hinter der sie lauert, beinahe erreicht, da tritt sie gemächlich aus den Schatten, senkt in einer dramatischen Geste den Kopf und schenkt ihm ihren stechendsten Blick. Sie hatte schon immer eine Vorliebe für große Auftritte.

Ihre Zielperson strauchelt und das runde Gesicht wird aschfahl, als der Mann die Fremde mustert. Anders als bei den betrunkenen Idioten richtet sich sein Blick direkt auf den dunklen Schwertknauf, der über Tonis Schulter blitzt.

»Hallo, Joa«, raunt sie mit der dunklen, samtigen Stimme, die sie ihren Zielpersonen vorbehält.

Gemächlich nähert sie sich dem Mann, der sie mit offenem Mund anstarrt. Diese Reaktion ist das Ergebnis jahrelanger Übung: Toni weiß, dass die geschmeidigen Bewegungen in Verbindung mit ihren flammend roten Locken und den smaragdgrünen Augen an eine Raubkatze erinnern, die ihre Beute ins Visier nimmt.

Endlich erwacht Joa aus seiner Starre, stolpert zurück, wirbelt herum und läuft in die entgegengesetzte Richtung davon.

»War ja klar.« Toni stellt grinsend die Musik lauter und joggt dem Dicken im Takt hinterher. Sie liebt Herausforderungen. Allerdings scheint dieser Kerl, der humpelt wie Draculas Assistent, nicht wirklich eine zu sein. Sein Gesicht ist nach kürzester Zeit krebsrot und schweißüberströmt. Jedes Mal, wenn er ihr einen panischen Blick über die Schulter zuwirft, scheint er noch eine Nuance dunkler geworden zu sein.

An einer Abzweigung entscheidet sich Joa überraschenderweise für Osten und verlässt damit den bewohnten Teil der Stadt.

Stirnrunzelnd trabt Toni weiter hinter ihm her. Wo läuft der denn hin? Steuert er absichtlich in eine Sackgasse? Dort hinten, in dieser Geisterstadt am Fluss – dem Teil Flammachs, den die Bewohner liebevoll World’s End nennen –, gibt es nämlich nichts, das ihn retten könnte.

Sie beschließt vorerst weiter Abstand zu halten. Die kalte Luft brennt zwar in ihren Lungen, aber die Bewegung wärmt ihre steifen Glieder auf und gibt ihr nach dem langen Warten wieder neue Energie. Allerdings scheint Joa nicht mehr lange durchzuhalten. Sein dampflokartiges Keuchen dringt sogar über die Musik hinweg an ihr Ohr.

Plötzlich stolpert er über eine Bodenwelle, fängt sich mit den Händen ab, wirft einen Blick zurück, rappelt sich auf und humpelt weiter. Ihm ist anzusehen, dass er kurz davor ist zusammenzuklappen, als sie die leer stehenden Hallen des World’s End erreichen. Vermutlich wird es Zeit, ihn zu erlösen. Toni hat inzwischen ohnehin die Geduld verloren, sie trieb wohl mit dem fauligen Gestank des Flusses davon. Außerdem hat sie schlicht keine Lust, nachher meilenweit zu ihrem Auto zurückzulaufen.

Also erhöht sie das Tempo, holt ihn ein und packt ihn am Mantelkragen. Daraufhin bleibt sie abrupt stehen und zerrt ihn dabei mit sich zurück. Mit einem überraschten Japsen strauchelt er und wäre vermutlich direkt auf dem Hintern gelandet, hätte Toni den Kragen nicht so eisern festgehalten. Schnaubend reißt er sich von der Jägerin los, dreht sich zu ihr um, geht in eine schwankende Angriffsposition über und versucht hechelnd sich zu verteidigen, indem er mit entschlossenem Blick wild um sich schlägt. Der Schweiß perlt in dicken Tropfen von seiner Knollennase und seine Lunge pfeift wie ein Dudelsack. Hetzjagden sind eben nichts für übergewichtige Büroangestellte.

Toni weicht seinen ungeschickten Faustschlägen mit Leichtigkeit aus. Sie fühlt sich dabei eher wie bei einer Clownsshow im Zirkus. Fehlt nur noch, dass er sich selbst k. o. schlägt. Umso überraschender trifft sie einer seiner unkoordinierten Schläge am Kinn. Wütend schubst sie ihn und befördert ihn damit geradewegs auf die Knie.

Schluss mit diesem Theater. Gleichgültig blickt sie auf ihn herab, greift über ihre Schulter und zieht das Schwert aus der Scheide. Im Augenwinkel sieht sie die Tätowierung an ihrem Handgelenk: ein Dämonenschwert, umwunden vom Pfeilschwanz des Teufels.

Joa erzittert, als auch er es sieht. Kein Wunder, dass er das Symbol der Kopfgeldjäger erkennt; es ist unter dem Absatz »Vertragsbruch« in jedem Vertrag abgebildet.

Flehend schaut Joa zu ihr auf, legt seine Hände wie im Gebet aneinander und bewegt die Lippen.

»Ich kann dich nicht hören!« Toni zeigt auf einen ihrer Ohrstöpsel, aus dem die letzten Takte des Songs erklingen. »Und es interessiert mich auch nicht. Das kannst du alles dem Boss erzählen, wenn du gleich vor ihm stehst.«

Ohne zu zögern, stößt sie ihr Schwert in Joas Herz. Der Mann sackt zusammen, seine Haut quillt auf und Dampf entweicht aus seinen Poren. Langsam löst er sich auf, zerfließt wie Teer und versickert in die Straße. Nur der schwarze Rauch, der vom Boden aufsteigt und nach verbranntem Plastik stinkt, bleibt zurück.

Naserümpfend wedelt Toni mit der Hand und steckt das Schwert zurück in die Scheide. Egal wie viele Vertragsbrüchige sie bereits in die Hölle verbannt hat, an das Aroma der Unterwelt wird sie sich nie gewöhnen.

***

Flammach. Ein grauer Fleck an der Grenze zwischen Ödnis und Tristesse. Die Sonne scheint den Ort zu meiden. Und vermutlich tut sie gut daran.

Er zieht den Hut tiefer in die Stirn, senkt den Blick und konzentriert sich auf das abgewetzte Kopfsteinpflaster. Er will sie nicht sehen, die Menschen. Nicht heute. Will nicht in ihre mürrischen Gesichter blicken, nicht dabei zusehen, wie sie sich gegenseitig anrempeln oder sich aus den Fenstern ihrer Wagen heraus beschimpfen. Die Bewohner dieser Stadt sind wie das Wetter: kalt, fahl und unangenehm.

Schaudernd vergräbt er die Hände in den Taschen des Wollmantels, ballt sie zu Fäusten und beschleunigt seine Schritte. Dem schneidenden Wind entzogen beginnen seine steifen Finger zu kribbeln. Sie haben ihn gewarnt. »Du wirst das Wetter spüren«, haben sie gesagt. Doch wer die Kälte nicht kennt, kann sie nicht ernst nehmen – bis er gezwungen ist in ihr zu leben.

Vielleicht sollte er seine Heimat besuchen. Urlaub. So nennen es die Menschen. Gedanken an eine warme Sommerbrise ziehen durch sein Gedächtnis und er erlaubt sich einen Moment die Augen zu schließen, erinnert sich an weite Wiesen und farbenfrohe Blumen; ihr frischer, süßer Duft kitzelt in seiner Nase und die weiße Sonne wärmt seinen Rücken.

Ein kräftiger Stoß gegen seine Schulter reißt ihn aus der Träumerei. Früher haben die Menschen instinktiv einen Anlass gefunden, ihm auszuweichen. Sie haben seine Anwesenheit gespürt, obwohl sie ihn nicht sehen konnten. Doch die Welt hat sich verändert.

Menschen … Selbstsüchtige Ignoranten, voll Sünde und Boshaftigkeit. Dennoch ist er für sie da. Die Brüder haben nie verstanden, weshalb er sich freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hat. Der Einsatz an einem Ort wie Flammach kommt für sie einer grausamen Strafe gleich. Sie begreifen es nicht, weil sie den wahren Grund nicht kennen. Und dieser Grund ist es, der ihn heute von der Arbeit abhält. Er nimmt sich frei. Das erste Mal seit … Nun, kein menschlicher Verstand ist fähig so weit zurückzudenken.

Ein vergnügtes Lachen lockt seinen Blick an. Es kommt von einem pausbäckigen Mädchen, das ein Gebäckstück mit den pummeligen Fingerchen umklammert und strahlt, als könnte man mit Backwaren die höchste Stufe des Glücks erreichen. Er hält inne, taucht ein in diesen friedlichen Moment. Die unschuldige Begeisterung des Mädchens bringt ihn an diesem hoffnungslosesten aller Tage zum Lächeln und für den Bruchteil einer Sekunde vergisst er sogar, was ihn so sehr quält. Bis ein Mann, wild gestikulierend und in sein Mobiltelefon brüllend, an dem Mädchen vorbeistürmt und es mit seiner Aktentasche anrempelt. Das Gebäckstück fällt auf die Straße und das Mädchen wimmert kläglich. Der Mann dreht sich nicht einmal um.

Der Zerfall der Menschenwelt, geschuldet der Ignoranz seiner Bewohner, denkt er wie so oft in den vergangenen Jahren. Kopfschüttelnd blickt er dem Mann mit der Aktentasche hinterher. Dann geht er auf das Mädchen zu und legt ihm sanft eine Hand auf die Schulter. Die Kleine schluchzt ein letztes Mal auf, dann versiegen ihre Tränen. Das ist der tröstende Effekt; die Wirkung der Berührung eines Engels. Ach, wie einfach es bei Kindern noch ist …

Die Kirchturmuhr läutet so volltönend, als wollte sie ihn an sein Vorhaben erinnern. Der Engel löst sich von dem Mädchen und marschiert weiter, in der Hoffnung, nicht zu spät zu kommen.

Vielleicht kann er diesen Ort endlich verlassen, wenn der Grund für seinen Aufenthalt hier nicht mehr existiert. Der Gedanke kommt ohne Einladung, viel zu überraschend, um noch aufgehalten zu werden, und nistet sich nun gemütlich in seinem Kopf ein. Er spürt einen Stich im Herzen, eine Mischung aus Scham und Schuld. Was für eine egoistische Idee!

Allmählich hat er das Gefühl, die Stadt färbt auf ihn ab. Würde er sich sonst den Regeln seines Volkes widersetzen? Es ist ihm nicht gestattet, seinen gefallenen Bruder zu sehen, doch die loyale und tiefe Verbundenheit einer alten Freundschaft verlangt geradezu danach, sich über das Gesetz zu stellen. Der Engel hat immer über ihn gewacht, auch wenn er den Bruder letztendlich nicht retten konnte. Denn gegen die Sterblichkeit der Menschen kann selbst das Volk des Oberen Reiches nichts ausrichten.

Und so findet sich der Engel in der unwirklichen Situation wieder, durch die Eingangstür einer Klinik zu hasten und sich zu fragen, ob sein Bruder noch unter den Lebenden weilt.

***

»Schatz, ich bin zu Hause!«, ruft Toni gut gelaunt in den Flur. Durch den hohen Sold kann sie sich eine der begehrten Neubauwohnungen im angesagten Stadtteil Parkblick leisten und sogar ihren Freund Lestat mietfrei bei sich wohnen lassen. Der Vampir verdient nicht annähernd so viel wie sie. Hätte Toni ihn nicht bei sich aufgenommen, müsste er, wie die meisten schlecht bezahlten höllischen Angestellten, in Flusstal leben, einem Bezirk der Stadt, so düster wie die Hölle selbst. Nicht dass Toni eine Ahnung davon hätte, wie es in der Unterwelt aussieht, aber sie ist überzeugt, Flusstal kommt dem ziemlich nahe.

Sie schnallt den Brustgurt mitsamt Schwert ab und stellt die Waffe in den Schirmständer, bevor sie durch den Flur ins Wohnzimmer marschiert. Dort entdeckt sie Lestat auf der Couch, den Blick starr auf den Fernseher gerichtet.

Ein Schmunzeln formt sich auf ihren Lippen. Genau so hatte sie ihn zurückgelassen.

Sie bleibt neben dem Fernseher stehen und räuspert sich, was den jungen Vampir veranlasst den Kopf in ihre Richtung zu drehen, jedoch ohne die karamellbraunen Augen zu bewegen. Wie gebannt starrt er in die Glotze.

»Du bist ja schon zurück«, murmelt er. Seine langen Finger tasten auf der Suche nach der Pralinenschachtel über den Couchtisch. Als er eine der braunen Kugeln zu fassen bekommt, schiebt er sie in den Mund und kaut genüsslich, ohne seine Mitbewohnerin weiter zu beachten.

Neugierig wirft Toni einen Blick in die Richtung des Fernsehers, obwohl sie längst weiß, dass er sich wieder eine dieser bescheuerten Seifenopern anschaut, die er vermutlich schon im Schlaf rezitieren kann. Seufzend schüttelt sie den Kopf. Lestats Vorliebe für diesen Schund wird sie nie verstehen.

»Ich liebe dich, aber du liebst eine andere, die wiederum einen anderen liebt.« … Würg! Bei all diesem stumpfsinnigen Gewäsch stellen sich ihr jedes Mal die Nackenhaare auf. Aber was will man schon von jemandem erwarten, der sich selbst nach einer Romanfigur benannt hat? Lestat ist nun einmal hoffnungslos romantisch und verliebt in die tragische Liebe.

Zum Glück ist er schwul, denkt Toni nicht zum ersten Mal.

Sie angelt die Fernbedienung vom Couchtisch und drückt auf die Pausetaste. Lestat streicht sich eine goldene Haarsträhne hinters Ohr und wirft seiner Mitbewohnerin einen vorwurfsvollen Blick zu.

»Hast du nicht noch was anderes zu tun?« Sie schaut nicht minder vorwurfsvoll zurück. »Ich will deinen Namen nicht irgendwann auf meiner Liste sehen.«

»Glaub mir«, er senkt dramatisch die Stimme, »ich will ganz sicher nicht eine dieser armen Seelen auf deiner gnadenlosen Liste des Todes sein. Ich habe mein Soll für diesen Monat schon erledigt.«

Das vergnügte Lächeln, das sich auf seinen Lippen formt, lässt seine kantigen Gesichtszüge weicher wirken und erinnert Toni an den frechen Jungen aus früheren Zeiten. Sie ist immer wieder überrascht, wie wenig er sich nach seiner Verwandlung zum Vampir verändert hat. Der allgemeine Irrglaube besagt, dass ein Mensch dadurch automatisch schön, elegant und stark wird. Sorry, aber das ist nur ein Märchen. In Wirklichkeit bleibt die Zeit für den neugeborenen Vampir einfach nur stehen; und um den Mythos aufrechtzuerhalten, bekommt er seine heiß ersehnten Reißzähne. Wer vorher schwach und hässlich war, wird das unglücklicherweise bis in alle Ewigkeit bleiben …

Lestat hat Glück. Über seinen schrillen Kleidungsstil kann man zwar streiten, aber er ist ein hübscher, hochgewachsener Kerl, den jeder als elegant beschreiben würde. Seine tollpatschige Art versteckt er damit optimal. Das war schon immer so. Einmal hat er in der Schule ein Tablett voller Gläser fallen lassen und musste die Scherben auf den Knien aufsammeln; dabei strahlte er allerdings eine unermessliche Würde aus. Toni, die ständig darum bemüht ist, vor anderen Leuten keine Fehler zu machen oder Schwäche zu zeigen, hat ihn um diese Eigenschaft stets beneidet.

»Ich bin sozusagen im Urlaub und habe Zeit für die wirklich wichtigen Dinge«, fährt Lestat fort. »Und da wir gerade davon sprechen, was hältst du davon, heute Abend auszugehen? Ein paar Cocktails schlürfen, ein paar hübschen Jungs die Köpfe verdrehen?«

Toni lehnt sich an den Türrahmen und verschränkt die Arme vor der Brust. »Wenn ich Bier trinken und die Jungs vergraulen darf, habe ich nichts dagegen.«

»Spielverderberin. Ein bisschen Liebe täte dir mal wieder ganz gut.«

»Ich komme ganz gut allein zurecht, vielen Dank.«

Sie lässt sich längst nicht mehr auf die Diskussionen oder Lestats klägliche Versuche, Amor zu spielen, ein. Sie hat allgemein nicht viel übrig für die Liebe. Nicht etwa weil sie nicht an tiefe Gefühle glaubt, im Gegenteil, sie hat einen Heidenrespekt davor. Deshalb verursacht ihr die Vorstellung, sich fest an jemanden zu binden, höllische Magenschmerzen. Es ist ganz einfach: Wer sein Herz sicher bei sich selbst verwahrt, wird es niemals gebrochen zurückbekommen.

»Dabei fällt mir ein …«, Lestat schaut vorsichtig zu ihr auf, »deine Mutter hat vorhin angerufen.«

Schnaubend wirft sie die Fernbedienung auf den Couchtisch. »Das fällt dir dabei ein?«

Mit einer übertrieben feierlichen Handbewegung pickt er einen Notizzettel vom Tisch und streckt ihn Toni hin, die ihren Blick jedoch demonstrativ auf den Fernseher richtet.

»Ich habe mir extra die Mühe gemacht, auf Pause zu drücken, ein Post-it aus der Küche zu holen und die Nummer zu notieren.« Seine sonst so melodische Baritonstimme klingt verärgert und belustigt zugleich. »Nimmst du mir das Ding jetzt ab?«

Auf Tonis resolutes »Nein« hin lässt er den Arm sinken.

Seit der Scheidung hat sie nicht mehr mit ihren Eltern gesprochen. Lestat müsste wissen, dass die Debatte damit beendet ist, aber wie immer, wenn ihre Mutter anruft, lässt er einfach nicht mehr locker.

»Deine Eltern haben sich scheiden lassen, das ist über zehn Jahre her. Komm damit klar!« Etwas sanfter fügt er hinzu: »Das war nicht deine Schuld.«

»Natürlich war es nicht meine Schuld! Wieso auch?« Entnervt stöhnend wirft sie die Arme in die Luft.

Irgendetwas drückt plötzlich heiß und schwer auf ihre Brust und ihre Finger beginnen zu zittern. Schnell verbirgt sie die Hände in den Hosentaschen. Dass sich ihre Eltern getrennt haben, hat Toni sehr mitgenommen, das kann sie nicht leugnen. Die Wut, vor allem auf ihre Mutter, von der die Entscheidung ausging, ist jedoch nicht der einzige Grund, weshalb sie ihre Eltern aus ihrem Leben verbannt hat. Allerdings ist sie sicher, dass Lestat den wahren Grund nicht verstehen würde, weshalb es einfacher ist, die ewig schmollende Tochter zu spielen und tiefgründigere Diskussionen zu vermeiden.

»Dürfen sie nicht auch mal Fehler machen? Wie alle anderen normalen Menschen auch?«, fragt Lestat vorsichtig.

»Das sind keine normalen Menschen, das sind meine Eltern.«

Seufzend gibt er sich geschlagen und klebt die Notiz auf den Hörer des Festnetztelefons zu seiner Rechten. Dann wechselt er endlich das Thema. »Wie lief es denn heute mit dem Einzelvertrag?«

»Ach, das Übliche. Ein leichtes Ziel. Ich frage mich, wieso der Boss überhaupt solche langweiligen Verträge abschließt. Ich meine, er stürzt zwischenmenschliche Beziehungen gerne ins Chaos, das weiß man ja.« Sie schlendert zur Couch und setzt sich neben dem Vampir auf die Armlehne. »Aber mal ehrlich, was bringt es Luzifer, wenn dieser Typ eine Affäre mit der Frau seines besten Freundes anfängt?«

Lestat begutachtet kritisch seine manikürten Fingernägel, dann schielt er genau so zu ihr hinüber, wie ihr Physiklehrer in der Neunten es immer getan hat. »Ist doch klar.« Und – ungelogen – er klingt auf einmal auch genauso. »Damit ist ihm nicht nur die Seele des Typen sicher, sondern auch die der treulosen Ehefrau. Und wenn sich der betrogene Ehemann rächt, kommt eine dritte dazu. Keine schlechte Rendite für eine einmalige Investition.«

Toni kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. »Ist es Absicht, dass du klingst wie ein Finanzberater?«

»Die Hölle ist eine Bank, Schätzchen.« Der Vampir grinst breit und entblößt damit seine scharfen Eckzähne. »Ich wette mit dir, alle in dieser Branche haben einen Provisionsvertrag mit Luzifer.«

»Kann gut sein«, stimmt sie zu, steht auf und streckt sich, bis sie das befreiende Knacken ihrer Gelenke hört. »Ich schreibe kurz meinen Bericht, dann können wir losziehen.«

Lestat greift stöhnend nach der Fernbedienung. »Ich hasse diese Berichte. Die Unterwelt ist pingeliger als jede öffentliche Verwaltung.«

Schulterzuckend schlendert Toni in ihr Zimmer. »Bürokratie ist die Hölle und die Hölle ist Bürokratie«, murmelt sie.

***

Wie konnte sein Freund nur Gefühle für eine menschliche Frau zulassen? Warum hat er für sie und das ungeborene Kind in ihrem Leib ein Leben als Sterblicher gewählt? Um sich nun, achtundzwanzig Jahre später, sterbenskrank in einer Klinik wiederzufinden? Achtundzwanzig Jahre. Für einen der ihren nicht mehr als ein Wimpernschlag. Und für diesen Wimpernschlag hat er alles aufgegeben? Sein Volk, seine Heimat, seine Unsterblichkeit?

Fragen, die sich der Engel nicht zum ersten Mal stellt.

Noch immer unsichtbar für menschliche Augen schlüpft er durch die Tür des Krankenzimmers, bleibt vor dem Bett stehen und betrachtet den Mann, an dessen Seite er vor unzähligen Jahren in den Großen Kriegen gekämpft hat. Heute könnte dieser Greis nicht einmal mehr ein Schwert anheben. Jahrtausendelang war sein Bruder genau wie er, einen Augenblick später ist er faltig und schwach.

Der Engel nimmt seinen Hut ab, legt ihn vorsichtig auf den kleinen Holztisch am Fenster und fährt sich mit den Fingern durchs Haar. Dann setzt er sich seufzend in den Sessel, der am Kopfende des Krankenbettes steht. Mit den Ellbogen auf den Knien, das Kinn auf die gefalteten Hände gebettet, betrachtet er das eingefallene Gesicht seines Bruders. Selbst im Schlaf wirkt es unnatürlich verzerrt. Er muss unendlich große Schmerzen leiden. Das ungleichmäßige Röcheln und das Piepen des EKGs sind weitaus grausamere Geräusche als all der Krach auf der überfüllten Straße, denn sie bedeuten den Tod, während der Lärm der Stadt vom Leben zeugt.

»War es das wirklich wert?«, würde der Engel am liebsten fragen. All der Schmerz, das Leid, das mit dem Tod einhergeht? Und das alles für einen Moment des Glücks?

»Mein alter Freund«, flüstert die raue Stimme des ehemaligen Engels. Der Kranke blinzelt und dreht den kahlen Kopf zum Sessel, wo er ins Leere blickt.

Wenn ein Engel fällt, wird er vollständig zum Menschen. Er kann seine einstigen Brüder nicht mehr sehen – zumindest nicht wenn sie sich nicht freiwillig zeigen. Und das ist unwahrscheinlich. Denn es verstößt gegen das Gesetz und die meisten Engel meiden ihre gefallenen Brüder prinzipiell.

»Ich verrate es niemandem«, raunt der Alte mit einem verzerrten Lächeln.

Der Engel ist hin- und hergerissen. Soll er sich zeigen? Er könnte ein letztes Mal mit seinem Bruder sprechen. Eigentlich ist er in der Absicht hergekommen, dem Kranken stillen Beistand zu leisten und sich schweigend zu verabschieden. Diese Wendung hat er nicht erwartet.

Zögernd setzt er sich auf und blickt dem Bruder in die trüben Augen, die hektisch zuckend nach dem sichtbaren Beweis für das Gefühl einer Präsenz suchen.

Kann es falsch sein?, redet er sich zu, obwohl er seine Entscheidung bereits gefällt hat. Immerhin hat er ihn schon Tausende Male gesehen, wie kann ein letztes Mal zum Schaden gereichen?

Ein leises Rascheln erklingt, als der Engel seine Gestalt entschleiert. Seufzend streckt der Alte eine zittrige Hand nach ihm aus und legt sie auf sein Handgelenk. Der Engel betrachtet die knochigen Finger, die sich kalt und spröde auf seiner Haut anfühlen.

Der Kranke mustert derweil das Gesicht des Engels, als wollte er sich jedes Detail genau einprägen. »Volles goldbraunes Haar, makellose Haut und klare tiefblaue Augen – du hast dich nicht verändert«, krächzt er schließlich und tätschelt dem Engel die Hand. »Schön und jung siehst du aus, wie eh und je. Und so stark …« Ein grimassenhaftes Grinsen formt sich auf dem Gesicht des Alten. »Aber ich wette, ich würde dich noch immer im Armdrücken besiegen, gib mir nur einen Becher Brühe, dann zeige ich es dir.«

Jedes Wort, jede Bewegung bereiten dem Bruder sichtlich höllische Schmerzen und es gibt nichts, was der Engel dagegen tun kann. Noch nie hat er sich so hilflos gefühlt. Hat er sich überhaupt schon einmal hilflos gefühlt, fragt er sich. Schrecklich. Plötzlich bemitleidet er die Menschen. Sie empfinden viele dieser grausamen Gefühle gleichzeitig. Kein Wunder, dass sie egoistisch sind und gelegentlich die Beherrschung verlieren.

»Wie kannst du im Schatten des Sensenmannes noch Scherze machen?«, fragt er mit der honigweichen Stimme, die ihm eigen ist und die nicht annähernd zu der Qual in seinem Inneren passt.

»Deine Art zu sprechen hat mir am meisten gefehlt, Alek.«

Der Engel runzelt die Stirn und blinzelt den Kranken fragend an.

»Ich kann mich in dieser Welt weder an deinen Namen erinnern noch könnte ich ihn aussprechen, mein alter Freund«, klärt ihn der Bruder auf. »Deshalb habe ich dir einen irdischen Namen gegeben: Alek. Das bedeutet ›Beschützer‹. Passend für einen Schutzengel, findest du nicht?«

Der Engel nickt. Er hat es nie für nötig gehalten, einen menschlichen Namen zu tragen. Wer hätte ihn damit auch ansprechen sollen? Doch wenn sein Bruder sich die Mühe gemacht hat, speziell einen Namen für ihn auszuwählen, wird er ihn mit Stolz annehmen. Immer wieder hat er befürchtet, der geliebte Freund könnte ihn vergessen haben. Denn das Gedächtnis der Menschen ist bekanntlich begrenzt.

»Ich nenne mich in dieser Welt Anatol. Anatol Bogdanow. Ich möchte, dass du dir das gut einprägst.«

Der Alte hebt den Kopf an und blickt dem Engel fest in die Augen. Dann lässt er sich von einem heftigen Hustenanfall geschüttelt in die Kissen zurückfallen und senkt erschöpft die Lider.

»Du solltest dich nicht überanstrengen.« Alek bedenkt den röchelnden Mann mit einem mitfühlenden Blick.

»Ich werde sterben. In fünf Minuten, in fünf Stunden oder erst morgen. Es ist egal, was ich tue, es wird geschehen. Aber mir scheint, dass ich damit wesentlich besser zurechtkomme als du.«

Der Alte schielt zu ihm herüber. Alek wendet den Blick beschämt auf den Fußboden und schaut erst wieder auf, als er das heisere Lachen seines Bruders vernimmt. Ein merkwürdiges Lächeln ziert Anatols Lippen.

»Ich verstehe schlichtweg nicht, warum du all das auf dich genommen hast.« Mit einer weit ausholenden Geste weist der Engel durchs Krankenzimmer. »War es das wahrhaftig wert?«

Erneut schließt Anatol die Augen und zum ersten Mal, seit der Engel das Zimmer betreten hat, entspannen sich die Gesichtszüge des Alten deutlich, als löste eine innere Wärme den Schmerz ab.

»Jede einzelne Sekunde. Morgens in den Armen meiner Frau aufzuwachen, gemeinsam Pläne zu schmieden, meinen Sohn aufwachsen zu sehen, zu lieben und geliebt zu werden – ich würde auf keinen einzigen dieser Momente verzichten wollen. Ich habe gelebt. Richtig gelebt. Mit Herz und Seele. Nicht dieses schattige Dasein, das ich ewig geführt habe und du immer noch ›Leben‹ nennst.« Behutsam dreht er den Kopf und mustert den Engel.

Alek bemerkt den bedauernden Ausdruck in seinem Gesicht, kann sich allerdings nicht erklären, weshalb dieser zerbrechliche Greis ihn bemitleiden sollte.

»Wenn du Glück hast, wirst du es irgendwann verstehen«, flüstert Anatol. Er tastet nach Aleks Hand und ergreift mit erstaunlicher Kraft sein Handgelenk. »Aber bis dahin bitte ich dich, um unserer alten Freundschaft willen, um einen Gefallen.«

Die flehentliche Miene des Bruders jagt Alek ein Schaudern über den Rücken. Er ist froh sich nützlich machen zu können, denn wer um Hilfe gebeten wird, kann nicht hilflos sein. »Natürlich. Alles …«

»Ich habe deine Nähe gespürt. Du warst immer da.« Anatol zögert. Er scheint seine Gedanken nach den passenden Worten zu durchforsten. »Du warst der Hüter deines Bruders, sei nun auch der Hüter meiner Familie. Mein Sohn, Nikolaj, er ist ein Nephilim. Du weißt, was passiert, wenn sie herausfinden, dass er sich hier versteckt.«

Die Kinder von Engeln und Menschen sind in keiner der drei Welten gerne gesehen, das weiß Alek so gut wie Anatol. Eines Tages wird das Untere Reich einen Jäger auf den Geächteten ansetzen. Der Engel hat zwar noch keine Bekanntschaft mit dem zuständigen Kopfgeldjäger von Flammach gemacht, doch wenn nur ein Hauch Wahrheit in dem steckt, was die Leute im Schutz dunkler Straßenecken tuscheln, dann sollte der Nephilim besser gestern als heute die Flucht ergreifen.

Der Engel beißt die Zähne zusammen und wendet den Blick von Anatol ab. Hier mit einem Gefallenen zu sitzen ist ihm strikt untersagt. Einen Nephilim zu schützen und sich damit in die Angelegenheiten des Unteren Reiches einzumischen grenzt an Verrat.

»Er ist mein Sohn, Alek, mein Fleisch und Blut, mein Vermächtnis. Du musst mir versprechen, dass du an meiner statt auf ihn aufpassen wirst … wenn ich es nicht mehr kann.«

Ein erneuter Hustenanfall lässt Anatols Körper krampfen. Der Engel beobachtet ihn besorgt, während ein Kampf zwischen Herz und Kopf in seinem Inneren tobt. Soll er einem todkranken Bruder den letzten Wunsch verwehren oder sich aus alter Freundschaft gegen sein Volk auflehnen?

»Ich bitte dich inständig«, beschwört er Anatol, »verlange so etwas nicht von mir. Ich bin zu Loyalität verpflichtet gegenü…«

»Du bist nur einem gegenüber zu Loyalität verpflichtet: dir selbst. Ich hatte immer einen Platz in deinem Herzen, lass meinen Sohn nun meinen Platz einnehmen.« Anatol seufzt, als Alek ratlos den Kopf schüttelt. »Die Menschen müssen dir oft grob erscheinen. Ich gebe zu, sie sind eigensinnig und egoistisch. Sie treffen leichtfertige Entscheidungen und wollen hinterher nicht damit leben. Doch sie sind glücklich. Weil sie etwas haben, was ihr nicht habt – Freiheit. Die Freiheit zu tun und zu lassen, was immer sie wollen, ohne sich vor irgendjemandem rechtfertigen zu müssen. Vergiss für nur einen Moment das Gesetz und hör auf dein Herz, Alek.«

Nickend erhebt sich der Engel und legt seinem Bruder eine Hand auf die Schulter. Er wird Anatols Entscheidung wohl nie begreifen. Doch eines versteht er: Der Sterbende ist verzweifelt genug, um mit einem Engel zu verhandeln. Die Liebe zu seinem Sohn muss unendlich sein.

Und wer aus tiefster Liebe handelt, kann der im Unrecht sein? Wenn es das Einzige ist, womit er seiner armen Seele Frieden schenken kann, dann soll es sein.

»Ich gebe dir mein Wort«, sagt er.

Anatol lächelt erleichtert, schließt die Augen und atmet tief und rasselnd ein. In diesem Moment, beim Blick in sein friedliches Gesicht, ist Alek überzeugt die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

»Danke. Du weißt ja nicht, wie viel mir das bedeutet.«

»Mit wem redest du da, Liebling?«, ertönt eine weibliche Stimme von der Tür her.

Die Frau streicht sich das aschblonde Haar aus der Stirn und sieht sich irritiert um. Sie kann niemanden entdecken; zu schnell hat der Engel reagiert und sich vor den menschlichen Augen verborgen. Als Anatol den Hut bemerkt, den Alek zurückgelassen hat, formt sich ein Lächeln auf seinen Lippen.

Die Besucherin setzt sich auf die Bettkante und streichelt liebevoll mit dem Handrücken über die Wange des Kranken. »Du strahlst ja so«, sagt die Frau, deren stahlblaue Augen leuchten, als hätte sich die Sonne selbst darin versteckt.

»Dazu habe ich auch allen Grund, meine liebe Natascha. Denn jetzt weiß ich, meiner Familie wird nichts geschehen, wenn ich fort bin.«

Alek legt eine Hand auf Anatols Arm, wohl wissend, dass er die bekräftigende Berührung spüren würde. Dann verlässt er das Krankenlager seines Freundes mit schwerem Herzen.

***

Toni schaltet ihr Notebook ein und ruft das Onlineportal Die heißkalte Pforte auf. Die Dämonen wollten ihren Humor beweisen, indem sie dem Netzwerk der Kopfgeldjäger einen derart bescheuerten Namen gaben. Die Unterwelt besteht nämlich – anders als die Klischees besagen – zu einem Großteil aus Eis. Das Feuer steht lediglich metaphorisch für die brennenden Qualen, die man dort erleiden muss. Heißkalt eben.

Sie haben schon einen unlustigen Humor, diese Dämonen. Obwohl Toni eigentlich nur einen Dämon kennt, ihren direkten Vorgesetzten D’iali. Bei dem kann sie sich aber beim besten Willen nicht vorstellen, wie er abends mit seinen Dämonenkumpels in der Kneipe sitzt und dreckige Witze erzählt. D’iali ist vielmehr einer dieser stillen, finsteren Typen, die ihrem Gegenüber, ohne mit der Wimper zu zucken, eins überbraten würden, bevor sie sich in aller Seelenruhe weiter ihrem Schweinebraten widmen.

Auf dem Bildschirm erscheint das Symbol der Kopfgeldjäger: ein Einhänder, dessen Schärfe bereits an seinem Glanz zu erahnen ist. Das silberne Parier erinnert an gewundene Hörner und über der ledernen Heftwicklung in Rot und Schwarz sitzt ein silberner Knauf in Form einer dämonischen Fratze. Der flammende Pfeilschwanz des Teufels windet sich um das edle Schwert. Luzifer hat weder einen Pfeilschwanz noch sieht ihm der Knauf besonders ähnlich. Aber so will er nun einmal von den Menschen gesehen werden.

Dunkelrote Lettern fordern Toni auf ihre Zugangsdaten einzugeben. Sie tippt ihr Passwort ein und wartet kurz.

Verifizierung für Antonia Stark, Jäger #785

abgeschlossen

Sie begibt sich in den Meldungsbereich. Wo manche Jäger halbe Romane verfassen, ist sie eher schnörkellos und sendet D’iali eine schlichte Nachricht.

Zielperson Joa Beck problemlos abgeliefert.

Anfangs hat ihre Schreibfaulheit immer wieder Streit zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten verursacht. Bis sie einmal einen sechzehnseitigen Bericht aufgesetzt hat, der von der Ermittlungsarbeit bis zur Ergreifung der Zielperson jedes winzige Detail beinhaltete. Selbst die Farbe der Schnürsenkel an den Designerschuhen der Zielperson. Sie waren braun. D’iali hat sich schließlich geschlagen gegeben.

Toni will sich gerade ausloggen, da ertönt ein leises Hupen aus den Boxen des Notebooks und ein winziger Briefumschlag blinkt in der rechten Ecke des Bildschirms. Es ist eine Nachricht von D’iali, der überraschenderweise diesen Freitagabend nicht mit seinen Dämonenkumpels in der Kneipe sitzt.

Neugierig klickt Toni auf den Briefumschlag, wodurch sich ein Chatfenster öffnet, in dem D’ialis Nachricht bereits darauf wartet, gelesen zu werden.

Habe einen Sonderauftrag für dich.

Von dem Wort »Sonderauftrag« gelockt antwortet sie mit wenig verstecktem Interesse.

Zielperson?

Begierig starrt sie auf die drei blinkenden Punkte, die anzeigen, dass D’iali damit beschäftigt ist, eine Antwort zu verfassen.

Ein Nephilim.

Die Freude über das Wort verringert sofort ihren Ärger darüber, dass ihr Vorgesetzter eine schiere Ewigkeit braucht, um zwei Worte zu schreiben.

Geht das auch genauer?

Wieder blinken die drei Punkte und scheinen gar nie mehr mit dem Tanz aufhören zu wollen. Toni lehnt sich zurück und lässt den Blick durch ihr Zimmer schweifen. Der Bildschirm des Notebooks ist die einzige Lichtquelle in dem kleinen Raum und wirft verzerrte Schatten auf ihre Matratze. Ein richtiges Bett besitzt sie nicht. Ihre Einrichtung ist eher schlicht – im Gegensatz zum Rest der Wohnung, die Lestat eingerichtet hat. Hätte sie ihn nicht aufgehalten, wäre ihr Zimmer jetzt auch ein beige-violetter Albtraum aus Chiffon und Seide. Dabei ist sie mehr als zufrieden mit ihrer Matratze, dem alten Schreibtisch und dem improvisierten Weinkisten-Kleiderschrank. Sie braucht keinen Firlefanz wie teure Möbel, Dekokissen, haufenweise Bilder an der Wand oder sonstige Andenken – Staubfänger, die die meisten Menschen aus Sentimentalität aufbewahren. Das ist nicht ihr Ding.

Endlich erscheinen D’ialis Worte. Der hölzerne Stuhl knarrt protestierend, als Toni nach vorne schnellt.

Ungeduldiges Menschenvolk!
Zielperson: Nikolaj Bogdanow
Alter: 28
Wohnhaft im östlichen Stadtzentrum, Königstraße
Aufnahme folgt.

Toni öffnet die Fotodatei und prägt sich das Gesicht des attraktiven Mannes genau ein. Sein kurzes aschblondes Haar ist sorgfältig frisiert und über den hohen Wangenknochen blicken wachsame stahlblaue Augen in die Ferne. Er wirkt jünger als achtundzwanzig, aber die Nephilim altern nun einmal nicht so schnell wie Menschen.

»Hmm … Eigentlich schade drum …«, murmelt Toni. Da erscheint eine weitere Nachricht auf dem Bildschirm.

Er wurde vor einer halben Stunde im Stadtpark entdeckt. Du solltest dich beeilen.

Eilig tippt sie die Worte »Bin schon unterwegs!« ein, dann loggt sie sich aus und klappt das Notebook zu, bevor sie sich freudig die Hände reibt. Ein Nephilim bedeutet doppelten Sold für einen Kopfgeldjäger und die meisten von ihnen sind Feiglinge, die das Kämpfen vergessen – dieser Auftrag ist also leicht verdientes Geld.

Toni springt auf, reißt die Zimmertür auf und marschiert ins Wohnzimmer, wo Lestat bereits ausgehbereit in engen Jeans und einem seiner geliebten Rüschenhemden wartet.

»Ich muss noch mal los.« Toni wirft ihm einen entschuldigenden Blick zu. »Scheint, als hätten wir mal wieder eine Nephilim-Plage in der Stadt.«

Lestat rollt brummend mit den Augen. »Toni … Kannst du die Nephilim nicht Nephilim sein lassen und dich morgen darum kümmern? Heute ist Ladies Night im Caliente

»Und das interessiert dich, weil …?«, fragt Toni gedehnt und versucht sich das Schmunzeln zu verkneifen, das sich immer auf ihr Gesicht schleicht, wenn Lestat sich selbst zum Mädchen macht – oder sich wie eines benimmt.

Ihr Mitbewohner hat den Wink verstanden und zieht einen beleidigten Schmollmund. »Ich bin eindeutig mehr Lady als du!«

Lächelnd nickt sie ihm zu. »Da ist allerdings was dran. Hör zu, es wird nicht lange dauern. Ich hole dich nachher ab und dann geht’s los ins La Cucaracha

»Caliente!«, verbessert er automatisch.

»Ja, dahin auch, wenn du möchtest.« Toni gibt dem Vampir einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter. »In einer Stunde stehst du mit einem Cocktail in der Hand an der Bar. Versprochen!«

Welten treffen aufeinander

Altmodische Laternen säumen den Wegesrand wie aufrechte Wächter und verleihen dem Kies mit ihrem Schein einen orangefarbenen Anstrich. Was jenseits des Weges liegt, hinter den hohen Hecken und Büschen, ruht in tiefen Schatten. Wer genau hinsieht, kann die glänzenden Pupillen der einen oder anderen schaurigen Gestalt entdecken, die durch das Blattwerk späht, denn sobald es dämmert, kriechen die Angestellten der Hölle wie Kakerlaken aus ihren Löchern und warten auf Beute.

Nikolaj tritt vom Rasen auf den Kiesweg und schlendert gelassen zum Ausgang des Parks. Er ignoriert die hungrigen Blicke, die ihm folgen. Nichts könnte ihn heute aus der Ruhe bringen. Er war nicht mehr so unbeschwert seit … ja, seit sein Vater ihm mitgeteilt hat, was er ist und welches Schicksal ihn deshalb erwartet. Und wen würde es nicht beunruhigen zu erfahren, dass es eine ganze Welt gibt, die einen tot sehen will? Und eine weitere, die das nicht im Geringsten interessiert?

Insgeheim nimmt er es seinem Vater übel, dass er ihn zu dem gemacht hat, was er ist – so sehr er auch versucht das Gefühl zu unterdrücken. Sein Leben lang hat ihn sein Vater deswegen zur Flucht gedrängt, doch in seinem tiefsten Herzen ist Nikolaj nun einmal ein Kämpfer. Nach Anatols Tod kann er nun den Plan verfolgen, der seit Jahren in seinem Kopf reift und von dem sein Vater nie etwas hören wollte.

Nikolaj blickt zum Nachthimmel auf. Kein einziger Stern ist zu sehen, nur finstere Wolken, schwarz auf schwarz. Sie hängen wie gewaltige Gebirge vom Firmament.

Der Gedanke an seinen Vater lenkt Nikolajs Blick automatisch nach oben, obwohl er genau weiß, dass dem ehemaligen Engel der Zutritt ins Obere Reich verwehrt ist. Genauso wie ihm selbst. Nach dem Tod erwartet Gefallene und Nephilim nichts als die ewige Dunkelheit.

Wenn Nikolaj für seine bloße Existenz eine Strafe verdienen sollte, ist das nicht genug? Muss er sein kurzes Leben auch noch in Angst verbringen?

Er schüttelt den Kopf und der Anflug eines Lächelns huscht über sein Gesicht, als er an seine neuen Möglichkeiten denkt. Das Engelsblut, das verwässert in seinen Adern fließt, wird bald keine Jäger mehr anlocken. Er wird die Chance nutzen, die ihm soeben geboten wurde, und damit beweisen, zu was ein wahrer Nephilim fähig ist.

Um seine Gedanken zu bekräftigen, nickt er sich selbst zu. Was wohl Clarissa dazu sagen wird? Er kann es kaum erwarten, seiner Freundin von dem erfolgreichen Treffen zu berichten.

***