Kapitel 1

Giselle

Ihr stechender Blick folgt jedem meiner Schritte, den ich durch die große Halle mache, während ich die Gäste begrüße. Zwar schaut sie schnell zur Seite, wenn ich mich in ihre Richtung umdrehe, dennoch kann ich ihren Blick auf mir spüren. Abwartend, beinahe lauernd beäugt sie mich, so wie sie es immer tut. Als würde sie damit rechnen, dass ich mich jeden Augenblick in eine blutrünstige Bestie verwandeln könnte.

Doch da muss ich sie leider enttäuschen. Für gewöhnlich verwandele ich mich nur nachts in die Bestie, die sie in mir sieht.

Ich begriff eine Weile nicht, warum sich mein Körper Nacht für Nacht verändert, warum mich diese Schmerzen, die ich jedes Mal dabei empfinde, heimsuchen, sobald die Sonne untergegangen ist. Aber nachdem ich endlich von dem Zauber befreit wurde, der mir sämtliche meiner Erinnerungen genommen hatte, weiß ich es wieder ganz genau.

Ich bin verflucht.

Auf mir lastet ein uralter Fluch, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, und ich habe einen Großteil meines Lebens damit verbracht, ein Heilmittel dagegen zu finden. Ich war bereit, alles dafür zu opfern, um endlich normal zu sein. Aber ihr Gedächtniszauber ließ mich alles vergessen und machte mich zu einer seelenlosen Hülle, in deren Innerstem ich nach Freiheit schrie. Ein Zauber, den sie auf mich gelegt hat und wofür ich sie selbst heute, fast ein halbes Jahr danach, noch immer abgrundtief hasse. Ich habe sie schon vorher gehasst, aber nachdem ich wieder wusste, wer ich bin und warum ich mich verwandele, wurde es noch schlimmer.

Ich bleibe stehen, drehe mich um und bedenke sie mit einem bitterbösen Blick. Sie zuckt erschrocken zusammen und schaut schnell woanders hin. Das ist nichts Neues. Obwohl sie die Königin ist, hat sie doch Schwierigkeiten mit direkten Konfrontationen. Sie ist zu weich, zu sehr darauf bedacht, allen gefallen zu müssen, und sie ist es auch immer noch nicht gewohnt, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen.

Ganz anders als der Mann, der auf dem Thron neben ihr sitzt. Länger als nötig verweilt mein Blick auf ihm, nimmt jede Kante seines Gesichts wahr, das mir so vertraut ist. Ja, mein Bruder ist wirklich ein geborener König: stolz, schön und ehrenvoll. Für viele Jahre empfand ich für ihn mehr, als eine Schwester empfinden sollte, und vielleicht tue ich das selbst jetzt noch, obwohl er glücklich verheiratet und mittlerweile sogar Vater ist.

Verbissen schlucke ich den bitteren Anflug von Neid herunter und widme mich wieder den Menschen, die sich im Schlosssaal eingefunden haben und die sich darum drängen, mit mir zu plaudern. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie meine Schwägerin unruhig auf dem Thron umherrutscht, als würde sie sich darauf und in ihren feinen Gewändern nicht wohlfühlen. Als würde sie sich nicht damit wohlfühlen, die Königin der Menschen zu sein.

Nun, mit diesem Gefühl ist sie nicht allein. Ich kann deutlich in den Mienen der Umstehenden erkennen, dass sie auch nach über einem Jahr noch nicht glücklich darüber sind, eine Halbelfe als Königin zu haben.

Ich hätte garantiert einen durchaus besseren Anblick als Königin geboten, wäre graziler, schöner und anmutiger als dieses Miststück, das den Großteil seines Lebens in einer Hütte im Wald gehaust und keinerlei Wissen über Anstand und von der Führung eines Volkes hat. Das nichts weiter als ein Emporkömmling ist, den ich gefunden und zu dem gemacht habe, was er nun ist.

Schon seltsam, nicht wahr? Im Grunde ist es meine Schuld, dass sie jetzt dort oben sitzt, auf meinem Platz, denn ich war es, die ihre Mutter, die lang verschollene Königin der Elfen, fand, die seit fast einem Jahrhundert für tot gehalten worden war. Nur durch mich erfuhr sie, dass sie eigentlich eine Prinzessin und zu Höherem bestimmt ist.

Von mir aus hätte sie gern die verdammte Königin der Elfen werden können, wenn sie dafür die Finger von meinem Bruder gelassen hätte.

Ich habe bis heute nicht verstanden, was er an der Halbelfe findet. Sie ist weder besonders hübsch noch besonders klug. Würde sie durch die Straßen laufen, würde niemand von ihr Notiz nehmen, so gewöhnlich ist sie.

»Prinzessin Giselle«, murmelt ein untersetzter Mann neben mir. Ich blinzele mehrmals, um meine düsteren Gedanken abschütteln und mich wieder auf das Geschehen um mich herum konzentrieren zu können. »Es tut gut, Euch wieder am Hofe zu sehen«, plappert er weiter. »Ihr wart … mehrere Monate nicht da.«

Ich zwinge mich zu einem Lächeln und nicke. »Das ist richtig. Ich habe eine Zeit lang am Hof der Elfen gelebt, um deren Gebräuche zu studieren.«

Eine glatte Lüge, aber es ist die Ausrede, auf die mein Bruder und ich uns geeinigt haben. Niemand soll wissen, dass meine Erinnerungen über Monate weggesperrt waren und ich mich nur durch einen dummen Zufall wieder daran erinnern konnte, wer und was ich bin.

Wo wir gerade von einem dummen Zufall reden …

Ohne Vorwarnung krampft sich eine unsichtbare Hand um mein Herz zusammen und raubt mir für einen Moment die Luft zum Atmen. Keuchend presse ich eine Hand gegen die Brust und sehe mich mit einem Anflug von Panik um. »Entschuldigt mich bitte«, murmele ich und warte die Antwort des Mannes gar nicht ab, sondern zwänge mich durch die umstehenden Menschen, immer den rettenden Ausgang vor Augen.

Ich muss hier weg, so schnell wie möglich, auch wenn es sich anfühlt, als würde ich durch einen Sumpf waten. Mein Körper gehorcht mir nicht mehr und meine Beine wollen den Weg in die entgegengesetzte Richtung einschlagen. Nur mit purer Willenskraft schaffe ich es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ich muss hier verschwinden! Das Gefühl in meiner Brust kann nur eines bedeuten: Er ist hier. Ich spüre ihn, ohne ihn zu sehen, aber ich habe keine Zweifel. Und unter gar keinen Umständen will ich ihm über den Weg laufen!

Schon seit Monaten schaffe ich es irgendwie, ihm immer wieder auszuweichen, auch wenn es mich innerlich zerreißt. Ich hasse die widersprüchlichen Gefühle, die in mir toben. Ich weiß, was sie bedeuten, doch ich will es nicht wahrhaben. Niemals! Ich gestatte mir nicht einmal, darüber nachzudenken.

Als ich die Tür erreiche, wage ich einen Blick über die Schulter und sehe die grünlich schimmernden Haare des Waldelfs, der sich suchend durch die Massen bewegt. Er überragt die anderen Anwesenden um eine halbe Kopfeslänge und seine ungewöhnliche Haarfarbe sticht heraus, sodass ich ihn sofort entdecke.

Ich weiß, wen er zu finden hofft: mich. Schnell öffne ich die Tür einen Spaltbreit und zwänge mich hindurch. Erst im Korridor erlaube ich mir wieder zu atmen. Die Muskeln in meinen Beinen zittern, wollen mich zurück in den Saal tragen, doch ich gehe in die entgegengesetzte Richtung davon.

Ohne es bewusst zu wollen, laufe ich hinaus auf den Burghof. Die kühle Nachmittagsluft sticht in meinen Lungen und ich friere erbärmlich in dem dünnen Kleid. Aber nichts auf der Welt könnte mich dazu bringen, wieder hineinzugehen, nicht einmal die Aussicht, mir hier draußen den Tod zu holen. Der frisch gefallene Schnee knirscht unter meinen Füßen, als ich in die Ställe flüchte. Normalerweise mag ich den Geruch von Tieren nicht und die meisten Tiere fürchten mich, weil sie spüren, was ich bin, aber hier wird er mich nicht suchen. Jeder erwartet, dass ich mich drinnen bei den Gästen aufhalte, und auch die Anwesenden werden lieber im Warmen bleiben. Ich muss nur die Zeit überbrücken, bis er wieder verschwindet, allerdings bleibt er in letzter Zeit immer länger am Hof, in der Hoffnung, mich anzutreffen.

Mehr als ein paar flüchtige Blicke hat er in den letzten Monaten nicht von mir bekommen, denn zum Glück – oder eher zu meinem Leidwesen – spüre ich seine Anwesenheit, sobald er in meiner Nähe ist. Ein ›netter‹ Nebeneffekt meines Fluchs. Wie kam mein Bruder nur damit zurecht? Es macht mich wahnsinnig! Schlimm genug, dass mein Körper jede Nacht ein Eigenleben entwickelt. Wäre es da zu viel verlangt, wenigstens tagsüber Herrin über ihn und meine Gefühle zu sein?

Um möglichst viel Abstand zwischen den Waldelf und mich zu bringen, laufe ich bis zum hintersten Ende der Ställe. Einige Pferde weichen mit einem hohen Wiehern vor mir zurück und stampfen mit den Hufen auf. Ich weiß, warum die Tiere sich vor mir fürchten – sie können meine andere Gestalt wittern und wissen, dass ich ihr Feind bin. Nicht jetzt, aber sobald die Sonne untergegangen ist, könnte ich für nichts garantieren. Zwar weigere ich mich schon seit Jahrzehnten, in meiner Tiergestalt Nahrung zu mir zu nehmen, aber wenn irgendwer wegen dieses nervtötenden Gewiehers oder Gestampfes auf mich aufmerksam wird, mache ich liebend gern eine Ausnahme.

Ein Grollen braut sich in meiner Kehle zusammen, während ich dem lautesten Gaul einen finsteren Blick zuwerfe, und er verstummt augenblicklich.

Da das ganze Schloss von Besuchern wimmelt und die Mägde und Wachen wie aufgescheuchte Hühner umherhuschen, gibt es nicht viele Orte, an denen ich Ruhe finden kann.

Ich verkrieche mich hinter einem Heuhaufen, schlinge die Arme um die Beine und lege den Kopf auf die angewinkelten Knie.

In den letzten Sonnenstunden des Tages überkommen mich immer wieder schwermütige Gedanken, die ich nicht verhindern kann. Bald werde ich meine rosige Haut gegen schwarzes Fell eintauschen, meine Knochen werden brechen, um sich im nächsten Moment neu anzuordnen, meine Muskeln werden bis zum Zerreißen gespannt, bevor sie sich an meine neue Form anpassen. Selbst beim Gedanken daran bricht mir kalter Schweiß aus. Die Verwandlung ist jedes Mal schmerzhaft. Über die Dauer von über einem Jahrhundert habe ich mich zwar bis zu einem gewissen Grad an die Schmerzen gewöhnt, aber trotzdem würde ich es vorziehen, sie nie wieder spüren zu müssen.

Ich mag zwar eine Prinzessin sein, aber in meinem Inneren schlummert eine Bestie, die sich Nacht für Nacht befreit. Früher konnte ich meine Ängste und Sorgen mit meinem Bruder teilen, der genauso unter dem Fluch litt wie ich. Ich konnte mich auf Vaan verlassen und er sich auf mich. Es gab Zeiten, da waren wir beide unzertrennlich und sowohl tagsüber als auch nachts nur gemeinsam anzutreffen.

Doch diese Zeiten sind unwiederbringlich dahin, seit er seine Gefährtin gefunden hat. Die ihm nun auch noch vor zehn Wochen einen Sohn geboren hat.

Ich knirsche mit den Zähnen, als ich mich an den Moment erinnere, als auch ich mich über die Wiege beugen und heucheln musste, wie wunderschön das Balg doch sei. Ein dunkler Teil in mir hat sich vorgestellt, wie es wäre, das Kind hier und jetzt aus dem Turmfenster zu werfen, doch ich habe diesen Teil schnell zum Schweigen gebracht, ehe mir einer der Anwesenden meine Gedanken ansehen konnte.

Ich hasse das Halbelfen-Miststück dafür, dass es mir meinen Bruder weggenommen hat, und ich gönne ihnen ihr Glück nicht. Jeden Tag reiben sie mir unter die Nase, was ich niemals haben kann. Wer würde mich schon nehmen? Tagsüber gehöre ich zwar zu den schönsten Menschenfrauen des Landes, aber nachts …

Nachts verwandele ich mich in eine schwarze Löwin.

Mein Leben hat mich verbittert werden lassen. Meine Schönheit und das prunkvolle Leben, das ich führen könnte, werden überschattet von Wut und Raserei.

Es ist kein Geheimnis, dass mein Bruder und ich – und unsere Mutter, die verstorbene Königin Miranda, vor uns – den Fluch der Götter in uns tragen, der uns einen Teil des Tages in eine Tiergestalt zwingt. Die Menschen wissen es und fürchten sich nicht vor uns, aber sie sehen uns auch nicht als normal an. Ich kann es ihnen nicht verdenken.

Kein Mann würde sich eine Bestie ins Bett holen. Jedenfalls nicht in dem Sinne. Eine normale Beziehung oder Ehe ist für mich undenkbar, denn es gibt niemanden, der über mein Anderssein hinwegsehen könnte.

Es wird nie jemanden geben, der beide Seiten von mir akzeptieren oder gar lieben kann.

Mein Bruder hat es geschafft, ebenso wie unsere Mutter vor ihm. Sie mussten sich nicht mehr verwandeln, sondern haben die Kontrolle über ihre andere Erscheinung zurückerlangt. Mehr noch: Sie verfügen über das volle Potenzial, das in uns Mondkindern schlummert. Es gibt einen Weg, den Fluch zu brechen, aber diesen Weg werde ich niemals beschreiten. Nur über meine Leiche.

Ich schrecke zusammen, als ich ein Geräusch in den Stallungen höre, das nicht von den Gäulen stammt. Schritte. Jemand nähert sich. Ich horche in mich hinein, spüre aber nichts weiter als das dumpfe Ziehen, das immer da ist, solange der Waldelf auf Abstand ist.

»Ist da jemand?«, ruft die Stimme eines jungen Stallknechts.

Seufzend komme ich auf die Beine und klopfe mir das Stroh vom Kleid, ehe ich mich ihm zuwende. Seine Augen werden riesig und der viel zu große Adamsapfel hüpft in seinem schmalen Hals auf und ab.

»P-P-Prinzessin Giselle«, stammelt er. »W-W-Was …«

»Was ich hier mache?«, helfe ich ihm aus, als ich hinter dem Heuhaufen hervortrete. »Da drin findet eine wichtige Veranstaltung statt und ich brauchte einen Ort, an dem ich ein wenig Ruhe finden kann.«

Noch immer starrt er mich an, als würde er einen Geist sehen. Fast könnte man es für Panik halten, wäre da nicht das begehrliche Glitzern in seinen Augen.

Der Anflug eines Lächelns umspielt meine Lippen. Ich kenne meine Wirkung auf Männer, auch wenn sie noch so jung sind wie dieser hier und gerade erst den Stimmbruch hinter sich haben. Ich kenne die Blicke, mit denen sie jede meiner Bewegungen in sich aufsaugen. Der Bursche reicht mir nur bis zur Nasenspitze, aber ich spüre, wie er mich betrachtet und dabei nach Luft schnappt.

Grinsend beuge ich mich zu ihm hinab und sehe ihm fest in die Augen. Gut möglich, dass er aufgehört hat zu atmen. »Dass du mich hier gefunden hast, bleibt aber unser kleines Geheimnis, in Ordnung?«, wispere ich.

Wenn die anderen wissen, dass ich mich hier im Stall verkrieche, muss ich mir ein neues Versteck suchen, und die gehen mir nach den Monaten, in denen ich dem Waldelf bereits aus dem Weg gehe, langsam, aber sicher aus.

Ein paar Herzschläge lang ist der Bursche wie erstarrt, ehe er eifrig nickt.

Ich nicke ebenfalls und verlasse mit wiegenden Hüften den Stall. Erst als ich außer Sichtweite bin, werden meine Schritte schneller, bis ich fast über den ausladenden Hof renne. Mit den Händen reibe ich mir über die nackten Arme, um mich warm zu halten, bis ich das Burgtor erreiche. Kurz schwebt meine Hand über dem Griff, als ich sie hastig zurückziehe.

Er ist immer noch da drin!

Ich überschlage meine Möglichkeiten. Ob ich es schaffe, schnell genug am Saal vorbei zur Treppe zu kommen, die zu meinen Gemächern führt? Oder wird er dort bereits auf mich warten, wie er es schon mal getan hat? Keine Ahnung, wie er an den Wachen vorbeigekommen ist … Oder wie das eine Mal, als er vor meiner Zimmertür übernachtet und darauf gewartet hat, dass ich von meinen nächtlichen Streifzügen zurückkomme. Ich habe das Gefühl, nirgends mehr sicher zu sein, weil er hinter jeder Ecke lauern kann.

Um nicht zu Eis zu erstarren, beschließe ich, das Risiko dennoch einzugehen, und ziehe die Tür auf. Nachdem ich mich vergewissert habe, dass außer ein paar Wachen niemand auf den Korridoren unterwegs ist, flitze ich den langen Gang entlang. Obwohl ich so leise wie möglich auftrete, hallen meine Schritte unnatürlich laut auf dem Steinboden wider. Bei jedem einzelnen denke ich, dass jemand sie hören wird. Doch ich schaffe es unbehelligt zur Treppe.

Als ich den Fuß auf die erste Stufe setze, schließt sich eine Hand um meinen Arm und ich erstarre.

»Was machst du hier?«, fragt eine Stimme hinter mir.

Erleichtert stoße ich die Luft aus, die ich angehalten habe, und drehe mich um. Ich muss den Kopf in den Nacken legen, um in Augen zu schauen, die ebenso golden sind wie meine. Mein Herz verpasst bei seinem Anblick den nächsten Schlag und stolpert schließlich vor sich hin.

»Ich wollte mich gerade zurückziehen«, antworte ich so kühl wie möglich. Die Berührung seiner Hand brennt auf meiner Haut, doch ich wage es nicht, sie abzuschütteln.

»Wir haben dich bei der Feier vermisst«, sagt mein Bruder.

»Wir?«, entschlüpft es mir, ehe ich es verhindern kann. »Ich glaube, deine Frau war froh, dass ich nicht dabei war.«

Vaan nimmt seine Hand von mir. Sofort fühlt sich die Stelle, die er eben noch berührt hat, eisig kalt an und ich muss ein Zittern unterdrücken.

»Es wäre deine Pflicht als einzige Tante des Kindes gewesen, den Segen der Götter zu erbitten«, erwidert er und mir entgeht nicht das Grollen in seiner Stimme. Er ist wütend und ich kann es ihm nicht verdenken, denn alles, was er sagt, ist richtig.

Es wäre meine Aufgabe gewesen, seinen Sohn zu halten und die uralten Worte zu sprechen. Normalerweise macht dies einer der Großväter des Kindes, aber weder Vaan und ich noch die Halbelfe haben ein noch lebendes Elternteil vorzuweisen. Also ist diese zweifelhafte Ehre an mich als einzig existierende Verwandte übergegangen. Nicht, dass ich besonderen Wert darauf gelegt hätte, das Balg auch nur zu berühren. Ich hätte es einzig und allein Vaan zuliebe gemacht. Um ihn lächeln zu sehen. Alles andere wäre daneben verblasst.

»Ich fühlte mich nicht wohl und brauchte frische Luft«, sage ich ausweichend.

Vaans Augen verengen sich zu Schlitzen, bevor er geräuschvoll die Luft ausstößt. »Er war wieder da«, murmelt er. »Ich habe ihn gesehen, auch wenn er versucht hat, Fye und mir aus dem Weg zu gehen. Er hat nach dir Ausschau gehalten.«

Ich nicke. »Deshalb musste ich verschwinden.«

Mein Bruder fährt sich mit einer Hand durch die Haare, die im Schein der Kerzen kupferfarben glänzen. »Du kannst nicht ewig vor ihm davonlaufen, Giselle.«

Trotzig recke ich das Kinn nach vorn. Ich weiß, dass er recht hat und ich mich kindisch verhalte. Weglaufen hat noch nie ein Problem gelöst, aber ich schaffe es nicht, dem Waldelf gegenüberzutreten. Nicht, dass ich Angst vor ihm hätte – zumindest nicht im herkömmlichen Sinn. Wenn ich es darauf anlegen würde, könnte ich im Nu in meine andere Gestalt wechseln und ihn zerfetzen, ehe er wüsste, wie ihm geschieht. Er wirkt nicht bedrohlich auf mich und doch lässt mich seine bloße Anwesenheit erschaudern.

»Vielleicht musst du ihn erst einmal kennenlernen. Gib Ayrun doch …«

Schnell hebe ich die Hand, um ihn zu unterbrechen. »Sprich seinen Namen nicht aus!«, zische ich und presse die andere Hand gegen meine Brust. Unter meinen Fingern spüre ich, wie mein Herzschlag erneut ins Stolpern gerät. Und das nur, weil Vaan seinen Namen gesagt hat!

»Wie lange soll das noch so weitergehen?« Mein Bruder packt mich an den Schultern und schüttelt mich. Sanft zwar, aber stark genug, dass ich ihn ansehe und mich wieder auf ihn konzentriere. »Das, was ihr gerade macht, zerstört euch beide. Er leidet, Giselle. Fye hat es mir erzählt. Er sucht sie jeden zweiten Tag auf, in der Hoffnung, dir über den Weg zu laufen.«

»Ich habe ihn nicht darum gebeten …«

Vaan lässt mich los und verdreht seufzend die Augen. »Warum tust du dir das an? Ich weiß, was du spürst. Ich kenne die Macht des Bandes.«

»Er ist es nicht«, presse ich hervor. »Er ist nicht mein Gefährte. Ich spüre rein gar nichts.«

»Das habe ich dir beim ersten Mal, als du es gesagt hast, schon nicht geglaubt.« Er schüttelt den Kopf, als er sich umdreht, um zurück in den Saal zu gehen. »Ihr beide lasst Fye und mir bald keine andere Wahl mehr, als euch so lange in ein Zimmer zu sperren, bis ihr das, was auch immer zwischen euch vorgeht, geklärt habt. Und das ist mein Ernst.«

Ich schlucke hörbar, denn ich weiß, dass seine Worte keine leere Drohung sind. Aber was soll ich darauf erwidern? Wenn ich ihn anbetteln würde, es nicht zu tun, würde er nur noch mehr davon überzeugt sein, dass der Waldelf mein Gefährte ist. Also zucke ich nur möglichst gleichgültig mit den Schultern, doch mein Bruder ist bereits auf dem Weg zurück zu seinen Gästen, die zur Weihung seines Sohnes gekommen sind.

Mit zusammengebissenen Zähnen steige ich die Treppe empor und verbiete mir jeden weiteren Gedanken an den Waldelf, der im Saal vergeblich darauf wartet, dass ich mich zeige.

Kapitel 2

Giselle

Ich bleibe nicht lange in meinem Zimmer, denn die Sonne beginnt bereits hinter den Berggipfeln zu verschwinden. Es wird Zeit für mich, erneut nach unten und hinaus in den Hof zu gehen, um in meine andere Gestalt zu wechseln. Latent spüre ich bereits das Ziehen in meinen Gliedmaßen, das die bevorstehende Verwandlung ankündigt.

Das Pulsieren in meiner Brust hat vor einer Weile nachgelassen, was bedeutet, dass der Waldelf endlich die Burg verlassen hat. Wenigstens besteht so nicht die Gefahr, dass ich ihm auf dem Weg nach unten begegne.

Ich schlüpfe aus meinem Kleid und lege mir nur einen dunklen Umhang um, der mir bis zu den Knöcheln reicht, ehe ich die Tür öffne und auf den Flur hinaustrete. Die Wachen, an denen ich vorbeikomme, grüßen mich respektvoll und ich erwidere ihren Gruß mit einem Nicken.

Draußen umfängt mich die kühle Abendluft, kriecht unter meinen Umhang und lässt mich frösteln. Ich schaue nach oben in den fliederfarbenen Himmel. Eine weitere einsame Nacht in der Winterkälte steht mir bevor, in der ich sinnlos durch die angrenzenden Wälder streife, bis die Sonne endlich wieder aufgeht und mich aus der verhassten Gestalt befreit.

Barfuß überquere ich den Burghof und der Schnee schmilzt zwischen meinen Zehen. Ich beeile mich, den Wald zu erreichen, bevor die Sonne vollends untergegangen ist. Unterwegs blitzt immer wieder das Gesicht des Waldelfs vor meinem inneren Auge auf, egal wie vehement ich versuche, es zu verdrängen.

So geht es mir jeden Abend, als wolle mir mein Unterbewusstsein zeigen, dass ich nur die Hand ausstrecken muss, um mich von meinem Fluch zu befreien. Es gibt für mich nur einen Weg, normal zu werden, aber dafür müsste ich all das aufgeben, was ich bin und was mich ausmacht. Eine Bindung verändert einen, das habe ich deutlich bei meinem Bruder beobachten können. Ich lege keinen Wert darauf, zu einem liebestollen Idioten zu werden, wie er einer ist. Seit er in Fye seine Gefährtin gefunden hat, hat er nur noch Augen für sie. Ihn scheint es nicht zu stören, dass die Gefühle, die er für sie zu haben glaubt, nur das Resultat eines Fluchs sind, den zwei dumme Götter verschuldet haben und den wir als ihre Nachkommen immer noch ertragen müssen. Sieht er nicht, wie falsch das ist?

Ich will selbst entscheiden, in wen ich mich verliebe, und nicht durch einen Fluch die Person vorgegeben bekommen. Denn nichts anderes ist es: Für uns Mondkinder, die den Fluch der Götter in sich tragen, gibt es auf der ganzen Welt nur ein einziges Wesen, das für uns bestimmt ist. Wie durch Magie fühlen wir uns durch das Band zu diesem Wesen hingezogen, ohne noch Herr über unsere Gefühle sein zu können. Mutter hat uns immer erzählt, dass die Bindung etwas ganz Wundervolles sei, das größte Gut, das Mondkinder wie wir erreichen können, denn nur mit unserem Gefährten an unserer Seite wären wir komplett.

Als ich jung war, habe ich darauf gehofft, auch bald meinen Gefährten zu finden, den Einen, der nur für mich bestimmt ist. Aber ich bin zu alt, um noch an Märchen zu glauben.

Seit sich mein Bruder an die Halbelfe gebunden hat, sehe ich die Wahrheit, deutlicher noch als zuvor. Die Bindung ist nichts Magisches, nichts Erstrebenswertes, denn sie ist nicht echt. Vaan hätte sich nie von sich aus für die Halbelfe entschieden, die nun an seiner Seite Königin ist. Er hätte sie von vornherein keines zweiten Blickes gewürdigt! Nein, er hätte sie schon beim ersten Mal übersehen. Ich kenne den Frauengeschmack meines Bruders und die Halbelfe kommt dem nicht einmal ansatzweise nahe.

Und nun versucht diese höhere Macht, mich an den Waldelf zu binden, der aus dem Nichts erschienen ist, als ich unter dem Memoria-Zauber stand und mich nicht dagegen wehren konnte. Aber das lasse ich nicht zu!

An meinem dunkelsten Tag, als der einzige Mann, den ich je geliebt habe, mich verschmähte, habe ich mir geschworen, nie wieder zuzulassen, dass Gefühle über mein Denken herrschen.

Ich bin keine von den Frauen, die sich durch ein hübsches Gesicht und ein schelmisches Lächeln um den kleinen Finger wickeln lassen.

Ich bin keine Prinzessin, die einfach erobert werden kann.

Der Himmel verdunkelt sich und als mein Körper beginnt, sich zu verkrampfen, öffne ich mit steifen Fingern den Umhang und lasse ihn zu Boden gleiten. Ich sacke auf die Knie und stütze mich mit den Händen ab, während ich unkontrolliert zucke.

Die Schmerzen rauschen in schneidenden Wellen durch mich hindurch. Heiß und kalt schießen sie von meinen Fingerspitzen meine Arme hinauf und breiten sich über meinen gekrümmten Rücken aus. Ich beiße fest die Zähne zusammen, kann aber ein Wimmern nicht unterdrücken. Heute ist es wieder besonders schlimm. Das Geräusch, das meine Knochen verursachen, als sie brechen, hallt in mir wider, bevor ich meinen Schmerz in den dunklen Wald hinausschreie und kraftlos zusammensinke. Für einen Moment wird mir schwarz vor Augen, doch als ich wieder richtig sehen kann, sind meine Sinne um ein Vielfaches geschärft. Trotz der Dunkelheit sehe ich alles, als wäre es bereits heller Tag.

Ich rappele meinen Löwenkörper auf und schüttele mich, um die Blätter abzustreifen, die an meinem schwarzen Fell kleben. So schnell, wie die Schmerzen kommen, so zügig verschwinden sie auch wieder, als wären sie nur Einbildung gewesen. Ein Blick hinab auf meine Pfoten beweist mir aber, dass ich mir nichts davon abbilde.

Ohne ein Geräusch zu verursachen, husche ich zwischen den Bäumen hindurch und suche mir einen Ort, an dem ich die Nacht hinter mich bringen kann. Manchmal bleibe ich einfach in der Burg, aber heute habe ich es dort nicht mehr ausgehalten. Ich ertrage es nur dort, wenn mein Bruder und seine Halbelfe nicht da sind und sich auch der Waldelf tagsüber nicht hat blicken lassen. Dann kann ich vergessen, dass mein Leben in Trümmern liegt und nichts so läuft, wie ich es mir wünsche. Aber sobald ich die drei in meiner Nähe weiß, wird mir wieder bewusst, was ich nicht haben kann oder niemals haben will.

Ich bleibe vor einem riesigen Baum stehen, stemme mich auf die Hinterläufe und schlage meine Krallen tief in die Rinde des Stammes. Das ist die einzige Möglichkeit, meine Wut und den Hass, der in mir brodelt, herauszulassen. Manchmal stelle ich mir vor, dass es der Körper der Halbelfe ist, den ich mit meinen Krallen bearbeite.

Ich könnte es tun. Ich müsste mich nur umdrehen und zur Burg zurückgehen. Niemand würde mich hören, wenn ich mich in ihre Gemächer schleiche und sie im Schlaf überrasche. Sie würde ihr Ende nicht kommen sehen. Ein Problem gibt es jedoch: Wenn ich sie töte, stirbt auch mein Bruder, denn durch die Bindung sind ihre Lebensspannen vereint. Also begnüge ich mich damit, die Rinde des Baumes bis zur Unkenntlichkeit zu zerfetzen.

Ich bin so sehr damit beschäftigt, den Stamm zu malträtieren, dass ich es versäume, auf meine Umgebung zu achten. Und als ich das Pulsieren spüre, ist es längst zu spät.

»Hat Euch der Baum etwas getan?«, fragt eine tiefe, aber gleichzeitig melodische Stimme hinter mir.

Fauchend wirbele ich herum, schaffe es aber nicht, mich vom Fleck zu rühren. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich den Mann an, der sich angeschlichen und mich beobachtet hat. Wie lange folgt er mir schon?

Natürlich muss es der Waldelf sein, wer auch sonst? Ich weiß, dass ich wegrennen und mich im Schutz der Dunkelheit verstecken sollte, doch meine Beine sind so starr, als bestünden sie aus Stein.

In diesem Körper leide ich viel stärker unter den Auswirkungen des Fluchs als in meinem menschlichen. Zu viele Instinkte gewinnen die Oberhand über mein Handeln und überlagern mein Denken. Ich schaffe es unter großer Anstrengung, nicht geradewegs und schnurrend auf ihn zuzulaufen. Wie von unsichtbaren Fäden werde ich von ihm angezogen und blende alles um mich herum aus. Selbst die nervende innere Stimme, die mich ohne Unterlass anschreit, dass ich verschwinden soll, ignoriere ich.

Der Waldelf hebt die Hände, als wolle er mir zeigen, dass mir von ihm keine Gefahr droht. Als ob er mir etwas antun könnte … Weiß er denn nicht, dass ich das Ungeheuer bin? Wenn sich hier jemand fürchten muss, dann er. Aber im Moment wäre ich für nichts und niemanden eine Gefahr, zu sehr werde ich von den widersprüchlichen Empfindungen überwältigt, als überhaupt daran zu denken, ihm Schaden zuzufügen.

Nachdem er sich versichert hat, dass ich nicht fliehe, geht er zu dem Baum, an dessen Rinde ich bis eben meine Klauen gewetzt habe, und legt eine Hand auf den malträtierten Stamm. Ein sanftes grünes Glühen breitet sich von seinen Fingern auf den Baum aus und nach wenigen Sekunden bildet sich dort, wo er den Baumstamm berührt, neue feste Rinde.

»Verzeiht, ich kann es nicht ertragen, wenn ich eine geschundene Pflanze sehe«, meint er mit einem entschuldigenden Lächeln, als er meinen wohl fassungslosen Blick bemerkt, der abwechselnd von ihm zurück zum Baumstamm huscht. »Könnt Ihr mich verstehen, wenn Ihr in dieser Gestalt seid?«

Ich zögere, nicke dann aber. Noch immer schaue ich auf seine Finger, die sanft über die geheilte Rinde fahren. In der Vergangenheit habe ich schon viele Elfen dabei beobachtet, wie sie Magie einsetzten. Mächtige Zauberer, die die Kontrolle über Elemente besaßen und sogar die Kraft über die Zeit selbst hatten, waren darunter. Einige Elfen schaffen es, allein durch ihre Stimme die Gefühle von anderen zu beeinflussen oder Erinnerungen auszulöschen. Aber der Zauber des Waldelfs ist neu für mich. Warum hat er seine Magie dazu eingesetzt, den blöden Baum zu heilen? Über kurz oder lang wäre ihm schon neue Rinde gewachsen.

»Es tut mir leid, ich bin Euch einfach gefolgt«, murmelt er eine Spur verlegen und nimmt seine Hand vom Baum. »Da ich Euch im Schloss nie antreffen konnte, dachte ich, dass ich vielleicht hier draußen mehr Glück hätte. Als Waldelf ziehe ich nicht nur meine Kraft aus den Pflanzen und Lebewesen, die uns umgeben, sondern werde auch zu einem gewissen Grad ein Teil von ihnen. So konnte ich mich verstecken, sodass Ihr mich nicht wahrnehmen konntet.«

Er macht eine Handbewegung und im nächsten Moment verschwimmen seine Konturen. Er wird nicht unsichtbar oder verschwindet, aber ich habe trotz meiner verbesserten Sinne Schwierigkeiten, ihn zwischen den Sträuchern, Blättern und Zweigen auszumachen. Es ist fast so, als würde er ein Teil des Waldes werden. Zusammen mit seiner erdfarbenen Kleidung und dem Umhang, der aussieht, als wäre er mit unzähligen kleinen Blättern verziert, verschmilzt er fast vollständig mit seiner Umgebung.

Na toll, nun bin ich noch nicht einmal mehr hier draußen vor ihm sicher … Er konnte sich an mich heranschleichen, ohne dass ich es bemerkt habe, weil er eins mit der Natur werden kann.

Mein Nackenfell stellt sich auf und ich weiche ein Stück zurück. Ich muss hier weg. Mein Kopf ist plötzlich wieder klar und Flucht ist nun meine oberste Priorität.

Als er bemerkt, was ich vorhabe, wird er wieder sichtbar und streckt eine Hand nach mir aus. »Nein, bitte, Prinzessin, ich wollte Euch nicht erschrecken. Bitte bleibt hier. Ich werde keine Magie mehr anwenden, das verspreche ich Euch. Nur … geht nicht weg.«

Das hättest du wohl gern, zischt eine Stimme in meinem Kopf, ehe ich herumwirble und in die Dunkelheit davonrenne.

Kapitel 3

Giselle

Kopflos haste ich durch den Wald, getrieben von dem Wunsch, nicht mehr in seiner Nähe sein zu müssen. Wobei das nicht ganz richtig ist. Es ist vielmehr das Abhandenkommen meines Denkvermögens, das mich nervös und verletzlich macht. Gemeinsam mit dem Pulsieren in meinem Inneren und den seltsamen Gefühlen, die jedes Mal aufflammen, wenn ich ihn sehe, treibt mich vor allem diese Verletzlichkeit in den Wahnsinn.

Es ist verrückt und falsch, doch es liegt nicht an ihm. Beinahe bewundere ich ihn für seine Hartnäckigkeit, obwohl ich ihm nur die kalte Schulter zeige. Wären unsere Rollen vertauscht, hätte ich wohl keinen weiteren Gedanken an ihn verschwendet, wenn er mich so herablassend behandelt hätte.

Ein Schuldgefühl flackert in mir auf, das ich jedoch im Keim ersticke. Ich darf kein Mitleid mit ihm haben, darf nicht auf die Gefühle in mir hören, sonst werde ich mich am Ende selbst verlieren.

Und außer mir selbst habe ich niemanden.

Schnaufend lege ich mich auf den kühlen Waldboden. Der Schnee, der vor ein paar Tagen zum ersten Mal in diesem Jahr gefallen ist, hat es noch nicht durch die Baumwipfel geschafft, sodass nichts als feuchte braune Blätter unter mir liegen.

Als er mit mir gesprochen hat, bin ich einfach nur kopflos davongerannt. Nun habe ich keine Ahnung, wo ich mich befinde, denn ich habe nicht auf meine Umgebung geachtet. Der Wald um mich herum ist dichter, undurchdringlicher als der, der direkt an Eisenfels grenzt und in dem ich mich normalerweise aufhalte. Ich sollte mich aufmachen, um einen Weg zurück zu finden, wenn ich mich nicht mitten in diesem Gestrüpp zurückverwandeln will. Der Sonnenaufgang wird nicht mehr lange auf sich warten lassen, wie mir das latente Ziehen in meinen Gliedmaßen beweist.

In meiner jetzigen Gestalt bin ich eine begnadete Fährtenleserin, aber als Mensch verfüge ich über keinerlei Orientierungssinn. Selbst mein Vater hat mich nie mehr auf Reisen mitgenommen, als er gemerkt hat, dass ich ein unvergleichliches Talent darin besitze, mich zu verlaufen.

Ich gebe ein Grollen von mir. Es ist alles die Schuld des verdammten Waldelfs, dass ich jetzt frierend mitten im Nirgendwo festsitze und den Weg nach Hause vielleicht nicht mehr rechtzeitig finde!

Sobald ich wieder zu Hause bin, muss ich dafür sorgen, dass sich der Waldelf in Zukunft von mir fernhält, sonst werde ich noch wahnsinnig. Ich halte das nicht mehr länger aus!

Ein Blätterrascheln hinter mir lässt mich zusammenzucken. Auf einen Schlag verwandelt sich das allgegenwärtige Ziehen in meiner Brust in ein warmes Pulsieren und ich fauche frustriert. Undeutlich kann ich seine Umrisse zwischen den Zweigen erkennen.

»Bitte, lauft nicht wieder davon«, murmelt der Waldelf, bleibt aber, wo er ist. Kluge Entscheidung. »Ich will Euch nichts Böses.«

Dann lass mich in Ruhe!, schreie ich in meinem Kopf und blecke die Zähne. Wie viel deutlicher muss ich denn noch werden, damit er sich verzieht? Hat es nicht gereicht, dass ich davongelaufen bin?

Mit gerunzelter Stirn schaut er zu mir hinab und stößt ein Seufzen aus. »Ihr seid weit entfernt von Eisenfels. Lasst mich Euch wenigstens sicher zurückbringen, ehe die Sonne aufgeht.«

Als er die Hand nach mir ausstreckt, weiche ich einen Schritt zurück und er lässt sie sofort sinken.

»Die Nacht ist bald vorüber«, sagt er. »Ich will nur, dass Ihr sicher nach Hause gelangt. Wenn Ihr mich dann nicht mehr sehen wollt, werde ich gehen.«

Ich mustere aufmerksam sein Gesicht, auch wenn es mir Kopfschmerzen bereitet, seine verschwommene Gestalt zwischen den Blättern ausmachen zu wollen. Gerade wenn ich das Gefühl habe, ihn deutlich zu sehen, verschmilzt er wieder mit seiner Umgebung, als wäre er nichts weiter als ein Schatten zwischen den Bäumen.

Sein Angebot, mich in Ruhe zu lassen, nachdem der Tag angebrochen ist, klingt durchaus verlockend, allerdings glaube ich ihm kein Wort. Auch wenn er von uns beiden nicht das Mondkind ist, scheint er sich auf eine mir unverständliche Art und Weise zu mir hingezogen zu fühlen. Er wird sich nicht von mir fernhalten, ganz egal, was er mir gerade verspricht.

Als könnte er meine Gedanken lesen, lässt er den Kopf hängen. »Was kann ich tun, damit Ihr mir glaubt? Oder mir zumindest zuhört?«

Nichts, grolle ich in Gedanken und kämpfe das ungewohnte Mitgefühl nieder, das sich bei seinem Anblick in mir ausbreiten will. Damit will ich gar nicht erst anfangen! Ich will überhaupt nichts fühlen, wenn ich ihn ansehe.

Schnell weiche ich einen weiteren Schritt zurück und wende den Blick ab. Wenn ich ihn nicht anschaue, ist es leichter zu ertragen, in seiner Nähe zu sein.

»Es liegt mir fern, Euch zu belästigen, das müsst Ihr mir glauben!«

Geh weg!, zischt die Stimme in meinem Kopf. Komm mir nicht zu nahe! Ich sollte schleunigst verschwinden, aber ich habe keine Ahnung, wohin ich mich wenden soll. Was, wenn ich den Weg nach Hause nicht mehr finde und mich mitten im Wald zurückverwandele? Nackt, frierend und unbewaffnet würde ich den Tag vermutlich nicht unbeschadet überstehen.

Mein Blick huscht unstet umher, während ich fieberhaft nach einer Lösung suche. Bei dem Glück, das ich in letzter Zeit habe, verlaufe ich mich so sehr, dass ich mich in einem fremden Gebiet wiederfinde. In dem der Dunkelelfen zum Beispiel, die trotz Vaans Gefährtin alles andere als gut auf uns Menschen zu sprechen sind.

Ich war schon einmal eine Geisel der Elfen und kann mich noch gut an den Käfig erinnern, in dem sie mich gefangen gehalten haben, um auch meine andere Seite unter Kontrolle zu halten. Mein Wunsch, das zu wiederholen, ist nicht vorhanden.

Aber das würde bedeuten, dass ich dem Waldelf vor mir zumindest soweit vertrauen muss, dass er mich sicher zurück nach Eisenfels bringt. Kann ich das? Kann ich den Rest der Nacht und vermutlich einen Teil des Tages in seiner direkten Nähe verbringen, ohne vollends den Verstand zu verlieren?

Mit langsamen Schritten kommt er auf mich zu und ich unterdrücke den Drang, zu flüchten. Stattdessen ducke ich mich und spanne meine Muskeln an, jederzeit bereit, ihn anzuspringen, wenn er versuchen sollte, mir zu schaden. Mit einem tiefen Grollen und peitschendem Schwanz mache ich deutlich, dass er mir lieber nicht zu nahe kommen soll, doch er lässt sich davon nicht beeindrucken. Mit einem mulmigen Gefühl schaue ich zu, wie er direkt vor mir in die Hocke geht, sodass unsere Augen auf einer Höhe sind.

Als unsere Blicke sich kreuzen und ich seinen Geruch wahrnehme – eine Mischung aus Wald, Moos und Wärme –, explodiert etwas in mir, das mir die Luft zum Atmen raubt. Mein Herz setzt mehrere Schläge aus und die Welt um mich herum scheint zum Stillstand zu kommen.

Nein, das stimmt nicht. Sie ist nicht zum Stillstand gekommen, vielmehr fühlt es sich so an, als verschiebe sie sich, rücke sich zurecht und als sähe ich zum ersten Mal in meinem Leben alles so, wie es wirklich ist. Der dunkle Schleier, der ständig über mir hing, wird weggezogen und macht gleißendem Licht Platz.

Überwältigt von den verschiedenen Emotionen, die in mir toben, schnappe ich nach Luft und auch mein Herz beginnt wieder zu schlagen. Ungleichmäßig und viel zu schnell, als müsste es sich erst an die neuen Empfindungen gewöhnen. Ich sehe Dinge, die mir vorher nie aufgefallen sind: seine feingliedrigen Finger zum Beispiel oder das Funkeln in seinen Augen, die so grün sind wie frisch gewachsenes Gras.

Als der Waldelf mir zaghaft zulächelt, braut sich in meiner Kehle ein Schnurren zusammen.

Was zum …

Ich schüttele heftig den Kopf, um wieder zu Verstand zu kommen. Was, bei allen Göttern, geht hier vor? Ist das … der Fluch? Trübt er meine Wahrnehmung bereits jetzt so sehr, obwohl ich dem Waldelf bisher aus dem Weg gegangen bin?

Eilig weiche ich vor ihm zurück, bis ich mich außerhalb seiner Reichweite befinde. Ich muss hier weg, und zwar sofort, bevor es noch schlimmer wird!

Meine Pfoten finden auf den feuchten Blättern kaum Halt, als ich herumwirbele, um im Dickicht zu verschwinden. Auf einmal ist es mir egal, dass ich den Dunkelelfen begegnen könnte – ich halte es keine Sekunde länger hier aus. Verängstigt durch die neuen Gefühle, die mich schier zerreißen, will ich einfach nur Abstand von allem, was sie auslöst.

Es ging mir gut, als ich ihn nicht kannte, und ich kam zurecht, als ich mich von ihm fernhielt. Aber hier, nahe bei ihm, verliere ich die Kontrolle über alles, was mir wichtig ist. Auch wenn es mir zuwider ist, bleibt mir nur die Flucht – kopflos und unrühmlich, aber allemal besser als die Alternative.

Hinter mir höre ich sein Rufen, sein Flehen, dass ich stehen bleiben soll, doch seine Worte treiben mich noch mehr an. Ich schlittere zwischen den Bäumen entlang, schaue weder nach links noch nach rechts, sondern renne einfach weiter.

Das vom tauenden Schnee nasse Gras streift meinen Bauch, als ich weiterhaste. Immer wieder werfe ich einen Blick über die Schulter, doch vom Waldelf ist nichts zu sehen. Hier auf der freien Ebene hat er nicht viele Möglichkeiten, sich zu verbergen, also beschließe ich hierzubleiben.

Ich schaue nach oben. Am Horizont färbt der Nachthimmel sich bereits rot. Es wird nicht mehr lange dauern, bis der neue Tag anbricht. Ich werde mich verwandeln und frieren. Ob mich hier jemand findet? Ich weiß nicht einmal, ob ich mich noch in unserem Königreich befinde oder ob ich die Grenzen zum Elfenreich bereits überschritten habe.

Ich habe keine fünf Meter geschafft, als ich ein Ziehen in meinen Gliedmaßen spüre. Der Himmel über mir wird immer heller und meine Rückverwandlung steht kurz bevor. Normalerweise kann ich meine Wandlung bis zu einem gewissen Grad kontrollieren, dank des jahrelangen Trainings durch meine Mutter, aber die Begegnungen mit dem Waldelf haben mich so aufgewühlt, dass ich gar nichts mehr zustande bringe. Ich bin froh, dass ich noch eine Pfote vor die andere setzen kann.

Die Aussicht, mich hier draußen zu verwandeln, lässt mich noch mehr in Panik geraten, bis ich hektisch über eine Wiese renne, ohne etwas um mich herum wahrzunehmen.

Bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht hier, denke ich immer wieder, doch es ist sinnlos. Ich verliere den Halt, als sich mein Körper verkrampft, und schlage der Länge nach ins Gras. Meine Krallen graben sich in die weiche Erde und ich versuche mich wieder hochzustemmen, um wenigstens einen geschützten Ort zu finden, aber ich habe keine Kraft mehr. Ich krümme mich zusammen, als eine Schmerzwelle nach der anderen durch mich hindurchrauscht. Das Knacken meiner Wirbelsäule und die damit verbundene Pein pressen mir die Luft aus den Lungen.

Ich versuche ruhig liegen zu bleiben, bis es vorbei ist. Es bringt nichts, mich dagegen zu wehren, dadurch wird es nur noch schlimmer. Statt auf die Schmerzen konzentriere ich mich auf meine Atmung, wie ich es von meiner Mutter gelernt habe. Ein Pulsieren in meiner Brust macht meine Konzentration jedoch zunichte. Mit letzter Kraft hebe ich den Kopf und schaue in das Gesicht des Waldelfs, der neben mir kniet und mich besorgt mustert.

»Habt Ihr Schmerzen? Kann ich irgendwas für Euch tun?«, fragt er.

Ich bäume mich auf, um seiner Hand, die er nach mir ausgestreckt hat, zu entkommen. »Geh … weg!«, würge ich hervor. Es ist eine Mischung aus Schreien, Fauchen und Keuchen und ich habe keine Ahnung, ob er mich verstanden hat. Die Laute, die ich von mir gebe, sind alles andere als menschlich.

Mit letzter Kraft robbe ich von ihm weg, bringe so viel Abstand zwischen uns wie möglich. Dunkle Wolken vernebeln meinen Verstand und das Einzige, was ich fühle, ist Schmerz.

Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir eine Verwandlung je so wehgetan hat. Sogar die in meiner Jugend waren nur ein schwacher Abklatsch dessen, was ich gerade durchmache. Anstatt dass sich mein Körper auf einmal wandelt, fühlt es sich an, als würde jeder Knochen einzeln brechen und sich mühsam neu anordnen. Selbst die langen Eckzähne, die sich zurück in meinen Kiefer schieben, schicken einen gleißenden Schmerz durch meinen Kopf, der mich Sterne sehen lässt.

Abwechselnd wimmere und kreische ich, winde mich im Gras, um die Qual halbwegs zu dämpfen. Nach und nach blitzt helle Haut zwischen dem schwarzen Fell auf, meine Pfoten werden kleiner, anschließend länglich und wandeln sich zu Händen. Kalter Schweiß rinnt mir in Strömen den Rücken hinunter. Ich krümme mich zitternd zusammen und warte darauf, dass es endlich vorbei ist.

Als die Schmerzen nachlassen, bleibe ich kraftlos im Gras liegen. Vorsichtig hole ich Luft, bereue es jedoch sofort. Der eisige Dunst sticht in meinen Lungen und die Winterkälte kriecht durch meine schutzlose Haut, bis ich unkontrolliert zittere, sodass meine Zähne aufeinanderschlagen.

Etwas Warmes legt sich um meinen Rücken und ich merke, wie ich bewegt werde. Ich will mich wehren, denn ich weiß, dass es nur der Waldelf sein kann, der meine Schwäche ausnutzt, doch die Wärme, die sich von meinem Rücken ausgehend über meinen geschundenen Körper ausbreitet, hält mich davon ab. Das wohlige Gefühl lässt mich aufseufzen und ich rolle mich zusammen wie eine Katze vor dem Kamin. Seine Hände liegen an meiner Schulter und unter meinen Kniekehlen, als er mich anhebt. Ich spitze zwischen halb geöffneten Lidern hindurch und sehe einen Blätterumhang, der mich wie ein Kokon umhüllt.

Aber das, was mich unruhig werden lässt, ist die Tatsache, dass ich auf seinem Schoß sitze. Mit einer Hand reibt er mir über den Rücken, den anderen Arm hat er um mich geschlungen, um mich fest an ihn zu pressen. Seine Körperwärme springt auf mich über, aber ich glaube nicht, dass ich deswegen plötzlich in Flammen stehe.

Sein Geruch, der durch den Umhang und die Nähe überall um mich herum ist, und sein Herzschlag, den ich an seine Brust gepresst hören kann, geben mir den Rest. Obwohl ich mich wehren und fliehen sollte, fühle ich mich sicher und geborgen, als hätte ich nicht eben eine meiner schlimmsten Verwandlungen durchgemacht. Die Schmerzen und die Angst sind vergessen und mit jedem Atemzug, mit jeder kreisenden Bewegung seiner Hand an meinem Rücken, normalisiert sich mein Herzschlag, bis er gleichmäßig mit seinem schlägt.

Es interessiert mich nicht, dass ich praktisch nackt und ihm so nah bin, wie ich es niemals sein wollte. Seit dem Moment vorhin im Wald, als ich ihm zum ersten Mal in die Augen gesehen habe, ist etwas mit mir passiert, was ich nicht erklären kann. Etwas, was ich nie für möglich gehalten hätte. Trotz allem, was ich heute Nacht durchgemacht habe, fühle ich mich … glücklich.

Hartnäckig versucht eine Stimme in meinem Kopf mich davon zu überzeugen, dass das Glück, das ich gerade empfinde, nicht echt ist. Dass keine meiner Gefühle, die ich in seiner Nähe habe, echt sind und es auch nie sein werden. Allein aufgrund des Fluchs fühle ich mich zu ihm hingezogen. Unter normalen Umständen wäre er mir vermutlich nie aufgefallen, da wir aus verschiedenen Völkern stammen. Vermischungen wurden noch nie gern gesehen; das beste Beispiel dafür ist das Halbelfen-Miststück, das sich als Königin aufspielt.

Welch eine Ironie des Schicksals! Anscheinend sucht sich dieses verdammte Band immer genau den Gefährten aus, den man am wenigstens haben will. So ist es auch meinem Bruder ergangen, der sich an eine Halbelfe gebunden hat.

Ich schlage die Augen auf und begegne seinem Blick. Die aufgehende Sonne zaubert helle Strähnen in seinem Haar hervor, die mir vorher nie aufgefallen sind. Ebenso wenig wie seine markanten Gesichtszüge, die untypisch für die feingliedrigen Elfen sind. Am faszinierendsten finde ich aber nach wie vor seine Augen: Das strahlende Grün nimmt mich gefangen und ich ertappe mich dabei, wie ich darin nach anderen Farbschattierungen oder Sprenkeln suche, aber keine finde. Seine Iriden sind so klar und rein, wie ich es noch nie gesehen habe.

Als ich ihn länger als nötig anschaue – nein, begaffe wäre das richtige Wort für das, was ich gerade mache –, ziehen sich seine Augenbrauen besorgt zusammen.

»Ich bringe Euch sofort nach Hause«, murmelt er, während er versucht aufzustehen. »Das hätte ich gleich tun sollen, aber Ihr saht so …« Er unterbricht sich, um sich zu räuspern. »Ihr wart in keiner guten Verfassung.«

»Nein, es … Die Verwandlung war diesmal schmerzhafter als sonst, aber es geht mir gut, wirklich«, versichere ich ihm und winde mich in seinen Armen.

Der Waldelf hält abrupt inne und setzt meine Beine langsam ab. Erst als er sich sicher ist, dass ich allein stehen kann, nimmt er auch die andere Hand von meinem Rücken. Ich beginne zu frieren und ziehe den Umhang enger um die Schultern, doch die Wärme, die mich eben noch eingehüllt hat, ist verschwunden. Deutlich spüre ich den frostigen Wind, der um meine nackten Beine weht.

Der halbe Meter Abstand zwischen uns kommt mir auf einmal unüberwindbar vor. Ich will, dass er mich wieder berührt, so abwegig dieser Gedanke auch ist. Mein Körper schreit danach, fordert, dass diesmal kein schützender Umhang zwischen uns ist.

Nur seine Haut auf meiner, sonst nichts.

Ich weiß nicht, ob mir meine Gedanken auf der Stirn geschrieben stehen, aber der fassungslose Blick, mit dem er mich bedenkt, lässt mich unruhig werden. »W-Was?«, grolle ich.

»Ich … Es ist nur so, dass … Ich glaube, das war das erste Mal, dass Ihr einen halbwegs zusammenhängenden Satz zu mir gesagt habt.«

Seine Antwort lässt mich blinzeln und ich gehe im Kopf unsere Begegnungen durch. Na ja, als Begegnungen kann ich es nicht bezeichnen, denn es stimmt: Bisher bin ich ihm nur ausgewichen und habe Vorwände gesucht, um ihm nicht über den Weg laufen zu müssen. Eine Unterhaltung haben wir noch nie geführt und sind auch jetzt weit davon entfernt.

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, also schweige ich und kralle die Finger in den Umhang, um meine Hände daran zu hindern, sich nach ihm auszustrecken. Mein Innerstes ist ein wilder Strudel an Gefühlen, die ich nicht einordnen kann und über die ich keine Gewalt habe.

»Lasst mich Euch nach Hause bringen, bevor Ihr Euch hier draußen erkältet«, bittet er.

Ich schüttele den Kopf. »Ich erkälte mich nicht. Ich kann nicht krank werden. Aber … ich würde gern nach Hause.«