Der Autor
© Stefan Sämmer
Matthias Schnettger wurde nach dem Studium der Mittleren und Neueren Geschichte sowie der Politikwissenschaften 1994 in Münster zum Dr. phil. promoviert. Von 1995 bis 2005 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Geschichte Mainz. 2004 habilitierte er sich an der Goethe-Universität Frankfurt. Nach einer einjährigen Gastdozentur am Deutschen Historischen Institut in Rom wurde er 2006 als Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an die Johannes Gutenberg-Universität Mainz berufen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören das Heilige Römische Reich deutscher Nation, die mindermächtigen Fürstentümer und Republiken Italiens sowie die transalpinen Beziehungen und Austauschprozesse in der Frühen Neuzeit.
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.
Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.
Umschlagbild: Quaterionenadler, kolorierte Darstellung von Jost de Negker beruhend auf einer Darstellung von Hans Burgkmair dem Älteren, 1510, Wiki Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Quaterionenadler_David_de_Neg ker.jpg [abgerufen am 24.02.2020].
1. Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-031350-7
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-031351-4
epub: ISBN 978-3-17-031352-1
mobi: ISBN 978-3-17-031353-8
Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.
Die Geschichte des frühneuzeitlichen Reichs und seiner Verfassung ist seit mehr als einem halben Jahrhundert ein bevorzugtes Thema der deutschen Frühneuzeitforschung und hat in jüngerer Zeit auch auf internationaler Ebene größeres Interesse gefunden. An Spezialstudien, aber auch an Synthesen unterschiedlichen Zuschnitts herrscht kein Mangel. Warum also noch eine Reichsgeschichte?
Der Auslöser für die Entstehung dieses Buchs war eine entsprechende Anfrage des Kohlhammer Verlags im September 2015. Nun muss und kann man nicht jedes Publikationsprojekt, das an einen herangetragen wird, realisieren – mit dieser Anfrage rannte der Verlag aber offene Türen bei mir ein. Die Verfassungsgeschichte des frühneuzeitlichen Reichs hat mich seit meiner Magisterarbeit und meiner Dissertation, eigentlich schon seit dem ersten von mir besuchten Hauptseminar, beschäftigt und seitdem nicht wieder losgelassen. In unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen Fragestellungen habe ich mich diesem vielschichtigen, komplexen und auch unter historiographiegeschichtlichen Aspekten äußerst lohnenswerten Forschungsfeld gewidmet. Auch in meiner universitären Lehre hat die Reichsgeschichte stets eine wichtige Rolle gespielt – nicht zufällig hatte meine allererste Vorlesung die Reichsverfassung zum Gegenstand. Diese – mehrfach umgebaute, ergänzte und aktualisierte – Vorlesung bildet auch die Basis dieses Buchs.
Vom ersten Konzept bis zur Realisierung des Bandes sind etwa fünf Jahre ins Land gegangen. In dieser Zeit habe ich meine Vorlesung erneut überarbeitet und das Resultat im Wintersemester 2017/18 den Mainzer Studierenden präsentiert. Die Glättung verbliebener Unebenheiten, der Ausgleich einiger Unwuchten und die Verschriftlichung des Vorlesungsstoffs haben weitere Zeit gekostet. Es folgte die erneute Überarbeitung, bei der mich mein Mainzer Team mit konstruktiver Kritik tatkräftig unterstützt hat. Ich danke insbesondere Sebastian Becker, Bettina Braun, Ulrich Hausmann und Juliane Märker, die das Manuskript vollständig oder in Teilen gelesen haben, sowie Christian Zimmermann, der mich bei der Erstellung der Karten unterstützt hat.
Daniel Kuhn, Peter Kritzinger und Charlotte Kempf vom Kohlhammer Verlag haben das Publikationsprojekt mit Geduld und Entgegenkommen begleitet. Auch ihnen sei hierfür herzlich gedankt.
Als Ergebnis dieses immer wieder durch andere Verpflichtungen unterbrochenen Arbeitsprozesses liegt nun eine Geschichte des Heiligen Römischen Reichs vom ausgehenden 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert vor, die die Inhalte einer klassischen Verfassungsgeschichte abdeckt, davon ausgehend aber zugleich neuere, insbesondere sozial- und kulturgeschichtliche Zugänge berücksichtigt. Stärker als das sonst bisweilen geschieht, sollen die Ergebnisse dieser unterschiedlichen Zugänge berücksichtigt und miteinander verknüpft werden. Neben »klassischen« Themen der Reichsverfassungsgeschichte werden zusätzlich sonst eher vernachlässigte Themenfelder dargestellt. Dabei werden aktuelle Forschungstrends wie die Untersuchung des Reichs als Kommunikationsraum, Mikropolitik im Reich oder die Frage nach »Reichseliten« aufgegriffen. Ein Unterschied zu manchen anderen Darstellungen zur Verfassungsgeschichte des frühneuzeitlichen Reichs ist, dass in Übereinstimmung mit aktuellen Forschungen, bspw. zum Reichshofrat und dem Reichslehnswesen, dem Kaiser und den mit ihm verbundenen Institutionen größere Aufmerksamkeit gewidmet wird. Außerdem geht es darum, Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Handlungsebenen im Reich exemplarisch zu verdeutlichen und zu zeigen, dass das Reich auch »vor Ort« präsent war und eine beachtliche Bedeutung für die »einfachen Menschen« erlangen konnte. Zu den Spezifika des Bandes zählt schließlich eine stärkere Berücksichtigung der Peripherien des Reichs.
Der Band soll auch einem Lesepublikum, das mit diesem Gegenstand bislang nicht näher vertraut ist, Zugänge zum frühneuzeitlichen Reich und seiner Verfassung eröffnen. Verfassung wird in diesem Band nicht verstanden im Sinne einer modernen, auf klaren rechtlichen Normen fußenden schriftlichen Verfassung, sondern im frühneuzeitlichen Sinne einer Verfasstheit, als Zustand eines Gemeinwesens unter Berücksichtigung schriftlicher Normen, aber auch konkreter politischer Praktiken und Vorstellungen von der rechten Ordnung des Reichs, wie sie in Ritualen und im Zeremoniell zum Ausdruck kamen und immer wieder neu ausgehandelt bzw. bekräftigt wurden.
Die Darstellung beginnt nach einem Kurzporträt des spätmittelalterlichen Reichs mit einer Vorstellung des Kaisers und der Reichsstände, die in der Diktion der Zeitgenossen als »Haupt und Glieder« die Träger des frühneuzeitlichen Reichs waren, sowie mit einem Überblick über die Strukturen des Reichstags als des zentralen Forums der politischen Aushandlung und Entscheidung am Beginn der Neuzeit ( Kap. 1). Dieser Abschnitt legt gewissermaßen das Fundament für die anschließende chronologische Darstellung: Kapitel 2–6 zeichnen mit unterschiedlichen Akzentuierungen die großen Linien der Reichspolitik nach, wie sie sich im Rahmen der Interaktionen zwischen Kaiser und Reichsständen vom späten 15. bis zum frühen 19. Jahrhundert entfaltete. Es folgt ein systematischer Teil, der Institutionen und Strukturen, Akteure und Praktiken des Reichs vorstellt, die im Verlauf der chronologischen Darstellung durchaus Berücksichtigung gefunden haben, nun aber vertiefend betrachtet werden ( Kap. 7–9). Dadurch sollen die Vielschichtigkeit und die unterschiedlichen Ebenen der Reichsverfassung annäherungsweise abgebildet werden. Die einzelnen Kapitel sind in sich schlüssig, bieten aber manche Querverbindungen und ergänzen einander – so die Hoffnung des Autors – zu einem Gesamtbild. Die Darstellung wird abgerundet durch ein Kapitel zur Sicht der Zeitgenossen und der modernen Geschichtswissenschaft auf das Reich ( Kap. 10) sowie ein kurzes Fazit. Der leichteren Orientierung dienen die Karten und die Register im Anhang. Die knappe Auswahlbibliographie soll Pfade durch den kaum mehr zu überblickenden Literaturwald bahnen und eine vertiefende Lektüre anregen. Demselben Zweck dient auch der schlank gehaltene Anmerkungsapparat, der sich neben dem Nachweis von Zitaten im Wesentlichen auf gezielte Hinweise auf die Spezialliteratur beschränkt. Nur im Ausnahmefall wurde im Einzelnen auf die jeweils relevanten Kapitel in allgemeinen (Verfassungs-)Geschichten des frühneuzeitlichen Reichs verwiesen, die vielmehr an dieser Stelle ein für alle Mal genannt seien. Fundierte Basisinformationen bieten etwa Axel Gotthard, Peter Claus Hartmann, Helmut Neuhaus und Barbara Stollberg-Rilinger sowie – stärker systematisch aufgebaut – das Lesebuch Altes Reich und die Essays im Katalog zur großen Reichausstellung von 2006.1 Für eine vertiefende, ergänzende Lektüre mögen die Werke von Heinz Duchhardt, Georg Schmidt und Joachim Whaley sowie die entsprechenden Bände des Gebhardt nützlich sein.2 Für die Zeit nach 1648 – sei zudem auf die monumentale Darstellung von Karl Otmar von Aretin verwiesen.3 Besondere Perspektiven auf die Reichsgeschichte bieten die von Anton Schindling und Walter Ziegler herausgegebene Sammelbiographie der Kaiser und die dezidiert kulturgeschichtliche Gesamtdarstellung Barbara Stollberg-Rilingers.4
Wenn der Band bei der einen Leserin oder dem anderen Leser das Interesse an einer intensiveren Beschäftigung mit dem frühneuzeitlichen Reich wecken sollte, hätte er sein Ziel erreicht.
Mainz, im August 2020
Matthias Schnettger
Wenn man eine Geschichte des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation um 1500 beginnen lässt, befindet man sich im Einklang mit der gängigen Epocheneinteilung und mit vielen bereits vorliegenden Reichsgeschichten. Jenseits aller Konventionen sprechen gewichtige sachliche Gründe für diese Entscheidung. Denn in den Jahrzehnten um 1500 erlebte das Reich eine Phase grundlegender Transformationen und Neuformierungen – Prozesse, die es im Folgenden näher zu betrachten gilt. Zugleich aber können die vorangegangenen Perioden der Geschichte des damals immerhin schon siebenhundertjährigen Reichs nicht gänzlich ausgeblendet werden, denn trotz aller Veränderungen lassen sich doch auch eine Reihe von Kontinuitäten zu den Jahrhunderten des Spätmittelalters beobachten. Immer noch war das Reich dem Anspruch nach die Fortsetzung des Römischen Kaisertums, das gemäß der Theorie der Translatio Imperii unter Karl dem Großen im Jahr 800 auf die Franken übergegangen war und seit der Kaiserkrönung Ottos I., des Großen, 962 mit dem deutschen Königtum verknüpft war. Die hochmittelalterliche Trias der drei Regna Deutsches Reich, Italien und Burgund/Arelat, die zusammen das Reich bildeten, bestand zwar de facto nicht mehr – die letzte burgundische Königskrönung hatte 1365 stattgefunden, und der Großteil des Arelats war längst unter französische Herrschaft geraten. Aber immer noch führte der deutsche König den Titel »Römischer König« und hielt an seinem Anspruch auf Italien und das Kaisertum fest. Dieser Anspruch manifestierte sich am deutlichsten bei den Romzügen der Könige, denn üblicherweise wurden sie nicht nur in Rom durch den Papst zum Kaiser, sondern auch in Mailand oder Pavia mit der Eisernen Krone der Langobarden gekrönt. Die Divergenzen zwischen den hehren Ansprüchen und den begrenzten finanziellen, personellen und militärischen Ressourcen des Reichsoberhaupts waren jedoch erheblich. Insbesondere an den Peripherien des Reichs, wie eben in Italien, aber auch in den Grenzgebieten zu Frankreich, war der Autoritätsverlust des Römischen Königs bzw. Kaisers evident. Anders als etwa in England und Frankreich bildete sich zudem im deutschen Reichsteil keine starke monarchische Zentralgewalt heraus. Der Institutionalisierungsgrad auf Reichsebene blieb gering.1
Kennzeichnend und folgenreich für die Entwicklung des Reichs im Spätmittelalter war ein forcierter Territorialisierungsprozess. Der Konzentration von Herrschaftsrechten in den Händen regionaler geistlicher oder weltlicher Großer hatte Kaiser Friedrich II. Vorschub geleistet, als er ihnen in der Confoederatio cum Principibus Ecclesiasticis (1220) bzw. im Statutum in favorem Principum (1231/32) wichtige Regalien überlassen hatte. Nach und nach gelang es einer Reihe von geistlichen und weltlichen Fürsten, die in ihren Händen gebündelten Herrschaftsrechte zum Aufbau von mehr oder weniger ausgedehnten Landesherrschaften zu verdichten, konkurrierende Herrschaftsträger dagegen zurückzudrängen oder auszuschalten. Dabei handelte es sich um einen langwierigen Prozess, der bis zum Beginn der Frühen Neuzeit zwar schon weit vorangeschritten war, aber in manchen Gegenden erst nach dem Ende des Alten Reichs zum Abschluss gebracht wurde. Historische Karten vermitteln einen guten Überblick über die Vielgestaltigkeit und Kleinteiligkeit der deutschen Territorienlandschaft seit dem ausgehenden Mittelalter. Gleichzeitig suggerieren sie eine Abgeschlossenheit von Territorien und eine Eindeutigkeit von Grenzen, die so in den allermeisten Fällen nicht gegeben waren. Der weiter voranschreitende Territorialisierungsprozess ist ein Element, das auch noch die frühneuzeitliche Reichsgeschichte wesentlich prägte.
Der Mediävist und Landeshistoriker Peter Moraw hat durch seine Forschungen die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass die Regionen des Reichs verschiedene Profile entwickelten und in unterschiedlicher Weise in das Reich als Kommunikations- und Handlungsraum eingebunden waren.2 Eine Sonderrolle nahmen nach Moraw die Stammlande des jeweiligen Königs bzw. Kaisers ein, da er dort die landesherrlichen und die königlich-kaiserlichen Rechte in seiner Hand bündelte. Insofern bildeten die Stammlande zweifellos einen Nukleus der königlichen bzw. kaiserlichen Herrschaft im Reich. Andererseits konnten sie auch ein Eigenleben entwickeln, sich vom Rest des Reichs entfernen, insbesondere dann, wenn sie, wie die Stammlande der Luxemburger oder der Habsburger, eine beträchtliche Größe und territoriale Geschlossenheit erreichten und zudem geographisch an der Peripherie des Reichs lagen. Eine herausgehobene Stellung hatten – so Moraw – ebenfalls die Lande der Kurfürsten, der Königswähler, inne. Auch hier war der Territorialisierungsprozess vergleichsweise weit fortgeschritten. Zugleich aber waren v. a. die Herrschaftsgebiete der rheinischen Kurfürsten, der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier sowie des Pfalzgrafen bei Rhein, eng in die Kommunikationsstrukturen des Reichs eingebunden.
Während man die kaiserlichen und kurfürstlichen Lande recht genau zuordnen kann, ist die Trennschärfe bei den anderen Kategorien Moraws, den königsnahen, königsoffenen und königsfernen Regionen, weniger eindeutig. Das gilt umso mehr, als der Grad der Einbindung einzelner Regionen in den Handlungsraum Reich sich im Lauf der Zeit ändern konnte. Dennoch sind diese heuristischen Begriffe nützlich, um zum Ausdruck zu bringen, dass es königsnahe Gebiete gab, in denen der König, wie in Schwaben, in Franken und am Oberrhein, vergleichsweise große Handlungsspielräume besaß, auch immer wieder physische Präsenz zeigte, königsoffene Gebiete, in denen das Reichsoberhaupt zumindest von Fall zu Fall mit Erfolg intervenierte, wie am Niederrhein und in Westfalen, und königsferne Gebiete, in denen der König kaum je Präsenz zeigte und nur gelegentlich einzugreifen vermochte, wie in Norddeutschland, den Niederlanden oder Italien. Für den Frühneuzeithistoriker sind die von Moraw gebildeten Kategorien v. a. deswegen interessant, weil sie sich auch als nützlich erwiesen haben, um das frühneuzeitliche Reich zu erfassen. Allerdings spricht man für die Frühe Neuzeit üblicherweise von reichsnahen bzw. -fernen Regionen und berücksichtigt damit die Beziehungen nicht nur zum Oberhaupt, sondern auch zu anderen Institutionen des Reichs. Außerdem lassen sich einige Traditionslinien von den regionalen mittelalterlichen Kommunikationsräumen zu den frühneuzeitlichen Reichskreisen erkennen.
Trotz seiner begrenzten Machtfülle war der König bzw. der Kaiser ein zentraler, wenn nicht der zentrale Akteur des Reichs. Das deutsche Königtum war eine Wahlmonarchie. Doch anders als im Zeitalter der »springenden Wahlen« im späten 13. und frühen 14. Jahrhundert, als die Kurfürsten Männer aus unterschiedlichen Dynastien gewählt hatten, um ein übermächtiges Königtum zu verhindern, entwickelten sich seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts dynastische Verfestigungstendenzen in den Häusern Luxemburg und Habsburg. Ohne dass das Wahlprinzip aufgegeben wurde, wurden seit 1346/47 mit der einzigen Ausnahme Ruprechts von der Pfalz (1400) nur noch Angehörige dieser beiden Familien gewählt. Denn nur diese verfügten angesichts des weitgehenden Verlustes des früheren Reichsgutes über die nötige Hausmacht, um die Last der Krone zu tragen und um ein Mindestmaß an königlicher Autorität aufrechtzuerhalten. Zumal der Luxemburger Karl IV. erlangte zeitweise eine hegemoniale Stellung im Reich. Anders aber als im Zeitalter der Ottonen, Salier und Staufer lag die Machtbasis der spätmittelalterlichen Reichsoberhäupter im äußersten Osten des Reichs, in den Ländern der Böhmischen Krone bzw. der österreichischen Ländergruppe. Man kann daher von einem Randkönigtum sprechen, das von der Peripherie aus das Reich zu regieren versuchte.3
Der Herrschertitel »Römischer König« signalisierte die Anwartschaft der deutschen Könige auf die Kaiserkrone. Im 14. und 15. Jahrhundert erlangten immerhin fünf von ihnen in Rom die höchste weltliche Würde der Christenheit. Die Kehrseite der Medaille dieser Verbindung von deutscher Königs- und Römischer Kaiserkrone war, dass der Papst als derjenige, der nach eigenem Selbstverständnis die Kaiserkrone zu vergeben hatte, bei der deutschen Königswahl ein Approbationsrecht beanspruchte. Dieser Anspruch wurde jedoch von den Kurfürsten regelmäßig zurückgewiesen.
Eine zentrale Bedeutung für die Wahl des Römischen Königs besaß die nach dem anhängenden kaiserlichen Goldsiegel benannte Goldene Bulle von 1356, ein umfangreiches Privileg Karls IV., das zu den Grundgesetzen des Reichs gezählt wurde und seine Verfassung dauerhaft prägte. Die Goldene Bulle fixierte nicht nur eindeutig den Kreis der sieben Königswähler – die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln, der König von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg –, sondern traf durch die Festlegung der Primogeniturerbfolge in den weltlichen Kurfürstentümern Vorsorge dafür, dass es in Zukunft keine Unklarheiten über den Kreis der Wahlberechtigten geben sollte. Die Übertragung wertvoller Regalien und das Zugeständnis einer stärkeren Beteiligung an der Reichsregierung sowie beachtlicher zeremonieller Prärogativen sicherten den Kurfürsten eine Sonderstellung unter den Fürsten des Reichs. Diese Sonderstellung trat augenfällig bei der Königswahl und -krönung hervor, wenn die drei Erzbischöfe die Königssalbung und -krönung vollzogen und die weltlichen Kurfürsten beim anschließenden Krönungsmahl ihre Erzämter als Erzschenk (König von Böhmen), Erztruchsess (Pfalzgraf bei Rhein), Erzmarschall (Herzog von Sachsen) bzw. Erzkämmerer (Markgraf von Brandenburg) ausübten. Die geistlichen Kurfürsten führten demgegenüber den Titel von Reichserzkanzlern. Während das kurtrierische und das kurkölnische Erzkanzleramt per Galliam bzw. per Italiam an Bedeutung verloren, weil der Kaiserhof sich nicht mehr in den Gebieten ihrer Zuständigkeit aufhielt, gewann das Erzkanzleramt per Germaniam ein erhebliches Gewicht und sicherte dem Mainzer Kurfürsten in der Neuzeit großen Einfluss etwa auf die Reichshofkanzlei, auf den Reichstag oder auf die höchsten Reichsgerichte, um hier nur wenige Beispiele zu nennen.4
Eine herausgehobene Stellung unter den weltlichen Kurfürsten gewährte die Goldene Bulle dem Pfalzgrafen bei Rhein und dem Herzog von Sachsen, denen gemeinsam das Reichsvikariat während einer Thronvakanz zugesprochen wurde.5 Abgesehen vom Römischen König war der böhmische König das einzige gekrönte Haupt im Reich und der ranghöchste weltliche Kurfürst, doch bis zur sog. Readmission der böhmischen Kur (1708) nahm er nur an Wahltagen teil, war aber nicht auf dem Reichstag und auch nicht auf nichtwählenden Kurfürstentagen vertreten (s. S. 304–306).6
Infolge der Begünstigung der Kurfürsten durch die Goldene Bulle sahen sich einige Fürsten des Reichs benachteiligt, die sich an Vornehmheit den Königswählern ebenbürtig fühlten. Am folgenreichsten war die Reaktion Herzog Rudolphs IV., des Stifters, von Österreich, der für das Haus Habsburg in dem gefälschten Privilegium maius (1358/59) umfangreiche Sonderrechte beanspruchte. Beeinträchtigt wurde durch
Abb. 1: Der Kaiser und die Kurfürsten. Kupferstich im Erstdruck der Constitutio Criminalis Carolina, Mainz 1533.
die Goldene Bulle aber auch der Papst, dessen Anspruch auf Approbation des Römischen Königs unerwähnt blieb und damit implizit zurückgewiesen wurde.
Die skizzierten Entwicklungen führten dazu, dass die Macht und der Einfluss des Römischen Königs inner- und außerhalb des Reichs schwanden. Nichtsdestotrotz hielten die Reichsoberhäupter an ihrem Anspruch auf die Römische Kaiserwürde fest. D. h., sie betrachteten sich als das weltliche Oberhaupt der Christenheit, das gemeinsam mit dem Papst an der Spitze der Hierarchie der christlichen Fürsten stand, und in diesem Sinne als Universalmonarch. Diese Anschauung stand im Einklang mit der Vier-Reiche-Lehre, die in der Spätantike mit Bezug auf das alttestamentliche Buch Daniel entstand und der zufolge das Römische Reich das letzte der vier Universalreiche sei und bis zur Wiederkunft Christi fortbestehen müsse. Indem die Vier-Reiche-Lehre dem Römischen Reich einen festen Platz in der christlichen Heilsgeschichte zuwies, wurden die Vorstellungen von Reich und Kaiseramt in hohem Maß eschatologisch aufgeladen.
Die mit dem Römischen Kaiseramt verknüpften Schutz- und Ordnungsfunktionen blieben dagegen ebenso vage wie die territoriale Basis, auf die es sich bezog. Die Offenheit des Kaiser- sowie des Reichsbegriffs wird im Lateinischen sowie in modernen romanischen Sprachen wie dem Italienischen deutlich: Der Quellenbegriff »Imperium« bzw. »Impero« kann sowohl »Kaisertum«/»kaiserliche Regierung« als auch »Reich« bedeuten.
Eine weitere Bedeutungsebene von »Reich«, neben der des Römischen Universalreichs, ist die des Lehnsreichs, also aller Gebiete, die eine feudalrechtlich begründete Oberherrschaft des Kaisers anerkannten. Dieser Reichsbegriff war weniger umfassend als der des Römischen Universalreichs, schloss aber neben dem deutschen Reichsteil große Teile Ober- und Mittelitaliens ein. Ob ein konkretes Gebiet in einer feudalen Abhängigkeit vom Kaiser stand, konnte allerdings, wie im Fall von Florenz oder Genua, durchaus umstritten sein.
Schließlich wurde der Reichsbegriff immer häufiger primär oder ausschließlich auf das Reich der Deutschen bezogen. Diese Tendenz verstärkte sich mit dem institutionellen Entwicklungsschub im deutschen Reichsteil in den Jahrzehnten um 1500. Er führte zur Herausbildung eines sich verdichtenden Handlungsraums, der im Wesentlichen den Kaiser und die auf dem Reichstag vertretenen Fürsten und Stände umfasste. In diesem Zusammenhang wird in der Forschung auch von »Reichstags-Deutschland« gesprochen. Die institutionellen Verdichtungsprozesse gingen einher mit einer protonationalen Identitätsbildung, die die Tendenz zu einer Verengung des Reichsbegriffs auf das Reich der Deutschen verstärkte.
Doch auch wenn die Bedeutungsebene »Deutsches Reich« immer mehr an Bedeutung gewann, heißt das nicht, dass die Dimensionen »Universalreich« und »Lehnsreich« verschwanden. Die unterschiedlichen Bedeutungsebenen existierten vielmehr bis zum Ende der Neuzeit nebeneinander bzw. ineinander verschränkt fort, sodass unter angemessener Beachtung der jeweiligen Kontexte von Fall zu Fall entschieden werden muss, was in einer Quelle mit »Reich« gemeint ist.7
Oft gibt die im konkreten Einzelfall verwendete Terminologie Hinweise auf den Bedeutungsgehalt des Reichsbegriffs. Schon seit der Stauferzeit war die Bezeichnung »Heiliges Römisches Reich« (Sacrum Romanum Imperium) gebräuchlich. Seit dem späten 15. Jahrhundert findet sich in Quellen der spezifizierende Zusatz »deutscher Nation«. Damit konnte Verschiedenes zum Ausdruck gebracht werden: dass es um den deutschen Reichsteil im größeren (Universal- oder Lehns-)Reich ging, dass die Deutschen die Träger des Reichs seien oder dass das Reich mit »Deutschland« identisch sei. Alle diese Bedeutungsebenen sind in den Quellen nachzuvollziehen und werden auch in der Forschungsliteratur vertreten.
Der in der Forschungsliteratur als korrekte, vollständige Bezeichnung des frühneuzeitlichen Reichs firmierende Terminus »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation« ist erstmals im Jahr 1512 nachweisbar. Das bedeutet freilich nicht, dass dieser Begriff sich als offizieller Reichstitel durchgesetzt hätte. Vielmehr fanden stets auch Kurzformeln wie »Heiliges Reich«, »Imperium Romanum« »Teutsches Reich« oder auch nur »Reich« mit ihren spezifischen Konnotationen Verwendung. Festzuhalten ist dabei, dass insbesondere am Kaiserhof großer Wert auf den römischen Charakter des Reichs gelegt wurde, denn darauf stützte sich der Anspruch des Reichsoberhaupts auf Vorrang vor den anderen christlichen Monarchen.
Seit 1438 wurden bis zum Ende des Reichs nur Habsburger (bzw. ab 1745 Habsburg-Lothringer) zu Römischen Königen bzw. Kaisern gewählt, mit der einzigen Ausnahme des bayerischen Wittelsbachers Karl VII. Eine solche dynastische Kontinuität in einer Wahlmonarchie war, wenn man etwa an die polnischen Wasa denkt, im frühneuzeitlichen Europa nicht ungewöhnlich, ist in dieser Ausprägung jedoch singulär und bedarf der Erklärung.8 Neben anderen Faktoren sprach für die Habsburger, v. a. seit der Erwerbung des burgundischen Erbes (1477), ihr deutlicher Machtvorsprung vor allen anderen deutschen Dynastien. Mindestens ebenso wichtig war aber ihre bis in die Zeit Rudolphs I. (1273–1291) zurückreichende königliche bzw. kaiserliche dynastische Tradition, die durch jede neue Wahl eines Habsburgers zum Reichsoberhaupt bekräftigt wurde. Je enger und länger das Kaisertum mit den Habsburgern verbunden war, desto mehr konnte sich das Haus Österreich als die Kaiserdynastie schlechthin stilisieren und zugleich – zumindest partiell – das Kaiseramt nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen so modellieren, dass eben wieder nur ein Habsburger als Kaiser in Frage kam. Zwar wurde immer wieder Kritik am Haus Österreich laut und die Wahl eines Nichthabsburgers erwogen. Tatsächlich umgesetzt wurden solche Pläne aber erst in den 1740er Jahren in einer Ausnahmesituation, als das Haus Habsburg im Mannesstamm erloschen war und die Behauptungsfähigkeit seiner habsburglothringischen Erben fragwürdig erschien. Zum Erfolg des Hauses Österreich trug bei, dass es ihm im Zweifelsfall gelang, sich gegenüber Kurfürsten und Reichsöffentlichkeit als »deutsche« Dynastie zu präsentieren und so bspw. wie 1519 und 1657/58 die französische Konkurrenz aus dem Feld zu schlagen.
Ein weiterer Faktor, der seit der Reformation die Kontinuität des habsburgischen Kaisertums begünstigte, war die dezidierte Katholizität der Dynastie: Da dank der drei rheinischen Erzbischöfeund des habsburgischen Böhmen stets eine altgläubige Mehrheit im Kurkolleg bestand, kam ausschließlich die Wahl eines katholischen Kaisers infrage.9 Abgesehen von den bayerischen Wittelsbachern und den Habsburgern hatten sich alle bedeutenden deutschen Fürstenhäuser der Reformation angeschlossen, sodass es an Alternativkandidaten fehlte. Die habsburgischen Kaiser trugen aber ihrerseits Sorge dafür, eine Hinwendung der geistlichen Kurfürsten zum Protestantismus zu verhindern und so die katholische Mehrheit im Kurkolleg aufrecht zu erhalten.
Die geringe Größe des Kurkollegs erleichterte es den Habsburgern, Einfluss auf die Wahlen zu nehmen. Als ein äußerst wertvolles Instrument erwies sich dabei die Römische Königswahl vivente Imperatore. D. h., dass der regierende Kaiser noch zu seinen Lebzeiten seinen ältesten Sohn oder einen anderen nahen Verwandten zum Nachfolger wählen ließ, wobei er seine eigene Autorität in die Waagschale werfen konnte, um seiner Familie das Kaiseramt für eine weitere Generation zu sichern. Dieses Prinzip wandten die Habsburger 1486 erstmals an, als Maximilian I. zu Lebzeiten Friedrichs III. zum Römischen König gewählt wurde. Im Verlauf der Frühen Neuzeit fanden noch sieben weitere Wahlen vivente Imperatore statt (1531, 1562, 1575, 1636, 1653, 1690 und 1764).10
Das Instrument der Königswahl vivente Imperatore gab es schon im Mittelalter. Neu war dagegen der Titel »Erwählter Römischer Kaiser«, den Maximilian I. 1508 mit päpstlicher Zustimmung in einer feierlichen Zeremonie im Dom von Trient annahm. Damit wurde im Prinzip zunächst nichts anderes zum Ausdruck gebracht, als dass der Römische König durch seine Wahl der designierte Römische Kaiser sei. Eine prinzipielle Abkehr von der traditionellen Kaiserkrönung durch den Papst war damit nicht intendiert. Vielmehr hatte Maximilian genau zu diesem Zweck einen Romzug beabsichtigt, der sich jedoch angesichts der französischen Besetzung des Herzogtums Mailand und der Opposition Venedigs als undurchführbar erwies. Die Zeremonie in Trient, sozusagen auf der Schwelle Italiens, war also ein aus der Not geborener Ersatz für das derzeit unerreichbare eigentliche Ziel.11
Wie häufig in der frühneuzeitlichen Reichsgeschichte erwies sich die Verlegenheitslösung als dauerhaft, ja, geradezu zukunftsweisend: Denn nach der Reformation wäre eine Kaiserkrönung durch den Papst für die evangelischen Kurfürsten und Reichsstände nur schwer erträglich gewesen. Zwar ließ sich Maximilians Enkel Karl V. 1530 vom Papst zum Kaiser krönen, aber er war der letzte römisch-deutsche Kaiser, der diesen Schritt ging. Alle seine Nachfolger, beginnend mit seinem Bruder Ferdinand I., der sich ohne päpstliche Zustimmung 1558, zwei Jahre nach Karls Abdankung, in Frankfurt zum Römischen Kaiser ausrufen ließ, verzichteten auf die nachträgliche Kaiserkrönung durch den Papst. Von nun an fielen die deutsche Königs- und die Kaiserkrönung faktisch zusammen, und jeder Römische König war – entweder gleich nach seiner Wahl oder nach dem Tod seines Vorgängers – ipso facto »Erwählter Römischer Kaiser«. Die päpstlichen Approbationsansprüche wurden nach wie vor von Kaiser und Kurfürsten negiert. Allerdings entsandten die neugewählten Kaiser üblicherweise Obödienzbotschafter nach Rom, die dem Papst die Thronbesteigung des neuen Reichsoberhaupts mitteilten und dessen Gehorsam in Glaubensdingen gegenüber dem Pontifex beteuerten. Was die kaiserliche Seite als Wahlanzeige verstanden wissen wollte, mochte an der Kurie als Bitte um Bestätigung im Amt interpretiert werden. Dadurch wurden die konträren Auffassungen in der Approbationsfrage zwar nicht überbrückt, konnten aber doch mittels Dissimulation camoufliert werden.
Ebenfalls seit dem 16. Jahrhundert verzichtete man auf den tradierten Krönungszug nach Aachen, wie er noch in der Goldenen Bulle vorgesehen war. Der letzte in Aachen gekrönte Römische König war 1531 Ferdinand I. Von nun an fanden die Krönungen üblicherweise am Ort der Wahl statt, also in den meisten Fällen in der Frankfurter Stiftskirche St. Bartholomäus, die somit ab dem 16. Jahrhundert zum »Kaiserdom« avancierte. Charakteristisch für das frühneuzeitliche Rechtsdenken ist, dass man Aachens Vorrecht, die Krönungsstadt des Deutschen Reichs zu sein, formal nicht antastete. Vielmehr wurde dieser Anspruch der Reichsstadt bei den Krönungen, die nicht in Aachen stattfanden, durch einen Revers bestätigt. Faktisch jedoch schwand mit jeder Krönung, die andernorts vollzogen wurde, die Chance auf eine Rückkehr dieser Zeremonie nach Aachen.
Frankfurt profitierte am meisten von der Tendenz, Wahl und Krönung in ein und derselben Stadt zu vollziehen.12 Doch auch Frankfurts Status als Wahl- und Krönungsstadt war nicht ungefährdet. So fand die Wahl Ferdinands I. 1531 in Köln statt, vorgeblich weil eine in Frankfurt grassierende Seuche die Verlegung des Wahltags erforderlich machte, faktisch jedoch, weil Karl V. und die katholischen Kurfürsten Frankfurt
Abb. 2: Reichskrone, 10./11. Jahrhundert, heute in der Schatzkammer, Wiener Hofburg.
für seine zunehmend proreformatorische Politik bestrafen wollten. Im 17. Jahrhundert waren dann v. a. praktische Gründe dafür verantwortlich, dass die Wahlen von 1636, 1653 und 1690 in Regensburg bzw. Augsburg stattfanden. Alle drei Wahlen waren Römische Königswahlen vivente Imperatore, und die Verlegung der Wahl und Krönung erfolgte auf Wunsch des regierenden Kaisers, denn aus der Perspektive der österreichischen Habsburger waren die beiden süddeutschen Reichsstädte geographisch günstiger gelegen als Frankfurt. Dabei fällt die Wahl und Krönung Ferdinands IV. 1653 insofern aus dem Rahmen, als er in Augsburg gewählt, aber sozusagen vor den Augen der Reichstagsöffentlichkeit in Regensburg gekrönt wurde. Während also im Hinblick auf den Ort einer Römischen Königswahl vivente Imperatore ein gewisser Spielraum bestand, wurden alle Wahlen, denen ein Interregnum vorausging, wie von der Goldenen Bulle vorgesehen, in Frankfurt durchgeführt.
Man kann den Verzicht auf die Kaiserkrönung durch den Papst und die Konzentration von Wahl und Krönung an einem Ort als Schritte im Prozess einer Säkularisierung und Rationalisierung des Kaiseramts begreifen. Dabei sollte man jedoch bedenken, dass es sich um eine äußerst langwierige Entwicklung handelte und dass der Kaiser, der in lateinischen Schriftstücken bis zum Ende des Reichs als Sacra Caesarea Maiestas tituliert und durch das Zeremoniell überhöht wurde, dauerhaft eine sakrale Aura bewahrte. Der Kaiser blieb als Advocatus Ecclesiae in besonderer Weise dem Schutz der Kirche – die die katholischen Habsburger mit der römisch-katholischen Kirche gleichsetzten – verpflichtet und galt als oberster Richter, Schützer und Quelle des Rechts. Auch hielt er an dem Anspruch fest, als Römischer Kaiser der ranghöchste weltliche Herrscher der Christenheit zu sein, auch wenn ihn andere Monarchen an Machtmitteln längst übertrafen.
Bei der Betrachtung des frühneuzeitlichen Kaisertums muss neben der dynastischen Komponente auch die Stellung der Habsburger als Landesherren berücksichtigt werden, die erheblichen Einfluss auf ihre kaiserliche Amtsführung hatte. Als sie um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Römische Krone erwarben, umfassten ihre Erblande Ober- und Niederösterreich, die Steiermark, Kärnten und Krain, Görz, Gradisca und Triest, Tirol, Vorarlberg sowie einen ausgedehnten Streubesitz im Elsass und in Schwaben, das sog. Vorderösterreich. Infolge von dynastischen Erbteilungen standen bis weit ins 17. Jahrhundert große Teile der österreichischen Erblande nicht unter der Landesherrschaft des jeweiligen Kaisers, sondern eines seiner Verwandten.
Seit 1477 wurden die Habsburger durch die Auseinandersetzung um die burgundische Erbschaft, von der sie neben der Franche-Comté im Wesentlichen die Niederlande behaupteten, in einen mit Unterbrechungen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts währenden Dauerkonflikt mit Frankreich gezogen. Kaiser Karl V. vereinigte 1519 schließlich unter seiner Herrschaft neben den burgundischen Landen die Kronen von Kastilien und Aragon mit ihren Nebenländern in Italien und dem rasch anwachsenden amerikanischen Kolonialbesitz. Die österreichischen Erblande trat Karl bereits 1521/22 an seinen Bruder Ferdinand ab, den Begründer der deutschen Linie des Hauses Habsburg. Seit 1556 Ferdinand I. die Nachfolge seines Bruders im Kaiseramt angetreten hatte, stand die Kaiserkrone in Personalunion mit den Kronen von Böhmen und Ungarn, die Ferdinand bereits 1526 erworben hatte. Für die Geschichte der habsburgischen Besitzungen erwiesen sich im 16. und 17. Jahrhundert die osmanische Bedrohung, das Vordringen der Reformation und dann die unter landesherrlicher Ägide vorangetriebene Gegenreformation als prägend, die mit einer Domestizierung der bis dahin sehr mächtigen und selbstbewussten Landstände einherging.
Bis zum Erlöschen der auf Karl V. zurückgehenden spanischen Linie der Habsburger im Jahr 1700 bestanden enge Verbindungen zwischen den beiden Zweigen des Hauses Österreich. Lange spielte die jüngere, deutsche Linie trotz der kaiserlichen Würde in dieser Beziehung die Rolle des Juniorpartners. Immer wieder wurde den Kaisern von reichsständischer Seite vorgeworfen, die Reichsinteressen dynastischen und landesherrlichen, österreichischen Belangen unterzuordnen.
Hinsichtlich der Stellung des Kaisers im Reich existierte kein Verfassungsdokument, das die kaiserlichen Kompetenzen systematisch aufgelistet hätte. Sie lassen sich vielmehr nur aus Aussagen in den sog. Reichsgrundgesetzen, wie der Goldenen Bulle oder dem Westfälischen Frieden, und verschiedenen Reichsgesetzen sowie aus der Regierungspraxis der einzelnen Kaiser erschließen. Denn vielfach handelte es sich um Gewohnheitsrechte, die – wenn überhaupt – erst mit erheblicher Verzögerung schriftlich fixiert wurden. Damit ist bereits angedeutet, dass die kaiserlichen Kompetenzen nicht statisch waren, sondern sich im Lauf der Zeit wandelten. Sie wurden immer wieder neu ausgehandelt, durch neuerlassene Normen definiert und eingeschränkt.
In diesem Zusammenhang kam den kaiserlichen bzw. königlichen Wahlkapitulationen besondere Bedeutung zu.13 Die Wahlkapitulationen wurden vor der Wahl durch die Kurfürsten formuliert, nach dem Wahlakt durch den neuen König bzw. Kaiser beschworen und anschließend publiziert. Sie listeten, gegliedert in Kapitel, Grundsätze und Verpflichtungen auf, die der Neugewählte für seine Regierung zu beachten versprach, fixierten aber auch Einschränkungen der kaiserlichen Kompetenzen und Entscheidungsspielräume. Kurz: Sie sollten das neue Reichsoberhaupt daran hindern, eine Politik zu verfolgen, die den Intentionen der Kurfürsten widersprach. Ein solches Instrument war in den europäischen Wahlmonarchien nicht ungewöhnlich. In vielen geistlichen Fürstentümern des Reichs nutzte man es schon im 15. Jahrhundert. Es ist indes kein Zufall, dass die erste kaiserliche Wahlkapitulation 1519 bei der Wahl Karls V. verabschiedet wurde, denn diesem jungen, in den Niederlanden aufgewachsenen Habsburger, der zugleich über die Ressourcen des Spanischen Reichs verfügte, begegneten die deutschen Kurfürsten mit Skepsis. In der Wahlkapitulation erblickten sie ein Instrument, um Karl in das politische System des Reichs einzubinden.
Die Wahlkapitulationen enthielten allgemeine Bestimmungen, wie die Verpflichtung des Kaisers auf den Schutz der Kirche, die Bestätigung aller Rechte der Kurfürsten und Reichsstände oder die Einholung des kurfürstlichen Konsenses vor Eröffnung eines Kriegs oder vor Abschluss eines Bündnisses im Namen des Reichs. Zunehmend umfassten sie auch sehr konkrete Einzelverfügungen. Es wurde nicht bei jeder Wahl eine neue Kapitulation abgefasst, sondern das Vorgängerdokument wurde im Licht der vorangegangenen Regierung fortgeschrieben und ergänzt, etwa um dem neuen Reichsoberhaupt Maßnahmen, die bei seinem Vorgänger negativ aufgefallen waren, zu untersagen. Das hatte zur Folge, dass die Wahlkapitulationen im Laufe der Zeit immer komplexer und unübersichtlicher wurden, ja, manche Widersprüche enthielten. Diese Problematik wurde auch von den Zeitgenossen gesehen. 1711 verabschiedete der Reichstag das Projekt einer Beständigen Wahlkapitulation (Capitulatio perpetua), das zwar die folgenden Kapitulationen beeinflusste, aber ohne dass sich die Kurfürsten in ihrem exklusiven Recht, die Kapitulationen zu formulieren (ius adcapitulandi), von den auf Mitsprache pochenden sonstigen Fürsten und Ständen des Reichs einschränken ließen. Noch in den 1790er Jahren gab es Überlegungen zu einer grundlegenden Reform der Wahlkapitulation, die jedoch nicht umgesetzt wurden.
Die kaiserlichen Wahlkapitulationen waren normsetzende Dokumente von höchstem Rang. Die jeweils aktuelle Kapitulation wurde zu den Reichsgrundgesetzen gezählt. Da die Wahlkapitulation im Unterschied zu den anderen Leges fundamentales von Kaiser zu Kaiser fortgeschrieben wurde, kann sie als ein dynamisches Element der Reichsverfassung begriffen werden.
Gerade aufgrund der von Kaiser zu Kaiser fortgeschriebenen Bestimmungen der Wahlkapitulationen waren auch die Kompetenzen des Reichsoberhaupts alles andere als statisch. Manche Prärogativen, die Maximilian I. zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch selbstverständlich in Anspruch genommen hatte – wie etwa die Verhängung der Reichsacht gegen einen Reichsstand –, wurden seinen Nachfolgern entweder vollständig abgesprochen oder sie wurden in ihrer Ausübung massiv eingeschränkt und an die Zustimmung der Kurfürsten oder aller Reichsstände gebunden. Im Einklang mit den Reichsjuristen des späten 17. und des 18. Jahrhunderts lassen sich drei Kategorien von kaiserlichen Rechten unterscheiden: Die größten Handlungsspielräume besaß das Reichsoberhaupt bei der Wahrnehmung der unbeschränkten kaiserlichen Reservatrechte (Iura caesarea reservata illimitata). Hierzu wurden die Ausübung der kaiserlichen Lehnsrechte, die Privilegienerteilung, die Verleihung des Postregals und die Schutzherrschaft über die jüdischen »Kammerknechte« gerechnet. Bei der Ausübung der beschränkten kaiserlichen Reservatrechte (Iura caesarea reservata limitata) war das Reichsoberhaupt an die Zustimmung der Kurfürsten gebunden. Dies betraf etwa die Einberufung des Reichstags, die Verleihung von Regalien und die Verfügung über heimgefallene Lehen. Die Komitialrechte (Iura comitialia) schließlich, wie die Gesetzgebung, die Erklärung von Krieg und Frieden und die Steuererhebung, durfte der Kaiser nur gemeinsam mit den auf dem Reichstag versammelten Reichsständen wahrnehmen. Nicht selten wurde freilich darüber gestritten, ob denn nun eine Kompetenz den Reservat- oder den Komitialrechten zuzurechnen sei. Cum grano salis ist im Verlauf der Frühen Neuzeit eine Verschiebung von den Reservat- zu den Komitialrechten zu beobachten, d. h., die Tendenz ging dahin, die kaiserlichen Prärogativen zu beschneiden. Schon die schriftliche Fixierung von Gewohnheitsrechten und etablierten Praktiken an sich bewirkte eine allmähliche Einschränkung der Handlungsspielräume des Reichsoberhaupts.
Trotzdem blieb der Kaiser ohne Frage der wichtigste Mann im Reich. Außerdem sollten weder die kaiserliche Amtsautorität noch das Potential der verbliebenen kaiserlichen Reservatrechte unterschätzt werden, wenn es darum ging, Einfluss auf die Reichseliten auszuüben und sich eine Klientel unter den Reichsständen aufzubauen. Mit deren Hilfe konnte es dann gelingen, auch die Komitialrechte für die kaiserliche Politik nutzbar zu machen. Genau darin lag eines der wesentlichen Potentiale des Kaiseramts.
Auch die Kompetenzen und Machtmittel, über die der Kaiser als Landesherr verfügte, ließen sich für die Reichsregierung einsetzen. Neben den materiellen Ressourcen, den Gütern, Pfründen, Ämtern, Ehren etc., die die Habsburger in den österreichischen und böhmischen Ländern, aber auch in ihren sonstigen Besitzungen zu vergeben hatten, ist hier nicht zuletzt daran zu denken, dass sie als Erzherzöge von Österreich Sitz und Stimme im Fürstenrat des Reichstags hatten, ja, hier alternierend mit Salzburg sogar das Direktorium ausübten. Außerdem verfügten sie über die böhmische Kurstimme bei Wahltagen, seit der Readmission der böhmischen Kur 1708 auch im Kurfürstenrat des Reichstags (s. S. 164).
Die enge Verflechtung zwischen reichs- und landesherrlich-habsburgischer Politik lässt sich auch an den Regierungsinstitutionen am Kaiserhof nachvollziehen. So besaß der königliche bzw. kaiserliche Hofrat als Beratungsgremium zunächst eine Allgemeinzuständigkeit, bevor er sich ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf die Reichsangelegenheiten, d. h. insbesondere auf die Tätigkeit als Höchstgericht des Reichs (neben dem Reichskammergericht) und als Reichslehnshof, konzentrierte. Ähnliches gilt für die Reichshofkanzlei, die, gegliedert in eine deutsche und eine lateinische Abteilung, zunächst für den gesamten Schriftverkehr des Kaiserhofs zuständig war. Das änderte sich mit der Gründung der Österreichischen Hofkanzlei (1620), die in der Folge nicht nur alle im engeren Sinne österreichischen Belange, sondern auch einen Teil der auswärtigen Korrespondenz übernahm.14 Das Kuriosum, dass die Reichshofkanzlei nie von einem Reichskanzler, sondern stets von einem Reichsvizekanzler geleitet wurde, erklärt sich daraus, dass sie formal dem Mainzer Kurfürsten als Reichserzkanzler per Germaniam unterstand, dieser aber selbst während seiner seltenen Anwesenheiten am Kaiserhof die Kanzleigeschäfte nicht persönlich führte. Die für das Finanzwesen verantwortliche Hofkammer, der Hofkriegsrat und der seit den 1520er Jahren als übergeordnetes politisches Beratungsgremium nachweisbare Geheime Rat behielten dauerhaft eine gemischte Zuständigkeit für Reichs- und österreichische Angelegenheiten.
Es ist bereits deutlich geworden, dass der römisch-deutsche Kaiser alles andere als ein absoluter Herrscher war. Vielmehr war er bei der Reichsregierung in mannigfaltiger Hinsicht auf die Kooperation der Reichsstände angewiesen. Dabei handelte es sich um »Personen […] oder Kommunen […], die keiner anderen regionalen Obrigkeit unterstellt waren, selbst Steuern ans Reich entrichteten und deshalb im ausgehenden 15. Jahrhundert […] ihr Teilnahmerecht am Reichstag durchgesetzt haben«.15 In der Tat sind diese drei Kriterien – Reichsunmittelbarkeit, Reichssteuerzahlung sowie Sitz und Stimme im Reichstag – so ziemlich das einzige, was die ansonsten äußerst heterogenen Reichsstände gemeinsam hatten.
Charakteristisch für das frühneuzeitliche Reich war seine hierarchische Ordnung. Auch unter den Reichsständen bestanden erhebliche Rangunterschiede.16 An ihrer Spitze rangierten die zunächst sechs bzw. mit Böhmen sieben Kurfürsten, die in ihrer Eigenschaft als Königsbzw. Kaiserwähler sowie aufgrund ihrer durch die Goldene Bulle fixierten Vorrechte als »Säulen des Reichs« (Axel Gotthard)17