Irene Stratenwerth

Hurdy Gurdy Girl

Eine weite Reise durch die Nacht

Inhalt

I Die Reise nach America

Erstes bis achtes Kapitel

April bis Juli 1863

II Im Goldgräberland

Neuntes bis vierzehntes Kapitel

August bis Oktober 1863

III San Francisco

Fünfzehntes bis zweiunddreißigstes Kapitel

November 1863 bis Juni 1864

IV Im Caraboo

Dreiunddreißigstes bis sechsundvierzigstes Kapitel

Juli 1864 bis September 1865

V Zurück nach Hessen

Siebenundvierzigstes bis einundfünfzigstes Kapitel

Oktober 1865 bis April 1866

Epilog

Nachwort

I

Die Reise nach Amerika

Erstes bis achtes Kapitel

April bis Juli 1863

Erstes Kapitel

Nur bis Nauheim, hat die Mutter gesagt, nur bis dorthin allein zu Fuß. In zwei bis drei Stunden sei sie dort. Der Weg sei nicht zu verfehlen. Schneider erwarte sie am Abend im Kurpark.

Am Dorfrand steigt Luise den Hügel hinauf. Von hier aus kann sie schon den Kirchturm von Ober-Mörlen sehen und in der Ferne die Höhenzüge des Vogelsberges. Für einen Moment fühlt sie sich mutig und stark. Und dann wieder schrecklich allein.

Der Dora hat sie nicht einmal Lebewohl sagen können. Die Kleine ist gleich nach der Schule zum Vater aufs Feld.

Luise hat es zwar schon eine Zeitlang gewusst: Dass sie aus Langenhain fortgeht, als Erste aus der Familie. Aber sie hat es nicht übers Herz gebracht, es der Schwester zu sagen. Und heute Mittag hat ihr die Mutter plötzlich den sofortigen Aufbruch befohlen.

Rechts vom Feldweg senkt sich der Hang mit den winzigen Äckern der Tagelöhner und Landarbeiter ins Tal. Viele Frauen sind dort jetzt emsig beschäftigt, die Erde zu bestellen, Kartoffeln zu stecken, Weißkohl zu pflanzen und Hafer zu säen. Der Winter war lang und kalt, und jetzt ist es höchste Zeit.

Ihre Mutter würde hier niemals ackern. Sie baut ihr Gemüse auf einem ummauerten Hofplatz neben ihrem Wohnhaus an. Und Balthasar Ludwig, ihr Mann, pflügt seine größeren Felder jenseits des Dorfes, in der Talsenke zwischen Langenhain und Schloss Ziegenberg. Früher half ihm dabei ein Knecht.

Vor dem Mädchen spritzt ein Hase über den Weg und rennt im Zickzack über die Felder. Pass bloß auf, denkt Luise, sonst schießt dich der Wilderer tot. Viele im Dorf sehnen sich nach einem Sonntagsbraten, und der Jagdaufseher kann seine Augen nicht überall haben.

„He, Luise, grüß dich Gott! Wohin allein des Weges, so spät am Nachmittag?“

Die Frage schallt von Rosa herüber, einer kräftigen Magd. Andere Frauen unterbrechen ihre Feldarbeit, stützen sich auf ihre Harken und Spaten und starren das Mädchen neugierig an.

„Zur Cousine nach Nauheim“, gibt Luise knapp zurück.

„Zur Cousine, so so!“, Rosa prustet laut los, „hast es nicht noch ein bisschen weiter? Gehst vielleicht sogar für drei Jahre fort? Nimmst mich mit?“

Luise wird warm im Gesicht. Sie kennt ja das achte Gebot: Du sollst nicht lügen. Kaum ist sie von zu Hause fort, begeht sie die erste Sünde.

„Ich reise nach Amerika!“ Nur allzu gerne würde sie die Wahrheit laut herausposaunen und die zudringliche Magd damit zum Schweigen bringen. Alle anderen, die jetzt so tun, als machten sie sich wieder an die Arbeit, aber heimlich die Ohren spitzen, könnten es auch gerne hören.

Doch die Mutter hat ihr streng verboten, etwas zu sagen. Niemand soll wissen, wohin sie geht. Erst in ein paar Tagen werden es die Spatzen von den Dächern pfeifen: Dass die älteste Tochter vom Bauern Ludwig vorerst nicht zurückkommt. Dass sie ins Land gegangen ist wie schon so viele andere Mädchen aus Langenhain.

Nur noch ein paar Schritte und dann ist sie aus dem Blickfeld der Frauen verschwunden. Sie lässt den Feldweg links liegen, steigt über Wiesen und wilde Äcker zum Flüsschen hinab. Hoch aufgeschossen stehen Gräser und Buschwerk am Ufer. Dort ist sie vor neugierigen Blicken geschützt.

Ich gehe nach Amerika, summt Luise vor sich hin und erfindet gleich noch ein paar Reime dazu: Eins, zwei, drei, vier, keinen Tag bleib ich mehr hier. Fünf, sechs, sieben, acht, nimm dich vor jedem Mann in Acht.

„In Amerika ist alles besser.“ Wie oft hat sie diesen Satz schon gehört. Wenn Frauen in prächtigen Kleidern zu Besuch ins Dorf kamen, um ihre bunten Wolltücher, die feinen Schuhe und den fremdartigen Kopfputz vorzuführen. Und wenn im Waschhaus davon die Rede war, dass wieder einmal ein braves Mädchen aus der Wetterau in der neuen Welt einen achtbaren Bräutigam gefunden hatte.

Luise ist im letzten Winter siebzehn geworden. Schon lange ist sie so hoch gewachsen, dass sie mit dem Kopf an den Bettkasten stößt.

„Es reicht. Als Mädchen brauchst du kein Gardemaß!“ So scherzte der Vater, als seine Tochter ihn zu überragen begann. Doch die Mutter sah sie besorgt an. Sie fand es auch gar nicht gut, wenn Luise den ganzen Sommer auf dem Feld und im Viehstall schuftete, so dass ihre Arme muskulös und sehnig wurden.

„Wie eine Magd siehst du aus“, schimpfte sie, „wem willst du denn so gefallen?“ Oft fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu, als würde sie zu jemand anderem sprechen: „Sie könnte so eine schmucke Braut sein. Wenn sie nur mehr aus sich machen würde.“

Als käme es darauf an, wie eine gebaut ist oder wie sie sich putzt. Kein Bursche im Großherzogtum Hessen kann sich das Mädchen, das ihm am besten gefällt, einfach zur Braut nehmen, das weiß in Langenhain jedes Kind. Bevor einer heiraten darf, muss er seinen Militärdienst absolviert haben und über ein eigenes Einkommen verfügen. Und auch dann geben die meisten Väter erst einmal ihre ältesten Töchter zum Heiraten weg.

Bis es so weit ist, hätte Luise als nutzlose Esserin zu Hause herumsitzen und sich langweilen müssen. Zwischen der Konfirmation und der Hochzeit können zehn Jahre vergehen.

So lange halten es viele nicht aus. Sie gehen stattdessen mit einem Landgänger fort: einem wie Schneider, der Mädchen zum Tanzen in der Fremde dingt. Was sie dort zu tun haben, weiß Luise nicht so genau. Sie hat nur die sorgenvollen Mienen der alten Weiber gesehen und das anzügliche Grinsen der Männer, wenn auf dem Kirchplatz von den Tanzmädchen die Rede war.

In Amerika störe es keinen, dass sie noch so jung sei und außerdem ein bisschen lang geraten, hat Schneider gesagt. Im Gegenteil. Dort suchten die Männer regelrecht nach stattlichen Frauen, die ordentlich zupacken können. Wie ein Stück Vieh hat er Luise von Kopf bis Fuß gemustert. Mit dem Ergebnis seiner Begutachtung war er zufrieden: „Für dich braucht man jedenfalls kein Podest.“

Johann Georg Schneider ist ein Neffe von Balthasar Ludwig und somit Luises Vetter. Sie könnte ihn einfach „Georg“ nennen, denn schließlich ist sie mit ihm verwandt. Aber das käme ihr nicht richtig vor: Schneider ist ein verheirateter Mann und zehn Jahre älter als sie. Außerdem war er fast immer in der Fremde.

„Ich fahre nach Amerika.“ Der Satz fährt in ihrem Kopf Karussell. Wie das bunt geschmückte Pferd, das sie auf dem Jahrmarkt in Nauheim gesehen hat, immer im Kreis herum, schleppt er einen Reigen bunter Bilder hinter sich her: Von Bauern, die sich ein Stück Land einfach mit Holzpflöcken abstecken. Von Goldklumpen, die man in Kalifornien findet wie Hans im Glück. Von Tanzvergnügen, bei denen es am Sonntag lustig und unbeschwert zugeht.

Luise hat jeden Bericht, den sie in der Gartenlaube über Amerika finden konnte, genau gelesen und viele davon mehrmals. Freiwillig ist sie jeden Sonntagnachmittag ins Schulhaus gegangen.

Um Punkt zwei Uhr, nach dem Gottesdienst und dem Mittagsmahl, öffnete der Schulmeister Faber regelmäßig seine Klassenstube und legte Zeitschriften und Bücher aus: für alle, die sich bilden wollten. Manche Hefte waren schon ziemlich zerlesen, aber das machte ihr nichts aus. Denn sie weiß: Wer heutzutage in der Welt zurechtkommen will, muss sich informieren.

Der Vater verzog zwar ärgerlich das Gesicht, wenn seine Tochter am heiligen Sonntagnachmittag in die Schule lief. Wozu musste sich ein Bauernmädchen im Lesen üben? Wozu brauchte sie das moderne Zeug, das in einem so genannten Familienblatt stand? Aber was konnte ein einfacher Landwirt schon gegen den Schulmeister ausrichten, dessen Wort im Dorf fast so viel galt wie das des Pfarrers?

Einmal ist Faber in einer Lesestunde zu Luise ans Pult getreten und hat ihr ein dickes, in braunes Leder gebundenes Buch gezeigt.

„Du interessierst dich doch für Amerika?“

Luise senkte verlegen den Kopf.

„Dies ist der Reisebericht einer berühmten Schriftstellerin. Ganz allein hat sie sich die weite Welt angesehen. Auch Amerika. Vielleicht magst du einmal darin lesen?“

Meine zweite Weltreise, Dritter Theil stand auf dem Titelblatt und ein Name: Ida Pfeiffer. Vorsichtig nahm Luise das Buch in die Hände und blätterte die ersten Seiten auf: Gleich am Anfang ging es um die Ankunft der Schriftstellerin in Kalifornien. Stadt der Wunder stand über dem ersten Kapitel. Ein anderes handelte von den Spielhäusern in San Francisco.

Wie gerne hätte sie sich sofort in die Lektüre vertieft! Doch solange Faber sie so unverwandt anstarrte, verschwammen die Zeilen vor ihren Augen.

„Ist vielleicht noch zu schwierig für dich“, hörte sie ihn sagen, während er das Buch wieder an sich nahm.

Ob der Lehrer da bereits wusste, dass der Vater einen Kontrakt über sie abgeschlossen und im Haus des Bürgermeisters unterzeichnet hatte?

Für drei Jahre vermietet der Landwirt Balthasar Ludwig seine Tochter Dorothea Luise, geboren am 6. November 1845 in Langenhain, Großherzogtum Hessen, als Tanzmädchen an den Landgänger Johann Georg Schneider.

Der Kontrakt wurde am 31. März 1863 besiegelt. Kaum zwei Wochen später hat die Mutter sie auf diese Reise geschickt.

Viel Gestrüpp überwuchert den Uferpfad, durchnässt ihre Schuhe und Strümpfe und zwingt sie, allen Windungen des Flüsschens zu folgen. Der Saum ihres abgewetzten Wollrockes hängt, schwer von der Feuchtigkeit, weit herunter und scheuert zwischen den Beinen. Einmal versucht sie, eine Abkürzung zu nehmen, doch dabei gerät sie ins Himbeergesträuch und zerreißt sich beinahe die Schürze.

Zweifelnd und verwirrt blickt sie sich um, streicht sich eine Locke aus der verschwitzten Stirn. Sie hat ihr Haar vor dem Aufbruch zwar sorgfältig unter der Haube festgesteckt, doch einige Strähnen lassen sich einfach nicht bändigen.

Ob sie besser wieder zum Fahrweg nach Nauheim hinaufsteigen soll? Oder ist das viel zu weit?

Die Mutter hat ihr außerdem streng verboten, diese Landstraße zu benutzen. Wo sich fahrendes Volk oder gar Räuber herumtreiben, sei es viel zu gefährlich.

Und was, wenn ihr dort oben eine Kutsche aus dem Schloss begegnet und jemand nach ihrem Ziel fragt?

Besser sie setzt ihren Weg am Ufer der Usa fort.

Schon nach wenigen Schritten gelangt sie zu einem schmalen Steg über das Flüsschen. Vorsichtig tritt sie auf die glitschigen Planken. Wenn sie in der Mitte kurz stehenbleibt und sich umwendet, kann sie vielleicht einen letzten Blick auf die Dächer von Langenhain erhaschen. Oder auf Schloss Ziegenberg, das auf einem Felssporn über dem Flüsschen thront. Doch die Bretter beginnen schon nach ihrem ersten Schritt bedenklich zu schwanken. Sie rettet sich mit einem großen Satz ans andere Ufer.

Nach einem wehmütigen Blick zurück wäre ihr ohnehin nicht zu Mute gewesen. Der Dreck in den schmalen Gassen des Dorfes, der Gestank nach Kuhmist, die Kälte, die täglich gleiche Grütze, der Hunger im Winter und die Enge in ihrer winzigen Stube – sie mag nie wieder daran denken. Und auch nicht an die vielsagenden Blicke der Mutter und ihre ständigen Ermahnungen, sich ihre Sittlichkeit zu bewahren.

Der Vater hat ohnehin so getan, als wisse er von ihrer baldigen Abreise nichts. Dabei hat er selbst den Kontrakt geschlossen und vom Schneider die Hälfte des Mietpreises im Voraus bekommen.

Ganze fünfhundert Gulden.

Dora. Die Gedanken an die Kleine umschwirren Luise wie ein lästiger Fliegenschwarm. Vor zehn Jahren kam die Schwester zur Welt, nur wenige Tage vor Weihnachten. Die Mutter hatte längst nicht mehr mit Nachwuchs gerechnet. Krank und entkräftet lag sie danach eine halbe Ewigkeit im Bett. Man wusste nicht, ob sie überhaupt wieder aufstehen würde. Drei der vier Kinder, die sie geboren hatte, waren noch am Leben. Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie dieses Fünfte nicht gewollt hatte und sich auch nicht darauf freute, noch ein weiteres Mädchen durchzufüttern.

So war es von Anfang an Luises Aufgabe, sich um das winzige, rosige Bündel zu kümmern, dem Neugeborenen die Windeln zu wechseln, es in den Schlaf zu wiegen und es in einem Tuch durchs Dorf zu schleppen. Auch als die Kleine laufen und sprechen lernte, blieben die Mädchen unzertrennlich.

Dora wird weinen und zetern, wenn sie begreift, dass sie mit den Brüdern allein zurückgeblieben ist, denkt Luise. Jetzt hat sie keine große Schwester mehr, die sie in Schutz nimmt, wenn die Jungs sie piesacken und necken.

Ein Fahrweg kreuzt das Flüsschen. Nur eine Furt führt auf die andere Seite, in Richtung Ober-Mörlen. In der Ferne kann sie schon die ersten Gebäude der Ortschaft sehen, in der sich die schmalen Behausungen der Tagelöhner und Handwerker eng aneinanderreihen.

Viele Leute werden am Nachmittag im Dorf unterwegs sein: Mägde und Frauen auf dem Weg zum Brunnen. Und Kinder, die Botengänge erledigen oder einander jagen. Bald werden auch die Männer von der Forstarbeit heimkommen. Eine Siebzehnjährige, die allein in Richtung Nauheim wandert, würde bestimmt neugierig beäugt. Wenn jemand sie nach ihrem Weg fragen würde, müsste sie schon wieder lügen.

Da wandert Luise lieber weiter an dem Flüsschen entlang, das direkt in den neuen Kurpark von Nauheim führt.

Amerika. Für Luise klingt dieses Wort wie Musik. Wie jene Töne, die im Winter überall aus den Häusern von Langenhain dringen. Wenn die Instrumentenbauer aus dem Schwarzwald kommen, um ihre Spieluhren und Drehorgeln vorzuführen und zu richten, was auf den Reisen im Sommer Schaden genommen hat. Das schrille Pfeifen, Quäken und Seufzen aus diesen Kästen verbindet sich dann in den engen Gassen zu einem seltsamen Lied, dessen Text aus einem einzigen Wort besteht: Amerika.

Luise hat oft davon geträumt, selbst einmal in die Neue Welt zu gehen. Aber erst, wenn sie erwachsen ist und die Dora mitnehmen kann.

Als sie am Abend endlich den Kurpark erreicht, bekommt sie es zum ersten Mal mit der Angst zu tun. Am Ufer der Usa hat sie sich nicht gefürchtet, wenn es in der Böschung raschelte, wenn etwas vor ihren Füßen fortsprang und laut ins Wasser platschte. Das waren ja nur kleine Tiere, ein Frosch vielleicht oder eine Kröte.

Doch der große, stille Teich im Park ist ihr unheimlich. So viele Geschichten hat sie schon gehört von glücklosen Spielern, die ihr Leben in diesem Wasser ließen. Von in Schande geborenen Säuglingen, die ertränkt wurden, bevor ein Pastor sie taufen konnte. Und vom ruchlosen Treiben der Gestalten, die nachts unter den Bäumen im Park ihr Lager aufschlagen, weil sie in Nauheim kein Dach über dem Kopf haben.

Der Kies knirscht so laut, dass sie auf die Wiese ausweichen muss. Ihr Atem geht schnell, die Hände sind schweißnass. Aus dem Gebüsch vernimmt sie ein stetes Wispern und Rascheln. Der Weg durch den Park kommt ihr endlos lang vor. Ganz in der Ferne sieht sie das gelbe Licht einer Gaslaterne glimmen. Dort muss es zum Bahnhof gehen.

Plötzlich löst sich ein Schatten aus dem Gebüsch und tritt ihr in den Weg. Erschrocken fährt Luise zusammen. Dann erkennt sie die Stimme: Es ist Schneider.

„Du kommst spät“, er klingt eher besorgt als streng, „ich habe dich schon erwartet. Bist du aufgehalten worden?“

„Nein, nein, ich bin ohne Pause gelaufen.“ Luise ist weich in den Knien.

„Hast du Hunger?“

Sie brauche nichts, schwindelt sie, die Mutter habe ihr eine Brotzeit mitgegeben.

„Dann bring ich dich jetzt zu deiner Schlafkammer. Die anderen sind schon dort.“

Das schmale Gasthaus liegt nur wenige Schritte vom Bahnhof entfernt. Schneider führt Luise die Stiege hinauf, schließt eine Zimmertür auf und schiebt das Mädchen hinein: „Ruh dich aus! Morgen früh geht es weiter.“

Dann sperrt er hinter ihr ab.

Für einen kurzen Moment fällt Licht in den karg möblierten Raum. Auf einer Bettstelle sieht Luise zwei Mädchen liegen, die sich unter einer Decke eng aneinanderschmiegen. Nur ihre Haarschöpfe lugen heraus. Dann schiebt sich eine Wolke vor den Mond, und es wird stockdunkel.

Beklommen lässt sie sich auf dem Rand des Bettkastens nieder, wagt kaum zu atmen. Nach einer Weile kriecht eine Hand unter der Decke hervor und tastet nach ihr.

„Was ist? Kennst mich nicht mehr?“, fragt eine Mädchenstimme.

„Ich muss mal“, raunt Luise unglücklich. Sie hat sich nicht getraut, den Schneider nach einem Abort zu fragen. Jetzt ist es dringend.

„Am Fenster steht ein Nachtgeschirr.“

Im Dunklen ertastet sie das kühle Porzellan und hockt sich darauf.

„Du bist doch die Anna“, flüstert sie in die Schwärze, „die Möckel, Anna“. Sie erinnert sich noch genau an das kräftige, dunkelhaarige Mädchen mit dem offenen Gesicht, das in der Schulstube eine Reihe hinter ihr saß. Von Anna hieß es, sie sei schon bald nach der Konfirmation ins Land gegangen.

Etwas regt sich auf dem Lager. Die beiden Gestalten richten sich auf und rücken beiseite, um der Dritten Platz zu machen. Vorsichtig setzt sich Luise zu ihnen, zieht ein Stück Decke zu sich herüber und legt es sich über die Beine.

„Ich weiß noch, wie wir beide in der Schulstube saßen“, flüstert sie Anna zu, „ein Jahr vor mir warst du fertig.“

„Stimmt. Ist lange her.“

„Und wer bist du?“, fragt Luise die Andere, „im Dunkeln kann ich dich nicht erkennen.“

„Sie heißt Therese. Aber alle nennen sie Tesi“, antwortet Anna an ihrer Stelle, „ihr Vater ist der Will, Lorenz.“

Den Schafhirten, der mit seiner hageren Frau und einem Dutzend Söhnen und Töchtern in einer armseligen Kate am Feldrain haust, kennt Luise. Im Dorf hieß es, seine zerlumpten Kinder seien schon ein paar Mal von den Gendarmen in Nauheim aufgegriffen worden, als sie dort Kurgäste anbettelten. In der Schule ließen sie sich nur selten blicken.

„Ist sie denn schon alt genug, um in Stellung zu gehen?“, fragt Luise erstaunt.

„Vierzehn“, erklärt Anna wichtigtuerisch, „nach Amerika darf sie nur mit, weil ich versprochen habe, auf sie aufzupassen. Das hat der Will zur Bedingung gemacht.“

Was will der denn schon für Bedingungen stellen, denkt Luise verächtlich. Jeder im Dorf weiß, dass der Schafhirt ein bettelarmer Mann ist. Niemand hat ihm auch nur einen einzigen Scheffel Getreide geliehen, nicht einmal im kältesten Winter. Der Will wird froh sein, dass ihm jemand eins seiner hungrigen Mäuler abnimmt und dafür sogar noch zahlt.

Von draußen schlägt eine Faust hart an die Tür: „Ruhe da drinnen! Es wird geschlafen! Zum Schwatzen habt ihr morgen noch Zeit!“

Brav strecken sich die drei Mädchen nebeneinander aus.

Als die Atemzüge der Anderen ruhiger werden, kriecht Luise noch einmal unter der Decke hervor, kniet sich vor ihr Lager.

Jetzt, wo sie von zu Hause weg und in Stellung geht, würde es ihrem Herrn bestimmt nicht gefallen, wenn sie nur das einfache Kindergebet herunterleierte, das sie so oft mit Dora gesprochen hat. Sie versucht, sich an die Zeilen zu erinnern, die sie im Konfirmandenunterricht gelernt haben: den Abendsegen von Martin Luther.

„Ich danke dir, mein himmlischer Vater, durch Jesus Christus, deinen lieben Sohn, dass du mich diesen Tag gnädig behütet hast, und bitte dich, du wollest mir vergeben alle meine Sünde, wo ich etwas Schlimmes gemacht … ehm, wo ich Unrecht getan habe“, murmelt sie leise und hofft, dass sie die Wörter richtig aneinanderreiht. Dann fallen ihr auch die letzten Sätze wieder ein: „Ich befehle mich, meinen Leib und Seele und alles in deine Hände. Dein heiliger Engel sei mit mir, dass der böse Feind keine Macht an mir finde. Amen.“

Schnell schlüpft sie wieder zu den Anderen unter die Decke. Luise hat ihr Lager immer geteilt. Jeden Abend ist Dora bei ihr im Arm eingeschlafen.

Doch diese Mädchen hier riechen anders als ihre Schwester. So eng liegen die beiden neben ihr, dass Annas Atem in ihrem Nacken kitzelt.

Zweites Kapitel

Kurz vor neun trifft der Schnellzug aus Gießen am Bahnhof von Nauheim ein. Fauchend kommt die Lokomotive mit den Personenwagen der ersten, zweiten und dritten Klasse vor dem Stationsgebäude zum Stehen. Auf dem Bahnhofsvorplatz haben sich bereits Händler mit Erfrischungen und Proviant, Gastwirte, Gepäckträger, Kutscher und Schaulustige versammelt.

Nur wenige Passagiere steigen so früh am Morgen hier aus. Umso mehr aber reisen ab. Die Meisten haben es nicht weit. Kaum eine Stunde dauert die Fahrt von Nauheim nach Frankfurt am Main.

Die elegant gekleideten Kurgäste und Spielbankbesucher, deren Droschken als Letzte vorgefahren sind, dürfen den Bahnsteig als Erste betreten. Zwielichtige Gestalten und arme Sünder kämen neuerdings zur Kur und zum Glücksspiel nach Nauheim, hat der Pastor in Langenhain in seiner Sonntagspredigt oft gewettert. Doch wie arme Sünder sehen diese feinen Herrschaften nicht aus. Elegant gekleidete Männer heben ihre Damen schwungvoll von den Trittbrettern der Kutschen, erteilen Dienstboten kurze Anweisungen auf Französisch oder in einer noch fremderen, weich klingenden Sprache. Kaum haben sie den Bahnsteig betreten, helfen sie ihren Begleiterinnen die steilen Eisentreppen zu den Fahrgastkabinen der ersten Klasse hinauf.

Der Blick auf die feine Reisegesellschaft wird bald durch einen zweiten Zug verdeckt, der aus der Gegenrichtung einfährt und ebenso laut schnaufend zum Stehen kommt. Nur einen Steinwurf entfernt schnattern Gänse auf der Chaussee. Ein Bauer treibt seine Kühe mitten durch die Schar und tut so, als bemerke er das Getümmel um die riesigen, eisernen Ungetüme überhaupt nicht.

Eine Eisenbahn hat Luise noch nie aus der Nähe gesehen. Einmal, als sie den Vater auf seinem Fuhrwerk nach Butzbach begleitete, begann dieser aufgeregt mit den Armen zu fuchteln und in die Ferne zu deuten. Am Horizont konnte sie einen dunklen Strich erkennen, aus dem weißgraue Wolken aufstiegen. Rasch wanderte die Rauchsäule über Felder und Äcker und verschwand schließlich im Wald.

„Das war eine Eisenbahn“, erklärte der Vater, und seine Stimme bebte vor Ehrfurcht, „wenn du von Nauheim nach Butzbach willst, läufst du zu Fuß einen halben Tag. Eine Dampflokomotive kann denselben Weg in einer halben Stunde bewältigen und auch noch viele Wagen hinter sich herziehen.“

Jetzt dürfen auch die Reisenden der zweiten und dritten Klasse den Bahnsteig zwischen den Zügen betreten. Es ist ohrenbetäubend laut, die Luft ist voller Dampf und Ruß.

Luise war enttäuscht, als sie am Morgen wieder in ihr altes Zeug schlüpfen sollte, das sie auf dem Fußboden abgelegt hatte. Die Mutter hat ihr für die Reise zwar eine neue, mit feinen Spitzen besetze Unterhose eingepackt, aber keinen zusätzlichen Rock und keine Bluse. Es lohne sich nicht. Der Georg werde sie mit neuen Kleidern komplett ausstatten, so sei es vereinbart. Jetzt versteht sie: Es wäre reine Verschwendung, für so eine Bahnfahrt etwas Neues, Sauberes anzuziehen.

Schneider hat nach dem Wecken für jede einen Becher Milch und ein Stück Brot in die Kammer gereicht. Ab jetzt sei seine Frau Margarethe für sie zuständig, erklärte er ihnen dazu: „Wenn es in die Welt hinaus geht, ist es besser, euch einer Aufpasserin zu unterstellen!“ Danach hat er kaum noch ein Wort mit ihnen gesprochen, gibt sich, seit sie die Herberge verlassen haben, abweisend und missmutig. Fein und streng wirkt seine Gattin daneben in ihrem grauen Reisekostüm.

Luise kennt Margarete nur von ein paar Hochzeiten und Begräbnissen im Familienkreis. Ihren jüngsten Sohn hält sie sorgfältig von sich weggespreizt auf dem Arm. So kann die klebrige weiße Flüssigkeit aus dem Mund des Säuglings nicht auf ihre elegante Jacke tropfen. Im Waschhaus hat Luise gehört, dass die Schneiderin noch zwei größere Kinder hat, die bei den Großeltern in Langenhain blieben.

Krampfhaft halten sich die drei Mädchen auf dem Bahnsteig an den Händen, lassen einander auch im dichten Gedränge nicht los. Anna schafft es als Erste, die eiserne Trittleiter zum Waggon dritter Klasse zu erklimmen. Die Tesi zieht sie hinter sich her. Als das Mädchen seine andere Hand benötigt, um sich an der Griffstange aus Messing in den Zug hochzuziehen, lässt es Luise einfach los. Diese taumelt ein paar Schritte zurück, droht zu stürzen, fängt sich wieder und hält ihr Bündel dabei fest an die Brust gepresst.

Auch im Eisenbahnwagen hört das Schieben und Drängen nicht auf. Viele Bänke sind schon mit Reisenden besetzt. Dennoch versuchen alle neu Zugestiegenen, noch einen Platz am Fenster zu ergattern.

Die drei Mädchen quetschen sich nebeneinander auf eine schmale Holzbank, die für höchstens zwei Personen bestimmt ist. Marktfrauen sitzen ihnen mit Körben und Säcken auf dem Schoß gegenüber, machen aber respektvoll Platz, als Margarethe dazukommt.

Tesi ist kalkweiß im Gesicht. Sie hat bisher kaum ein Wort gesprochen. Luise hat sie sich zum ersten Mal richtig angesehen, als sie auf dem Bahnhofsvorplatz standen, hat ihre großen, dunklen Augen, die gerade, kleine Nase und die trotzig aufgeworfenen Lippen bewundert.

„Wie ist dir?“, wendet sich die Schneiderin fürsorglich an die Jüngste, „hast du Angst?“ Das Mädchen schüttelt den Kopf und presst die Lippen aufeinander. „Es wird bald besser. Vielen geht es am Anfang so. Du wirst schon sehen“, versucht Margarethe sie aufzumuntern.

Draußen gellt ein Pfiff. Das Schnaufen und Zischen wird lauter. Dann gerät das Bahnhofsgebäude in Bewegung und gleitet aus Luises Blickfeld fort. Sie zittert am ganzen Leib.

Ein heftiger Schlag durchzuckt sie. Dann folgt schnell der Nächste und Übernächste. Verstohlen blickt sie auf Anna, die eine Hand schützend auf ihren Bauch gelegt hat. Ob es stimmt, was sie im Waschhaus erzählt haben? Dass Anna ein Kind erwartet, und zwar von dem Landgänger Christoph Reuter, der viel älter als sie ist und im Dorf schon eine Familie hat?

Draußen jagen Bäume, Wälder, Kühe und Bauernhöfe vorbei, so schnell, wie Luise es noch niemals gesehen hat. Immer wieder wehen Schwaden von Rauch und Dampf ins Abteil und legen sich kalt und rußig auf ihre Haut. Sie wischt sich die Augen, schnäuzt die Nase, schluckt und hustet. Der schwarze Staub klebt bald überall.

Stumm lehnt sich Tesi an Anna und schließt die Augen.

Die Fahrt bis nach Kassel wird bis zum Nachmittag dauern.

Ab und zu lässt Luise ihre Hand in ihr Bündel gleiten und kramt darin herum. Die paar Habseligkeiten, die ihr die Mutter eingepackt hat, sind schnell ertastet: etwas Wäsche, ein Trinkgefäß und ein großes wollenes Umschlagtuch.

Ganz zum Schluss hat sie selbst noch etwas hineingesteckt. Ein Geheimnis. Vorsichtig streichen ihre Finger über eine schmale, in Wachspapier eingeschlagene Schachtel. Wie oft hat sie in den letzten Tagen den Pappdeckel vorsichtig hochgehoben und ihren Inhalt bestaunt: vier schwarz glänzende Bleistifte mit silbernen Prägebuchstaben.

Und noch etwas ertastet sie in ihrem Bündel: das Album. Sobald sie es mit den Fingerspitzen berührt, kann sie den dunkelroten Leineneinband und die golden eingeprägten Buchstaben genau vor sich sehen.

Das feine Notizbuch und die Stifte sind ein Geschenk vom Lehrer. Am letzten Sonntagnachmittag bat er sie am Ende der Lesestunde zu bleiben. Er habe mit ihr zu reden.

Luise war unbehaglich zumute, so ganz allein mit dem Schulmeister. Umständlich kramte er das in braunes Papier eingeschlagene Päckchen aus seinem Pult und überreichte es ihr. Ein Bleistift sei eine großartige Erfindung, erklärte er, während sie verlegen die Knoten löste, besonders auf Reisen. Da brauche man kein Tintenfass und keine Feder, um seine Eindrücke zu notieren. „Vielleicht wird ja eines Tages auch eine große Schriftstellerin aus dir!“, sagte er, und das klang, als meine er es ernst.

Luise freute sich über die prächtigen Stifte und das Buch mit den blütenweißen, noch unbeschriebenen Seiten. Und wusste doch nicht, was sie sagen sollte. Heiß und unwohl wurde ihr, als der Schulmeister sie fest an den Schultern packte und gegen ihr Sträuben an sich zog. Er wünschte, er könne mit ihr in die Fremde ziehen, raunte er ihr ins Ohr, während sie sich erschrocken aus seiner Umklammerung wand.

Sie war schon halb aus der Tür, als ihr einfiel, dass sie sich bei ihm zu bedanken hatte und sie sich noch einmal zu ihm umwandte.

Es war nicht das erste Mal, dass einer sie mit dieser Mischung aus Sehnsucht und Gier anstarrte. Die Blicke, die ihr die Männer im Dorf hinterherschickten, hatten sich in den letzten Jahren verändert. Meistens waren es die Alten, die sie blöde anglotzten: Greise, die vor ihrem Haus auf einer Bank saßen, während drinnen ein Weib nach ihnen keifte.

Die jüngeren Burschen hingegen machten sich in Langenhain rar. Viele verließen ihr Elternhaus, sobald sie mit der Schule fertig waren, gingen zum Militär oder verdingten sich in der Fremde. Von manchen hieß es sogar, sie suchten ihr Glück in Amerika.

Nur im Winter kehrten einige ins Dorf zurück: Dann lungerten sie vor den Häusern herum, in denen sich die Mädchen zur Handarbeit trafen und wollten Luise von der Spinnstube nach Hause begleiten. Doch kaum lief sie mit so einem durch die dunklen Dorfgassen, begann er sie zu bedrängen. Und sobald es Frühling wurde, war er wieder fort.

Am zweiten Tag führt ihre Reise von Kassel über die Grenze ins Königreich Hannover. Von jetzt an, so schärft Margarethe den Mädchen ein, müssten sie mucksmäuschenstill sein. Jeder Schwatz sei ihnen streng verboten: „Falls euch jemand anspricht und nach dem Ziel eurer Reise fragt, überlasst das Antworten mir.“

Schneider selbst ist kaum wiederzuerkennen. In Langenhain führte er sich auf wie ein Weltmann, dem jedermann einen Gruß schuldete. Wenn die Sonne schien, schritt er stolz wie ein Gockel mit seiner fein herausgeputzten Gemahlin an den Dorfhäusern vorbei. Am Abend saß er im Wirtshaus beim Bürgermeister am Tisch und rühmte lauthals das Leben in Amerika. Luise hat ihn dort manchmal gesehen, wenn sie dem Vater ein Bier holte. Man sprach nicht darüber, aber alle wussten es: Die Geschäfte, die Schneider in der Fremde machte, mussten recht einträglich sein.

Doch jetzt, in der Eisenbahn, wirkt er bäurisch und stumpf wie ein Tagelöhner, der zum ersten Mal auf Reisen ist. Wer ihn nach den drei Mädchen in seiner Gesellschaft fragt, dem bescheidet er knapp: „Aus der Heimat. Sind drüben als Dienstmägde verpflichtet. Soll auf sie aufpassen.“

Seine Frau wirkt viel eleganter als er. Etwas fremd sitzt sie in der kleinen Reisegruppe wie eine Gouvernante.

Den kleinen Christopher hält sie nie lange auf ihrem Schoß. Anna und Tesi wetteifern darum, das Kind zu herzen, zum Lachen zu bringen und dann wieder zu beruhigen.

Luise schaut lieber nicht hin.

Sie muss sonst schon wieder an Dora denken.

Drittes Kapitel

Wie Schafe trotten Margarethe und die Mädchen hinter Schneider her, nachdem sie in Harburg aus der Eisenbahn gestiegen sind.

Luise ist flau. Sie weiß nicht, ob ihr übel ist oder ob sie Hunger hat. Das ewige Schütteln und Schaukeln der Eisenbahn hat alles in ihrem Kopf durcheinandergewirbelt: Gedanken, Bilder und Wörter. Ihr Haar klebt unter der Haube, ihr Rock steht vor Dreck und ihre Fingernägel sind schwarz. Sie sehnt sich danach, sich zu waschen, sich auszustrecken und einfach die Augen zu schließen.

Aber noch sind sie nicht im Gasthaus. Noch stehen sie im Nieselregen am Schiffsanleger und warten auf den Dampfer, der sie über den Strom bringen wird. Das dunkle Wasser stinkt und gluckert bedrohlich, während sich der Abendhimmel bleiern auf sie herabsenkt.

Stunden später kommen sie in der Herberge an. Schneider schlägt dem Gastwirt vertraut auf die Schulter als wären sie alte Freunde. Dröhnend kündigt er sich auf ein Bier in der Gaststube an, während die drei Mädchen sofort nach oben müssen. Wieder sollen sie sich das einzige Lager in einer schmalen Kammer teilen.

„Morgen früh bekommt ihr Frühstück“, verspricht Margarethe und fügt mit einem langen Blick auf die drei erschöpften und verdreckten Gestalten hinzu: „Ich lasse euch Waschwasser bringen, bevor wir in die Stadt gehen. Am Jungfernstieg werdet ihr Geschäfte und Waren sehen, von denen ihr bisher nur träumen konntet. Wir kaufen dort alles, was wir für die Schiffspassage benötigen.“ Dann schließt sie die Mädchen in der Kammer ein.

Wieder mag sich Luise erst neben Anna legen, nachdem sie ihr Nachtgebet gesprochen hat. Diesmal fällt es ihr schon leichter, die Lutherworte herzusagen.

Die beiden Mädchen lassen ihr nur wenig Platz auf dem Lager. Steif und ganz gerade klammert sie sich an die Kante des Bettkastens. Das Rattern, Schütteln und Schaukeln in ihrem Kopf will einfach nicht aufhören.

Am Morgen warten sie vergeblich darauf, dass sich der Schlüssel in ihrer Tür dreht. Anfangs ist Luise froh, dass sie ihre Glieder noch ein wenig ausstrecken kann und stellt sich schlafend. Doch dann machen sich Hunger und Durst bemerkbar.

Aus der Nachbarkammer dringt kein Laut. Auch nicht, als Anna kräftig gegen die Wand klopft, später sogar mit ihrem Schuh dagegenschlägt.

Gegen Mittag poltert endlich etwas im Flur. Dann steht Schneider in der Tür und starrt die Mädchen verwirrt an: „Seid ihr nicht mit der Margarethe ausgegangen?“ Er trägt noch immer seine Reisekleidung. Sein Gesicht ist rot und er riecht nach Bier. Die Haare stehen ihm wirr vom Kopf.

„Sieht nicht danach aus“, gibt Anna pampig zurück, „und übrigens hatten wir noch kein Frühstück!“

„Dann geht eben eine von euch Milch und ein paar Wecken holen!“ Missmutig kramt Schneider eine Münze aus seiner Hosentasche. Er betrachtet die Mädchen nachdenklich und grummelt: „Aber wirklich nur eine!“

Die Anna halte er für viel zu durchtrieben, die lasse er nicht alleine gehen, entscheidet er. Und die Tesi wäre mit ihren vierzehn Jahren dort draußen verloren. Schließlich drückt er Luise das Geld in die Hand und erklärt ihr, wie sie zum Schaarmarkt kommt: „Aber du bummelst mir nicht draußen herum! Das lass ich deine Freundinnen büßen!“

Luise wird es angesichts des Gewimmels vor der Wirtshaustür ohnehin angst und bange. Sie versteht die Sprache dieser Leute nicht, traut sich nicht, jemanden anzusprechen, wird von der Menschenmenge einfach von einem Marktstand zum nächsten geschoben. Ängstlich blickt sie sich mehrmals um: Ob sie den Weg zurück noch finden würde?

An einer Wegkreuzung entdeckt sie einen Stand, an dem ein kräftiges Weib Milch aus einem großen Behälter schöpft. Scheu reicht sie ihr die Kanne, die Schneider ihr gegeben hat, und das Geld. Die Münzen, die sie zurückbekommt, tauscht sie in einem Bäckereiladen gegen ein dunkles Brot ein. Sie ist erleichtert, als sie in die Herberge zurückgefunden hat.

Schweigend teilen sich die Mädchen ihre karge Mahlzeit. Den Schneider um Wasser für ihren Waschtisch zu bitten, wagt keine. Er hat sie schnell wieder eingeschlossen.

Bald hören sie sein Schnarchen von nebenan.

Auch Anna streckt sich gähnend auf dem Lager aus. Wenig später fallen ihr die Augen zu. Tesi liegt neben ihr und starrt an die Decke.

Luise nimmt am Fußende Platz. Sie ist nicht müde, mag sich am helllichten Tag auch nicht hinlegen. Aber was könnte sie sonst tun? Zu Hause hat sie nie untätig herumgesessen. Immer hatte die Mutter eine Arbeit für sie.

Die Stunden ziehen sich zäh dahin.

Ob Tesi gern mit auf diese Reise gekommen ist? Ob sie, die so selten in der Schule war, überhaupt etwas über Amerika weiß? Oder ob der Schafhirt seiner Tochter befohlen hat, mit Schneider in die Fremde zu ziehen? Vielleicht hat Schneider für Tesi weniger zahlen müssen, weil sie zwei Jahre jünger ist als Luise.

Fünfhundert oder gar tausend Gulden: Dass ein einfaches Bauernmädchen wie sie so viel Geld wert ist, hat sie nicht gewusst. Warum sperrt der Dienstherr sie trotzdem in diese elende Kammer, spendiert ihnen nicht einmal ein paar neue Kleider? Wie gerne würde sie mit den anderen Mädchen darüber reden! Aber das Schweigen wird im Laufe des Nachmittags immer drückender.

Ein kleines Fenster mit einem Sprossenkreuz weist auf die Elbe hinaus. Luise wischt mit einem Rockzipfel ein Guckloch in eine der beschlagenen Scheiben. Dutzende von Dampfschiffen, Großseglern, Lastkähnen und Fischewern liegen vor ihren Augen im Hafen, kreuzen den Strom oder wühlen das Wasser auf. Durch die Schlieren und Blasen im Fensterglas wirkt alles verzerrt wie in einem seltsamen Traum. Möwen kreischen in der Luft, finden sich in Schwärmen zusammen und stoßen gemeinsam auf ihre Beute herab, sobald sie etwas Essbares auf einem Kahn entdecken. Mit ihren gierig aufgerissenen Schnäbeln wirken die riesigen Vögel so bedrohlich wie die Rabenkrähen, die im Frühjahr über Langenhain kreisen.

Endlich geht nebenan eine Tür. Im selben Moment hört das Schnarchen auf. Schneider scheint sofort hellwach zu sein.

„Wo kommst du denn her?“, schnauzt er seine Frau an, „hab ich dir nicht befohlen, mit den Mädchen in die Stadt zu gehen?“

„Wo kommst du denn her?“, äfft Margarethe ihn wütend nach, „sollte ich das nicht fragen?“

Schneider antwortet nicht.

„Du brauchst mir gar nichts zu erzählen. Ich weiß es sowieso: Bei der Hecht im Bordell hast du dich herumgetrieben!“, keift seine Frau ihn an. Luise würde sich am liebsten die Ohren zuhalten. Sie will nichts von diesem Streit wissen und versteht durch die dünne Wand doch jedes einzelne Wort.

Und auch wieder nicht. Denn was ein Bordell ist, weiß sie nicht so genau. Sie hat erst ein einziges Mal etwas darüber gehört. Im Waschhaus hat eine Magd erzählt, dass ihr Dienstherr aus so einem Haus in Butzbach abgeholt werden musste, als der Jahrmarkt vorbei war. Weil er seine Rechnung nicht mehr bezahlen konnte.

„Was tun die Männer dort?“, hatte Luise die Rosa leise gefragt, „ist es sehr teuer?“

„Ja weißt du denn nicht, wo die kleinen Kinder herkommen?“, kreischte diese laut los.

Sie wäre am liebsten im Boden versunken. Dabei konnte sie sich einiges zusammenreimen. Im Stall hatte sie oft genug gesehen wie der Eber über die Sauen herfiel, wenn man ihn aus seinem Gatter herausließ. Und sie wusste auch, dass man eine Kuh zum Stier bringen musste, damit sie ein Kalb bekam. Warum aber ein Bauer, der daheim schon ein halbes Dutzend hungrige Mäuler zu stopfen hat, aus freien Stücken zu einer fremden Frau ging, verstand sie nicht.

„Bist halt noch zu jung für solche Sachen. Frag deine Mutter“, erklärte ihr Rosa herablassend, „solange sie ihren Alten noch ranlässt, braucht er keine Huren.“

„Was geht es dich an, was ich geschäftlich zu tun habe?“, hört sie Schneider jetzt nebenan seine Frau anherrschen.

„Geschäftlich nennst du das also!“, giftet Margarethe zurück, „geschäftlich! Vor unserer Hochzeit hast du versprochen, dass du nicht mehr hingehst. Nie mehr in deinem ganzen Leben!“

„Und wenn schon?“, erwidert Schneider ruhig, „willst du mir etwa vorschreiben, wie ich mein Geld zu verdienen habe?“

„Mit Saufen und Herumhuren? Bringt dir das etwas ein?“

„Du willst es also wirklich wissen“, seine Stimme klingt kalt, „also gut: Ich habe heute früh den Handel besiegelt und der Hecht ein Mädchen abgenommen. Viel habe ich nicht zahlen müssen. Die Elisa ist schon zwanzig und hier nicht mehr viel wert. Aber in Amerika kann ich ein hübsches Sümmchen mit ihr machen.“

„Elisa? Elisa aus Nieder-Weisel meinst du? Wegen der warst du im Bordell?“

„Musste sie halt erst ausprobieren.“

„Du hast dein Lebtag genug ausprobiert, vor allem mit der Elisa! Und dieses Dreckstück kommt jetzt mit uns nach Amerika?“

„Es ist meine verdammte Pflicht“, Schneider spricht langsam und mit kaltem Zorn, „für mein Weib und meine Familie zu sorgen. Und du als meine Ehefrau hast mir beizustehen. So hast du es vor unserem Herrn versprochen. Also hör auf zu zänken und kümmere dich um die Mädchen. In ein paar Tagen sind unsere Reisepapiere fertig.“

Margarethe antwortet nicht. Nach ein paar Augenblicken fragt Schneider schmeichelnd und sanft: „Was hast du eigentlich in dem Paket da mitgebracht? Zeigst du mir, was du den Mädchen gekauft hast?“

Das sei Frauensache und ginge ihn überhaupt nichts an, gibt sie mürrisch zurück.

Er müsse das Paket nicht einmal auspacken, fährt Schneider voll falscher Freundlichkeit fort. Es sei ihm ohnehin klar, was seine verehrte Gattin ausgesucht habe: schon wieder ein neues Kleid für sich selbst. Und vielleicht noch ein buntes Tuch. „Während die Mädchen so zerlumpt herumlaufen, dass sie jedermann auffallen. Wer soll mir denn glauben, dass sie in Amerika in Stellung gehen? Jede Bettlerin hat besseres Zeug am Leib.“

„Dann gibst du mir eben noch einmal zehn Gulden“, erwidert Margarethe eingeschnappt, „du hast ja scheinbar genug.“

Schneider spricht jetzt so leise, dass Luise ihr Ohr dicht an die Wand pressen muss, um ihn zu verstehen.

„Wenn ich Geld zu verschenken habe, dann sage mir doch bitte, wo es versteckt ist. Die Auslösung für Elisa, die Reisekosten für alle … ich bin froh, wenn meine Ersparnisse dafür reichen.“

„Und wer hat sich in Langenhain aufgeführt wie ein reicher Mann?“, fragt Margarethe, „wer hat ein halbes Vermögen am Kartentisch verspielt?“

Als Luise von nebenan ein Klatschen und Rumpeln hört, fährt sie erschrocken von der Wand zurück. Dann beginnt die Frau leise zu schluchzen, und Schneider flüstert etwas, das sie nicht versteht.

Später verändern sich die Geräusche. Ein Murmeln, ein blödes Stöhnen und Ruckeln beginnt. Man könnte glauben, dass der Mann in der Nachbarkammer seine Frau verprügelt.

Endlich erwacht der kleine Christopher und beginnt zu greinen. Auch Anna schlägt jetzt die Augen auf. Tesi hat die ganze Zeit regungslos vor sich hin gestarrt, als sei sie blind und taub.

Bis zum Abend bleiben sie in der Kammer eingeschlossen. Die Luft ist zum Schneiden, als Margarethe ihnen endlich einen Teller Suppe hineinreicht. Ihre Augen sind blutunterlaufen.

Bald nach dem Essen strecken sich Anna und Tesi wieder gähnend aus. Auch Luise fühlt sich träge. Sie tritt noch einmal ans Fenster und starrt in den Abend hinaus. Von der Elbe steigt jetzt jene Kühle auf, nach der sie sich den ganzen Tag gesehnt hat. Immer wieder beschlagen die Glasscheiben, muss sie sich ein neues Guckloch freiwischen. Als es dunkel wird, tastet sie nach ihrem Bündel, kramt das große Wolltuch hervor und legt es sich um die Schultern.

Ihre Reise hat erst begonnen. Aber schon jetzt ist sie weiter weg von der Heimat als Vater und Mutter es in ihrem ganzen Leben waren.

Andere im Dorf haben schon früher versucht, ihr Glück in der Fremde zu machen. Nicht wenige sind mit viel Geld in den Taschen zurückgekommen. Ihre Eltern aber sind immer in ihrem Dorf geblieben. Die Großmutter hat einmal erzählt, wie schrecklich das Leben dort früher war. Die ganze Wetterau litt unter einer Hungersnot, als ihr Sohn noch ganz klein war. In einem fernen Land war ein Vulkan ausgebrochen, und danach verdunkelten schwarze Wolken den Himmel. Der Sommer fiel aus, Kälte und Nässe verdarben die Ernte.

Wie ein dunkler Schatten hat sich dieses Elend über das Leben von Balthasar und Margarethe Ludwig gelegt, hat sie zu harten und missmutigen Menschen heranwachsen lassen. Er war schon fünfundzwanzig und sie noch zwei Jahre älter, als sie miteinander vor dem Traualtar standen. Seither hatten sie kein anderes Ziel, als sich selbst und ihre Kinder satt zu bekommen und es im Winter warm zu haben. Doch nicht einmal das war möglich, ohne sich beim Oheim zu verschulden.

Luises Schultern straffen sich: Damit ist es jetzt vorbei. Die fünfhundert Gulden, die der Vater vom Schneider bekommen hat, werden die schlimmsten Lasten vom Hof nehmen. Und sie, die stets nur ein nutzloses Mädchen war, hat dem Vater diese schwindelerregende Summe eingebracht.

Bald wird sie ein Dampfschiff nach England besteigen. Von dort aus geht es weiter nach Amerika. In der Gartenlaube hat sie gelesen, dass viele Mädchen dort höhere Schulen besuchen und neuerdings sogar studieren können.

Vielleicht wäre das etwas für Dora, denkt sie. Die kleine Schwester soll es mal besser haben. In drei Jahren wird sie konfirmiert und kommt aus der Schule. Vielleicht erlauben die Eltern dann, dass Dora mit ihr nach Amerika kommt.

Die Wasserfläche kräuselt sich leicht. Am Anleger schwanken hunderte Mastbäume im Wind. Luise ruckelt so lange an einem Fensterflügel, bis dieser sich quietschend öffnen lässt und kühle Luft in die Kammer strömt. Es stinkt nach Kloake, Ruß und Teer.

Hat sich der Lehrer vorgestellt, dass sie darüber etwas aufschreibt, ihre Reiseeindrücke notiert? Aber ist das nicht alles längst geschehen? Was könnte ein einfaches Bauernmädchen wie sie erleben, was nicht schon von bedeutenden Schriftstellern zu Papier gebracht wurde?

Später wehen andere Düfte herüber. Für einen Moment ist ihr, als ginge sie daheim an einer Backstube vorbei. Es riecht nach geröstetem Korn, gedörrten Früchten, frisch gemähtem Heu und anderen, fremden Aromen. Ob das Gewürze aus fernen Ländern sind: Zimt, Muskatnuss, Anis? Oder Kaffee?

Von dem dunkelbraun schimmernden Getränk hat sie erst ein einziges Mal gekostet. Als der Vater mit ihr in der Stube des Bürgermeisters saß, um den Kontrakt mit Schneider abzuschließen, trug dessen Gattin eine Kanne davon auf. Luise kam sich plötzlich sehr erwachsen vor. Kaffeebohnen, so belehrte sie der Bürgermeister, seien heutzutage so kostbar wie Gold: Sie würden in fernen Ländern geerntet, auf Schiffen um die halbe Welt gebracht und erst in Deutschland sorgfältig geröstet.

„Bei euch Mädchen läuft es ja umgekehrt“, fügte er hinzu, zwinkerte Schneider zu und begann schallend zu lachen. Luise ließ sich nicht anmerken, dass sie den Witz nicht verstand.

Anna und Tesi wälzen sich unruhig. Eine Gestalt schält sich aus der Decke und tritt neben Luise ans Fenster.

„Kannst du auch nicht schlafen?“, fragt Anna.

„Mir ist immer noch schwindelig“, lügt Luise.

„Ach das“, raunt Anna verständig, „das kommt von der Eisenbahn. Du gewöhnst dich dran. Wenn du erst seekrank bist …“

„Ist es schlimm?“, fragt Luise erschrocken.

„Beim ersten Mal glaubst du, du stirbst. Aber ein paar Tage später ist dir wieder ganz wohl.“

„Du warst schon mal fort?“

„Auf Kuba. In Havanna.“

„Wenn du dich auskennst …“, unwillkürlich senkt Luise ihre Stimme, „vielleicht kannst du mir helfen.“

„Worum geht es denn?“ Anna wirkt skeptisch.

„Ich möchte einen Brief in die Heimat schicken.“

„Wozu das denn? Du bist doch gerade erst fort. Schreib den Eltern lieber eine Nachricht, wenn wir in Amerika angekommen sind.“

„Nicht an die Eltern. An meine Schwester, die Dora. Ich habe ihr nicht Lebwohl sagen können.“

„Also, wenn es unbedingt sein muss“, gibt Anna etwas gelangweilt zurück, „du brauchst einen Stift, ein Blatt Papier und einen Umschlag. Das konntest du dir ja wohl denken. Wenn du einen Brief abschicken willst, musst du im Postamt dafür bezahlen, ich weiß nicht genau wie viel. Frag einfach dort … es ist nicht weit von hier. Wenn Schneider dich nochmal raus lässt.“

„Ich weiß nicht“, zögert Luise, „soll ich ihn darum bitten?“

„Besser nicht“, antwortet Anna mitleidlos.

„Ich würde den Brief an den Lehrer schicken“, überlegt Luise weiter, „dann bemerkt der Vater ihn nicht. Schulmeister Faber hilft mir bestimmt und gibt ihn der Dora.“

„Ach der“, schnaubt Anna verächtlich.

Beklommen lenkt Luise das Gespräch in eine andere Richtung.

„Du warst auf Kuba?“, fragt sie scheu, „ist das weit weg?“

„So ähnlich wie Amerika. Als ich von daheim fort bin, waren die Bäume schon fast kahl. Zu Weihnachten sind wir auf Kuba angekommen.“

„Hat es dir dort gefallen?“

„Und wie! Es ist das ganze Jahr über Sommer. Überall wachsen Palmen, und es gibt breite Straßen und prachtvolle Paläste. Wie ich es mir in Paris vorstelle.“

„Du warst als Tanzmädchen vermietet?“, Luise zögert, „ist der Dienst schwer?“

Anna kichert. „Dienst? So kann man es auch nennen. Es ist eine verkehrte Welt: Sechs Mal in der Woche ist Feiertag. Du musst dich nur putzen und zum Tanz gehen.“

Luise zieht das Wolltuch etwas fester um ihre Schultern und reibt ihre Arme. Sie war erst einmal in ihrem Leben auf einem Tanzvergnügen, mit der Mutter in Ober-Mörlen. Es war scheußlich. Den ganzen Nachmittag saß sie in dem halbleeren, riesigen Saal und wartete darauf, dass sie ein Bursche auf die Tanzfläche führte. Aber nichts dergleichen geschah. Es waren fast nur Mädchen gekommen.

„Wo hast du die Schritte und Drehungen gelernt? Hat es dir jemand beigebracht?“, fragt sie.

„Darauf kommt es nicht an. Die Männer bezahlen dafür, dass sie uns anfassen und mit sich herumschwenken dürfen.“

„Sind auch Neger dabei?“

„Niemals!“, antwortet Anna empört, „alle Schwarzen sind Sklaven. Sie dürfen in die Tanzlokale gar nicht hinein.“