1. Auflage Mai 2020
© 2020 Turner, Lilly-Grace
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 9783749495214
lillygraceturner.com
Copyright Sonetten © 2020: Philipp Streuli
Tempus Logus Verlag Luzern, tempuslogus.ch
Lektorat: büropia, Wolma Krefting, bueropia.de
Korrektorat: Sandra Schmidt, text-theke.com
Cover: Juliane Schneeweiss, juliane-schneeweiss.com
Bildmaterial: Paar © shutterstock.com/ Elena Vasilchenko
Hintergrund © shutterstock.com/ Creative Travel Projects
Gestaltung E-Book und Taschenbuch: Corinna Rindlisbacher, ebokks.de
Weil Liebe das einzig Wahre ist.
Weil Liebe Kraft gibt und die Welt zu einem besseren Ort macht.
Eigentlich habe ich einen besonderen Bezug zu König Drosselbart, spielte ich doch damals im Kindergarten die eitle und verwöhnte Prinzessin. Trotzdem trug ich mich mit dem Gedanken, ein anderes Märchen neu zu erzählen, bis eine begeisterte Leserin von „Rapunzels Kuss“ sagte, sie würde sich über eine Adaption von „König Drosselbart“ freuen. In diesem Sinne: Herzlichen Dank, Juliane von daisys_buch_reise . Ich weiß nicht, ob die Geschichte ohne dich so schnell ihren Weg aufs Papier gefunden hätte. Was wirklich schade gewesen wäre, denn ich hatte viel Freude beim Schreiben und mag die Geschichte sehr.
Ich hoffe, ihr habt genauso viel Spaß beim Lesen wie ich beim Schreiben.
Herzlichst
eure Lilly-Grace
König Josef herrschte seit seinem siebzehnten Geburtstag über das Reich Nava. Ein fruchtbares Land mit saftigen grünen Wiesen, prächtigen Wäldern, ertragreichen Feldern, mit Seen und Bergen. In Nava gab es weder Hunger noch Krieg. Das Volk liebte seinen König und der König liebte seine Untertanen. Doch trotz allem wurde der Monarch der „Pechkönig“ genannt oder „Josef, der Unglückliche“. Denn das Unglück war des Königs steter Begleiter – schon von Kindesbeinen an. Geboren als jüngster von drei Brüdern war er ein schmächtiges Kerlchen, das nur Flausen im Kopf hatte.
Josef liebte es, auf Bäume zu klettern, mit seinem Pony über die Wiesen zu galoppieren und den Schlossbewohnern Streiche zu spielen. Die Eltern ließen ihn gewähren, denn in der Thronfolge stand Josef an letzter Stelle.
Als der Prinz zehn Jahre alt war, brach in Nava eine Seuche aus, die selbst vor dem Adel keinen Halt machte. Das schwere Fieber raffte Josefs Mutter und den ältesten Bruder dahin, und als ob das nicht genügte, fiel der zweitälteste Bruder nur zwei Jahre später vom Pferd und brach sich dabei das Genick. Josefs Vater war am Boden zerstört. Seine geliebte Frau tot, sein ältester Sohn und Thronfolger dahingerafft und dann starb auch noch der zweitälteste Sohn. Ausgerechnet der schmächtige Luftikus Josef blieb ihm als Einziger übrig.
Mehr als je zuvor bekam der zwölfjährige Josef die Abneigung seines Vaters zu spüren. In Worten, in Blicken und dann schließlich, als der König sich voller Gram in seine Gemächer verkroch und niemanden mehr sehen und sprechen wollte.
Josef fühlte sich wie ein Schatten seiner selbst. Er hatte keine Lust mehr, auf seinem Pony über die Wiesen zu galoppieren, die Ideen für Streiche waren ihm ausgegangen, und Bäume nutzte er nur noch, um darunter zu sitzen.
Vier Tage lang unterwarf er sich seiner Traurigkeit. Am fünften Tag, man hielt es kaum für möglich, nachdem weitere Tränen geflossen waren und schließlich als salzige Straßen auf seinen Wangen trockneten, fasste er einen Entschluss. Von nun an würde er ein ernster und verantwortungsvoller Prinz sein. Einer, auf den sein Vater stolz sein konnte, dem er mit gutem Gewissen eines Tages den Thron überlassen konnte.
Josefs Entschluss folgten Taten, die erst Früchte trugen, als der Vater sterbend im Bette lag und seinen Sohn zu sich rief.
„Ich bin sehr stolz auf dich“, hatte König Heinrich geflüstert. Die Worte wärmten Josefs Herz. Manchmal dachte er heute noch an das Lob des Vaters. Das einzige, das jemals dessen Mund verlassen hatte.
„Hoheit, geht es Euch gut?“ Die besorgte Stimme Balduins holte Josef aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Er saß an seinem riesigen Schreibtisch aus Kirschbaumholz. Vor ihm lagen Dokumente, die er noch zu lesen und unterzeichnen gedachte. Auch wenn in Nava Wohlstand herrschte und das Reich mit niemandem im Krieg lag, so gab es doch immer viel zu tun für den Herrscher. Straßen mussten ausgebessert, Brücken repariert werden, um den Handel aufrechtzuerhalten. Banditen galt es zu bestrafen, Steuern mussten auferlegt und eingeholt werden. Manch einer versuchte sich darum zu drücken. Einmal in der Woche klagte der Steuereintreiber darüber sein Leid. Josef seufzte schwer. Er wurde langsam alt. Sein Kopf schmerzte, wenn er an all die Aufgaben dachte, die ihm Tag für Tag auflagen.
„Hoheit?“, fragte Balduin erneut. „Ist Euch unwohl?“
„Nein“, erwiderte Josef. „Ich war nur in Gedanken.“
„Habt Ihr an die Königin gedacht?“, erkundigte sich der Diener zaghaft.
„An meinen Vater und seine letzten Worte, ehe er seine Reise zum Herrn antrat.“ Josef drehte versonnen den Siegelring an seinem Finger hin und her. Einst steckte er an der Hand seines Vaters.
„Ich wünschte, ich hätte ihn gekannt. So viel Gutes wird von ihm berichtet“, bedauerte Balduin und zwirbelte seinen Schnäuzer.
„Er war ein sehr strenger Vater und Herrscher, aber auch gerecht“, sagte Josef, dachte aber gleichzeitig wehmütig an die Zeit, in der Heinrich in seinem Jüngsten lediglich einen Nichtsnutz gesehen hatte. Wie einfach war für ihn damals alles gewesen, keine lastende Verantwortung über ein ganzes Reich.
„Kann ich Euch in irgendeiner Art und Weise behilflich sein, Majestät, oder möchtet Ihr in Ruhe die Dokumente durchgehen?“
Josef blickte Balduin an. „Du kannst mir behilflich sein. Ich möchte eine Feierlichkeit veranstalten. Einen prunkvollen Ball.“
Balduin machte einen Diener. „Sehr wohl. Wen wollt Ihr einladen?“
„Sämtliche Freier von königlichem Geblüt!“
„Mit Verlaub?“ Balduin beugte sich etwas vor.
„Du hast schon richtig gehört. Alle heiratsfähigen Prinzen und Könige will ich auf meinem Schloss begrüßen.“
„Ihr wollt einen Gatten für die Prinzessin finden?“ Entsetzen schwang in Balduins Stimme mit, als hätte ihm der König soeben eine Aufgabe übertragen, die nicht zu bewältigen war.
„Schau mich nicht derart entgeistert an!“, rief Josef aus. „Ich weiß selbst, wie anspruchsvoll meine Tochter ist.“
Anspruchsvoll war zu milde ausgedrückt, dessen war sich der König durchaus bewusst. Alina war wunderschön, wie es ihre Mutter gewesen war, aber auf diesen Umstand beschränkten sich auch schon ihrer beider Gemeinsamkeiten. Für den Rest trug Josef die Verantwortung. Er hatte das Kind nach dem Freitod der Mutter nach Strich und Faden verwöhnt.
„Ich möchte Eure Hoheit an die Geschichte mit dem Einhorn erinnern …“
Josef stöhnte auf und lehnte sich im Sessel zurück. „Willst du damit andeuten, es sei genauso unmöglich, einen Mann für meine Tochter zu finden, wie es die Suche nach einem Einhorn wäre?“ Balduin blickte verlegen auf seine Schuhe hinunter, während er wieder seinen Schnäuzer zwirbelte. „Ich wollte Euch nicht beleidigen oder …“
Josef winkte ab. „Wie lange dienst du mir schon?“
„Fünfundzwanzig Jahre, Eure Hoheit.“
Der König schmunzelte. „Wir haben vieles gemeinsam durchgestanden, selbst die Einhorn-Geschichte, aber im Gegensatz zu den Einhörnern sind die Freier noch nicht ausgestorben.“ Er zwinkerte Balduin zu.
Dieser lächelte, wenn auch sehr zurückhaltend. „Wohl kaum.“
Josef wollte gerade etwas erwidern, als ein stechender Schmerz durch seine Brust schoss und er kaum noch atmen konnte.
Balduin eilte sofort um den Schreibtisch herum. „Hoheit, geht es Euch gut?“
„Selbstverständlich“, japste Josef, obwohl dem überhaupt nicht so war. Sein Herz pumpte schwer, aber das Stechen nahm langsam wieder ab. Zu viel hatte sein Herz in all den Jahren ertragen müssen. Der Tod seiner Brüder, der Mutter, des Vaters und dann der Selbstmord seiner Gattin. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihm noch blieb. Deswegen war es ihm wichtig, seine geliebte Alina in sicheren Händen zu wissen.
„Ich will diesen Ball so schnell wie möglich! Also husch, husch, lade alle Freier ein. Die Prinzen, die Könige, die Witwer – egal!“
Balduin machte einen Diener. „Zu Befehl, Euer Gnaden.“
„Schick zuerst aber meine Tochter zu mir. Sag ihr, es sei dringend.“
Flinken Schrittes verließ Balduin das Arbeitszimmer des Königs. Er liebte seinen Herrscher mit all dessen liebenswerten, verrückten und enervierenden Seiten. Balduin schmerzte es, zu sehen, wie Josefs Gesundheit sich verschlechterte. Gleichzeitig beunruhigte ihn die Zukunft. Was für einen Mann würde sich Alina zu ihrem Gemahl erwählen? Und wie würde das neue Königspaar über Nava herrschen? Er wagte es sich nicht auszumalen. Schnell schob er den Gedanken beiseite.
Balduin hatte das Ende der Haupthalle erreicht, wo üblicherweise die Gäste des Königs und die Bittsteller eintrafen. Von hier aus führten Abzweigungen zu allen Flügeln des Schlosses und zu einer steinernen, breiten Treppe in die oberen Etagen hinauf. Der Prachtbau konnte mit fünfhundert Zimmern aufwarten. Balduin seufzte, manchmal hatte er das Gefühl, er wäre auf einer ewigen Wanderung von einem Gemach zum nächsten. Als Kind hatte die Prinzessin sich oft einen Spaß daraus gemacht, sich zu verstecken. Erst wenn die gesamte Dienerschaft, eingeschlossen die Wachmänner und Ritter, nach ihr suchte, war sie in ihrem Spiel befriedigt.
Heute aber wusste Balduin, wo Prinzessin Alina sich aufhielt. Sie hatte Tanzunterricht bei Florent Étoile, der aus Venrinn stammte und ein berühmter Tänzer und Lehrer war. Alina hatte sich gewünscht, von ihm unterwiesen zu werden, nachdem sie ihn bei einer Aufführung gesehen hatte. Der König ließ sich wie immer von ihrem Betteln und Flehen erweichen. Balduin wagte nicht, sich auszumalen, wie viele Goldstücke der Halunke und Frauenheld für den Unterricht erhielt.
Er klopfte an die Flügeltür des Ballsaales. Es dauerte einen Moment, ehe ihm aufgemacht wurde. Der Herr Tanzlehrer persönlich öffnete mit fragendem Blick.
„Seine Majestät wünscht, die Prinzessin zu sprechen“, verkündete Balduin mit seiner eher hohen Stimme.
Florent Étoile drehte sich um und rief in seinem typischen Venrinn-Akzent, indem er jedes Wort dehnte: „Durchlaucht, Euer Herr Vater schickt nach Euch.“ Gleichzeitig bewegte er sich von der Tür weg, was Balduin die Gelegenheit gab, einzutreten.
Alina stand vor einem der großen Spiegel, von denen es sehr viele in dem Raum gab, und bewunderte, wie so oft, ihr eigenes Abbild. Sie war eine dunkelhaarige Grazie mit einem Teint wie Milch und mit Augen so blau wie ein Bergsee und manchmal genauso kalt, sodass nicht einmal ihre weichen Gesichtszüge ihn wärmen konnten.
„Warum störst du mich?“ Ihre Stimme klang angesichts ihres feingliedrigen Körperbaus überraschend dunkel, stand aber im Einklang mit ihren vollen Lippen.
„Euer Vater will Euch sehen. Es ist dringend.“
„Dringend, dringend“, lamentierte Alina. „Stets ist es dringend. Mir bleibt kaum Zeit für mich. Ständig werde ich von einem Gemach in das nächste zitiert.“
Balduin seufzte, leise genug, um nicht von der Prinzessin oder dem Tanzlehrer gehört zu werden. Seine Gedanken schweiften von den eben gehörten Klagen zu den Problemen eines Dieners – um genau zu sein, zu all den Aufgaben, die noch anfallen würden, ehe der Ball stattfinden konnte. Der Tanzsaal musste eiligst auf Vordermann gebracht werden. Alleine die Reinigung der Spiegel im Saal bot Beschäftigung für einen Tag, dann die riesigen Kronleuchter, die von der Decke hingen, der Boden … Und es musste auch der Speisesaal vorbereitet werden … Balduins Gedanken überschlugen sich. Er würde die nächsten Tage nichts weiter tun, als Personal befehligen und deren Arbeit kontrollieren, damit der König am Ende zufrieden war – nein, nicht zufrieden, sondern begeistert.
„Bitte, Prinzessin, es ist Eurem Vater ein dringendes Anliegen. Bedenkt seinen Gesundheitszustand“, sagte Baldwin gepresst, den Rücken unter der Last der Eigensinnigkeit Alinas leicht gekrümmt.
Hochnäsig hob die junge Frau den Kopf und schob das Kinn nach vorne. „Ich komme, wenn der Tanzunterricht zu Ende ist. Vater wird es überleben. Noch liegt er nicht im Sterben.“
Balduins Finger juckten. Er fühlte sich versucht, das verwöhnte Gör an den Haaren zu packen und eigenhändig zum König zu schleifen. Bildlich konnte er es sich vorstellen. Ein amüsanter Gedanke, den er rasch beiseiteschob, um nicht laut aufzulachen.
„Ich werde es Seiner Hoheit ausrichten“, sagte Balduin, verbeugte sich und machte sich auf den Weg zurück zum Arbeitszimmer des Königs. Josef würde die Nachricht stoisch hinnehmen, so wie er jedes Betragen seiner Tochter hinnahm.
Alina entspannte sich ein wenig, nachdem Balduin gegangen war. Hinter sich fühlte sie die Präsenz des Tanzlehrers. Florent war ihr so nah, dass sie seine Körperwärme spüren konnte.
„Hoheit, solltet Ihr dem Wunsch Eures Vaters nicht nachkommen?“ Sein Atem streifte ihren Nacken, sämtliche Härchen stellten sich ihr unter einem wohligen Schauer auf. Seinem Akzent haftete etwas Verführerisches an und er schien sich dessen durchaus bewusst zu sein, denn Florent zupfte die Saiten des Eros wie ein Virtuose sein Instrument, und nicht weniger perfekt wusste er sein Erscheinungsbild in Szene zu setzen. Jede Bewegung seines schlanken Körpers war flüssig, und unter der eng anliegenden Tanzkleidung konnte Alina seine Muskeln spielen sehen. Das Blut der Prinzessin kochte in seiner Gegenwart, obwohl er zehn Jahre älter war als sie und bereits um die halbe Welt getanzt. Sie sah in seine grauen Augen.
„Zeig mir den verbotenen Tanz!“, flüsterte sie heiser.
„Hoheit, Euer Vater ließ nach Euch schicken in einer dringlichen Angelegenheit“, sagte Florent halbherzig und der Schalk leuchtete ihm aus den Augen. Seine Lippen zuckten aufreizend. Er würde ihr den Tanz zeigen, ohne Frage, denn Alina war sich seiner Zuneigung für sie sicher. Also trat sie an ihn heran, bis sich ihre Körper sachte berührten. Einem anderen Mann als dem Ehemann so nahe zu sein, war nicht sittlich. In den südlichen Ländern wie Venrinn wurde damit weniger streng umgegangen.
Der verbotene Tanz, das war eine Verschmelzung von Eifersucht, Begehren und der Liebe zwischen Mann und Frau.
„Der schönste Tanz überhaupt“, hatte Florent gesagt und ihr dabei tief in die Augen geblickt. Alina war erschaudert bei seinen Worten, und auch jetzt, als er sie aufforderte: „Streck deine Hand aus“, war es, als würden unsichtbare kalte Fingerspitzen über ihren Rücken fahren. Mit pochendem Herzen gehorchte sie. Florent ergriff ihre Hand, legte gleichzeitig die andere an ihre Hüfte. Mit einem Ruck zog er sie ganz an seinen Körper heran. Ein Aufschrei der Überraschung entwich Alinas Mund. Sie spürte, wie er hart an ihr wurde. Abwechselnd wurde es Alina heiß und kalt. Seit sie Tanzunterricht mit Florent hatte, lag sie nachts in ihrem Bett und malte sich unanständige Dinge aus. Dinge, die sie nur vom Hörensagen kannte, aber ihre erwachende Weiblichkeit in Verzückung brachte. Ihm nun jedoch so nahe zu sein, weckte in ihr auch Angst vor dem Unbekannten. Und als Florent sanft seine Hand an ihre Kniekehle führte, ihr Bein etwas anhob und sie dann abrupt an sich heranzog, schnappte sie erschrocken nach Luft. Mit dieser Berührung drückte er sie enger an seine Lenden. Alina errötete, sie konnte die Hitze auf ihren Wangen spüren. Sie räusperte sich: „Ich muss zu meinem Vater.“
Mit einem Grinsen, das die Prinzessin nicht deuten konnte, ließ Florent ihr Bein los und lockerte den Griff an ihrer Hüfte, sodass sie einen Schritt zurücktreten konnte. Alina kniff ihre Augen zusammen und neigte den Kopf leicht zur Seite. Machte der Tanzlehrer sich über sie lustig? Wut flammte in ihr auf. Sie war Prinzessin Alina, die Tochter von König Josef, dem Herrscher über Nava!
„Was grinst du so ungehörig?!“, verlangte sie zu wissen.
„Nichts, Hoheit, nichts“, erwiderte Florent ernst. Aber seine Augen blitzten spöttisch, was Alina gegen den Strich ging.
„Du machst dich über mich lustig.“
Florent vollführte eine leichte Verbeugung. „Aber nein, Eure Durchlaucht, mich amüsiert lediglich die Tatsache, dass Ihr Woche für Woche nach dem verbotenen Tanz verlangt, und kaum will ich ihn Euch zeigen, errötetet Ihr wie ein kleines Mädchen und wollt sofort zu Eurem Vater rennen, statt Euch dem Tanz hinzugeben.“ Florent sah sie herausfordernd an.
„Der Gesundheitszustand meines Vaters ist besorgniserregend“, zeterte die Prinzessin melodramatisch. „Vielleicht geht es mit ihm zu Ende!“
Nun lachte Florent laut auf. „Bisher habt Ihr Euch herzlich wenig um die Gesundheit Eures Vaters geschert.“
„Unverschämter!“, platzte es wütend aus Alina heraus. „Ihr wagt es, so mit mir zu sprechen!“
Florent machte einen Schritt auf sie zu und beugte sich leicht vor, sodass sein Gesicht dicht vor dem ihren war. „Wollt Ihr keinen Kuss zum Abschied?“, fragte er lächelnd.
„Warum sollte ich gerade von Euch einen Kuss wollen?“, rief Alina erbost.
„Ich habe vernommen, Ihr würdet bei Euren Zofen damit prahlen, mich geküsst zu haben. Wollt Ihr Euch nicht überzeugen, ob meine Lippen wirklich so süß kosten, wie Ihr es Euren Dienerinnen beschreibt?“
„Welche Zofe hat Euch davon erzählt?“, wollte Alina wissen. Als Florent nicht antwortete, stampfte Alina wütend mit dem Fuß auf. „Sagt es mir!“
Florent verschränkte die Arme vor der Brust, die Lippen zu einer schmalen Linie gepresst.
„Sagt es mir! Ich befehle es!“, schrie Alina. Alle Faszination für den Tanzlehrer war verpufft. Er war in ihren Augen nur noch ein weiterer ungehobelter Kerl im Schloss, den es galt, in die Schranken zu weisen. Außer der Wut verspürte sie aber auch Mitleid mit sich selbst über ihr Dasein als Prinzessin. Nicht weil sie keine sein wollte, sondern weil die Untergebenen ständig so aufmüpfig waren. Alina war sich ihrer Schönheit und ihres Reichtums durchaus bewusst und des Neides ihrer Zofen auf ihr Leben. Sie würde alle in den Kerker werfen lassen. Die Prinzessin schalt sich selbst eine zu vertrauensselige Närrin. Nie hätte sie den Bediensteten von ihrer Schwärmerei für den Tanzlehrer erzählen sollen.
„Eure Durchlaucht, es ist weit über die Grenzen des Reiches bekannt, wie schön Ihr seid. Doch hinter vorgehaltener Hand sprechen die Menschen auch über Eure Selbstgefälligkeit. Ich wollte den Worten keinen Glauben schenken, mir selbst ein Bild machen, wer Ihr seid, aber sie sprechen alle die Wahrheit. Ihr habt keine Ahnung vom richtigen Leben und davon, wie es den einfachen Menschen geht.“
„Meinem Volk geht es gut!“
„Wenn Ihr es sagt.“
„Ich höre den Spott in deiner Stimme!“
„Das war beabsichtigt!“, erwiderte Florent gelassen.
„Ihr seid eine Aufschneiderin! Erzählt den Zofen, ich würde Euch zu Füßen liegen, Euch begehren. Prinzessin, Ihr seid Euch Eurer Schönheit so sicher, Eures Titels, Eures Reichtums. Wenn man Euch das alles wegnähme, dann würde nichts mehr von Euch übrig bleiben – Ihr wärt ein Nichts!“
„Ich lass dich hinrichten“, kreischte Alina. „Du Wurm!“
Florent wirkte nicht im Mindesten beeindruckt, was sie in noch mehr Rage versetzte.
„Bastard, dir wird das Grinsen noch vergehen!“ Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte aus dem Tanzsaal. Ihre eiligen Schritte führten sie jedoch nicht zu ihrem Vater, sondern in die Küche. Wie ein Orkan platzte sie hinein und scheuchte damit das Personal wie einen Haufen Spatzen auf. Vom Koch bis zur Magd verbeugten sich alle hastig.
„Eure Hoheit, was wünscht Ihr?“, fragte Anna, die Magd.
„Ein Rosinenbrötchen!“, schrie Alina. Sie machte eine hastige Drehung, die Augen weit aufgerissen. Fragend sah sie die Bäcker an. Der Jüngste unter ihnen, Karl, ein kleiner Kerl, stotterte: „Ich … die … also die Brötchen gibt es nur sonntags, Eure Majestät.“
„Das ist mir egal! Ich will jetzt eines!“, polterte die Prinzessin, das Kinn energisch in die Höhe gereckt. Die Magd drehte sich ihr wieder zu, den Mund geöffnet, ohne dass ein Wort daraus entwich. Nun schaltete sich Heinz, ein älterer Bäcker, ein: „Jetzt ist es unmöglich, Hoheit“, erklärte er sanft. „Der Teig muss erst gemacht werden.“
„Dann hopp, spute dich!“
„Aber der Teig muss auch noch treiben, wollt Ihr so lange hier warten?“ Die schiere Panik schwang in der Stimme des Bäckers mit.
„Sei kein Narr“, sagte Alina hochnäsig. „Bring mir das Brötchen, sobald es fertig ist.“ Damit rauschte sie wieder ab. Vor der Tür der Küche blieb sie kurz stehen, schnappte nach Luft. Ihr ganzer Körper zitterte vor Wut. Alle schienen sich gegen sie verschworen zu haben.
Alina machte sich auf den Weg zu ihrem Vater. Obwohl Balduin ihr nicht gesagt hatte, wo sie ihn finden würde, so war die Wahrscheinlichkeit groß, dass er in seinem Arbeitszimmer saß. Ihr Vater verbrachte viel Zeit dort. Lesend und brütend über irgendwelchen Dokumenten. Sehr oft war Balduin bei ihm oder der Schatzmeister Lorenz. Alina befand, ihr Vater würde zu viel Zeit mit Arbeiten verbringen, ohne die Vorzüge seines Königsdaseins zu genießen. So war für Alina der schlechte Gesundheitszustand des Vaters auch nicht verwunderlich. Er sollte besser die anderen mehr arbeiten lassen.
Eine Wache stand vor dem Gemach. „Eure Hoheit“, begrüßte er sie mit einer Verbeugung.
„Mein Vater will mich sehen.“
Der Wachmann klopfte an die Tür, welche auf der anderen Seite von einem Diener geöffnet wurde.
„Die Prinzessin möchte zum König“, verkündete der Wachmann. Ehe der Diener etwas erwidern konnte, rief Josef: „Lasst meine Tochter ein!“
Wie erwartet hockte ihr Vater am Schreibtisch. Er war blass. Sie nahm es wahr, spürte wie Sorge in ihr Aufkeimen wollte und erstickte sie so gleich im Keim.
„Lasst Florent hinrichten!“, platzte es aus Alina heraus.
Der König richtete sich kerzengerade auf. Seine Augenbrauen schnellten in die Höhe. „Den Tanzlehrer?“ Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass Josef über ein ausgezeichnetes Namensgedächtnis verfügte und auch deswegen von seinen Bediensteten und dem Volk geliebt wurde. Er konnte sich oft sogar an den Namen des unbedeutendsten Bauern erinnern, den er nur einmal gesehen hatte. Niemand wusste, wie der König dazu in der Lage war.
„Er hat mich unzüchtig berührt!“, klagte Alina und presste mühselig ein paar Tränchen heraus, die ihre Wirkung beim Vater nicht verfehlten. Er verlangte nach dem Wachmann vor seiner Tür. Als dieser eintrat, gab er ihm den Befehl, Florent gefangen zu nehmen und unverzüglich herzubringen. Josef hievte sich ächzend hinter seinem Schreibtisch hervor. Dass er in seinen jungen Jahren ein schlanker König gewesen war, konnte sich heute kaum noch einer vorstellen. Mittlerweile trug er einen runden Bauch zur Schau, der ihn schwer schnaufen ließ. Tröstend legte er seiner Tochter eine Hand auf die Schulter. „Ich werde den Kerl angemessen bestrafen“, versprach er. „Du weißt, ich ertrage es nicht, dich weinen zu sehen.“
Alina schluchzte.
„Und du weißt, ich bin ständig in Sorge um dich. Deswegen ist es mir ein Anliegen, dich in guten Händen zu wissen, wenn ich einmal nicht mehr da sein kann für dich.“
„Vater, Ihr wollt doch nicht sterben!“, rief die Prinzessin erschrocken.
„Von wollen kann keine Rede sein, aber ich spüre, wie meine Lebenskraft schwindet. Deswegen richte ich für dich einen Ball aus. Alle heiratsfähigen Adligen werden eingeladen. Ich bin zuversichtlich, dass sich unter diesen vielen Freiern auch ein würdiger Mann befindet, der dir zum Gemahl reicht.“ Der Vater lächelte seine Tochter aufmunternd an.
„Ich will einen reichen und schönen Mann.“
„Aber sicher“, brummte Josef.
„Er muss volle und schön geschwungene Lippen haben. Seine Augen müssen blau sein oder grün. Sein dunkles, dichtes Haar muss ihm bis zu den Schultern reichen. Er muss groß sein und stark“, zählte Alina eifrig auf. „Er muss ein Grübchen im Kinn haben, genau hier.“ Sie deutete auf die Stelle ihres eigenen Kinns. „Seine Stimme muss tief sein und …“
„Alina, ein hübsches Äußeres ist nicht alles“, unterbrach der Vater ihren Redefluss. „Der Mann soll auch einen aufrichtigen Charakter haben!“
Sie verdrehte die Augen. „Selbstverständlich, aber ich möchte ihn auch gerne anschauen.“ Die Prinzessin schob trotzig ihre Unterlippe vor.
Der König seufzte. „Deine Mutter und ich, wir kannten uns vor der Hochzeit nicht und trotzdem verliebten wir uns in den Jahren des Zusammenseins ineinander.“
„Mutter war wunderschön!“, erinnerte Alina ihren Vater.
„Sie hatte auch ihre Makel“, sagte der König. „Und um derentwillen liebte ich sie umso mehr.“ Josefs Blick war sehnsüchtig in die Vergangenheit gerichtet.
Alina spürte einen dumpfen Schmerz in sich pochen. Ein Teil von ihr vergötterte ihre Mutter und ein anderer Teil war wütend auf sie, weil sie sich das Leben genommen hatte. Ihr Vater hatte die Tat damit erklärt, dass der Schmerz des Verlustes ob der verlorenen Kinder für die Mutter nicht mehr zu ertragen war. Sie sei eine sehr feinfühlige Frau gewesen. Zu gut für diese Welt, zu zart, wie eine Rose, die irrtümlicherweise im Winter erblühte und der Kälte erlag.
König Josef räusperte sich: „Wie dem auch sei, ich werde diesen Ball veranstalten und du wirst mit jedem einzelnen Freier sprechen. Ich lasse dir die Wahl. Wähle weise, meine Tochter.“ Mahnend blickte er sie an.
Alina ließ sich davon nicht beeindrucken. Ihr Vater konnte so streng dreinschauen, wie er wollte, am Ende beugte er sich immer ihrem Willen. Mit dieser Gewissheit verließ sie ihn.
Am späteren Nachmittag bekam Alina endlich ihr Rosinenbrötchen, aber der Appetit darauf war ihr vergangen. Florent war wie vom Erdboden verschwunden, was sie gehörig aufbrachte. Ihr Vater versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen, indem er den Schneider rief, um seiner Tochter eigens für den Ball ein Kleid anfertigen zu lassen. Herrliche Stoffe wurden ihr vorgeführt. Alinas Wahl fiel auf einen Traum aus zartrosa Seide und Tüll, welcher ihr dunkles Haar und ihren vornehm weißen Teint am besten zur Geltung brachte.
Am Tag des Balls herrschte schon am frühen Morgen große Aufregung auf dem Schloss. In der Küche wurde emsig gebacken, gebraten und gekocht. Josef hatte nach einem reichlichen Mahl verlangt, mit Köstlichkeiten, die ihresgleichen suchten.
Diener richteten die Gästezimmer her für die Anreisenden aus der Ferne.
Alina stand im Ankleidezimmer und ließ sich von ihren Zofen die Haare zurechtmachen. Zum vierten Mal. Bisher war sie mit keinem Ergebnis zufrieden gewesen. So mussten die armen Frauen ständig von Neuem ihr dunkles Haar flechten und hochstecken.
Die Stimmung der Prinzessin hatte einen Tiefpunkt erreicht, als Balduin an die Tür klopfte und erklärte: „Eure Hoheit, alle warten auf Euch – auch Seine Majestät, der König.“
„Mein Haar muss ordentlich frisiert sein oder soll ich wie eine Vogelscheuche auf dem Ball erscheinen?“ Sie lächelte gehässig in den Spiegel. Im Hintergrund sah sie, wie Balduin seine Hände rang. Sie genoss seinen unglücklichen Gesichtsausdruck. Sollte er getrost auch leiden, wenn sie es tat. Der Diener gab klein bei: „Wie Ihr wünscht, Eure Durchlaucht.“
„Hoheit, Ihr seht wunderschön aus“, säuselte eine der Zofen, deren Namen Alina nicht mehr wusste, da sie, wie die anderen, erst vor Kurzem ihren Dienst angetreten hatte. Nach dem Vorfall mit Florent hatte Alina die Entlassung all ihrer früheren Zofen bei ihrem Vater durchgesetzt.
Alina lächelte breit und nun auch glücklich. Dieses Mal hatte die Zofe recht. Sie sah wirklich wunderschön aus. Die Dienerin hatte ihr das Haar zu mehreren Zöpfen geflochten und einen Teil des Haares mit goldenen Spangen hochgesteckt.
Wenig später ließ sich Alina, mit viel Verspätung, am Arm ihres Vaters in den Ballsaal geleiten, vorbei an all den potenziellen Ehemännern. Die Prinzessin badete in den bewundernden Blicken, die auf sie fielen. Doch als sie begann, sich umzusehen, gefror ihr das Blut in den Adern. „Vater, das sind ja alles alte Männer!“, klagte sie.
„Blödsinn“, zischte ihr Vater überraschend streng. „Sie sind alle viel jünger als ich und schau dort …“, er deutete mit dem Kinn nach rechts, „… das sind Männer in deinem Alter.“
Erleichterung flutete Alinas Gemüt.
Auf dem Podium am Ende des Ballsaales waren für den König und die Prinzessin zwei kostbar geschnitzte Stühle mit Samtbezug platziert worden, auf denen sie sich nun niederließen.
Balduin hatte die Ehre, jeden einzelnen Freier anzukündigen. Vorstellen musste sich ein jeder dann selbst. Die Schriftrolle mit den Namen der geladenen Gäste wog schwer in seiner Hand. Es würde bis spät in die Nacht dauern, vielleicht sogar bis zum nächsten Morgen, bis alle vorstellig geworden waren. Balduin fürchtete um seine Stimme, aber nun gut, möglicherweise würde der König ihm danach einen freien Tag gewähren. König Josef war in dieser Beziehung sehr großzügig.
Alina saß aufrecht auf dem Stuhl, die Arme auf den Lehnen abgestützt. Sie war aufgeregt, und wenn sie ehrlich zu sich war, verspürte sie sogar Freude. Gestern Nacht hatte sie sich vor dem Schlafen ausgemalt, wie ein Freier nach dem anderen enttäuschend war, bis plötzlich die Flügeltüren des Ballsaales aufschwangen und der schönste Mann, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte, hineinstürmte und rief: „Eure Hoheit, gewährt mir den letzten Tanz dieses Abends.“ Seine Augen waren blau wie Saphire, das Haar so dunkel wie ihres, seine Gesichtszüge ebenmäßig, der Mund zum Küssen verführend.
„Prinz Jan von Berlen!“, riss Balduins Stimme sie aus ihren Träumereien.
Alina blinzelte erstaunt. Der Prinz war schon an die vierzig Jahre alt, das blonde Haar ergraut, erste Falten zeichneten sich in seinem Gesicht ab. Jan verbeugte sich erst vor dem König, dann vor der Prinzessin. „Ich …“, setzte er an, aber Alina unterbrach ihn: „Wie alt seid Ihr?“
„Neununddreißig“, erwiderte er, die schmale Stirn in Falten gelegt.
„Zu alt! Schon fast eine Mumie“, verkündete Alina, und an ihren Vater gewandt sprach sie laut genug, dass es alle hören konnten, die in der Nähe standen: „Die alten Säcke können alle nach Hause gehen.“
Josefs Gesicht verfärbte sich rot vor Beschämung. „Alina, das sind alles ehrenvolle Männer. Sie sind von weit her für dich angereist.“
„Ich will keinen Tattergreis!“ Sie schlug mit der flachen Hand auf die Armlehne. „Mein Gatte soll nicht älter als fünfundzwanzig sein.“
„Alina, bitte reiß dich zusammen“, versuchte Josef mit Engelszungen seine Tochter zu beschwichtigen. „Hör die Freier an und fälle erst dann einen Entscheid.“
Wie ein störrischer Esel schüttelte die Prinzessin ihren Kopf. „Nein, ich will nicht.“
„Doch, du wirst! Das ist mein letztes Wort!“
Alinas Kiefer klappte nach unten. Noch nie zuvor hatte ihr Vater ein derartiges Machtwort gesprochen. Sie war so überrascht, dass sie nur nickte und auf ihrem Stuhl etwas zusammensank. Und so setzte sich die schier nicht enden wollende Audienz fort. Ein Freier nach dem anderen stellte sich vor.
Alina erholte sich von ihrer Überraschung sehr schnell und bedachte jeden einzelnen mit gnadenloser Kritik.
„Das Haar ist zu schütter“, „der ist zu klein“, „zu dick!“
Manchmal lachte die Prinzessin schallend: „Seht euch diesen Bart an, dieses Kinn, er sieht aus, wie … ja, Euer Name sollte Drosselbart sein und nicht Frank von Hohenstein.“ Und bei einem anderen beklagte sie sich: „Diese Bohnenstange fällt doch beim ersten Windstoß um, was soll ich mit so einem Kerl? Und dann diese hässlichen abstehenden Ohren. Geht mir aus den Augen!“
Je länger diese beschämende Prozedur dauerte, umso mehr nahm das Gesicht des Königs die Farbe einer überreifen Tomate an. Immer wieder schnappte er nach Luft.
Balduin wurde stetig heiserer und die Anzahl der Prinzen und Könige schrumpfte. Wer von der Prinzessin beleidigt wurde, sah keinen Grund, länger auf dem Schloss zu verweilen, und so manch einer machte sich aus dem Staub, ohne sich ihr vorzustellen, weil er keine Lust hatte, ein derartig eingebildetes Weibsstück an seiner Seite zu wissen.
Josef machte sich schwere Vorwürfe. Er hatte das Mädchen zu sehr verhätschelt und damit eine Kreatur erschaffen, die herzlos, narzisstisch und ohne Anstand war. Seine Brust begann wieder zu schmerzen und sein Atem ging stockend.
Als auch der letzte Freier von Alina abgelehnt wurde, konnte Balduin nur noch krächzen, und König Josef stand schwankend und nach Luft ringend von seinem Stuhl auf. Jemand rief: „Holt den Leibarzt!“ Und dann wurde Josef von mehreren Armen aufgefangen, bevor er zu Boden stürzen konnte. Alina saß blass und unbeweglich da. Angst erfüllte ihr Herz. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass ihr Vater sterben könnte. Entsetzt musste sie mit ansehen, wie er weggetragen wurde. Als sie folgen wollte, hörte sie ihren Vater keuchen: „Ich will Alina nicht sehen! Lasst sie nicht zu mir.“
Seine Worte waren wie Dolchstiche. Erstarrt stand sie im Gang, als jemand zu ihr sagte: „Seid Ihr nun zufrieden, Prinzessin?“
Wie von der Tarantel gestochen drehte Alina sich um. Hinter ihr stand der Prinz, den sie als Drosselbart verspottet hatte. In seinen Augen funkelte der Schalk. Wütend ballte sie ihre Hände zu Fäusten. „Was wollt Ihr damit sagen?“
„Ihr habt Euren armen Vater vor allen Gästen beschämt. Ihr könnt dankbar sein, dass König Josef überall geschätzt wird. Trotzdem könnte der eine oder andere dies als eine Gelegenheit auffassen, mit Nava einen Krieg anzufangen.“
„Ihr übertreibt“, knurrte Alina.
„Was wisst Ihr schon über Politik, Prinzessin? Ihr beschäftigt Euch den ganzen Tag mit hübschen Dingen wie Tanzen, Zeichnen, Sticken …“
„Hütet Eure Zunge!“
Drosselbart, Alina wusste nicht mehr, wie sein richtiger Name war, lachte laut auf. „Habe ich also ins Schwarze getroffen.“
„Nein, das habe ich nicht gesagt.“
„Ich denke schon.“ Er grinste. „Und was gedenkt Eure Hoheit zu tun, wenn der Vater heute dahinscheidet?“
„Er wird nicht sterben!“ Alina stampfte mit dem Fuß auf, ehe sie sich von dem Prinzen abwandte und davonlief.
„Lebt wohl, Prinzessin“, rief der Prinz hinter ihr her.
Alina wünschte sich, sie könnte ihn aus dem Schloss werfen lassen für seine Frechheiten, aber das wäre vermutlich nach allem, was gerade passiert war, nicht das Gescheiteste. Sie stürmte zu den Gemächern des Königs. Zwei Wachen standen vor der Tür und hielten sie zurück.
„Ich will zu meinem Vater!“, herrschte sie die Männer an.
„Wir dürfen Euch nicht einlassen, Hoheit. Seine Majestät hat es ausdrücklich so gewünscht“, ließ der rechts Stehende verlauten.
Alina hatte es selbst aus dem Munde ihres Vaters vernommen, konnte es aber trotzdem nicht glauben.
„Er war nicht bei Sinnen! Nun lasst mich hinein!“
„Er hat es uns verboten“, kam es wieder von rechts und der linke Wachmann bekräftigte: „So lautet der Befehl.“
„Ich bin die Prinzessin!“ Alina hatte das Gefühl, alles und jeder hätte sich gegen sie verschworen.
„Und Euer Vater ist der König“, erwiderte der rechte Wachmann.
Alinas Augen verengten sich zu Schlitzen, während sie sich das Gesicht des Mannes einprägte. Das würde noch ein Nachspiel haben. Sie klappte gerade den Mund auf, um ihm zu drohen, als Heinrich, der Leibarzt ihres Vaters, die Tür öffnete.
„Man lässt mich nicht zu Vater!“, klagte sie dem Arzt.
„Alina“, sagte dieser mit ernster Stimme. „Dein Vater schläft, lass ihn ausruhen. Er hatte einen schweren Anfall.“
Betroffen presste die Prinzessin ihre Lippen zusammen. Traurigkeit überfiel sie wie ein plötzliches Fieber. Was, wenn ihr Vater nicht mehr sein würde? Seine Sterblichkeit wurde ihr schmerzlich bewusst, genauso wie ihre Zuneigung für ihn. Heinrich schien ihr die Sorge vom Gesicht ablesen zu können, denn er sagte: „Er wird sich davon erholen, dieses Mal noch.“
„Ich gehe in mein Gemach“, ließ Alina tonlos verlauten. Der Kummer plagte sie noch immer, aber sie wollte nicht, dass jemand es bemerkte. „Lasst mich rufen, wenn er erwacht.“
„Sehr wohl, Eure Hoheit.“ Der Leibarzt verneigte sich und schritt davon.