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Nina Kunz wurde 1993 geboren, studierte Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Zürich und arbeitet seit 2017 als Kolumnistin und Journalistin für Das Magazin des Tagesanzeigers. Ihre Texte erschienen bereits in der Neuen Zürcher Zeitung, der ZEIT und dem ZEITmagazin. 2018 und 2020 wurde sie zur »Kolumnistin des Jahres« gewählt.
Leistungsdruck, Workism, Weltschmerz, Tattoos, glühende Smartphones, schmelzende Polkappen & das Patriarchat.
30 Texte zur Gegenwart.
»Wer keine Angst hat, hat keine Phantasie.«
erich kästner
Dieses Buch ist in den letzten beiden Jahren entstanden, ohne dass ich je daran gedacht hätte, ein Buch zu schreiben.
Alles begann damit, dass ich anfing, über meine Alltagsängste nachzudenken. Und jedes Mal, wenn mich ein bedrohliches Gefühl beschlich, so lange an Texten herumwerkelte, bis ich glaubte zu verstehen, warum ich mich fühle, wie ich mich fühle. Warum da diese Enge in meiner Brust ist und der Stress-Tinnitus in den Ohren pfeift, obwohl ich doch all diese Privilegien hab.
Ich schrieb über die Angst, das Leben online zu vergeuden, über die absurde Überidentifizierung mit meinem Job, Identitätsfragen, die Suche nach meinem Vater, den ich nicht kenne, den Weltschmerz, Kylie Jenner und das verfluchte Patriarchat.
Herausgekommen ist nun dieses Buch, das zur einen Hälfte ein Tagebuch ist und zur anderen ein Theoriesammelsurium. Denn ich las viel, Jia Tolentino, Jean-Paul Sartre, Roxane Gay, um herauszufinden, wie ich meine Ängste deuten könnte, die so diffus waren, dass ich sie manchmal kaum zu fassen kriegte.
Was mich beim Schreiben beschäftigte, war, inwiefern ich behaupten kann, dass mein Unbehagen irgendwie »für etwas steht«, für eine nihilistische Gegenwart, für eine ausgebrannte Generation, für einen postmodernen Zeitgeist. Aber, wenn ich ehrlich bin, will ich gar nichts davon behaupten, es wäre unpräzise und verkürzt.
Dieses Buch ist eine Einladung in meine Gedankenwelt. Eine Einladung, sich vielleicht in einem der Texte wiederzufinden, oder natürlich auch mir kopfschüttelnd zu widersprechen. Dieses Buch ist ein kleines Puzzleteil in der Debatte um Leistungsdruck und Mental Health. Es sind Notizen aus dem Jetzt, ehrlich aufgeschrieben. In der Hoffnung, dass sie weitere Gedanken anstoßen.
Zürich, Oktober 2020
Es kommt häufig vor, dass ich todmüde bin, aber just in dem Moment, in dem ich den Kopf auf das Kissen lege, wieder hellwach werde.
In der Regel frage ich mich dann Dinge wie: Schaffe ich die Deadline? Habe ich den Müll runtergebracht? Sind Nicolas Sarkozy und Carla Bruni eigentlich noch ein Paar? Gestern lag ich auch wieder hellwach im Dunkeln, aber diesmal war etwas anders. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, kam ein Bild aus meiner Vergangenheit hoch. Ich sah den Spielplatz im Erismannhof, wo ich mir als Kind ständig die Knie aufschürfte, den Idaplatz-Kiosk, wo ich mein erstes Bravo-Heft kaufte, die Küche meiner alten WG, in der es nie Milch, aber immer Rotwein gab.
Mein Herz pochte. Mit jeder Erinnerung fand ich es unglaublicher, dass das alles in meinem Leben passiert sein soll. Zudem fragte ich mich, wie all diese Bilder in meinem Kopf Platz haben. Der ist doch schon vollgestopft mit Informationen. Ich überlegte, dass ich zum Beispiel die Texte aller Britney-Spears-Songs kenne, die Eckdaten der Punischen Kriege (264–146 v. Chr.), die Bedeutung des Wortes »postmodern«, das Werk von Erich Kästner, das Rezept für Apfelkuchen. Als es dämmerte, lag ich immer noch wach, schwitzte und dachte: Wie kommt das Hirn nur mit dieser Masse an Gedanken klar? Dreht man da nicht irgendwann durch?
Vor Schreck setzte ich mich auf, und da musste ich plötzlich an das »Observer’s Paradox« denken. Das ist ein Phänomen, das ich an der Uni kennengelernt hatte, bei dem Forscher*innen zu verzerrten Resultaten kommen, weil sie ein Experiment durch ihr bloßes Beisein beeinflussen.
Der Begriff wurde in den Siebzigern vom Linguisten William Labov geprägt, der erforschen wollte, wie New Yorker in ihrem Alltag sprechen. Sein Dilemma war aber, dass er die Leute aus ethischen Gründen nicht einfach belauschen durfte, sondern sie interviewen musste – was dazu führte, dass sie eben gerade nicht redeten wie am Küchentisch. Er merkte also, wie schwer es ist, die »wahre Natur« gewisser Dinge (wie etwa Sprache) zu ergründen, weil diese nur dann natürlich vonstattengehen, wenn sie nicht beobachtet werden, ein Paradox, das übrigens auch die Experimentalphysik kennt.
Als ich müde die Augen schloss, fühlte ich mich auf einmal erleichtert. Ich war nämlich überzeugt, dass ich in dieser Nacht nur dem »Observer’s Paradox« aufgesessen war. Ich hatte bestimmt nicht die »wahre Natur« meines Hirns entdeckt und musste mir auch keine Sorgen machen, dass es überhitzt. Ich hatte mir nur selbst beim Denken zugeschaut, und das ist immer unheimlich. Das eigentliche Problem war also – wie bei Labov – das Beobachten selbst. Denn hätte ich nicht so genau hingeschaut, wäre mir diese Masse an Gedanken auch nie bedrohlich vorgekommen. Grübeln, so dachte ich, löst leider nicht nur Probleme, sondern schafft auch welche. Kurz vor acht fiel ich jedenfalls in einen tiefen Schlaf.
Manchmal lerne ich ein neues Wort und denke: Wie habe ich je ohne dieses Wort leben können? Gerade ist das »Workism«.
Workism beschreibt nämlich etwas, das mir schon länger Sorgen macht: Es ist der Glaube, dass Arbeit nicht mehr eine Notwendigkeit darstellt, sondern den Kern der eigenen Identität. Geprägt wurde der Begriff vom Journalisten Derek Thompson, der letztes Jahr in der Zeitschrift The Atlantic darüber schrieb, dass immer mehr Leute ihre Erfüllung in der Arbeit suchen. Als ich den Text las, dachte ich nach jedem Satz: Oh, das mache ich auch. Denn genau wie Thompson es beschreibt, bin ich mit dem Ideal aufgewachsen, dass es ein zentrales Ziel im Leben sein soll, einen Job zu finden, der weniger Lohnarbeit ist als vielmehr Selbstverwirklichung. Darum wollte ich Journalistin werden, und darum habe ich heute keine Schreib-, sondern Lebenskrisen, wenn ich im Job versage.
Besonders faszinierend an diesem Artikel fand ich, dass die bedeutendsten Ökonomen des 20. Jahrhunderts, wie etwa John Maynard Keynes, schon vor achtzig Jahren prophezeiten, dass das Zeitalter der Selbstverwirklichung kommen werde – nur eben ganz anders. Sie glaubten, dass die Automatisierung der Arbeit so viel Freizeit schaffen werde, dass die Menschen ihren Fokus auf Hobbys und Freund*innen verlegen könnten. Aber stattdessen ist bedeutsame Arbeit zum Fetisch geworden, weil einige Workaholics (vor allem im Silicon Valley) ihren Job zu einer »Berufung« hochstilisiert haben.
Laut Thompson wurde so ein Ideal geschaffen, das nun auf allen Ebenen der Gesellschaft zu Burn-outs und Ängsten führt. Denn: Die Gewinner des Systems (Architekt*innen, Startup-Gründer*innen …) arbeiten bis zum Umfallen, während alle anderen als »Verlierer*innen« dastehen, weil sie keinen dieser raren Selbstverwirklichungsjobs ergattern. Aber es gibt auch Gutes am Konzept von Workism. Oder zumindest war ich froh, endlich einen Begriff zu haben, der mir zeigt, bei was für einem Wahnsinn ich da eigentlich mitmache. Das Wort funktioniert wie ein Spiegel für das eigene Tun. Ich fühlte mich bei der Lektüre des Textes ja nur so ertappt, weil ich verstand, was hinter meinem Selbstverwirklichungsdrang steckt.
Also habe ich mir für dieses Jahr etwas vorgenommen. Ich möchte dem Modell von Workism etwas entgegenhalten und die Anteile meiner Identität mehr würdigen, die nichts mit dem Job zu tun haben. Vor allem, wenn ich das nächste Mal verzweifle, weil etwas mit einem Text nicht klappt, will ich mir in Erinnerung rufen, was ich noch bin – außer Journalistin. Und das ist einiges. Ich bin zum Beispiel die mit der besten Großmutter der Welt, ich bin die Grüblerin, die seit fünfzehn Jahren die gleichen Pulp-Platten hört, ich bin die Frau, deren Wohnung aussieht wie eine Altpapiersammlung, ich bin die Freundin, die immer ein bisschen zu fest liebt, und vor allem bin ich das ewige Kind, das vor Freude ausflippt, wenn es eine Katze sieht.