Keine statistische Kennzahl beeinflusst die aktuelle Politik stärker als das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Noch in den dreißiger Jahren existierten in England und in den USA unterschiedliche Vorstellungen davon, wie sich wirtschaftliche Vorgänge in Zahlen abbilden ließen. Nur eine dieser Methoden, der Vorläufer des BIP, bewährte sich im Zweiten Weltkrieg als Planungs- und Informationsinstrument und wurde in der Nachkriegszeit von den USA mit aller politischen Macht im Westen als Standard etabliert. Zusammen mit der Idee des Wachstums gab diese Methode Hoffnung auf eine Zukunft unendlichen materiellen Wohlstands. Obwohl mit seiner Hilfe nur ganz bestimmte Probleme gelöst werden sollten, monopolisiert das BIP seitdem den Blick auf wirtschaftliche Zusammenhänge.
Philipp Lepenies, geboren 1971, ist Senior Fellow am Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) in Potsdam. Zuletzt gab er im Suhrkamp Verlag Joseph Townsends Über die Armengesetze heraus (stw 1982).
Philipp Lepenies
Die Macht der einen Zahl
Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsprodukts
Suhrkamp
Book Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe edition suhrkamp 2673
© Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn
Umschlag gestaltet nach einem Konzept
von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt
ISBN 978-3-518-73347-9
www.suhrkamp.de
Einleitung 9
1. Worum es geht: Bruttoinlandsprodukt, Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen 15
2. Vorgeschichte: William Petty und die Ökonomie 23
William Petty und die Political Arithmetick (23) – Petty und die Folgen: Nationalprodukt bei Adam Smith (37) – Malthus und Marshall (42) – Pigou und die Wohlfahrt (45)
3. Die Frustrationen des Colin Clark: England 49
Volkseinkommen und Verhütung (49) – Clarks Schriften zum Volkseinkommen (56) – Die Conditions of Economic Progress (62) – Der Einfluss der Volkseinkommensberechnung auf die britische Politik (67)
4. Simon Kuznets und die Politik des Bruttosozialprodukts: die Vereinigten Staaten 78
Empirie und Vorsicht (78) – Volkseinkommen und Große Depression (85) – Volkseinkommen in der Encyclopedia of the Social Studies (88) – Die offizielle Schätzung von 1934 (93) – Erste politische Erfolge (96) – Keynes und der Siegeszug des Bruttosozialprodukts (98) – Das Bruttosozialprodukt bewährt sich (102) – Berechnungen in Krieg und Frieden (111) – Der Konflikt um die Konten (117)
5. Krieg, Kidnapping und Datenraub: Deutschland 123
Kaiserreich und Weimarer Republik (123) – Wirtschaftsstatistik und Nationalsozialismus (135) – Wie das Bruttosozialprodukt nach Deutschland kam (140) – Die deutsche Bruttosozialproduktberechnung (145)
6. Der endgültige Triumph des Bruttosozialprodukts 152
Transformation, Beschäftigung und Produktivität (152) – Internationale Harmonisierung (157) – Die ökonomische Theorie des Wachstums (161) – Wachstum im Wettstreit der Systeme (166) – Der Beginn einer neuen Zeit (170)
Fazit 179
Für Susana
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist die mächtigste Kennzahl der Menschheitsgeschichte. Keine andere statistische Größe hat jemals eine ähnliche Wirkung entfaltet. Vordergründig ist das BIP nur das Maß der wirtschaftlichen Leistung einer Volkswirtschaft, der in einer Zahl ausgedrückte Wert aller in einer Periode hergestellten Güter und Dienstleistungen. Aber zusammen mit dem Wachstum, das die Veränderungsrate des BIP angibt, ist es viel mehr als bloße Statistik. Das BIP dient als Hauptindikator für Entwicklung und Fortschritt. Positives BIP-Wachstum ist nicht nur erklärtes Ziel fast jeder Regierung, sondern gilt oft auch als der einzig mögliche Ausweg aus einer ökonomischen Krise. Die Wirtschaft und die Politik der Welt definieren sich in hohem Maße über das BIP.
Dabei ist das BIP keine sich selbst erklärende Zahl wie die Temperatur in Celsius, der letztjährige Ausstoß von Treibhausgasen in Tonnen oder der Kaloriengehalt des eigenen Frühstücks. Es ist das Ergebnis einer Berechnungsmethode, die bestimmte wirtschaftliche Aspekte erfasst, andere jedoch nicht. Es beruht auf einer Interpretation dessen, was Leistung und was Volkswirtschaft heißt.
Das BIP ist ein Phänomen. Ökonomische Sachverhalte werden quantitativ abgebildet, nach festgelegten Regeln addiert und kumulieren in einer einzigen Zahl. Dabei handelt es sich im wahrsten Wortsinn um politische Arithmetik: Das BIP wird nicht nur im staatlichen Auftrag ermittelt, sondern beeinflusst das Regierungshandeln. Es erlaubt ein Regieren nach Zahlen.
Für das amerikanische Handelsministerium ist es eine 10der »größten Erfindungen des 20. Jahrhunderts«,[1] anderen ist seine Macht nicht länger geheuer. So schrieb der ehemalige französische Präsident Nicolas Sarkozy im Vorwort zum Abschlussbericht der von ihm eingesetzten Kommission zur Messung der wirtschaftlichen Leistung und des gesellschaftlichen Fortschritts: »Wir haben es zugelassen, dass unsere statistische Darstellung von Wohlstand mit Wohlstand an sich gleichgesetzt wurde und unsere Darstellung der Realität mit der Realität an sich […]. Wir haben einen Kult um Zahlen kreiert, der uns nun gefangen hält.«[2] Neben denen, die das BIP und die Ausrichtung auf Wachstum verteufeln, stehen die Befürworter, die höchstens kleine Änderungen der Messmethodik des BIP akzeptieren wollen, aber weiterhin das Hohelied des Wachstums singen. In beiden Fraktionen besteht jedoch kein Zweifel daran, dass dem BIP in unserer politischen Kultur eine zentrale Bedeutung zukommt.
Aber wie kam es dazu, dass das BIP eine solche Wirkungsmacht entfaltet hat? Wie konnte ein statistisches Konstrukt, das noch vor dem Zweiten Weltkrieg gänzlich unbekannt war, derart triumphieren? Solchen Fragen will dieses Buch nachgehen. Es will die Geschichte des BIP erzählen. Dabei geht es, genau genommen, um die Entstehung und Durchsetzung der Idee des Bruttosozialprodukts und in gewissem Maße auch der älteren Idee des Volkseinkommens. Das BIP hat in den neunziger Jahren international das seit Kriegsende gebräuchliche Konzept 11des Bruttosozialprodukts als wirtschaftliche und politische Hauptkennziffer abgelöst. Beide Konstrukte unterscheiden sich nur in Details, die hier von untergeordneter Bedeutung sind.
Die besondere Position des BIP resultiert aus seiner politischen Akzeptanz. Deswegen sind der Zeitpunkt und die Umstände relevant, die dazu geführt haben, dass die Idee des Bruttosozialprodukts als sinnvolle Technologie des Regierens[3] erkannt und seine Berechnung endgültig zur politischen Arithmetik wurde.
Dieses Buch versucht keine umfassende Geschichte der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (national accounts). Sie wurde bereits von anderen geschrieben.[4] Stattdessen stehen die politischen Kontexte, in denen das BIP entstanden ist, und die entscheidenden Episoden im Zentrum, in denen es sich durchgesetzt hat. Sie erlauben es, die einzigartige Komplexität dieser Geschichte nachzuvollziehen und zu erkennen, an welche Traditionen das BIP anknüpft und welche Vorläufer es hatte. Ausgangspunkt für eine solche Untersuchung war nicht nur die von Sarkozy ausgedrückte Verwunderung über die Macht, die das BIP heute ausübt, sondern vor allem das Fehlen dieser historischen Perspektive in den aktuellen Versuchen, es zu verändern, zu ergänzen oder gar vom Thron zu stoßen, wie es häufig heißt.
In der politischen Geschichte, die ich erzählen werde, spielen drei Personen eine herausragende Rolle: William 12Petty, Colin Clark und Simon Kuznets. Pettys Versuche, bereits im England des 17. Jahrhunderts nackte Zahlen in politisch relevante Daten und damit in ein Instrument der Machtausübung – eine politische Arithmetik – zu verwandeln, waren der wichtigste historische Vorläufer des BIP. Clark war ein genialer Einzelgänger und Chemiker, der in England nach der Weltwirtschaftskrise 1929, frustriert über das Fehlen volkswirtschaftlicher Daten, viele Grundlagen der BIP-Berechnung im Alleingang schuf. Kuznets, gebürtiger Russe, nutzte seine in der Frühzeit der Sowjetunion gemachten Erfahrungen mit Statistik, um in den USA zeitgleich mit Clark, allerdings in staatlichem Auftrag, eine systematische Berechnung des Volkseinkommens vorzulegen.
Die Bedeutung von Petty, Clark und Kuznets ist unumstritten. Und doch gelang es keinem von ihnen, seine eigenen Vorstellungen durchzusetzen. Ihre Rolle entbehrt nicht einer gewissen Tragik. Die Geschichte des BIP ist auch ein Lehrstück darüber, unter welchen Umständen Ideen politisch wirksam werden können. Ideologien hatten darauf einen Einfluss, aber nicht zuletzt so extreme Ereignisse wie die Weltwirtschaftskrise und der Zweite Weltkrieg. Und ohne John Maynard Keynes, der sowohl die Arbeiten von Clark als auch von Kuznets zu seinen Gunsten nutzte, wäre die Geschichte des BIP anders verlaufen.
Die Entstehungsgeschichte des BIP ist vielschichtig. Sie zeigt, warum diese Zahl eine derartige Macht entwickeln konnte und welche Gründe für ihren Triumph verantwortlich waren: die Bewährung in Krisenzeiten, die Durchsetzung als internationale Norm und der Glaube an die Nützlichkeit der politischen Arithmetik. Vor allem aber macht sie deutlich, dass sich das Festhalten am BIP und am Ideal 13des Wachstums an einem politischen Wertebild orientiert, das ursprünglich darauf abzielte, die Probleme der Kriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit zu lösen.
Im Folgenden werden zunächst einige wichtige technische Begriffe wie BIP, Bruttosozialprodukt und Volkseinkommen definiert. Danach werden William Petty und seine Idee der politischen Arithmetik vorgestellt. Colin Clark und der Fall England sind Thema des dritten, Simon Kuznets und die USA des vierten Kapitels. Im fünften Kapitel geht es um Deutschland und im letzten Kapitel darum, wie aus der Idee des Wachstums und des Bruttosozialprodukts schließlich das Wachstumsdogma entstand – und die Macht der einen Zahl ihren Höhepunkt erreichte.15
[1] Bureau of Economic Analysis (Department of Commerce), »GDP: One of the Greatest Inventions of the 20th Century«, in: Survey of Current Business 80/1 (2000), S.6-14.
[2] Joseph Stiglitz/Amartya Sen/Jean-Paul Fitoussi, Mismeasuring our Lives – Why GDP doesn't add up. The Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress, London 2012, S.ix.
[3] Nikolas Rose/Peter Miller, »Political Power Beyond the State: Problematics of Government«, in: British Journal of Sociology 43/2 (1992), S.172-205.
[4] Siehe vor allem Paul Studenski, The Income of Nations. Theory, Measurement, and Analysis: Past and Present, New York 1958, und André Vanoli, A History of National Accounting, Amsterdam 2005.
Konzeptuell ist das BIP ein Produkt. Rechnerisch ist es eine Summe. Die Idee des BIP basiert auf der Annahme, dass man sämtliche in einem Land bereitgestellten Güter und Dienstleistungen als ein einziges aggregiertes Gut betrachten kann, dessen Geldwert sich berechnen lässt. Das erklärt auch, warum man den Begriff im Singular verwendet und nicht etwa von »Bruttoinlandsprodukten« eines Landes spricht.
In der einfachsten Definition bestimmt sich das BIP als der »Wert der im Inland erwirtschafteten Leistung einer Volkswirtschaft in einer Periode«.[1] Er bezieht sich auf alle »im Inland hergestellten Waren und Dienstleistungen (Wertschöpfung), soweit diese nicht als Vorleistungen für die Produktion anderer Waren und Dienstleistungen verwendet werden«.[2]
Unter dem Wert ist der Betrag in Geldeinheiten zu verstehen. Nicht Stückzahlen oder die Qualität von Produkten oder Dienstleistungen sind für das BIP relevant, sondern der aufaddierte Preis aller produzierten Güter. Dabei wird jedoch beispielsweise nicht der Endpreis eines Autos erfasst, sondern nur die Wertschöpfung, die der Autohersteller als letzter in der Produktionskette hinzufügt; der Wert aller Vorleistungen, die der Autobauer am Markt bezogen hat, um das Auto herstellen zu können (Rohstoffe, Dienstleistungen, Vorprodukte), muss vom Preis des Fahr16zeugs abgezogen werden. Auf diese Weise werden Doppelzählungen vermieden, denn der Wert der Vorleistungen wird bereits beim Reifenhersteller oder dem Polsterer, der die Sitze zum Auto beisteuert, erhoben und separat erfasst.[3]
Die Bewertung anhand von Preisen impliziert, dass nur Güter und Dienstleistungen in die Berechnung eingehen, die am Markt gehandelt werden. Was keinen Marktpreis hat, ist für das BIP bedeutungslos. Dazu gehören etwa die unbezahlte Hausarbeit oder die Nutzung von Naturressourcen, die aus der Sicht einer Marktlogik unentgeltlich zur Verfügung stehen.
Aus der Veränderung des BIP gegenüber dem Wert des vorausliegenden Vergleichszeitraums bestimmt sich das Wachstum. Es wird in Prozent ausgewiesen und ist preisbereinigt: Man versucht, die Inflation herauszurechnen. Sonst würde ein bloßer Anstieg des Preisniveaus bereits als BIP-Wachstum erscheinen, auch wenn die Menge der hergestellten Güter und Dienstleistungen gar nicht zugenommen hat.[4]17
Brutto bedeutet, dass die während des Produktionsprozesses auftretende Wertminderung des angelegten Kapitals (insbesondere die Abnutzung der Maschinen) unberücksichtigt bleibt. Berechnet man diesen Verschleiß in Form von Abschreibungen mit ein, wird aus dem Bruttoinlandsprodukt das Nettoinlandsprodukt.
Um das Inlandsprodukt handelt es sich, weil nur wirtschaftliche Aktivitäten von Individuen erfasst werden, die innerhalb eines bestimmten Wirtschaftsgebiets – häufig in den Grenzen des jeweiligen Nationalstaats – erbracht werden (Inlands- oder Arbeitsortkonzept). Nationalität und Wohnsitz des oder der Einzelnen spielen dabei keine Rolle. In das BIP der Bundesrepublik findet die Wertschöpfung einer in Deutschland produzierenden chinesischen Firma ebenso Eingang wie die Leistung eines Pendlers, der täglich von Polen aus zu seinem Arbeitsplatz nach Deutschland fährt, nicht jedoch die Wertschöpfung einer deutschen Firma, die in der Volksrepublik produziert, oder das Einkommen eines Angestellten, der im deutschen Kehl lebt und im französischen Straßburg arbeitet.
Das Bruttosozialprodukt ist vom Ansatz der Erfassung her mit dem BIP identisch (auch hier geht es um die Summe der Wertschöpfung). Der wichtige definitorische Unterschied liegt darin, dass das Bruttosozialprodukt nicht auf dem Inlands-, sondern dem Inländerkonzept beruht. Das heißt, das Bruttosozialprodukt erfasst die Wertschöpfung, die alle Menschen mit permanentem Wohnsitz in einem bestimmten Land leisten (die Inländer), egal ob sie 18das in den Grenzen des Landes tun, in dem sie leben, in den Nachbarländern oder in anderen Teilen der Welt.
Mit zunehmender Globalisierung wurde es umso wichtiger festzustellen, welche Wirtschaftsleistung innerhalb des eigenen Staatsgebietes erbracht wird. Diese Angabe – die das BIP macht – schien für kurzfristige Analysen der wirtschaftlichen Situation des Landes aussagekräftiger als das Bruttosozialprodukt. Deshalb stellten die USA ihre Berechnungsmethode 1991 entsprechend um. In Deutschland fand der Wechsel vom Bruttosozialprodukt hin zum BIP im Jahre 1997 statt.
Die methodische Besonderheit der Berechnung des BIP (analog gilt das auch für das Bruttosozialprodukt) besteht darin, dass es auf drei verschiedene Arten ermittelt werden kann. Laut Definition müssen die jeweiligen Ergebnisse übereinstimmen. So lässt sich der Wert des BIP auf unterschiedliche Arten kontrollieren. Dadurch soll die ermittelte Zahl kohärenter und plausibler werden.
Das BIP berechnet sich entweder nach der Produktion (Entstehung), den Ausgaben (Verwendung) oder der Einkommensverteilung. Beim Produktionsansatz wird das BIP anhand der oben beschriebenen Bruttowertschöpfung bei den Produzenten ermittelt. Der Ausgabenansatz hingegen erfasst, was die Endverbraucher für Waren und Dienstleistungen ausgeben, also wie hoch der Wert der Waren und Dienstleistungen ist, die sie über den Markt beziehen. Bei diesem Ansatz steht die Nachfrageseite im Vordergrund. Private Konsumausgaben, die Staatsausgaben, die Bruttoinvestitionen und die Exporte werden addiert. Der Wert der Importe wird (als der sogenannte Außenbeitrag) abgezogen. Auch diese Berechnungsform ergibt das BIP.
Die dritte Berechnungsform, die Verteilungsrechnung, 19basiert auf der Erfassung der Einkommen, die durch den Produktionsprozess innerhalb der betrachteten Periode entstanden sind. Dabei werden zunächst die Arbeitnehmerentgelte gemäß dem Inländerkonzept erfasst und zu den Unternehmens- und Vermögenseinkommen hinzugerechnet. Dies ergibt das Volkseinkommen, das auch als »Nettonationaleinkommen zu Faktorkosten« bezeichnet wird. Es ist, vereinfachend gesagt, die Summe der Einkommen, die den in einer Volkswirtschaft lebenden Menschen zur Verfügung stehen.
Wenn man zu diesem Betrag die Abschreibungen sowie die Produktions- und Importabgaben an den Staat addiert und staatliche Subventionen subtrahiert, dann kommt man auf das Bruttonationaleinkommen. Es ist numerisch mit dem Bruttosozialprodukt identisch, nur dass es hier von der Einkommensseite her berechnet wird.[5] Zieht man davon das sogenannte Primäreinkommen ab, das aus der übrigen Welt bezogen beziehungsweise an die übrige Welt gezahlt wird (dazu gehören neben Arbeitseinkommen auch Zinsen), wird aus dem Inländerkonzept das Inlandskonzept, und der ermittelte Betrag entspricht wiederum dem BIP.
In Deutschland wird das BIP lediglich auf der Entstehungs- und Verwendungsseite berechnet. Für eine Erhebung auf der Verteilungsseite fehlen notwendige Daten über die Unternehmens- und Vermögenseinkünfte. Diese werden als Restgröße berechnet.[6]
20Das BIP und seine Berechnung sind Teil der sogenannten Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR oder national accounts). Sie sollen ein »möglichst umfassendes und übersichtliches quantitatives Gesamtbild des wirtschaftlichen Geschehens« eines Landes bieten.[7] Es handelt sich dabei um ein Konten- und Tabellensystem, mit dem der Wirtschaftsablauf und die wirtschaftlichen Tätigkeiten von Personen und Institutionen in Zahlen ausgedrückt werden. Mithilfe dieser Konten und Tabellen lässt sich das BIP überhaupt erst berechnen.
Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen beruhen auf dem System der doppelten Buchführung. Den Einnahmen, die in einer Tabelle erfasst werden, müssen Ausgaben in einer anderen Tabelle entsprechen. Die Daten werden unter Rückgriff auf aktuelle wirtschaftsstatistische Erhebungen (Finanz- und Steuerstatistiken, Daten der Bundesagentur für Arbeit), die Geschäftsstatistiken und Jahresabschlüsse großer Unternehmen, Haushaltsbefragungen und Informationen von Verbänden ermittelt.[8] Die BIP-Berechnung ist der prominenteste Teil der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Andere Teile sind die Input-Output-Rechnung, die Vermögensrechnung und die Erwerbstätigenrechnung.
Die Methodik der BIP-Erfassung anhand der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ist international harmonisiert. Für die Europäische Union gilt das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (ESVG) von 1995, das weitgehend mit dem weltweit angewandten System of National Accounts (SNA) der Vereinten Nationen von 2008 übereinstimmt. Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen sind Teil der amtlichen Statistik, de21ren Erstellung zu den hoheitlichen Aufgaben eines Staates gehört und daher von staatlichen Organen durchgeführt wird. In Deutschland ist dafür das Statistische Bundesamt zuständig.
Die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen ermöglichen ein Abbild der Kreislaufbeziehung aller wirtschaftlich tätigen Menschen einer Gesellschaft. Lehrbücher der Wirtschaftswissenschaften beginnen oft mit einer graphischen Darstellung des Wirtschaftskreislaufs. Er besteht im einfachsten Fall aus der Beziehung zwischen Unternehmen (der Wirtschaft) und der Bevölkerung (wenn man der Einfachheit halber den Staat und den grenzüberschreitenden Handel erst einmal unberücksichtigt lässt). Der Kreislauf wird dabei in Form zweier in unterschiedlicher Richtung verlaufender Ströme zwischen der Wirtschaft und der Bevölkerung veranschaulicht. Der eine Strom repräsentiert die produktive Seite der Wirtschaft: Beschäftigte stellen ihre Arbeitskraft den Unternehmen zur Verfügung, dadurch entstehen auf der Produzentenseite Waren und Dienstleistungen, die wiederum von der Bevölkerung konsumiert werden. Der Kreislauf, der in der anderen Richtung verläuft, beschreibt die Geldströme: Die Unternehmen zahlen den Beschäftigten Löhne und Gehälter für die erbrachte Arbeitsleistung, welche die Beschäftigten ihrerseits nutzen, um von den Unternehmen Waren und Dienstleistungen zu erwerben. Durch den Produktionsansatz sowie den Ausgaben- und Verteilungsansatz der BIP-Erfassung werden diese Ströme sichtbar gemacht und quantifiziert. Das BIP ist dann die zusammengefasste und aggregierte Größe, die sich auf den jeweiligen Kreislaufbahnen jeweils in die eine bzw. die andere Richtung bewegt.
Trotz der unterschiedlichen Berechnungsarten (Produktion, Ausgaben, Verteilung) ist das BIP vor allem ein 22Maß der Produktion. Daher definiert sich auch das Wachstum, die Veränderungsrate des BIP, vorrangig als eine Erhöhung der Produktion. Die Kritik an der Idee des BIP und des Wachstums, wie sie seit Jahrzehnten geäußert wird, macht sich daran fest, dass es beim BIP um Güter und beim Wachstum um eine Erhöhung der Produktion geht. Das BIP ist ein materialistisches Konzept.
Historisch bedeutsam war der Zeitpunkt, an dem das Bruttosozialprodukt (als Vorläufer des BIP) und damit der Produktionsfokus im politischen Bewusstsein die ältere Idee des Volkseinkommens ablöste, das sich eher an den Einkommensströmen orientiert hatte. Erst als sich der Fokus von den Einkommensströmen auf die produzierten Güter verschob, wurde das BIP-Konzept politisch relevant. Mit dem Produktionsfokus wurde aus einem statistischen Konstrukt eine politische Größe: Das Bruttosozialprodukt entwickelte sich zur mächtigsten politischen Zahl. Gleichzeitig wurde das Bruttosozialprodukt zu einem Instrument, mit dem man viel mehr erreichen wollte als eine bloße Ausweitung der Menge der Güter und Dienstleistungen. Die Erfolgsgeschichte des Bruttosozialprodukts und des BIP gründet sich auf die Tatsache, dass die Politik mit ihnen von Anfang an eine Reihe ganz anderer Ziele verfolgte als eine reine Dokumentation wirtschaftlicher Vorgänge.23
[1] Destatis, Statistisches Jahrbuch, Wiesbaden 2012, S.339.
[2] Vgl. die Erklärung auf der Website des Statistischen Bundesamtes: {http://www.destatis.de/DE/Meta/AbisZ/BIP.html} (Stand: Juni 2013).
[3] Die erfassten Preise sind zunächst nur die Herstellungspreise (die Preise, die ein Produzent vom Endkonsumenten erhält ohne die Mehrwertsteuer). Aus den aufaddierten Herstellungspreisen ergibt sich die Bruttowertschöpfung. Werden nun Gütersteuern hinzugerechnet (dazu zählen die Mehrwertsteuer sowie beispielsweise die Mineralölsteuer) und auch eventuell erhaltene Gütersubventionen abgezogen, ergibt sich die Wertschöpfung zu Marktpreisen und damit laut Definition das BIP.
[4] Das BIP kann theoretisch nicht nur durch die Menge an produzierten Gütern und Dienstleistungen steigen, sondern auch aufgrund von Qualitätsverbesserungen von Gütern, die sich in einem höheren Preis widerspiegeln. Den Unterschied zwischen verbesserter Qualität und einfacher Preissteigerung zu erfassen ist jedoch methodisch sehr schwierig. Siehe dazu die Ausführungen in dem Bericht der Enquete-Kommission Wachstum Wohlstand Lebensqualität, Abschlussbericht der Projektgruppe 1. Stellenwert von Wachstum in Wirtschaft und Gesellschaft – Oppositionsbericht, Kommissionsdrucksache 17(26)84, Berlin 2013, {http://www.bundestag.de/bundestag/gremien/enquete/wachstum/Kommissionsdrucksachen/84_neu_Oppositionsbericht_PG_1.pdf} (Stand: Juni 2013). Hier ist entscheidender, dass historisch mit der Idee des Wachstums die Ausweitung der Menge produzierter Güter und Dienstleistungen verbunden wurde und wird.
[5] Der Begriff des Bruttosozialproduktes ist mittlerweile ungebräuchlich; er wird durch die Bezeichnung »Bruttonationaleinkommen« ersetzt.
[6] Vgl. auch hierzu die Erläuterungen auf der Website des Statistischen Bundesamtes: {http://www.destatis.de/DE/Meta/AbisZ/BIP.html} (Stand: Juni 2013).
[7] Destatis, Statistisches Jahrbuch, S.337.
[8] Ebd.