Abdullah Öcalan

Gilgameschs Erben

Vom sumerischen Priesterstaat
zur demokratischen Zivilisation

Band 1

 

 

Übersetzt und herausgegeben von Internationale Initiative

»Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«

 

 

 

U N R A S T

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

 

Abdullah Öcalan: Gilgameschs Erben, Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation, Band 1

 

eBook UNRAST Verlag, Juli 2019

ISBN 978-3-95405-053-6

 

Aus dem Türkischen: Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«

Titelmotiv: Enkidu / Gilgamesch von Ercan Altuntaş (Ausschnitt) Öl und Naturfarben auf Papier, 100 x 70 cm

 

© Abdullah Öcalan 2001

Erscheint in der International Initiative Edition Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« (Hg.)

Postfach 100511, 50445 Köln | www.freeocalan.org

 

© UNRAST Verlag, Münster

Fuggerstraße 13a, 48165 Münster | Tel. 02501 – 9178790 www.unrast-verlag.de | kontakt@unrast-verlag.de Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

 

Erstveröffentlichung 2001 bei Mezopotamien Verlag, Köln Abdullah Öcalan: Sümer Rahip Devletinden Demokratik Uygarlığa

1. Auflage Mai 2003

2. überarbeitete Auflage 2018

 

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Umschlag und Satz: Internationale Initiative

Inhalt

Vorwort der Herausgeberin zur Neuausgabe

Vorwort
Von Raúl Zibechi

Einleitung zur 1. Auflage (2003)
Von Ekkehard Sauermann

Erster Teil
Die Sklavenhaltergesellschaft und die zivilisatorische Entwicklung

1. Kapitel
Sumer: Die Geburt der Zivilisation an den Ufern von Euphrat und Tigris

2. Kapitel
Die historische Rolle der sumerischen Zivilisation und ihre Institutionalisierung

1. Die Bildung der Klassengesellschaft

2. Status der Frauen: Verfall und Absturz

3. Urbane Revolution und Stadtstaat

4. Die ökonomischen Institutionen

5. Die Überbauinstitutionen der sumerischen Gesellschaft

6. Sein und Bewusstsein

7. Die ersten schriftlichen Rechtsnormen

3. Kapitel
Bleibende Resultate der sumerischen Zivilisation

1. Ursprung der sumerischen Sklavenhalterzivilisation

2. Der sumerische Staat

3. Die Lehre von den Göttern

4. Die sumerische Klassengesellschaft

4. Kapitel
Methodische Probleme bezüglich historischer Entwicklung und Ausbreitung

5. Kapitel
Die Periode der Ausbreitung und Reife der Sklavenhalterzivilisation

1. Die ägyptische Zivilisation

2. Die altindische Punjab- und Industal-Zivilisation von Harappa und Mohenjo-Daro

3. Die chinesische Zivilisation

4. Die Entwicklung in den Nachbargebieten

6. Kapitel
Die Zeit der sklavenhalterischen Stadtstaaten im Mittleren Osten

7. Kapitel
Widerstand und Reform der Sklavenhalterzivilisation

8. Kapitel
Der Gipfel der Sklavenhalterzivilisation

1. Die griechische Zivilisation

2. Die römische Periode der Sklavenhalterzivilisation

3. Der medisch-persische Aufbruch und die Weggabelung zwischen Ost und West

9. Kapitel
Der Verfall der Sklavenhalterzivilisation

1. Ist die sklavenhalterische Form der Zivilisation zwingend notwendig?

2. Die Rolle der Klassengesellschaft

3. Zusammenbruch oder Reform

4. Der räumlich-zeitliche Kontext des Sklavenhaltersystems

5. Das Erbe der Sklavenhalterzivilisation

Zweiter Teil
Das Zeitalter der feudalen Zivilisation

1. Kapitel
Die ideologische Identität des feudalen Zeitalters

2. Kapitel
Der Islam als revolutionäre Kraft des feudalen Zeitalters

1. Die Einheit Allahs

2. Die Persönlichkeit Mohammeds

3. Kapitel
Institutionalisierung und Expansion der feudalen Zivilisation

1. Die Institutionalisierungsphase des Christentums

2. Die Institutionalisierung und Expansion nach der islamischen Revolution

3. Die Universalität der feudalen Zivilisation

4. Kapitel
Gipfel und Verfall der feudalen Zivilisation

5. Kapitel
Anstelle eines Schlusswortes für den zweiten Teil

Dritter Teil
Die Zivilisation des kapitalistischen Zeitalters

1. Kapitel
Geburt und ideologische Identität der kapitalistischen Zivilisation

1. Mentalitätsstuktur

2. Individualismus

3. Humanismus

2. Kapitel
Entwicklung und Institutionalisierung der kapitalistischen Zivilisation

1. Das (Heimat-)Land

2. Der Begriff der Nation

3. Die Republik

4. Die (Staats-)Bürgerschaft

5. Das Prinzip Laizismus (Säkularismus)

6. Die Demokratie

7. Die Rechtsstaatlichkeit

8. Die Menschenrechte

3. Kapitel
Expansion und Gipfel der kapitalistischen Zivilisation

4. Kapitel
Die allgemeine Krise der Zivilisation und das Zeitalter der demokratischen Zivilisation

1. Auflösung eines Zivilisationssystems

2. Die Grundlinien der Alternative

3. Politik und Staat

4. Die Phase des Übergangs

5. Kapitalistische Zivilisation als letzte Form der Klassenzivilisation

6. Religion und wissenschaftlicher Sozialismus

Vierter Teil
Ideologische Identität, räumliche und zeitliche Bedingungen der neuen zivilisatorischen Entwicklung

1. Ideologische Identität

2. Ein neues Programm für die kurdische Bewegung

3. Strategie und Taktik

4. Die Zeit als schöpferisches Element

5. Die räumliche Dimension

Fünfter Teil
Kann aus der Kulturtradition des Mittleren Ostens eine neue zivilisatorische Synthese entstehen?

1.Die Rolle der Ideologie in den mittelöstlichen Zivilisationen

2. Erneuerung der mittelöstlichen ideologischen Identität

3. Projekt der mittelöstlichen Demokratischen Zivilisation

4. Theorie und Praxis der Zivilgesellschaft bei der Entwicklung der mittelöstlichen Demokratischen Zivilisation

5. Die Rolle der Völker für die Bildung der Antithese der mittelöstlichen Demokratischen Zivilisation

Hinweis

Index

Vorwort der Herausgeberin zur Neuausgabe

Fünfzehn Jahre nach der Erstausgabe erscheint zu unserer großen Freude eine ausführlich überarbeitete Neuausgabe der ersten großen Gefängnisschrift von Abdullah Öcalan. Wie alle seine Gefängnisschriften stellt sie eine Eingabe an ein Gericht dar, in diesem Fall an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die Verteidigungsrede im Prozess auf İmralı, in dem gegen Öcalan 1999 die Todesstrafe verhängt wurde, war das erste Werk Öcalans, das vollständig auf Deutsch veröffentlicht wurde. Zur Lösung der kurdischen Frage: Visionen einer demokratischen Republik begründete den Strategiewechsel der kurdischen Freiheitsbewegung und leitete den bisher längsten Waffenstillstand in der Geschichte des bewaffneten Konflikts ein. Gilgameschs Erben erschien im türkischen Original im Jahre 2001 und unterfütterte diese Neuausrichtung durch eine fundierte geschichtsphilosophische Argumentation. Als Versuch über die Geschichte des Mittleren Ostens seit der neolithischen Revolution bildet diese Schrift gleichzeitig die Grundlage für alle folgenden Gefängnisschriften Öcalans.

Deutsch war die erste westliche Sprache, in die das Werk mit dem Originaltitel Vom sumerischen Priesterstaat zur demokratischen Zivilisation übersetzt wurde. Die erste Auflage verkaufte sich gut, wurde zu unserem Erstaunen aber außerhalb kurdischer Kreise zunächst wenig rezipiert. Dies änderte sich erst mit der englischsprachigen Ausgabe des ersten Bandes, der 2007 als The Roots of Civilisation bei Pluto Press in London erschien. Die englische Ausgabe bedeutete den internationalen Durchbruch Öcalans als Autor. Die deutsche Ausgabe von Gilgameschs Erben indes war bald vergriffen, zumal große Teile der Restauflage bei einer polizeilichen Durchsuchung des Mezopotamien-Vertriebs im Jahre 2005 konfisziert und nie zurückgegeben wurden. Umso größer war das Interesse an den nachfolgenden Schriften Urfa – Segen und Fluch einer Stadt, Plädoyer für den freien Menschen und ganz besonders Jenseits von Staat, Macht und Gewalt, das ausführlich rezensiert, viel zitiert und bereits mehrfach neu aufgelegt wurde. Mit der Revolution in Rojava und besonders dem erfolgreichen Widerstand in Kobanê wuchs weltweit das Interesse an Öcalans Gefängnisschriften, mit denen er die ideologischen und strategischen Grundlagen für die dortigen Entwicklungen gelegt hatte. Mittlerweile erscheinen sie in zwanzig Sprachen.

Dank der Zusammenarbeit der Internationalen Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan« mit dem UNRAST-Verlag konnte nun endlich die dringend notwendige Neuausgabe von Gilgameschs Erben stattfinden. Wir sind zuversichtlich, durch die gründliche Neubearbeitung das Werk für eine noch breitere Leserschaft zugänglich machen zu können.

Für den Autor selbst hat sich in der Zwischenzeit wenig zum Positiven gewandelt. Die Isolationshaft, in der er seit 1999 gehalten wird, ist über die Jahre immer weiter verschärft worden. Seit dem 5. April 2015 ist die gesamte Gefängnisinsel İmralı von der Außenwelt abgeschnitten. Nur ein einziges Mal konnte seither durch einen Hungerstreik ein Besuch erstritten werden. Konsultationen mit Anwältinnen oder Anwälten werden schon seit Juli 2011 vollständig unterbunden. Telefon- oder Briefkontakt mit den Gefangenen gibt es ebenfalls keinen. İmralı, die Gefängnisinsel vor der Küste Istanbuls, ist ein schwarzes Loch im Herzen Europas. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als Organ des Europarates, der Adressat des vorliegenden Buches, hat sich als unwillig oder unfähig erwiesen, diese Isolation zu durchbrechen.

Eine besonders negative Rolle spielt in Europa der deutsche Staat. Durch einen Erlass hat das Bundesinnenministerium 2017 alle Länder aufgefordert, das Zeigen von Abbildungen Öcalans zu unterbinden. Im März 2018 wurde der Mezopotamien- Verlag durchsucht und sämtliche Bücher – darunter etliche Werke Öcalans – beschlagnahmt. Damit unterstützt Deutschland die türkische Kriegspolitik weiter – zusätzlich zu allen Waffenlieferungen und der politischen Rückendeckung.

Öcalan hat sich seit mindestens 1993 intensiv für eine friedliche Lösung des Konflikts mit dem türkischen Staat eingesetzt, wie auch das vorliegende Buch belegt. Der türkische Staat hat darauf fast durchgängig mit Repression geantwor tet. Dialogverweigerung, Absetzung gewählter BürgermeisterInnen, Inhaftierung von Abgeordneten, Zerstörung kurdischer Städte und Förderung islamistischer Paramilitärs bis hin zum Islamischen Staat sind einige der Methoden aus dem Arsenal anti-kurdischer Politik der Türkei. Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg gegen den Kanton Afrin in Nordsyrien ist nur die jüngste Eskalation dieser Art von Politik.

Die vergangenen Jahre haben deutlich gezeigt, dass Öcalan eine Schlüsselrolle für eine friedliche Lösung spielt. Die drohende Eskalation des Konfliktes nach seiner Verschleppung unterband er durch besonnene Äußerungen und mutige Initiativen wie die Friedensgruppen. Sein Aufruf zum Rückzug der Guerilla leitete im Sommer 1999 die bisher längste Phase von Waffenstillstand und Entspannung des Konfliktes ein. Mit seinen Gefängnisschriften bewirkte er einen grundlegenden Paradigmenwechsel in der kurdischen Freiheitsbewegung: Waffengewalt soll nur zur Selbstverteidigung eingesetzt werden. Den Dialog mit staatlichen Stellen von 2009 bis 2015 versuchte Öcalan immer wieder für eine friedliche, politische Lösung des Konfliktes zu nutzen. Bahnbrechend war sein Friedensaufruf an Newroz 2013, der weltweit Beachtung fand. Diese Stimme der Vernunft wegzusperren und zu isolieren dient nur den Kräften, die auf Krieg und Militarismus setzen.

Auch beinahe zwanzig Jahre nach der Verschleppung Öcalans und der Gründung der Internationale Initiative sind wir wie am ersten Tag überzeugt, dass die Forderungen »Freiheit für Abdullah Öcalan« und »Frieden in Kurdistan« untrennbar zusammengehören. Am 4. April 2019 feiern wir Öcalans siebzigsten Geburtstag. Wir rufen alle auf, sich diesen Forderungen anzuschließen und sagen: »Freiheit für Öcalan! Die Zeit ist reif!«

 

Internationale Initiative »Freiheit für Abdullah Öcalan – Frieden in Kurdistan«

Vorwort

Von Raúl Zibechi

Es ist eine fast unlösbare Aufgabe, die wesentlichen Beiträge des Denkens von Abdullah Öcalan für die revolutionären Bewegungen der Welt in wenigen Worten zusammenzufassen, aufgrund der unterschiedlichen Themen, die er behandelt, wegen des umfassenden Blicks seiner Analyse, aber vor allem, weil er die »Überwindung der philosophischen Grundlagen sowohl der klassischen kapitalistischen Zivilisation als auch der realsozialistischen Praxis« (441-442) als Ausgangspunkt nimmt.

Dies ist einer der Schlüssel der tiefgreifenden Radikalität seines Denkens, das bereits in diesem Buch, »Gilgameschs Erben«, entworfen wird. Die Krise der Zivilisation kann weder durch die Restauration des Faschismus noch des Realsozialismus überwunden werden. Gegen die Auffassung der Mehrheit der linken Strömungen geht es nicht um eine »Rückkehr« zu einem, um seine »Abweichungen« bereinigten, verbesserten Staatssozialismus, sondern um etwas viel Grundlegenderes, das auf theoretischer und politischer Ebene etwas Neues hervorbringt. Es erübrigt sich zu sagen, dass diese Radikalität sowohl die klassischen Intellektuellen als auch die orthodoxen Aktivisten stört. Dessenungeachtet sticht in dieser ersten Arbeit Öcalans im Gefängnis der Zusammenhang seines Denkens hervor, der sich von diesem ersten Buch bis hin zu seinen letzten Texten zieht. Er sieht die Emanzipation der Frauen, den Schutz der Natur und die Kontrolle der schädlichen Auswirkungen der Technologie als vorrangig an (445). Für den Gefangenen auf İmralı sind dies die zentralen Schlussfolgerungen seiner umfassenden Rekonstruktion der Geschichte der Zivilisationen, ausgehend von seiner auf Mesopotamien, an den Ufern von Euphrat und Tigris, konzentrierten Vision.

Die herausragende Rolle, die er der Ethik beim Aufbau einer neuen Welt zuweist, ist ein neuralgischer Punkt, der mit zwei weiteren Fragen, die im sozialistischen Lager häufig ignoriert werden, Hand in Hand geht: die Bedeutung der Individualität (die kein Synonym für Individualismus ist) als Vorbedingung für die Übernahme von Verantwortung in einer Gesellschaft frei handelnder Individuen und die Wiederherstellung der Rolle der Zivilgesellschaft, die Öcalan als »dritten Bereich« definiert.

Aus meiner, unvermeidlich auf Lateinamerika konzentrierten, Sichtweise, hat mich der fünfte Teil dieses Buches am stärksten beeindruckt. Unter dem Titel »Kann aus der Kulturtradition des Mittleren Ostens eine neue zivilisatorische Synthese entstehen?« weist Öcalan die moderne Theorie des tabula rasa (nach der die ganze Vergangenheit ausgelöscht werden muss), von der sich die Jakobiner bis hin zu den Bolschewisten beeinflussen ließen, zurück und macht sich daran, diese Vergangenheit als eine der Quellen der zukünftigen Gesellschaft zurückzugewinnen, um die ersehnte »demokratische Zivilisation« zu erschaffen.

Dies bringt mich im Allgemeinen zu der konkreten Erfahrung der indigenen Bewegungen meines Kontinents zurück. Im Besonderen verbindet mich die Arbeit der Rekonstruktion der Geschichte von Öcalan mit dem Satz eines indigenen Anführers aus Ecuador, einem Anwalt aus dem Volk der Kichwa, der einer der wichtigsten Organisationen des Landes, Ecuarinari, vorsteht.

»Wir bewegen uns in den Spuren unserer Vorfahren«, sagte mir Carlos Pérez Guartambel in seinem Dorf, umgeben von Gemeindemitgliedern, die Widerstand gegen den Bergbau leisten und die Wasserressourcen und das Leben verteidigen.

Tatsächlich gelingt es ihm in dieser Arbeit die kulturellen Traditionen des Nahen Ostens, mit seiner Geographie und der Zeit als »kreativem Element«, die die Schaffung eines sozialen Geflechts mit einer unvorstellbaren Diversität ermöglichten, zu verschmelzen. Er schließt seine Ausführungen mit einem schönen Satz, der, so glaube ich, seine Suche nach den Quellen des gegenwärtigen emanzipatorischen Prozesses, zusammenfasst: »Auch der Baum der Kultur des Mittleren Ostens ist ein Phänomen dieser Art: Er hat tiefe Wurzeln geschlagen und seine Samen in die Welt hinaus getragen.« (492).

Aber der Inhalt dieses Samens muss noch bestimmt werden, die Quellen des Lebens dieser Region und was sie der Welt anbieten kann. Öcalan vervollständigt seine Beschreibung, indem er aufzeigt, dass der Nahe Osten eine Art Grab ist, in dem sich nichts ändert: »Die Welt verändert sich ständig, doch er ändert sich nie« (494). Ein Wunder. Wir können uns das Leben nicht als etwas von der Vergangenheit Getrenntes vorstellen, da es dann kein Leben wäre, sondern ein lebloser Fetzen, wie ein stehender Fluss, der nicht fließen kann und dessen Wasser verfault, wie die patriarchale kapitalistische Zivilisation.

Es ist zum Allgemeinplatz geworden, zu sagen, dass der Kampf der Kurden in Nordsyrien bei der zapatistischen Bewegung auf ein Echo trifft.

Das Denken Öcalans wie auch die Geschehnisse in der Region Rojava befinden sich im Einklang mit dem, was ein Großteil der sozialen Bewegungen Lateinamerikas macht. Dies hängt in großem Maße damit zusammen, dass die einen wie die anderen durch den Westen kolonisiert worden sind und dass unsere Völker sich auf sich selbst besinnen mussten, um zu überleben, sich in ihren Gemeinschaften und in ihren uralten Kulturen einschließen mussten, wie in »Gräbern«, in denen es möglich war, das Leben wieder zu erschaffen.

Es lassen sich mindestens drei Echos in diesen Bewegungen finden.

Das erste bezieht sich auf den Nationalstaat. Unterschiedliche Völker, wie die Mapuche aus Chile und Argentinien, die Nasa im Süden Kolumbiens, die Aymara aus Bolivien, die Indigenen der Amazonasregion und des Tieflands identifizieren sich weder mit dem Staat, noch wollen sie Posten in staatlichen Institutionen besetzen. Die neuen schwarzen Bewegungen in Kolumbien und Brasilien folgen vergleichbaren Prozessen, die sie vom politischen Schachspiel im Nationalstaat fernhalten.

Es handelt sich nicht um eine ideologische Frage. Für die Mehrzahl von ihnen stellen die Nationalstaaten keinen Teil ihrer Geschichte und Lebenserfahrungen als Völker dar, sondern werden als durch den Kolonialismus und die kreolischen Eliten auferlegt verstanden.

Die Kurden Rojavas wollen keinen Staat aufbauen. Öcalan erachtet den Nationalstaat als zur »kapitalistischen Zivilisation« gehörige Form der Macht. Für die Kurden, die seine Ideen teilen, ist sogar der antistaatliche Kampf wichtiger als der Klassenkampf, was von denjenigen Vertretern der lateinamerikanischen Linken, die immer noch auf das 19. Jahrhundert schauen, als Häresie angesehen wird. Diese Linke sieht den Staat weiterhin als Schild zum Schutz der Arbeiter an.

In dem Buch »Die kapitalistische Zivilisation. Unmaskierte Götter und nackte Könige«, dem zweiten Band seines Manifests der demokratischen Zivilisation, vertritt der kurdische Anführer eine der zapatistischen Praxis sehr verwandte These. Die Ergreifung der Staatsmacht, schreibt Öcalan, »korrumpiert noch den treuesten Revolutionär«. Er schließt mit einer Reflexion die für die Erinnerung an den hundertsten Jahrestag der Russischen Revolution angemessen klingt: »Einhundertfünfzig Jahre heldenhaften Kampfes wurden im Wirbelwind der Macht erstickt und verflüchtigten sich«.

Das zweite Echo liegt in der Ökonomie. Die Zapatisten machen sich oft lustig über die »Gesetze« der Ökonomie und stellen diese Disziplin nicht in das Zentrum ihres Denkens, wie aus der Sammlung der Kommuniqués des mittlerweile nicht mehr vorhandenen Subcomandante Marcos ersichtlich ist. Öcalan hebt seinerseits hervor: »[D]er Kapitalismus ist Macht, nicht Ökonomie«. Die Kapitalisten nutzen die Ökonomie, aber den Kern des Systems bildet die Gewalt, bewaffnet oder unbewaffnet, den von der Gesellschaft produzierten Überschuss zu konfiszieren.

Der Zapatismus definiert das gegenwärtige extraktive Modell (Monokulturen wie das Soja, offener Tagebau und Megainfrastrukturprojekte) als »vierter Weltkrieg« gegen die Völker, aufgrund des Einsatzes und des Missbrauchs der Gewalt zur Gestaltung der Gesellschaften.

In beiden Bewegungen lässt sich eine frontale Kritik am Ökonomismus ausmachen. Öcalan erinnert daran: »[I]n den Kolonialkriegen, in denen die ursprüngliche Akkumulation geschah, gab es keine ökonomischen Regeln«. Indigene und schwarze Bewegungen Lateinamerikas sehen sich ihrerseits mit einer Kolonialmacht oder der »Kolonialität der Macht« konfrontiert, ein Begriff, den der peruanische Soziologe Aníbal Quijano zur Beschreibung des Kerns der Herrschaft auf diesem Kontinent verwendet.

Tatsächlich ist der Ökonomismus eine Plage, die die kritischen Bewegungen kontaminiert, die Hand in Hand mit dem Evolutionismus einhergeht. Eine Legion von Linken geht davon aus, dass das Ende des Kapitalismus durch die Abfolge mehr oder weniger tiefgreifender ökonomischer Krisen zustande kommt. Öcalan widersetzt sich dieser Perspektive und weist den Vorschlag jener zurück, die denken, dass der Kapitalismus »als natürliches Ergebnis der wirtschaftlichen Entwicklung« entstanden ist. Zapatisten und Kurden scheinen mit der These Walter Benjamins übereinzustimmen, dass der Fortschritt wie ein destruktiver Wirbelsturm ist.

Drittens verteidigen die lateinamerikanischen Bewegungen das Konzept des »Guten Lebens« (Buen Vivir), das sie dem kapitalistischen Produktivismus entgegensetzen. Die 2008 bzw. 2009 verabschiedeten Verfassungen Ecuadors und Boliviens betonten, dass die Natur »ein Rechtssubjekt« ist, während sie bislang immer als Objekt zur Erlangung von Reichtum angesehen wurde. In den Bewegungen bricht sich zunehmend die Vorstellung Bahn, dass wir uns etwas Größerem als einer Krise des Kapitalismus gegenübersehen, nämlich einer Krise der Zivilisation.

Die kurdische Bewegung vertritt den Standpunkt, dass der Kapitalismus zur Krise der modernen westlichen kapitalistischen Zivilisation führt. Diese Analyse erlaubt es uns, die Ideologie des Fortschritts und der Entwicklung zu überwinden, integriert in sich die verschiedenen, mit dem Patriarchat und dem Rassismus verbundenen Unterdrückungsformen, die Krise der Umwelt und des Gesundheitssystems und setzt einen viel tieferen und umfassenderen Blick auf die stattfindenden Krisen voraus.

Eine Zivilisation kommt in die Krise, wenn sie nicht mehr über die (materiellen und symbolischen) Ressourcen verfügt, um die von ihr geschaffenen Probleme zu lösen. Deswegen fühlen derart durch Geographie und Kultur voneinander getrennte Bewegungen, dass sich die Menschheit an der Schwelle einer neuen Welt befindet.

Jenseits dieser drei Echos finden wir eine weitere große Übereinstimmung: die Frauen in der Bewegung stehen im Zentrum der lateinamerikanischen Bewegungen und bilden den Kern des Denkens von Öcalan. Die Bewegung »Ni Una Menos« hat Tausende Frauen auf die Straßen Argentiniens gebracht, die Empathie und Gemeinsamkeit mit ihresgleichen in Rojava empfinden.

»Der starke und listige Mann«, schreibt Öcalan, ist der Ursprung des Staates. Eine grundlegend patriarchale Institution, die durch und für die Unterdrückung entworfen wurde, die sich nicht in ein Instrument zur Befreiung verwandeln lässt.

 

Montevideo, im Januar 2018

 

 

 

 

Aus dem Spanischen von Lars Stubbe

Einleitung zur 1. Auflage (2003)

Von Ekkehard Sauermann

Diese umfangreiche Schrift ist ein zeitgeschichtliches Dokument von hoher Aussage- und Wirkungskraft: Eine herausragende Persönlichkeit unseres Zeitalters, die über Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt, welche sie für bedeutende gesellschaftliche Funktionen im nationalen und internationalen Maßstab qualifizieren, verschafft sich mit dieser Schrift Gehör. Abdullah Öcalan offenbart dabei eine herausragende Schärfe und Tiefgründigkeit des Geistes, die ihm eine breite öffentliche Wirksamkeit sichern könnte. Er ist aber als Konsequenz aus seinem politischen Wirken völlig isoliert und bis auf das Äußerste mit physischer und psychischer Vernichtung bedroht.

Viele aufgeklärte Zeitgenossinnen und -genossen bewundern historische Persönlichkeiten, die gegen den Zeitgeist auftreten und dafür verfolgt, eingekerkert und vernichtet werden und damit als Leitbilder in die konfliktreiche Geschichte der menschlichen Zivilisation eingehen. Die besondere Zuwendung zu den Aussagen solcher Persönlichkeiten ergibt sich auch aus dem Blickwinkel, dass deren ideelle Werke zu ihren Lebzeiten vor der Öffentlichkeit verschlossen wurden und oftmals erst lange nach ihrem Tod die Menschheit erreichten. Bei Lektüre solcher Werke verbietet sich eine kleinliche und besserwisserische Haltung. Geduld und Verständnis beim Lesen gründen sich auf das Wissen von den extremen Bedingungen, unter denen solche Werke entstanden sind. Das Motiv, ein solches Werk zu lesen und ihm besondere Aufmerksamkeit zu widmen, verbindet sich daher mit einer moralischen und ideellen Solidarisierung mit dem verfolgten Autor. In dieser Tradition steht auch die Schrift von Abdullah Öcalan und eine hiermit herausgeforderte Motivierung, sich seinem vorliegenden Werk zuzuwenden.

Der aktuelle Vorzug dieses Werkes gegenüber seinen zahllosen Vorläufern ist, dass es sich direkt an uns alle als Zeitgenossinnen und Zeitgenossen, Mitbetroffene und Mitstreiter von Abdullah Öcalan wendet und uns dabei hilft, nach einem Weg zur Beantwortung drängender existenzieller Fragen unserer Zeit zu suchen. Die hiermit verbundene politische Annäherung an das Werk birgt die Chance in sich, zu einer ideell und praktisch wirksamen Solidarität mit dem Autor zu führen, der ursprünglich zum Tode verurteilt und trotz veränderter Rechtslage in der Türkei diesem Schicksal nicht wirklich entronnen – als einziger Gefangener auf der Insel İmralı, nur umgeben von seinen militärischen Bewachern, um sein geistiges und physisches Überleben ringen muss. Seine Schrift ist ein Ergebnis dieses Ringens, legt Zeugnis von der unerhörten geistigen und seelischen Anspannung und Anstrengung des Autors ab, der seinen Blick über seine individuelle Existenz hinaus-richtet – auf das Leben und Überleben des kurdischen Volkes, der Völker des Mittleren Ostens und schließlich der ganzen Menschheit. Angesichts der extremen Herausforderung an sein eigenes Schicksal bringt Abdullah Öcalan die Kraft und Größe auf, von einer hohen Warte aus sich dem Schicksal des kurdischen Volkes sowie der ganzen Weltgemeinschaft zuzuwenden.

Die Ergebnisse dieses ungewöhnlichen Prozesses der Zuwendung sind herausfordernd, provozierend, teilweise auch irritierend und schockierend, aber durchgängig konstruktiv und produktiv. Zu vielen seiner gewonnenen Problemsichten und Einsichten können auch all jene gelangen, die sich gegenüber der vorherrschenden massiven Meinungsmanipulation ihre Unabhängigkeit bewahrt und schöpferische Gegenmittel gefunden haben.

Über diesen Erfahrungshorizont hinausgehend, den der Autor mit vielen Zeitgenossen teilt, speist er in sein Werk die konzentrierte politische und soziale Erfahrung ein, die er auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene gewonnen hat. Dieser Schatz an Kampf- und Lebenserfahrung wird von ihm angesichts der extremen individuellen Belastungsproben verdichtet – wie der Stahl gehärtet wird: durch hochgradige Hitze und extreme Abkühlung. Dabei zählen nicht nur die ideellen und politischen Ergebnisse, die der Autor auf diesem Wege erzielt. Von großem Gewicht und einer gewissen eigenständigen Bedeutung ist der Weg, den er in diese Richtung eingeschlagen hat. Abdullah Öcalan geht es nicht nur darum, ein bestimmtes Ziel zu umreißen, sondern seine Leserinnen und Leser auf seinen Weg mitzunehmen, ihnen seine Erfahrungen und Einsichten bei der Suche nach einem konstruktiven Ausweg zu vermitteln. Gerade auf diesem Gebiet möchte er in einen Dialog eintreten. Dieses Werk ist der groß angelegte Versuch eines Dialogs mit seinen Kampfgefährten, den Frauen und Männern seines kurdischen Volkes sowie der anderen Völker, die alle herausgefordert sind, zum Subjekt ihrer eigenen Geschichte zu werden.

Abdullah Öcalan offenbart sein eigenes bisheriges und gegenwärtiges Ringen, sich als ein Subjekt der gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten und zu bewähren. Von da schlägt er eine Brücke zu allen, die objektiv herausgefordert sind, einen ähnlichen Entwicklungsprozess zu vollziehen, um ihre Würde zu bewahren und die Würde der Menschheit zu verteidigen. Auf diesen individuellen und zugleich gemeinschaftlichen Prozess richtet sich sein Dialog.

Da ihm andere Möglichkeiten zur öffentlichen Debatte versperrt sind und er durch eine Schweigemauer abgeschirmt und total isoliert werden soll, konzentriert Öcalan seine Bereitschaft zum Dialog auf diese Schrift. Infolge ihres dialogischen Charakters sind die beiden Bände seines Werkes auch nicht abgeschlossen und ausgereift, sondern wie ein Werkstatt-Buch zu begreifen. Öcalan bezieht die engagierten Leserinnen und Leser, die diese Schrift nicht einfach nur konsumieren, sondern sich aktiv und kritisch mit ihr auseinandersetzen wollen, partnerschaftlich in seine Gedanken-Werkstatt mit ein. Aus dieser Eigenart der Schrift als Dialog- und Werkstatt-Buch ergeben sich weitere Besonderheiten – so das zyklische Herangehen, was mehrfache Wiederholungen und Bekräftigungen einschließt, wie sie in einem dialogischen Gespräch üblich sind. Wer möglichst schnell mit diesem Werk fertig werden und zum Ziel kommen möchte, könnte davon irritiert sein. Wer sich hingegen auf einen anstrengenden und schöpferischen Dialog mit diesem ungewöhnlichen Autor einlässt, wird auch aus diesen Neben- und Rückwegen, aus denen sich ein ganzes Wegenetz ergibt, Gewinn ziehen. Es handelt sich hier um eines jener Werke, von denen der große Naturwissenschaftler und Philosoph des achtzehnten Jahrhunderts, Georg Christoph Lichtenberg, sagte, dass der Klang beim Zusammenstoß eines Kopfes mit einem Buch nicht nur Rückschlüsse auf das Buch, sondern auch auf den Kopf des Lesers zulässt. Am besten gerüstet für diese Lektüre sind jene Leserinnen und Leser, die sich angesichts der Bedrohung der Menschheit durch den von der Bush-Regierung angekündigten und in Afghanistan und im Irak begonnenen weltumspannenden und ununterbrochenen Krieg herausgefordert sehen, eine tiefgründige Lebensbilanz zu ziehen. Auf dieser Grundlage können sie sich mit Abdullah Öcalans Bilanz und Ausblick als gleichberechtigte und selbstbewusste Subjekte messen.

Historische Entwicklung, gegenwärtige Lage und Perspektive des kurdischen Volkes

Der Autor nimmt mit seiner Schrift und ihren offenen Erörterungen der bisherigen eigenen Politik die Möglichkeit wahr, seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter der kurdischen Befreiungsbewegung zu erreichen und ihnen im Rahmen einer historischen Betrachtung konkrete Gedanken zur programmatischen, strategischen und taktischen Weiterführung ihres Kampfes zu übermitteln. Diese Schrift ist ein Vermächtnis des ehemaligen Vorsitzenden der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)[1], der von seiner Partei radikal physisch getrennt worden ist, sich aber mit ihr auf das Engste verbunden fühlt. Auf diesem Weg versucht er, den Mitgliedern sowie Anhängerinnen und Anhängern der kurdischen Befreiungsbewegung den Reichtum seiner unter extremen Bedingungen und Herausforderungen gewonnenen Einsichten zu übermitteln.

Der Autor geht davon aus, dass das fundierte Herangehen an die kurdische Problematik ausschlaggebend ist sowohl für das richtige Erfassen als auch für die praktische Bewältigung dieser Herausforderung. Die bisherigen Versuche zur Erklärung und Lösung dieses Problems sind nach seiner Einschätzung bereits vom Ansatz her falsch und irreführend. Öcalan behauptet, dass das Phänomen des Kurdentums wie ein schwarzes Loch sei, dass um die kurdische Realität herum falsche Vorstellungen und Begriffe gebildet worden sind und dass es beispielsweise leichtsinnig sei, das kurdische Phänomen als eine Nation oder auch als Kolonie bzw. Halbkolonie zu definieren. Der Autor schildert eindringlich die historische und aktuelle Tragödie des kurdischen Volkes, die darin bestehe, dass es wie kaum ein anderes Volk in der Geschichte permanent und oftmals gleichzeitig zahlreiche Invasionen, Katastrophen und Kriege erdulden musste. Demzufolge gab es in der wechselvollen kurdischen Geschichte nur geringe Chancen für das Erzielen kultureller und politischer Errungenschaften. Stattdessen musste sich das kurdische Volk fortlaufend darauf konzentrieren, seine physische Existenz gegen grenzenlose Invasionen und Plünderungen zu schützen. In einer solchen Situation konnte sich keine vorwärtsweisende Stimme Gehör verschaffen und keine Kreativität entfalten.

Diese dramatische Schilderung findet ihren Kontrast durch die immer wieder getroffene Feststellung Öcalans, dass gerade die Kurdinnen und Kurden eine ausschlaggebende Rolle am Beginn der Geschichte der Zivilisation gespielt haben. Öcalan geht davon aus, dass sein Volk einen besonders tiefen Einfluss auf die Kultur Mesopotamiens hatte und damit die Kultur einer Epoche mit erschaffen habe, welche die Zivilisationsgeschichte viel umfangreicher und nachhaltiger beeinflusst habe als dies den heutigen USA und der Europäischen Union (EU) zugesprochen werden könne.

Welche aktuellen und perspektivischen Lösungswege entwickelt Öcalan für sein Volk?

Zunächst geht er davon aus, dass das kurdische Volk (speziell in der Türkei) sich, wie bereits häufig in seiner Geschichte, auch gegenwärtig in einer Situation befinde, die nur mit »weder Krieg noch Frieden« beschrieben werden könne. Dieser permanente Ausnahmezustand sei bereits zur Normalität geworden. Für die sich hieraus ergebende explosive Situation sei ein Ausweg dringend erforderlich.

Als Frucht langer und dramatischer Erfahrungen der kurdischen Befreiungsbewegung sowie reiflicher Überlegungen gelangt Öcalan zu dem Schluss, dass jeglicher nationalistische und separatistische Ausweg aus strategischen und prinzipiellen Gründen abzulehnen sei. Der Autor geht davon aus, dass die Rolle der Nationen und Nationalstaaten weltpolitisch zurückgeht und sich stattdessen weltweit eine Entwicklung in Richtung auf föderalistische Strukturen vollzieht. Vor diesem Hintergrund sieht Öcalan einen Lösungsweg, der auf einer demokratischen Einheit der vom kurdischen Volk bewohnten Länder basiert.

Dies bedeutet für ihn, dass die gegebenen Grenzziehungen des Mittleren Ostens als historischer Tatbestand anerkannt werden und innerhalb dieser Länder ein Kampf um Grundrechte und Demokratie geführt wird. Im Ergebnis eines solchen Ringens könne sich ein demokratischer Mittlerer Osten mit einer Institution nach Art der Europäischen Union herausbilden, welcher die Sehnsucht aller Völker nach Einheit in Freiheit verwirklicht. Aus dieser Perspektive ergeben sich Schlussfolgerungen im Hinblick auf Durchsetzung einer politisch-demokratischen Plattform an Stelle militärischer Auseinandersetzungen, auf allseitigen Dialog statt innerer wie äußerer militärischer Gewaltanwendung.

Öcalan bemüht sich nicht nur um den Nachweis, dass ein solcher Weg im Lebensinteresse des kurdischen Volkes liegt. Er orientiert darüber hinaus darauf, dass die Kurdinnen und Kurden mit ihrem engagierten Einsatz für eine solche friedliche und demokratische Entwicklung eine Brückenfunktion zwischen den drei großen Nationen des Mittleren Ostens ausüben können. Gerade die Kurden könnten sich aufgrund ihrer geografischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Lage in dieser neuen Phase der Geschichte des Mittleren Ostens als eine zukunftsweisende demokratische Kraft formieren und zu Subjekten eines Kampfes werden, der sowohl ihrer eigenen Befreiung dient als auch die Nachbarvölker in den Prozess einer demokratischen Lösung einbindet. Abdullah Öcalan zieht eine Parallele zwischen jener Schlüsselrolle, welche das kurdische Volk nach seinem Geschichtsverständnis bei der Herausbildung der ursprünglichen Zivilisation geleistet hat, und ihrer perspektivischen Schlüsselrolle bei der Herausbildung einer demokratischen Zivilisationsform im gesamten Mittleren Osten. Nach seiner Auffassung hält nunmehr das kurdische Volk jenen goldenen Schlüssel in der Hand, auf den die Völker der Region ihre gesamte Geschichte hindurch gehofft haben.

 

Zur Rolle der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK)

Öcalan geht davon aus, dass die PKK organischer Bestandteil des kurdischen Volkes ist, dass sie mit diesem sowohl die Stärken wie die Schwächen teilt und in ihrem Entwicklungsprozess ständig mit beiden Seiten als einem äußeren und inneren Problem konfrontiert war.

Die historische Notwendigkeit der Gründung der PKK erklärt der Autor aus dem Fehlen einer politischen Bewegung, welche die Interessen der Kurdinnen und Kurden konsequent hätte vertreten können. Diese Lücke bestand nach seiner Einschätzung auch im Hinblick auf eine den rebellischen Traditionen der Religion entsprechende spirituelle Volksbewegung. Öcalan meint, dass die PKK sowohl diese politische Funktion ausfüllen als auch für die spirituelle Funktion ein Äquivalent schaffen musste. Was Letzteres betrifft, so vergleicht der Autor die kurdische Befreiungsbewegung mit jenen Bewegungen in der Geschichte des Mittleren Ostens, die von den Propheten angeführt wurden. Er verweist darauf, dass es Jesus nur mit Mühe und Not gelang, zwölf Apostel zusammen zu bringen; dass aber um sie herum viele Arme und Geknechtete versammelt waren, die auf ein Wunder warteten; und dass auf dieser Grundlage der größte Glaubenskampf in der Geschichte entstehen konnte.

Diese Gemeinsamkeit der PKK mit der Bewegung der Apostel und Propheten rührt nach Öcalans Verständnis von der allgemein mystischen Atmosphäre des Nahen und Mittleren Ostens her. Deshalb könnten die modernen Organisationsformen des Westens für diese Region kein Modell bilden. In diesem Kontext charakterisiert der Verfasser die PKK als eine Synthese zwischen einer halbmodernen sozialistischen Organisation und einer klassischen nahöstlichen Identität. Nach seiner Einschätzung sind sowohl die Stärke als auch die Schwäche der PKK in dieser Synthese angelegt.

Obwohl der Autor auf eine Reihe von Ereignissen und Problemen in der Geschichte der PKK eingeht, legt er mit dem zweiten Band keine systematische Geschichte der PKK vor. Einer Behandlung der Entwicklungsgeschichte dieser Organisation steht die stark selektive, episodische und subjektiv überhöhte Darstellungsweise Öcalans entgegen. Daraus ergeben sich unter anderem erhebliche Lücken im Hinblick auf die Analyse der verschiedenen Etappen und Phasen in der Entwicklung der PKK.

Ein Grund für den stark selektiven Charakter der Darlegungen und Einschätzungen zur Entwicklung der PKK besteht offenbar darin, dass Öcalans Behandlung dieser Problematik auf eine historische Begründung der herangereiften politischen und organisatorischen Transformation zielt. Unter dieser Warte hebt er die bisherigen gewaltigen Anstrengungen und die dramatischen Rückschläge hervor, welche die Befreiungsbewegung erlitten hat. Diese führt er teilweise auf die Unreife der Bewegung zurück, lastet sie aber auch Erscheinungen des Verrats und und der Kollaboration an. In der Verurteilung bestimmter Verfehlungen der PKK geht der ehemalige Vorsitzende dieser Organisation sehr weit. So spricht er davon, dass sich zeitweise ein Bandenwesen entwickelt habe und ungerechtfertigte Kriegsmaßnahmen durchgeführt worden seien, die zahlreichen Unschuldigen das Leben gekostet und großen politischen sowie moralischen Schaden angerichtet hätten. Eine zentrale Ursache hierfür sieht er darin, dass die Strategie der legitimen Selbstverteidigung nicht genügend theoretisch untermauert gewesen sei. Unter dieser Bedingung sei es möglich gewesen, dass infolge kleinbürgerlicher Mentalität und verantwortungsloser Unfähigkeit der politischen und militärische Leitung einer Verwahrlosung in Richtung auf ein Bandenwesen nur ungenügend entgegengewirkt werden konnte. Die entscheidende Grundlage für die Überwindung dieser gravierenden Mängel sieht Öcalan in einem Erneuerungsprozess, in dem die prinzipielle und strategische Neuorientierung auf eine demokratische Zivilisation im Mittelpunkt steht. Über ihre regionale und weltpolitische Bedeutung hinaus liegt für Öcalan in dieser Orientierung ein mächtiger Impuls zur Lösung der äußeren wie inneren Probleme der Befreiungsbewegung, die ihr perspektivisch neue Handlungsfähigkeit verleiht.

In diesem Zusammenhang richtet der Autor sein besonderes Augenmerk auf die Türkei, wo in der Zeit von 1993 bis 1996 durch staatliche Terrormaßnahmen fast 4000 Dörfer und Weiler entvölkert und Tausende unschuldige Menschen ermordet worden sind, ein wirtschaftliches Embargo über die kurdischen Provinzen verhängt und flächendeckende Militäroperationen durchgeführt wurden. Öcalan stellt fest, dass dies das dunkelste und schmerzvollste Kapitel in der Geschichte der Region gewesen sei und er unterstellt, dass hierbei die türkische Administration die Kontrolle über ihr eigenes Handeln verloren habe. Nachdem im Februar 1998 der türkische Staat einen begrenzten Versuch unternahm, diesem Wahnsinn ein Ende zu bereiten, verkündete die PKK einseitig einen Waffenstillstand. In einem Aufruf vom 2. September 1999 ordnete die PKK-Führung den militärischen Rückzug an und beschränkte sich in der Folgezeit auf eine reine Verteidigungsstrategie. Öcalan stellt fest, dass seitdem eine Art Waffenruhe herrscht und sich beide Seiten in einer Phase des Nachdenkens befinden.[2] Er schätzt ein, dass eine negative Aufhebung dieser Patt-Situation dazu führen muss, dass die politische Initiative ähnlich wie zur Zeit der militärischen Zuspitzung bis 1996 an das ultarechte Spektrum im nationalen wie internationalen Rahmen verschenkt wird. In diesem Kontext erklärt Öcalan die prinzipielle und strategische Bereitschaft der PKK zum friedlichen und demokratischen Konsens, präzisiert aber gleichzeitig das Recht und die Pflicht des kurdischen Volkes auf Selbstverteidigung.

Aus diesem Blickwinkel verurteilt er, dass bestimmte militärische Aktionen der kurdischen Befreiungsbewegung in der Vergangenheit über das Recht auf Selbstverteidigung hinausgegangen sind und sich demzufolge verselbstständigt, von den eigentlichen Zielen entfernt und damit den ultrarechten türkischen Kräften sowie ihren internationalen Hintermännern in die Hände gespielt haben. Der Autor spezifiziert die Bedingungen und Gründe, unter denen Selbstverteidigung gerechtfertigt und notwendig ist. Er benennt Prinzipien und Mittel, welche eingehalten werden müssen, damit Selbstverteidigung in Übereinstimmung mit dem Hauptanliegen, der Verwirklichung einer demokratischen Zivilisation einschließlich rechtsstaatlicher Verhältnisse (vor allem hinsichtlich der Menschenrechte und verbindlicher Regeln des Völkerrechts) verwirklicht werden kann.

Autobiographische Züge des Werkes