oder
Mit Bildern von Hans K. Stöckl
Langsam begann ich mir Sorgen zu machen. Es war zwar schon öfter
vorgekommen, dass Flirr zwischen seinen Besuchen bei mir eine
längere Pause machte — das konnten mitunter ein paar Wochen sein —
aber es waren mittlerweile bereits viele Monate, dass ich ihn nicht
mehr gesehen hatte!
Flirr war nicht mehr der Jüngste, und er war ja auch kein
Langstreckenflieger...!
Was? Du weißt nicht, wer Flirr ist, weil Du die ersten beiden
Bücher der Ciano-Reihe noch nicht gelesen hast? Du kennst die
Schatzsuchmaschine nicht? Und Du weißt nicht, dass Ciano wahrhaftig
mit einer Rakete auf dem Mond gelandet ist?
Oder Du erinnerst Dich einfach nicht mehr?
Uhh! Da muss ich Dir also einiges erklären:
Nun, wir waren bei Flirr. Also, Flirr, das ist ein „Jägerliest“.
Also ein Dacelo Novaeguineae Gigas. Oder wie die Einheimischen in
Australien ihn nennen: ein Kookaburra.
Im Volksmund heißt er ganz einfach „Lachender Hans“.
Wie bitte? Jetzt weißt Du so viel wie vorher?
Verzeih! — Ja, wie soll ich es sagen? Er ist... äh..., er ist ein
Vogel. Aber natürlich kein gewöhnlicher Vogel wie ein Spatz oder
eine Taube!
Er gehört zur Gattung der Eisvögel.
Von den Krallen bis zum Schopf misst er etwas weniger als einen
halben Meter. Sein starker Schnabel ist fast 10 Zentimeter lang und
an der Oberseite dunkelblau!
Warum er allgemein „Lachender Hans“ genannt wird?
Na, da solltest Du ihn einmal zeitig am Morgen hören, wenn er alle
Leute mit seinem durchdringenden Gelächter aufweckt! Seine kräftige
Stimme klingt tatsächlich wie menschliches Lachen.
In Australien ist er bei den dortigen Menschen sehr beliebt. Aber
nicht weil er so lustig lacht, sondern weil er sich unter anderem
auch von Giftschlangen ernährt! Er fängt Schlangen bis zu 50
Zentimeter Länge und frisst sie im ganzen auf!
Das Herkunftsland des Lachenden Hans ist Australien.
Jetzt wirst Du Dich fragen, wie unser Flirr von Australien nach
Floripace im indischen Ozean, und hin und wieder zu mir nach
Mitteleuropa, kommen kann!
Oh, das ist eine Geschichte für sich: Mein alter Studienkollege,
Professor Renzo Floriani, ist auf seinen Studienreisen viel in der
Welt herumgekommen. Unter anderem war er auch in Australien. Dort
hat er lange bei den Ureinwohnern, den Aborigines, gelebt und hat
viel von ihnen über die Natur dieser Erde gelernt.
Na und eines Tages fand er auf einer Waldlichtung einen noch
kleinen „Lachenden Hans“, der sich in einer bösen Schnappfalle
gefangen hatte, die irgend ein weißer Jäger im hohen Steppengras
aufgestellt hatte.
Dem armen kleinen Lachenden Hans war gar nicht zum Lachen zumute,
weil sein gebrochenes Bein entsetzlich schmerzte. Sein Stimmchen
klang demnach auch nicht wie Lachen, sondern wie heftiges Weinen
eines kleinen Kindes.
Kurzum, Renzo befreite erst einmal den armen Vogel, und weil er ja
schon damals etliche Tiersprachen beherrschte, erklärte er mit
sanfter Stimme dem kleinen Vogel, dass ihm jetzt nichts mehr
passieren könne, und dass er ihm helfen und seine Schmerzen lindern
würde.
Professor Renzo Floriani nahm Flirr, wie er ihn später taufte, mit
sich in seine Hütte, schiente das gebrochene Bein, legte Salben und
Kräuter auf, und nach drei Wochen intensiver Pflege war Flirr
wieder kerngesund und munter.
Und er wich Renzo von da an nicht mehr von der Seite.
Meist saß er auf dessen Schulter und plauderte lustig und vergnügt
mit ihm.
Na ja, und eines Tages, es waren bereits ein paar Jahre vergangen,
drangen Baumaschinen bis auf die Lichtung vor, auf welcher Renzo
damals seinen Vogelfreund gefunden hatte.
Eine Erdölleitung und eine Pumpenstation wurden gebaut, und Renzo
packte seine Siebensachen zusammen und verließ Australien.
Aber überall wo er auch hin kam, und wo er hoffte in Ruhe und
allein mit der Natur leben zu können, wurde er binnen kurzer Zeit
wieder von Maschinen und Beton und Lärm und Hasterei
eingeholt.
Also machte er sich auf den Weg nach Madagaskar, wo er hoffte, in
den Urwäldern noch jene Ruhe zu finden, nach der er sich zeitlebens
gesehnt hatte.
Er wollte die Geheimnisse des Lebens bis in die geheimsten
Geheimnisse erforschen, wollte alle Lebewesen, und selbst die
Steine, verstehen lernen.
Aber wieder griff das Schicksal ein, und Renzos Leben nahm erneut
einen anderen als den von ihm geplanten Lauf.
Das Schiff, auf dem er von Sri Lanka aus nach Madagaskar gelangen
wollte, geriet in einen gewaltigen Sturm und versank schließlich
mit Mann und Maus im indischen Ozean.
Es war wohl das, was man ein Wunder nennt, dass ausgerechnet der
Professor Renzo Floriani als einziger Mensch überlebte!
Das verdankte er zum einen seiner Schwimmweste aus Kork, die er
bereits zu Beginn des heftigen Sturms sicherheitshalber angelegt
hatte, und zum anderen seinem riesigen luft- und wasserdichten
Reisekoffer, der neben Kleidung, Schuhen, Rasierzeug und so weiter,
eine ganze Menge Bücher enthielt. Und Bücher sind, auch wenn sie
für manche schwer zu lesen sind, leichter als Wasser!
Somit wurde der mit Kleidern, Büchern und Luft gefüllte
wasserdichte Holzkoffer zur Rettungsboje, die wie ein großer
Flaschenkorken immer wieder aus den Wellen empor getaucht
kam.
Renzo war es gelungen, sich mit seinem Hosenriemen selbst an einen
der beiden Tragegriffe des Koffers zu fesseln, und als ihn seine
Kräfte verließen, und er endlich sogar ohnmächtig wurde, trug ihn
der Koffer dennoch weiter auf der sich langsam beruhigenden
Wasseroberfläche dahin.
Der Sturm hatte sich schließlich gelegt, und die Meereswellen
glätteten sich.
Und da war auf einmal ein lautes Gelächter zu hören, wie ein
Jubelgesang klang es zwischen dem Gekreisch der Möwen.
Renzo schaute hoch und erblickte seinen geliebten Freund Flirr, der
ihm mit seinem durchdringenden Gekicher klar machte, dass Land in
Sicht sei.
Wo Möwen in Scharen kreisen und kreischen, da ist Land nicht
weit!
Es dauerte zwar doch noch ein paar Stunden, aber dann hatte Renzo
endlich festen Boden unter den Füßen!
Die Strömung hatte ihn samt seinem riesigen Schrankkoffer an den
Strand einer wunderschönen kleinen Insel gespült.
Dieses winzige Eiland nannte er später „Floripace“, und es wurde
fortan seine immer schon ersehnte Heimat.
Renzo baute sich eine feste Hütte mit Veranda und einem Dach aus
Palmzweigen, und nichts konnte schöner sein.
Er baute sich auch ein Boot mit Ausleger und richtete sich in
seinem kleinen Paradies wunderbar häuslich ein.
Aber, unsere Welt, also, der Planet Erde, ist schon sehr klein
geworden für die Milliarden Menschen, und es ist kaum noch möglich,
irgendwo wirklich allein leben zu können.
Ein paar Seemeilen entfernt, in Sichtweite, lag eine andere kleine
Insel, und auf dieser hatten Piraten vor dreihundert Jahren eine
Burg gebaut, die sie auch als Gefängnis für ihre Geiseln und als
Lagerstätte für ihre erbeuteten Schätze nutzten.
In dieser Burg lebte bei Renzos Ankunft auf Floripace niemand
mehr.
Aber als sich Renzo schon gut eingelebt hatte, jede Menge
Tiersprachen und langsam auch die der Pflanzen erlernt hatte,
begann eines Tages heftiges Treiben auf der Seeräuberinsel!
Ein Europäer, der durch eine große Millionenerbschaft schwer reich
geworden war, hatte die Insel einfach in Besitz genommen und lebte
nun dort mit seiner Frau.
Der Mann hieß Giovanni Rocciadoro, war eigentlich studierter und
diplomierter Technikingenieur und hielt sich aber für einen
direkten Nachfahren des Piraten Claude de Forbin. Seine Mutter
hatte nämlich vor ihrer Hochzeit Annamaria Forbinia geheißen und
ihre Vorfahren stammten aus Frankreich. Sie waren in früheren
Zeiten Seeleute gewesen, was aus alten Dokumenten heraus zu lesen
war. Und so war der junge Giovanni, der gern und viel in alten
Abenteuerbüchern las, schon als Bub auf die Idee gekommen, der
berühmte Freibeuter Claude de Forbin könnte sein
Ur-Ur-Ur-Ur-Großvater gewesen sein.
Deshalb nannte er sich auch „El Forbinio“, kleidete sich wie ein
antiker Südseepirat und war ansonsten aber, trotz dieser
Spinnereien, ein durchaus guter „Nachbar“.
Seine Frau hieß Roswitha, war atemberaubend schön, intelligent und
gebildet, und eine sehr elegante Erscheinung. Sie passte überhaupt
nicht auf diese alte Seeräuberburg und wie sich bald herausstellte,
auch nicht zu „El Forbinio“.
Zu verschieden waren ihre Vorstellungen von einem glücklichen,
gemeinsamen Leben.
Roswitha wollte Karriere machen, wollte selbstständig sein, und
brauchte den Trubel einer Großstadt.
Aber da hatte das Schicksal wieder einmal andere Ideen als die
Menschen.
Roswitha wurde Mutter!
Ciano kam zur Welt!
Und das war zu viel für sie.
Sie geriet in Panik, weil sie glaubte, nun wäre ihr Traum von der
großen Karriere begraben und sie wäre für immer hier auf der
Piratenburg gefangen!
Nur Hausfrau zu spielen, zu putzen, zu kochen und ein Kind zu
versorgen, das war nicht das Leben, das sie sich vorstellte!
Eines Tages war sie verschwunden. Und mit ihr die schöne schwarze
Jacht El Forbinios.
Dieses stolze kleine Schiff hätte El Forbinio leicht verschmerzt,
weil ihm ohnedies auf Schiffen meist schon schlecht wurde, wenn nur
die Wellen etwas höher wurden.
Aber der Schmerz über den Verlust seiner geliebten Roswitha machte
ihn halb wahnsinnig!
Er glaubte, dass sie von ihm gegangen sei, weil er ihr zu wenig zu
bieten gehabt hatte, und dass sie vielleicht zu ihm zurück kommen
würde, wenn er sie mit Reichtum und Schätzen überschüttete.
Und so begann er an dieser unseligen Schatzsuchmaschine zu
arbeiten.
Tag und Nacht, jahraus, jahrein schuftete er ohne Atempause an
dieser Maschine, von der er hoffte, sie würde ihm alle Reichtümer
der Erde bringen und er könnte sich seine Roswitha so zurück
holen.
Der kleine Ciano, der von all dem natürlich gar nichts verstand,
wuchs in dem alten Gemäuer auf, das täglich immer mehr von Rohren,
Kabeln, Pumpen, Schläuchen und Motoren durchsetzt und überzogen
wurde.
Und als er groß genug war, um mit einem Boot umgehen zu können, kam
er eines Tages auf die Nachbarinsel, wo der weise, gütige, alte
Professor Renzo Floriani lebte, der von da an sein Lehrmeister
wurde, und von dem er die Geheimnisse der Welt erfuhr.
Er lernte mit den Tieren, und sogar mit dem Wind, zu sprechen, und
je mehr er lernte, desto mehr wollte er immer noch wissen.
Renzo brachte ihm alles bei was er selbst jemals studiert hatte,
die Grundbegriffe der Mathematik, vieles über Chemie und Physik bis
Geografie und Geschichte, Musik, Malerei, Architektur und vieles,
vieles mehr.
Mit acht Jahren wusste Ciano weit mehr als die meisten Schüler der
europäischen Mittelschulen in der vierten Klasse!
Und zudem konnte er mit den meisten Tieren seiner Umgebung genauso
sprechen wie mit den fünf Kumpels seines Vaters, die alle sozusagen
seine Onkeln waren, und jeder aus einem anderen Land der Erde
kamen. Paco aus Spanien, Dimitri aus Bulgarien, Tonio aus Italien,
Gilbert aus England und Wambo aus Südafrika. Ciano lernte spielend
alle ihre Sprachen, und schon als halbes Baby hatte er großen Spaß
daran, mit jedem Menschen, den er in seiner kleinen Welt kannte, in
einer anderen Sprache zu sprechen.
Er war für sein Alter groß und sehr kräftig, und sein Vater sagte
von ihm, er könne arbeiten wie ein Erwachsener, turnen wie ein
Affe, schwimmen wie ein Fisch und laufen wie ein Gepard.
Ja, und die Tiere waren seine Freunde, die er liebte, als wären sie
seine leiblichen Geschwister.
Eines dieser „Geschwister“ war Flirr, der Lachende Hans.
Womit wir eigentlich fast alles Nötige erklärt hätten.
Eben dieser Flirr fiel urplötzlich. Sozusagen aus allen Wolken,
direkt auf mein Fensterbrett.
Mir blieb die Luft weg vor Freude, den alten Vogel endlich
wiederzusehen, der diese gewaltig lange Reise von Floripace zu mir
nach Mitteleuropa sicher nur unternommen hatte, um mir ein weiteres
spannendes Abenteuer des Jungen Ciano zu berichten.
Ich reichte Flirr erst einmal eine Schale Wasser, ließ ihn
ausschnaufen und sich erholen, aber dann begann er auch schon wie
ein Schnellsprechautomat mit seiner Schilderung dessen, was sich
seit seinem letzten Besuch auf den beiden Inseln im indischen Ozean
ereignet hatte.
Ich kam beim Notizen-Machen fast nicht mit seinem Tempo mit, und
verbrauchte ganze drei Notizhefte!
Und als Flirr mit meinen besten Grüßen versehen wieder unterwegs
zurück nach Floripace war, setzte ich mich hin und schrieb die
ganze Geschichte für Dich ins Reine.
*
Ciano war also gesund und unversehrt vom Mond zurück gekommen. Er
hatte sich noch lange mit den Technikern, und mit Leutnant Gerrin,
über alle technischen Details unterhalten, die für seine Rettung
notwendig gewesen waren. Zum Beispiel, dass eine Sprechverbindung
von der Erde zur Rückseite des Mondes nur möglich war, weil man
extra einen Satelliten weit genug ins All geschickt hatte, um den
Erdschatten zu überwinden, sodass die gesendeten Signale zur
Raumkapsel reflektiert werden konnten.
Alles war überaus kompliziert, und Ciano war tief beeindruckt von
der gewaltigen Leistung der Techniker und der gesamten
Mannschaft.
Er erfuhr erst jetzt, dass es auf der Mondrückseite unvorstellbare
Temperaturunterschiede von Tag zu Nacht gibt!
Am Tag hat es bis zu +130° Hitze, und in der Nacht bis zu -130°
Kälte! Dass er davon nichts gespürt hatte, war dem Wunderwerk des
Spezial-Raumanzugs zu verdanken, der sämtliche Temperaturen, ob
kalt oder heiß, nicht ins Innere des Anzugs dringen ließ. Dort
regelte allein die Körperwärme die Temperatur.
Viele Stunden verbrachte Ciano noch im Raumfahrtzentrum, und die
besten Ingenieure meinten, er sei der klügste Junge, der ihnen je
begegnet sei, und ob er nicht bei ihnen bleiben und Astronaut oder
Raketentechniker werden wolle. Das Talent dafür hätte er mindestens
dreimal!
Aber Ciano sehnte sich viel zu sehr nach seinem Zuhause. Nach der
alten Burg auf dem Piratenfelsen, und nach der kleinen
paradiesischen Insel Floripace, auf der sein väterlicher Freund
Renzo lebte, und natürlich nach all den wunderbaren Tieren.
Und so hatten Vater „El Forbinio“, die fünf Kumpane Paco, Gilbert,
Wambo, Tonio und Dimitri, und natürlich der alte zerzauste Papagei
Profax, auf ihrem Schiff „Caraluna“ die Heimreise angetreten.
Cianos Mutter Roswitha war einige Tage später von Monetien aus mit
dem Flugzeug nach Toamasina an der Ostküste Madagaskars gekommen,
von wo sie Еl Forbinio mit der Caraluna abgeholt und auf die
Pirateninsel gebracht hatte.
Es war allen klar, dass Roswitha nicht sehr lange bleiben würde,
weil sie doch jetzt so eine wichtige Persönlichkeit in ihrem
Unternehmen war, und weil dort ohne sie gar nichts lief.
Für Ciano waren diese paar Tage lediglich eine Gelegenheit seine
Mutter besser kennen zu lernen, und zu verstehen, dass sie zwar
nicht auf dem Mond, aber doch in einer völlig anderen Welt lebte.
Und dass sie nur dort glücklich und zufrieden sein konnte.
Es war für sie beide sehr schmerzhaft, das zu akzeptieren, aber sie
wussten, dass es keine andere Möglichkeit gab.
Roswitha redete noch lange auf Ciano ein, er möge doch zu ihr in
die Zivilisation kommen, um auch einmal das „richtige Leben“, wie
sie es nannte, kennen zu lernen.
Und sie malte ihm alles in den schillerndsten Farben aus und
versprach ihm, sie würde ihm das Leben so schön machen wie er es
sich überhaupt nicht vorstellen könne.
Aber Ciano stand noch viel zu sehr unter dem Eindruck seiner
Mondlandung, als dass er so eine Entscheidung mit klarem Kopf
treffen konnte.
Also reiste Roswitha endlich ab, versprach irgendwann auf ein paar
Tage zu Besuch zu kommen, und langsam nahm alles wieder seinen
gewohnten Lauf auf den beiden kleinen Inseln.