Robin & Scarlet – Next generation
Die Nacht der Eule
von Stefan Karch
Von Stefan Karch ebenfalls im G&G Verlag als E-Book erschienen:
„Robin und Scarlett – Die Bücher der Magier“, ISBN 978-3-7074-1707-4
„Robin und Scarlett – Die Stimmen der Geister“, ISBN 978-3-7074-1708-1
„Robin und Scarlett – Die Vögel der Nacht“, ISBN 978-3-7074-1709-8
„Karfunkel – Das Vermächtnis der Steine“, ISBN 978-3-7074-1704-3
1. digitale Auflage, 2014
www.ggverlag.at
ISBN E-Book 978-3-7074-1717-3
ISBN Print 978-3-7074-1673-2
In der aktuell gültigen Rechtschreibung.
©2014 G&G Verlagsgesellschaft mbH, Wien
Alle Rechte vorbehalten.
Lady Blue
Im Büro der Wächter
Die Besprechung
Die Flut der Bilder
Das Waffenrad
Ein parkender Alligator
Der Unfall
Kleine Schwester
Schneebeerentraum
Alte Mistkarre
Welt der Magie
Ein Junge namens Roy
Versuch einer Rettung
Der Feuermelder
Willkommene Gäste
Mysteriöse Verfolger
Das Versteckspiel
Robins Recherchen
So weit weg …
Ein neuer Tag
Planänderung
Aus dem Hinterhalt
Riesige Freude
Der Chauffeur
Fast wie im Kino …
Die Verwechslung
Im Fluss der Magie
Ein fairer Handel
Die Prophezeiung
Gelöschte Erinnerungen
Ein kühner Sprung
Das Haus am See
Das Wiedersehen
Die Nacht der Eule
Der freie Fall
Die Heimfahrt
Die Erfüllung
Schneebäreneltern
Der Sprungturm
Die alte Dame kichert. Sie spitzt ihre rot geschminkten Lippen.
„Einmal habe ich mich geirrt, gewaltig geirrt“, gesteht sie.
Sie beugt sich ein wenig vor und sieht das Mädchen über ihren Schreibtisch hinweg aus kleinen wässrigen Augen durchdringend an.
„Ich stand vor einem der Regale dort und schob die Buchrücken ordentlich zusammen. Plötzlich nahm ich aus den Augenwinkeln einen Schatten wahr.“
Sie schnalzt leise mit der Zunge und schüttelt den Kopf. Anstatt fortzufahren, nimmt sie die Teetasse, die vor ihr steht, in die Hand.
Scarlet wartet geduldig.
Lady Blue, wie Scarlet die alte Dame nennt, ist die einzige Angestellte in der Bibliothek. Sie riecht ein bisschen nach Talkumpuder und spreizt ihren kleinen Finger ab, wenn sie eine Tasse in der Hand hält.
Lady Blue nippt an ihrem Tee und lächelt Scarlet an.
„Und was war dann?“, fordert Scarlet sie auf, weiterzuerzählen.
Die Lady nimmt noch einen kleinen Schluck und wedelt mit der Hand.
„Ist der heiß!“, stößt sie hervor.
„Wo war ich stehen geblieben?“, erkundigt sie sich dann. Sie starrt das Mädchen an und tippt sich auf die Stirn. „Der Schatten“, beantwortet sie sich selbst die Frage. „Genau. Blitzschnell fuhr ich herum. Wie in Zeitlupe nahm ich jede Einzelheit wahr. Ein Mann mit Bart stand vor der Tür, die Hand schon an der Schnalle, entschlossen, die Tür zu öffnen, was ich natürlich keinesfalls zulassen durfte.“
Lady Blue kommt jetzt hinter ihrem Schreibtisch hervor und stellt sich vor Scarlet hin. Sie streicht sich den Rock glatt und legt das Ende eines bunten Schals über ihre Schulter. Ihre Füße stecken in Turnschuhen, sie steht in aufrechter Haltung fest am Boden, so wie Scarlet es selbst auch gelernt hat.
Ein Sonnenstrahl, der durchs Fenster fällt, streift das weiße flaumige Haar der alten Frau und lässt sie für einen Moment gespenstisch aussehen.
„Ich war geladen, so geladen wie ein Reanimiereisen“, nimmt sie den Faden wieder auf. „Und der Zauber, den ich gewirkt habe, war gewaltig. Der Mann wurde nicht nur aus seinen Schuhen, sondern auch gleich aus den Socken gerissen und durch den Gang geschleudert. Er krachte mit voller Wucht in dieses Regal.“ Sie zeigt auf eine der Stellagen. „Hunderte Bücher und mehrere Holzbretter haben den armen Kerl unter sich begraben. Dabei war er nur auf der Suche nach einer Toilette, wie sich später herausstellte.“
Lady Blue drückt ihre Handflächen gegeneinander, es sieht aus, als würde sie in Zeitlupe klatschen.
Dann schüttelt sie bedächtig den Kopf.
„Ich sollte diesen Job endlich aufgeben. Ich bin zu alt dafür“, beteuert sie.
Scarlet will sofort protestieren, doch die Lady berührt sanft ihren Arm.
„Du bist doch nicht wegen der Geschichten einer alten Frau hier, oder?“, meint sie lächelnd. „Also komm, gehen wir.“
In dem Moment betritt jemand die Bibliothek. Lady Blue hält kurz inne und murmelt dann: „Ist nur Kundschaft.“
Sie führt Scarlet durch einen Korridor zwischen zwei Bücherregalen. Vor einer schmalen Tür am Ende des Korridors bleibt sie stehen.
„Nur für Personal“, steht auf einem Zettel, der mit Klebeband an der Tür befestigt ist. Die Lady öffnet sie und schiebt Scarlet an sich vorbei durch die Tür. Eine nackte Glühbirne baumelt von der Decke herab. Sie geht von alleine an und taucht die Kammer in ein mattes Licht.
„Ach, beinahe hätte ich es vergessen. Du wirst oben erwartet“, teilt die Lady Scarlet noch mit und schließt die Tür von außen.
Scarlet ist alleine. Erleichtert amtet sie auf. Gleichzeitig spürt sie ein nervöses Kribbeln, das sie immer überkommt, wenn sie diesen Raum betritt.
Es riecht nach Putzmittel. In einer Ecke steht ein Kübel. Scarlet drückt auf einen unscheinbaren Knopf an der Wand. Daraufhin schiebt sich die Wand zur Seite und gibt die Tür zu einem Lift dahinter frei.
Der Lift ist ein geheimer Zugang zu den Büros der Wächter, die sich in den Stockwerken darüber befinden.
Als Scarlet die Lifttür aufzieht, erstrahlt ein grelles weißes Licht. Sie steigt ein. Mit einem Ruck setzt sich der Lift in Bewegung.
Gleichzeitig beginnen Scarlets Gedanken zu rattern. Warum müssen ihr die Leute immer alles Mögliche erzählen? Unlängst hat sie eine Lehrerin auf der Straße getroffen, die ihr über eine Stunde lang Geschichten erzählt hat. Und warum, fragt sich Scarlet, kommt sie selbst immer wieder hierher?
Scarlet denkt an die Wächter und Wächterinnen, die dort oben arbeiten. Wie gelangen sie in ihre Büros? Bestimmt nicht durch die städtische Bibliothek und eine Kammer, in der Putzmittel aufbewahrt werden, und dann mit diesem Lift.
Die Wächter und Wächterinnen hüten Geheimnisse, auch wenn sie für andere nicht weiter von Bedeutung sind, wie zum Beispiel das Geheimnis um ihre Existenz.
„Wir sind eine besondere Spezies“, sagen die einen.
„Wir sind nicht außergewöhnlich, wir sind nur Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten“, sagen die anderen.
Und sie, Scarlet, besitzt ebenfalls außergewöhnliche Fähigkeiten. Sie ist eine von ihnen.
Scarlet war Schülerin in Scorpiohof, einer Schule für junge Magier und Magierinnen, die sogar in den eigenen Reihen durch ihre ungewöhnlichen magischen Talente hervorstechen. Scarlet ist es auch zu verdanken, dass Robin, ein Junge, der von einem Magier in eine Katze verwandelt worden war, seine menschliche Gestalt zurückgewonnen hat. Außerdem klärte sie das mysteriöse Verschwinden mehrerer anderer Jungen auf, alle Söhne hochrangiger Magier. Seitdem schätzt Rubens, der Direktor des Büros der Wächter, sie über alle Maßen.
Der Lift hält und Scarlet steigt aus. Dafür, dass sie nur ein Stockwerk weiter oben ist, hat die Fahrt sehr lange gedauert. Das stellt sie jedoch jedes Mal fest, sie hat inzwischen aufgehört, sich darüber zu wundern.
Auf der Etage über Lady Blues Bibliothek herrscht reges Treiben.
Scarlet versucht, ihre Nervosität zu verbergen, die sie hier meistens sofort erfasst. Sie geht mit ihren dünnen Beinen federnden Schrittes über die knarrenden Holzdielen den Korridor entlang.
Ihre Beine seien zu dünn, finden die Jungen und auch manche Mädchen in ihrer Klasse. Scarlet macht sich nicht viel daraus, sie findet ihre Beine ganz in Ordnung, und außerdem kann sie sowieso nichts daran ändern. Ihre Lippen sind auffällig rot, wenn auch nicht so grellrot wie die der Lady, doch in Scarlets blassem Gesicht leuchten sie röter als bei den meisten anderen Menschen. Ihre Haare sind wild und wippen mit jedem ihrer Schritte.
Durch milchige Glastüren erkennt sie die Silhouetten von Menschen. Aus einem der Büros kommt gerade ein Mann mit dunklen Locken. Er heißt Leon, Scarlet kennt ihn. Er nickt ihr grüßend zu. Ihm folgt eine Frau mit strengen Gesichtszügen, in ihrem Schlepptau ein kleiner Junge mit Pickeln im Gesicht.
Scarlet wundert sich. Im Büro der Wächter hat sie noch nie zuvor ein Kind gesehen. Alle drei verschwinden rasch in einem der Seitengänge.
Die Wächter und Wächterinnen hier arbeiten in Teams. In ihren Büros stehen moderne Computer, die gigantische Datenmengen verwalten und über die der Zugang zu einer schwindelerregenden Anzahl von Datenbanken gewährleistet ist. Sie bilden die sogenannte Sonderabteilung und arbeiten im Dienste der Gemeinschaft der Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten.
Sofern Magier in öffentlichen Angelegenheiten agieren müssen, führen sie ihre Aufgaben mit großer Besonnenheit aus, und sie wahren strengste Diskretion, tunlichst darauf bedacht, kein Aufsehen zu erregen. Gelingt ihnen das jedoch einmal nicht, so kommen die Wächter und Wächterinnen zum Einsatz. Sie rücken aus, um beispielsweise gefährliche Erinnerungen zu löschen, verräterische Spuren zu beseitigen oder fiebernde Hitzköpfe zur Vernunft zu bringen.
Früher bekleideten die Magier hohe Ämter.
Sie bewohnten prunkvolle Häuser und ließen sich in Limousinen herumkutschieren. Sie hüllten sich in lange wallende Mäntel und versuchten, einander mit der Höhe ihrer Zylinderhüte zu übertrumpfen.
Einige von ihnen versuchen das heute immer noch.
Die Tür zum Büro des Direktors öffnet sich, noch bevor Scarlet ihre Hand an die Schnalle legen kann.
Ein kleiner Mann tritt heraus in den Korridor. Alles an ihm ist rund – sein Bäuchlein, sein Schädel und die kleine knollenförmige Nase. Er trägt einen Anzug. Seine Schuhe glänzen frisch poliert. Sein Gesicht ist ein wenig zerknittert, als wäre er gerade erst aufgestanden. Für gewöhnlich tragen Magier Brillen, um das übernatürliche Funkeln ihrer Augen zu verbergen. Doch Direktor Rubens trägt keine Brille.
„Schön, dass du gekommen bist, Scarlet“, begrüßt er sie. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht und verschwindet sofort wieder.
Er wirkt müde und niedergeschlagen, als wäre er mit seinen Gedanken woanders, irgendetwas scheint ihn zu bedrücken. Ob er zufällig aus dem Büro gekommen ist oder ob er gespürt hat, dass ich komme?, überlegt Scarlet. Überwachungskameras gibt es hier nicht, das weiß sie.
„Ich möchte dir jemanden vorstellen“, reißt Rubens sie aus ihren Gedanken.
Er führt Scarlet den Korridor entlang zurück und bleibt vor einer der Milchglastüren stehen.
„Ich bitte dich darum, dass du mit jemanden sprichst“, erklärt er. Ein wenig zögernd streicht er sich mit der Hand über den Schädel. Wie um Anlauf zu nehmen, tritt er zuerst einen Schritt zurück, dann öffnet er schwungvoll die Tür.
„Bitte sehr“, sagt er und lässt Scarlet den Vortritt.
Der Raum, den sie betreten, ist riesig. Es riecht intensiv nach Papier. Doch es handelt sich eher um einen Besprechungsraum als um ein Büro.
Rubens bietet Scarlet einen Platz an einem Holztisch an, der lang wie eine Tafel ist.
Sie warten.
Wann immer sich ihre Blicke zufällig treffen, weicht der Direktor ihr aus.
Leise trommelt er mit seinen Fingerspitzen auf die Tischplatte. Er zieht ein Taschentuch aus der Brusttasche seines Anzugs und tupft sich die Stirn ab. „Es ist heiß hier“, murmelt er, steckt das Taschentuch wieder weg und öffnet den obersten Knopf seines Hemdes.
Dann herrscht wieder bedrückendes Schweigen.
Scarlet ist verunsichert. Normalerweise führt sie mit Direktor Rubens angeregte Gespräche. Er erzählt ihr oft von seiner Arbeit. Am liebsten zeigt er ihr Bücher mit Biografien über berühmte Persönlichkeiten und erzählt anschaulich von deren Heldentaten.
Scarlet erwägt kurz, dem Direktor Lady Blues Geschichte zu erzählen, verwirft diesen Gedanken jedoch gleich wieder. Stattdessen lässt sie ihren Blick durch den Raum gleiten. An den holzvertäfelten Wänden stehen Vitrinen und Bücherregale. Es reizt sie, aufzustehen und sich eine der Vitrinen aus der Nähe anzusehen.
Warum ist es Direktor Rubens so wichtig, dass sie mit jemandem spricht? Wer ist dieser Jemand, und was will er von ihr?
Die Stimmung im Raum wird immer beklemmender.
Endlich öffnet sich eine Tür, die Scarlet in der Vertäfelung zuerst gar nicht wahrgenommen hat. Ein Mann tritt ein, gefolgt von drei Jungen. Die Jungen sind groß, schlank, tragen Lederjacken und dunkle Jeans und sind etwas älter als Scarlet. Sie gehen an das andere Ende der Tafel, ziehen geräuschvoll je einen Stuhl hervor und lassen sich wie auf Kommando alle gleichzeitig hineinfallen wie nasse Säcke.
Scarlet bemerkt, dass die Jungen sie mustern. Es ist ihr unangenehm.
Der fremde Mann kommt auf sie zu.
„Barns“, stellt er sich vor. Seine fleischigen Lippen öffnen sich zu einem verzerrten Lächeln und geben den Blick auf eine Reihe blitzblanker Zähne frei. Sein pomadendurchtränktes Haar glänzt seidig.
Scarlet macht Anstalten aufzustehen, um ihm die Hand zu reichen, doch der Mann gibt ihr zu verstehen, dass sie sitzen bleiben soll. Mit einem Nicken begrüßt er Direktor Rubens, der seinen Sessel zurückschiebt, offenbar in der Absicht, den Raum zu verlassen.
„Direktor Rubens …“, sagt Scarlet verunsichert. Ihr wird noch unbehaglicher. Doch er wirft ihr nur einen letzten Blick zu und verlässt den Raum.
„Darf ich mich setzen?“, erkundigt sich Barns der Form halber mit seinem sperrigen Lächeln. Ohne ihre Antwort abzuwarten, nimmt er Scarlet gegenüber Platz.
Er legt seine Hände auf den Tisch und ermahnt die Jungen, die leise miteinander sprechen, still zu sein. Er nennt sie beim Namen: Roy, Simon und Jonathan. Scarlet prägt sich, ohne groß darüber nachzudenken, diese Namen sofort ein. Sie ahnt bereits, dass sie von Bedeutung sein werden.
„Ich habe schon viel von dir gehört“, beginnt Barns und lächelt Scarlet, um Wohlwollen bemüht, an.
Scarlet bemüht sich angestrengt, Ruhe zu bewahren. Doch eine innere Stimme sagt ihr, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Ganz und gar nicht in Ordnung. Der Mann will nur mit mir sprechen, versucht sie sich zu beschwichtigen, doch gleichzeitig ist sie kurz davor, einfach aufzuspringen und hinauszulaufen.
Barns schüttelt den Kopf, als hätte er ihre Gedanken gelesen. „Entspann dich, Mädchen“, fordert er sie auf und lässt die Knochen seiner Finger knacken.
„Ich bin auf der Suche“, beginnt er alsdann. „Auf der Suche nach fähigen, jungen Leuten, die mir helfen können.“ Er zieht seine Augenbrauen in die Höhe und starrt Scarlet an.
„Ihr jungen Menschen seid noch wendig und schlagfertig, eure Gehirne sind unverbraucht, ihr habt eine neue Sicht auf die Dinge. Ihr seid eben noch nicht festgefahren wie wir Alten.“
Er grinst.
„Dabei bin ich auf dich gestoßen, Mädchen.“
Wieder ein Grinsen.
Scarlet kämpft einen Anflug von Übelkeit nieder. Dieser Mann ist ihr unsympathisch. Er redet selbstgefällig, und er führt irgendetwas im Schilde, das spürt sie deutlich.
„Du warst in Scorpiohof, habe ich gehört“, sagt Barns nun. Seine kalten Augen fixieren sie. Scarlet versucht, sich das Frösteln nicht anmerken zu lassen und seinem Blick standzuhalten.
Behutsam fasst er über den Tisch nach ihren Händen.
„Du musst keine Angst vor mir haben.“
Scarlet zuckt zurück und will sich aus seinem Griff befreien. Doch dazu ist es schon zu spät, Barns hält ihre Hände einfach fest. Scarlet hält erschrocken die Luft an, und in dem Augenblick begreift sie, dass sie etwas übersehen hat. Der Schreck darüber, dass er ihre Hände nicht mehr loslässt, hat sie abgelenkt. Deshalb hat sie es verabsäumt, sich zu schützen, obwohl sie längst gespürt hat, dass diese ganze Situation nichts Gutes verheißt.
Barns Stimme ist bereits in ihrem Kopf. Er ist in ihre Gedanken eingedrungen.
Er ermahnt sie, sich zu beruhigen und fordert sie auf, zu kooperieren.
Beruhigen! Scarlet windet sich, sie will sich losreißen und aufstehen. Doch Barns Griff ist eisern. Sie verliert die Kontrolle, und er beginnt auf sie einzuwirken.
Scarlet merkt, dass ihr auf einmal alle Energie abhanden kommt, als würde alles Lebendige aus ihr herausgesaugt. Sie wird immer kraftloser. Ihr Kopf sinkt schwer auf die Brust. Sie kann die Augen kaum noch offen halten, wehrt sich verzweifelt gegen die bleierne Müdigkeit, doch dann schließen sich die Lider wie metallene Schalen über ihren Augen.
Im nächsten Moment stürzt eine Flut von Bildern auf sie herein. Zunächst nur aufdringlich grell und konturlos, nehmen die Bilder nach und nach an Schärfe zu.
Sie sieht Menschen, die ihr im Laufe ihres Lebens begegnet sind. Abraham, ihr Mentor, der ihr Ratschläge erteilt; sie hört seine Stimme und sieht sich plötzlich im Klassenzimmer sitzen. Danach kommt eine Frau mit Händen, dick wie Brotwecken, die Scarlet fest an sich drückt und küsst. Meggie. Sie sieht Robin, er liegt neben ihr. Sie liegen in einer Wiese, hohes Gras schaukelt im Wind. Es duftet nach Meer und nach Sand. Robins Hand liegt auf ihrem Bauch, und es kommt ihr so vor, als würden Ameisen über ihre Haut krabbeln. Er beugt sich über sie, und seine Lippen berühren ihre.
Etwas in ihr lehnt sich auf, will sich den Bildern widersetzen. „Lenke deine Gedanken. Du darfst nicht zulassen, das dich jemand manipuliert“, hört sie plötzlich Abraham sagen. „Konzentriere dich auf etwas, das dir viel bedeutet, mehr als alles andere.“
Scarlet versucht, sich zu konzentrieren. Doch ihre Gedanken kreisen noch schneller und werden zu einem Strudel, der sie immer tiefer in die Flut der Bilder hineinzieht. Scarlet weiß nicht, wie viel Zeit vergangen ist. Auf einmal ist es ganz still.
Eine Stimme holt sie jäh zurück in den Besprechungsraum, zurück in die Wirklichkeit. Sie öffnet die Augen und ringt nach Luft, wie eine Ertrinkende, die aus der Tiefe des Meeres wieder an der Wasseroberfläche auftaucht..
Direktor Rubens steht vor ihr und hält ihr ein Glas Wasser hin.
„Hast du Durst?“, erkundigt er sich.