Über das Buch

Als Beat Menuesli bei einem Campingausflug zwei geheimnisvollen Gestalten begegnet, traut er seinen Ohren kaum: Fahrstühle, die ins Innere der Erde führen? Ein Zwergenreich unterhalb der Alpen? Und dazu noch ein durchgeknallter Zwergenkönig, der die Menschheit bedroht? Plötzlich findet Beat sich in einer unterirdischen hochtechnisierten Welt wieder – und muss zwischen Geheimagenten, Erdferkeln und Käsefabriken das Abenteuer seines Lebens bestehen!

»Wenn die Sonne tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.«

Sprichwort

Inhalt

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Epilog

Über den Autor

Prolog

»Hey, du da! Zwerg!«

Beat reagierte nicht.

»Ja, dich meine ich. Hu-huuu, Kleiner! Ich rede mit dir!«

Beat starrte konzentriert aus dem Busfenster.

»Ich glaub, der Winzling quatscht nicht mit jedem, Richi«, mischte sich eine zweite Stimme ein. »Oder er versteht dich nicht. Vielleicht können seine Mikro-Ohren nur Mikro-Geräusche auffangen?« In theatralischem Flüsterton fügte er hinzu: »Hey, du halbe Portion!«

Abgesehen vom schallenden Gelächter der drei Achtklässler war es mittlerweile totenstill im Schulbus.

Beat zeigte noch immer keine Reaktion, obwohl er sein Herz bis hinauf in den Hals pochen spürte. Ruhig bleiben war das A und O. Das wusste er, er hatte Situationen wie diese oft genug durchlebt.

Er schwieg.

»Vielleicht ist er auch gar kein Zwerg, sondern ein Hobbit?«, schlug der Dritte im Bunde vor, ein Lulatsch von mindestens einem Meter achtzig, dessen Gesicht vor Aknepickeln blühte. Er beugte sich quer über den Gang in Beats Richtung. »Hast du zufällig haarige Füße, Kleiner? Und einen Ring, mit dem du dich unsichtbar machen kannst?« Er brüllte vor Lachen.

Beat verzog keine Miene. Tatsächlich bedauerte er ein bisschen, dass er keinen solchen Ring besaß. Zu gern hätte er ihn für den täglichen Schulweg an den Finger gesteckt. Leider waren solche nützlichen Zaubergegenstände den Figuren in erfundenen Geschichten vorbehalten. In der Realität gab es nichts dergleichen.

Dafür gab es reale Zwerge. Oder zumindest so was Ähnliches.

Irgendwann um seinen sechsten Geburtstag herum hatte Beat Menuesli aufgehört zu wachsen. Bei einem Meter zehn war Schluss gewesen, ohne ersichtlichen Grund.

Eine Weile war die Sache nicht weiter aufgefallen. Aber irgendwann waren all seine Klassenkameraden einen bis zwei Köpfe größer als er. Da er in die Breite unvermindert weitergewachsen war, musste seine Mom Beats Klamotten immer öfter in der Erwachsenenabteilung kaufen und Ärmel und Beine kürzen. Es dauerte nicht lange, dann kamen seine Mitschüler auf den Trichter, dass Beat ein »komischer Typ« war. Er selbst fand das nicht, aber dieses Schicksal schien er mit allen »komischen Typen« dieser Welt zu teilen. »Komischer Typ« war ein Attribut, das man von außen aufgestülpt bekam, ähnlich wie »Weichei« oder »Zicke«.

Schließlich begannen auch Beats Eltern, sich Sorgen zu machen. Verständlich – sie selbst waren alles andere als klein, von ihnen konnte Beat seinen Zwergenwuchs also kaum geerbt haben. Sein Dad maß stolze 2,02 Meter und spielte Profi-Basketball in der höchsten Nationalliga der Herren. Seine Mom war mit 1,86 für eine Frau ebenfalls ziemlich groß, was ihr in ihrem Job gute Dienste leistete. Sie arbeitete als Stuntfrau für eine internationale Filmfirma, wo sie aufgrund ihrer Statur oft männliche Schauspieler doubeln durfte.

Die beiden schleiften Beat zu einem Dutzend Ärzten. Die zapften ihm mit großer Ausdauer Blut ab und untersuchten es, nur um beim nächsten Termin mit gerunzelter Stirn zu verkünden, sie hätten keine Ahnung, was mit Beat los sei. Nach rund einem Dreivierteljahr einigten sie sich darauf, dass er unter einer seltenen, bisher kaum erforschten Hormonstörung litte. Beat bekam Tabletten verschrieben, seine Eltern waren erleichtert. Dass er trotz der Tabletten nach wie vor nicht größer wurde, schien ihnen nicht aufzufallen. Kein Wunder: Da sie dauernd unterwegs waren und Beat nie von der Schule abholten oder ihn anderswo zusammen mit Gleichaltrigen sahen, blieb ihnen verborgen, dass seine Klassenkameraden mittlerweile schon drei Köpfe größer waren als er.

Anderen Menschen fiel der Unterschied dagegen umso mehr auf. Zum Beispiel ätzenden Achtklässlern im Schulbus.

»Nee, für einen Hobbit ist er zu fett«, analysierte Richi, der Anführer des Trios, gerade. Er beugte sich von hinten über Beats Rückenlehne und betrachtete mit wissenschaftlichem Interesse dessen Statur. »Was ich da sehe, ist der klassische Körperbau eines Zwergs: fassförmige Brust, fassförmiger Bauch, fassförmiger Hintern.«

»Zwerg Fass!«, prustete der mit den Aknepickeln. Speicheltröpfchen stoben aus seinem Mund auf Beats Armlehne.

Im Bus befanden sich mindestens ein halbes Dutzend von Beats Klassenkameraden. Aber keiner kam ihm zu Hilfe.

Beat war auch daran gewöhnt. Ob im Pausenhof, im Bus oder nachmittags im Stadtpark, er war meist allein unterwegs. Gleichaltrige mieden ihn. Sie wollten nicht, dass ihre Freunde dachten, sie gäben sich mit »Kleinkindern« ab. Dabei sah Beat – von seiner Größe abgesehen – beim besten Willen nicht aus wie ein Vor- oder Grundschüler. Er trug dieselben Klamotten wie andere Zwölfjährige, dazu immer brandneue Sneaker, die sein Dad vom Sponsor des Basketballteams geschenkt bekam. Hätte man ihn mittels Copy & Paste aus seiner Umgebung herausgeschnitten und ohne eine Möglichkeit zum Größenvergleich vor einen leeren Hintergrund kopiert, kein Mensch hätte gewusst, dass etwas mit ihm nicht stimmte.

Das Problem war, dass Idioten wie Richi und seine Kumpels ihn eben nicht vor einem leeren Hintergrund sahen, sondern auf dem viel zu groß wirkenden Sitz im Schulbus.

»Kennt ihr das Märchen von Zwerg Fass, Kinder?« Der Picklige wandte sich zu den restlichen Businsassen um und nahm eine Pose wie ein Märchenonkel ein. »In einem Loch tief unter der Erde, da lebte einst der Zwerg Fass. Er war klein und hässlich, und er roch nicht besonders gut. Weil aber auch sein unterirdischer Bau stank wie eine Klärgrube, fiel das nicht weiter auf. Eines Tages beschloss nun der Zwerg Fass …«

Der Bus stoppte. Beat erhob sich, strebte unter dem Gelächter der Achtklässler auf die Tür zu und sprang hinaus auf die Straße. Eigentlich hatte er noch drei Haltestellen zu fahren, aber für heute reichte es ihm. Zu Hause wartete ohnehin nur eine leere Wohnung auf ihn, da war es egal, ob er eine halbe Stunde später ankam.

Beat schulterte seinen Schulrucksack und marschierte los.

Noch zwei Wochen durchhalten, ermahnte er sich. Dann waren Sommerferien.

Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er daran dachte, wo er dann sein würde …

1

Drei Wochen später

Beat roch die Würstchen, noch bevor die Stimme an sein Ohr drang: »Beat? Hey, Beat? Essen ist fertig. Kommst du?«

Er drehte den Kopf. Wenige Steinwürfe entfernt konnte er zwischen den Tannenstämmen den orangefarbenen Schein des Lagerfeuers erkennen. Die Abendbrise trug einen weiteren Schwall Bratwurstduft heran. Er merkte, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief.

»Bin unterwegs!«, rief er zurück.

Aber er blieb sitzen.

Schon seit einer ganzen Weile saß Beat auf einem Felsen und sah dem Sonnenuntergang zu. Mittlerweile war das rote Rund fast vollständig hinter dem Gipfel des Bronigel verschwunden. Im Gras zu seinen Füßen zirpten Grillen, Vögel verabschiedeten den Tag mit einem letzten Zwitscherkonzert. Auf dem Felsen nebenan beendete eine Blindschleiche ihr Sonnenbad und ringelte sich zurück in ihren Unterschlupf. Ein Stück weiter machte sich eine Mäusefamilie raschelnd auf die Suche nach Essbarem.

Die Szenerie war derart idyllisch, dass Beat nicht anders konnte, als breit zu grinsen. Weder der unbequem spitze Felsen unter seinem Hintern konnte daran etwas ändern noch seine von den zusammenfaltbaren Zeltstangen gequetschten Finger noch sein wütend pulsierender linker Daumen, den er vorhin, beim Einschlagen der Heringe, mit dem Hammer getroffen hatte.

Die Natur, stellte er einmal mehr fest, war märchenhafter als jeder Disney-Film.

»Beat? Wir fangen jetzt an!«

Seufzend stand Beat auf. Sein Rücken knackte protestierend, eine Erinnerung an vier Stunden Busfahrt und noch einmal ebenso viele Stunden Wandern mit vollem Marschgepäck, überwiegend bergauf.

Gruppenleiter Schaeffli hatte darauf bestanden, dass sie morgens in aller Herrgottsfrühe starteten – um am Ziel »noch möglichst viel vom Tag zu haben«. Das hatte geklappt. Leider war die Zeit, die ihnen am Lagerplatz bis zur Dämmerung blieb, bloß mit weiterer Arbeit gefüllt gewesen: Zelte aufschlagen, Brennholz und Wasser suchen, Feuer machen …

Beat, der dem Würstchenduft jetzt in Richtung Lager folgte, kümmerte all das nicht. Denn es waren Sommerferien!

Fünf Wochen Ruhe vor all den Nervsäcken, die sich über seine Größe lustig machten. Und zehn Tage zusammen mit den Dachsen in der freien Natur. Konnte es etwas Besseres geben?

Im Lager hatten schon alle um das Feuer herum Platz genommen. Ein Dutzend Pfadfinder, alle ungefähr in Beats Alter, alle in der beigefarbenen Kluft ihrer Truppe. Beat ließ sich zwischen ihnen nieder und nahm von Urs einen Spieß entgegen, an dessen Ende eine goldbraune Bratwurst fröhlich vor sich hinzischte.

»Zwei M-M-Minuten später, und du hättest deine Zähne in ein Stück K-K-Kohle schlagen können«, sagte Urs grinsend.

Gruppenleiter Schaeffli, ein hünenhafter Mann Mitte dreißig, der im wahren Leben eine Gärtnerei betrieb, erhob sich und bat mit einem Schwenk seines Grillspießes um Ruhe.

»Dachse«, hob er an. »Ein anstrengender Tag liegt hinter uns. Aber wir waren fleißig und haben unser Pensum erfüllt. Das bedeutet, ab morgen können wir uns wie geplant der Erkundung des Areals widmen.« Seine Miene verfinsterte sich kaum merklich, als er weitersprach: »Wie ihr wisst, seid ihr vermutlich die Letzten, denen es vergönnt sein wird, die Flora und Fauna dieses Bergmassivs in ihrer unberührten Form zu bewundern. Wenn in sechs Monaten der Bau des Tunnels beginnt, werden sich viele Tierarten wegen des Lärms aus dieser Gegend zurückziehen. Und auch wenn die Gutachten der Baufirma das Gegenteil behaupten, werden aufgrund von Abgasen und der zu erwartenden Umweltverschmutzung etliche Pflanzenarten eingehen.«

Die Dachse schwiegen. Einige nickten. Der Tunnel unter dem Bronigel, der eine Autobahn auf der Ostseite des Berges mit einer Schnellstraße im Westen verbinden sollte, war über zehn Jahre in Planung gewesen. Immer wieder hatten Naturschützer dafür sorgen können, dass das Bauprojekt verschoben wurde. Letzten Endes hatten sie jedoch auf verlorenem Posten gestanden. Das Bronigel-Massiv beheimatete keine geschützten oder vom Aussterben bedrohten Tieroder Pflanzenarten, und die Gewinne, die sich die Schweizer Wirtschaft und der Fremdenverkehr von der Abkürzung erhofften, waren immens. Das hatte schließlich den Ausschlag gegeben. In sechs Monaten würden hier Planierraupen und Sprengkommandos anrollen und die Idylle in eine Baustelle verwandeln.

»Nichtsdestotrotz wünsche ich uns zehn unvergessliche und lehrreiche Tage«, ergriff Schaeffli wieder das Wort. »Und damit Dachse: Haut rein!«

»Wir hau’n rein!«, wiederholten die Dachse im Chor und widmeten sich ihren Würsten.

Vielstimmiges Schmatzen erfüllte das Lager. Alle hatten mächtig Kohldampf, Mädchen wie Jungs machten dem gefräßigen Namensgeber ihrer Truppe alle Ehre. Doch kaum einer futterte so schnell und ausdauernd wie Beat Menuesli.

»M-M-Mannomann!« Urs sah voller Bewunderung zu, wie Beat die fünfte Wurst auf seinen Spieß schob. »Ich möchte n-n-nur mal wissen, wo du das alles hinsteckst? Ich m-m-meine … bei deiner Größe sollte man m-m-meinen, eine halbe Wurst würde langen.« Er kicherte.

Beat verpasste ihm grinsend einen Boxhieb gegen die Schulter.

Bei den Dachsen war er mit Abstand der Kleinste. Anders als zu Hause war dies aber nie ein Thema. Und wenn doch mal jemand einen Spruch machte – so wie Urs gerade –, waren es harmlose Späße, über die auch Beat lachen konnte.

Die Dachse waren vor etwas über zwei Jahren in Beats Leben getreten, genauer gesagt: ein Dachs namens Urs. Beat hatte den hageren Jungen, der eine Klasse unter ihm die Schule besuchte, schon öfter auf dem Weg zum Bus gesehen. Urs schielte phänomenal und trug eine Brille mit Gläsern, so dick wie die Böden von Colaflaschen. Zu allem Überfluss bekam er regelmäßig von seiner Mutter die Haare geschnitten. Die war leider keine Friseurin und besaß allem Anschein nach zwei bis drei linke Hände. Dass er außerdem stotterte, machte die Sache nicht besser. Beat ahnte, dass Urs an einem normalen Schultag mindestens so viel dumme Sprüche wegstecken musste wie er. Trotzdem wirkte er immer entspannt, als würden ihm Beleidigungen, Rempeleien und geklautes Pausenbrotgeld nichts ausmachen.

Besonders auffällig war dieses Phänomen an Montagen und nach den Ferien. Während Beat am Ende jeder nervsackfreien Zeit niedergeschlagen zurück in die Schule schlurfte, schien Urs total tiefenentspannt. Er strahlte schier vor positiver Energie.

Irgendwann überwog Beats Neugier. Er fragte Urs, welche Drogen er nehme, um so gut drauf zu sein, und ob er ihm vielleicht welche abgeben könnte.

Urs schielte ihn durch die beiden Glasbausteine auf seiner Nase an und sagte: »Ich n-n-nehme nix. Aber ich bin ein D-D-Dachs!«

Wie sich herausstellte, war Urs keineswegs verrückt, sondern Mitglied einer Pfadfindergruppe, mit der er jedes zweite Wochenende sowie einen Teil der Ferien verbrachte. Er bot Beat an, zum nächsten Treffen einfach mal mitzukommen.

Zunächst war Beat nicht begeistert. Das wenige, was er über Pfadfinder wusste, fand er nicht allzu spannend. Aber bevor er am Wochenende wieder bloß allein zu Hause herumsaß, sagte er zu.

Es sollte das beste Wochenende seit Jahren werden.

Die Dachse stellten sich als Gruppe von zehn- bis vierzehnjährigen Mädchen und Jungs aus allen Teilen der Stadt heraus. Kein Einziger machte einen blöden Spruch, als Urs ihnen den zwergenhaften Jungen vorstellte, den er mitgebracht hatte. Gruppenleiter Schaeffli hatte eine Geo-Caching-Schnitzeljagd im Stadtwald vorbereitet, einschließlich Übernachtung im Freien. Den ganzen Samstag lang hetzten sie mit GPS-Ortungsgeräten durch die Wildnis, auf der Suche nach dem nächsten Wegpunkt. Abends wurde gegrillt, anschließend gezeltet.

Als Beat an diesem Abend neben Urs in dessen Zweimann-Zelt lag, fiel ihm auf, wie lange es her war, dass er sich in der Gegenwart anderer Jugendlicher wohlgefühlt hatte. Er hatte total vergessen, dass das überhaupt möglich war.

Von diesem Wochenende an besuchte er die Treffen der Dachse regelmäßig, und schließlich stellte er einen Antrag, der Truppe beizutreten. Im Rahmen eines feierlichen, herrlich albernen Rituals wurde Beat Menuesli wenig später ein offizieller Dachs.

Ein besonderes Highlight waren die Ausflüge in den Ferien. Dann ging es zum Bergwandern in die Alpen oder zur Tierbeobachtung in Naturschutzgebiete. Auch an der Nordsee waren sie schon gewesen und hatten Biologen ins Wattenmeer begleitet.

Beat zog den Spieß aus den Flammen und biss in seine fünfte Wurst. Die Dachse waren schon ein schräger Verein, dachte er und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Da war Benny mit dem schreiend roten Haarschopf; Isabel, die beinahe so groß war wie Herr Schaeffli; Vero mit der ultrakurzen Militärfrisur; und Bruno, der grob geschätzt so viel wog wie Benny, Isabel und Vero zusammen. Dann Dominik mit seiner außerirdischen Zahnspange (mit der er vermutlich Satellitenfernsehen empfangen konnte), Urs mit dem Silberblick … und nicht zuletzt er: Beat Menuesli, in Idiotenkreisen bekannt als »Zwerg Fass«.

Doch welche Eigenheiten man auch mitbrachte, bei den Dachsen wurde niemand gehänselt. Nicht mal der dicke Bruno, auf den die Gruppe beim Wandern regelmäßig warten musste. Dafür revanchierte er sich später stets, indem er freigiebig Süßigkeiten austeilte, die ihm seine Mutter als Marschverpflegung einpackte.

Selbst die Sache mit Beats Bart war hier kein Problem.

Kurz nach seinem zehnten Geburtstag hatte er festgestellt, dass seine Wangen von borstigen Stoppeln überzogen waren, rau wie Schmirgelpapier.

Ihm wuchs ein Bart. Mit zehn!

Sein Dad nahm die Sache locker. Bei ihm habe der Bartwuchs zwar erst ein paar Jahre später eingesetzt, aber dass es bei Beat nun so viel eher so weit war, käme vermutlich von der Hormonstörung. Er erklärte seinem Sohn die Handhabung seines Rasierers, den Beat ab sofort regelmäßig benutzte. Wie sich herausstellte, musste er sich täglich rasieren, wenn er nicht mit einem dunklen Bartschatten in die Schule gehen wollte. Nicht auszudenken, welche Spitznamen sich die Nervsäcke dann für ihn ausgedacht hätten!

Bei den Ausflügen mit den Dachsen hatte er die tägliche Rasur zunächst zu verbergen versucht. In aller Frühe war er zum nächsten Bach geschlichen, um sich mit einem Nassrasierer die Stoppeln aus dem Gesicht zu schaben. Natürlich hatte es nicht lange gedauert, bis die anderen dahintergekommen waren. Ihre Reaktion fiel jedoch komplett anders aus, als Beat es nach Jahren der Hänselei erwartet hatte.

»Du hast schon B-B-Bartwuchs?«, hatte Urs mit großen Augen gehaucht. »Cooool! Ich wünschte, bei m-m-mir wäre es auch schon so weit. Aber w-w-wenn ich nach meinem Paps komme, wird es wohl erst m-m-mit 18 oder 19 was …«

Von da an kümmerte sich Beat nicht mehr darum, ob er im Zeltlager täglich zum Rasieren kam. Niemanden hier scherte es, wenn er Stoppeln hatte. Es war die pure Entspannung.

Beat verschlang seine fünfte Bratwurst und anschließend noch eine sechste. Während der anschließenden, von Bruno gesponserten Süßigkeitenrunde verkündete Gruppenleiter Schaeffli das Programm für den kommenden Tag. Er hatte eine Wanderung zum Gipfel des Bronigel geplant, die sie fast 1700 Meter hoch über den Meeresspiegel führen würde.

Wenig später wurde das Feuer gelöscht, und die Dachse zogen sich zum Schlafen zurück. Beat krabbelte in sein brandneues Einmann-Thermozelt, ein Geburtstagsgeschenk seiner Eltern. Er freute sich schon lange darauf, es in freier Wildbahn auszuprobieren. Außerdem war er dankbar, sich nicht länger ein Zelt mit Urs teilen zu müssen. Der war ein netter Kerl, aber nachts schnarchte er wie ein Elefant mit Nebenhöhlenentzündung.

Beat zog den Reißverschluss hinter sich zu und tastete seine Outdoorhose nach dem Smartphone ab. Sein Vater hielt sich für ein Freundschaftsmatch in Italien auf, seine Mutter war zu Filmaufnahmen nach Spanien geflogen. Er wollte beiden eine kurze Textnachricht senden, dass er auf dem Bronigel angekommen war und es ihm gut ging.

Doch das Handy war nicht da.

Systematisch durchsuchte er eine Tasche nach der anderen. Es waren einige, was normalerweise echt praktisch war. Wenn man aber etwas suchte, nervten die unzähligen Einschubmöglichkeiten, Reißverschlüsse und Klettlaschen.

Das Handy tauchte nicht auf.

Beat durchforstete den engen Innenraum des Zelts, ebenfalls ohne Erfolg. Wo konnte das Telefon sein?

Er überlegte scharf. Bei der Ankunft auf dem Zeltplatz am Nachmittag hatte er es noch gehabt, da war er sicher. Mit geschlossenen Augen ging er alle Aktivitäten des Nachmittags noch einmal durch.

»Ich Vollpfosten!« Er klatschte sich mit der Hand vor die Stirn.

Nach dem Aufbau der Zelte, als er abseits des Lagers den Sonnenuntergang bewunderte, hatte er das Handy aus der Gesäßtasche genommen, bevor er sich auf dem spitzen Felsen niederließ.

Aber was hatte er damit angestellt? Hatte er es neben dem Stein ins Gras gelegt? Es gab nur einen Weg, es herauszufinden …

Seufzend streifte sich Beat die Jacke wieder über und schnappte sich seine Taschenlampe. Die Hülle des Handys war zwar wasserfest, und hier draußen würde es gewiss niemand klauen, trotzdem war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, das Gerät über Nacht draußen liegen zu lassen. Außerdem wollte er seinen Eltern schreiben.

Er öffnete den Reißverschluss und krabbelte hinaus.

Stille lag über dem Lager. Nach dem anstrengenden Tag schienen alle bereits selig zu schlummern, nirgends brannte noch Licht. Lediglich am Magazinzelt hing die obligatorische rote Nachtlaterne.

Leise, um niemanden zu wecken, schlich Beat zum Rand des Lagers. Dort knipste er die Taschenlampe an und bahnte sich einen Weg durchs Dickicht in Richtung seines abendlichen Aussichtspunkts.

Im Unterholz war es stockfinster. Nervös versuchte Beat, mit dem Lichtkegel gleichzeitig den unebenen Grund vor seinen Füßen und die Reihen finsterer Tannenstämme seitlich des Weges zu beleuchten. Er musste verflixt aufpassen, um nicht über Steine oder Luftwurzeln zu stolpern und sich der Länge nach auf den Boden zu legen.

War die Baumgrenze vorhin auch schon so weit vom Lager entfernt gewesen? Bei Tageslicht hatte sich die Strecke mit ein paar Dutzend Schritten zurücklegen lassen. Jetzt schien sie kein Ende nehmen zu wollen.

Im Unterholz ringsum knackte und raschelte es. Obwohl Beat die Geräusche genau kannte und wusste, welche Tiere sich jetzt zur Ruhe begaben und welche gerade ihre aktive Phase begannen – solche Dinge lernte man bei den Pfadfindern –, hätte er sich wohler gefühlt, wenn er Urs oder Bruno dabeigehabt hätte. Ob er zurückgehen und einen von ihnen bitten sollte, ihn zu begleiten?

Quatsch! Wie würde das denn aussehen? Ein Pfadfinder, der sich nicht traute, fünfzig Meter allein im dunklen Wald zurückzulegen?

Oder hundert Meter.

Oder auch hundertfünfzig …

Endlich wurde es vor ihm zwischen den Bäumen ein wenig heller. Ein paar Schritte weiter, und er stand unter freiem Himmel.

Es war wolkig, Mond und Sterne kaum zu erahnen, aber man konnte doch etwas mehr erkennen als zwischen den Bäumen. Rasch machte sich Beat auf die Suche nach dem Stein, auf dem er gesessen hatte.

Im Dunkeln war das leichter gesagt als getan. Der Boden war regelrecht übersät mit kniehohen Felsbrocken, ein Stück weiter lagen sogar welche, die fast so hoch wie ein Haus waren.

Auf welchem hatte er gesessen?

Ich habe der Sonne beim Sinken zugesehen, erinnerte sich Beat. Und die Sonne geht im Westen unter. Er griff in die Tasche und zog seinen Kompass hervor. Nachdem er ihn im Licht der Lampe überprüft hatte, kamen nur noch eine Handvoll Steine infrage, die in die richtige Himmelsrichtung wiesen.

Neben dem zweiten davon lag die Hülle mit dem Handy im feuchten Gras. Erleichtert hob Beat das Gerät auf und ließ es in einer seiner Taschen verschwinden.

In diesem Augenblick knackte es irgendwo rechts von ihm.

Es klang anders als die Laute, die er zuvor im Wald gehört hatte. Lauter! Der unmissverständliche Klang eines stabilen Astes, der unter einem schweren Gewicht entzweigeht. Und es war nicht vom Wald her gekommen, sondern aus der Richtung, wo sich die haushohen Findlinge in den Nachthimmel reckten.

Beat rührte sich nicht. Welches Tier war schwer genug, einen mehr als fingerdicken Ast zu zerbrechen?

Ein Fuchs? Zu leicht.

Ein Wolf? Unwahrscheinlich. Zwar gab es in Teilen der Schweiz angeblich wieder einzelne Exemplare, im Umkreis des Bronigel-Massivs war aber noch nie einer gesichtet worden.

Ein Dachs vielleicht, der gefräßige Namensgeber ihrer Truppe? Möglich. Oder ein Wildschwein? In beiden Fällen musste Beat Vorsicht walten lassen. Sowohl Dachse als auch Wildschweine konnten einem Menschen gefährlich werden, wenn sie sich in die Enge getrieben oder bedroht fühlten. Erst recht einem Menschen, der nur einen Meter zehn groß war.

Langsam, um das Tier nicht zu erschrecken, drehte Beat sich um und lenkte den Lichtkegel der Lampe zu einem mannshohen Findling hinüber …

Was er sah, war kein Dachs.

Und kein Wildschwein.

Und kein Fuchs oder Wolf.

Neben dem Findling standen zwei schattenhafte Gestalten.

2

Beats Herz machte einen schmerzhaften Satz in seiner Brust.

Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht damit, hier Menschen anzutreffen – in der Wildnis eines Gebirgsmassivs, auf rund 800 Metern Höhe, noch dazu mitten in der Nacht.

Hier stimmt was nicht!, gellte eine Stimme in seinem Innern. Pass bloß auf!

Zögernd hob er die Lampe, sodass der Lichtstrahl die beiden Gestalten erfasste.

Für einen kurzen Moment verspürte er Erleichterung. Es waren bloß zwei Kinder, ein Mädchen und ein Junge, nicht größer als er selbst und ziemlich stämmig.

Einen raschen, nervösen Herzschlag später kehrten seine Zweifel allerdings mit Verstärkung zurück: Was hatten zwei Kinder nachts mutterseelenallein im Gebirge zu schaffen? Das nächste Dorf, das wusste Beat vom Studium der Wanderkarte, war gut zwanzig Kilometer entfernt. Und ihrer Größe nach zu urteilen, konnten die beiden kaum älter als sieben oder acht sein. Außerdem …

Außerdem sahen sie merkwürdig aus!

Das Mädchen hatte extrem langes, dunkelrotes Haar. Es reichte ihr bis zu den Hüften und war zu dick und glänzend, um echt zu sein. Katzenöhrchen aus Plüsch ragten oben aus der Perücke hervor. Sie steckte in einer Art Schuluniform – schwarzer Blazer mit Bluse, kurzes Röckchen, weiße Kniestrümpfe und Pumps. Ein weißer, flauschiger Katzenschwanz baumelte an der Rückseite des Rocks herunter. Obwohl sie nicht dick war, schien ihr das Oberteil aus irgendeinem Grund viel zu eng zu sein. Ihre Brauen waren fingerdick mit Kajalstift nachgemalt, die Augen so mit Eyeliner umrandet, dass sie unnatürlich groß wirkten, wie die einer Figur aus einem Zeichentrickfilm.

Der Junge wirkte in der nächtlichen Gebirgslandschaft mindestens genauso deplatziert. Er trug ein knielanges T-Shirt mit dem Schriftzug einer amerikanischen Baseballmanschaft, viel zu weite Jeans und klobige, grellweiße Sneaker ohne Schnürsenkel. Um seinen Hals baumelte eine dicke Goldkette mit einem Mercedes-Stern daran, auf kurz geschnittenem blonden Haar saß viel zu hoch eine schräg aufgesetzte Baseballmütze. Goldene Ringe zierten seine dicken Finger.

Die zwei machten keinen bedrohlichen Eindruck. Genau genommen taten sie gar nichts. Sie starrten Beat lediglich aus großen Augen an.

Beat starrte zurück. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so in den Bergen wandern ging. Abgesehen davon, dass es mittlerweile viel zu kühl war für T-Shirts oder kurze Röckchen.

Noch etwas fiel auf: Die Klamotten der beiden wirkten absolut neuwertig. Sie waren pieksauber, weder zerknittert noch irgendwo abgewetzt oder ausgefranst. An der Jeans des Jungen waren noch die Falten zu erkennen, wo sie bis vor Kurzem zusammengelegt gewesen war. Alles schien frisch aus dem Laden zu kommen.

Nie im Leben waren die beiden in dem Fummel den Bronigel hochgekraxelt!

Der Wald in Beats Rücken war mit einem Mal totenstill. Selbst die nachtaktiven Tiere schienen den Atem anzuhalten und abzuwarten, was als Nächstes passieren würde.

»Äh … hallo«, sagte Beat. Das war nicht sonderlich geistreich, aber etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein. Er wusste noch immer nicht, ob er sich vom Erscheinen dieser Kinder bedroht fühlen oder ob es ihn eher zum Lachen animieren sollte.

»Hey, yo!«, entgegnete der Junge und bildete mit den Fingern das »W« der Westcoast-Rapper.

Das Mädchen legte die Handflächen aneinander und verbeugte sich. »Konnichiwa.«

Beat spürte, wie ihm eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief, und das kam definitiv nicht von der nächtlichen Kälte. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht! Die beiden wirkten irgendwie, als wären sie … nicht echtdieser