Totenfeier
von Logan Dee und Susanne Wilhelm
© Zaubermond Verlag 2014
© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"
by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt
Titelbild: Mark Freier
eBook-Erstellung: story2go | Die eBook-Manufaktur
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Der ehemalige Reporter Dorian Hunter hat sein Leben dem Kampf gegen die Schwarze Familie der Dämonen verschrieben, seit seine Frau Lilian durch eine Begegnung mit ihnen den Verstand verlor. Seine Gegner leben als ehrbare Bürger über den gesamten Erdball verteilt. Nur vereinzelt gelingt es Dorian, ihnen die Maske herunterzureißen.
Bald kommt Hunter seiner eigentlichen Bestimmung auf die Spur: In einem früheren Leben schloss er als französischer Baron Nicolas de Conde einen Pakt mit dem Bösen, der ihm die Unsterblichkeit sicherte. Der Pakt galt, und als de Conde selbst der Ketzerei angeklagt und verbrannt wurde, wanderte seine Seele in den nächsten Körper. Im Jahr 1713 wurde er als Ferdinand Dunkel in Wien Zeuge, wie Asmodi, das Oberhaupt der Schwarzen Familie, von einem Nachfolger verdrängt wurde, der sich fortan Asmodi II. nannte.
Nach vielen Irrungen hat Lucinda Kranich, die Schiedsrichterin der Schwarzen Familie, die Rolle des Asmodi angenommen. Niemand weiß, dass sie in Wirklichkeit hinter dem wiedererstandenen Fürsten steckt. Und niemand ahnt von den Schwierigkeiten, die sie quälen und die es ihr fast unmöglich machen, die Kräfte der Höllenplagen-Dämonen einzusetzen, die sie sich am Höhepunkt ihres perfiden Plans einverleibt hat. Dorian Hunters Trick scheint ihr mehr zuzusetzen, als sie es zunächst für möglich hielt ... und der Dämonenkiller ahnt nicht einmal, welcher Schlag ihm gegen den angeblichen Asmodi gelungen ist, dessen Wiedererstarken er sich nicht erklären kann.
Olivaro, der ehemalige Januskopf, schickt Hunter auf die Spur eines geheimnisvollen Geschehens auf den Scilly-Inseln, einer kleinen vorgelagerten Inselgruppe. Gleichzeitig fällt Coco Zamis in einen magischen komatösen Zustand – wenn Dorian ihr helfen will, so Olivaro, dann auf den Scilly-Inseln.
Heimlich weist Olivaro jedoch auch Lucinda Kranich alias Asmodi die Spur dorthin. Dort könne auch ihr geholfen werden. Weiß der alte Intrigant wieder einmal mehr als alle anderen?
Dorian entdeckt Hinweise auf eine versunkene Insel, die noch vor zweihundert Jahren zu den Scillys gehörte, an die sich seltsamerweise aber niemand mehr erinnern kann; nur noch Legenden sprechen davon. Vom Keller eines Sanatoriums für Geistesgestörte aus gibt es einen unterirdischen Tunnelzugang zu dieser Insel, doch noch ehe der Dämonenkiller ihn betreten kann, erobert die Kranich ihn im Sturm.
In einem U-Boot, das von der russischen Kapitänin Darja Kusnezow gesteuert wird, versucht er einen anderen Zugang zu finden, doch sie werden Opfer einer dämonischen Attacke. Überraschenderweise taucht das völlig lädierte U-Boot in letzter Sekunde unter Wasser in einer riesigen Höhle auf. An Bord haben nur drei Personen überlebt: Dorian selbst, die Kapitänin und der Freak Professor Harrison, der die Klinik leitete und von dort aus stets »Nachschub an Wahnsinnigen« über den Tunnel zur Insel schickte. Warum, bleibt unbekannt. Der Freak erkennt in Dorian seinen »Meister« ... auch das nach wie vor aus ungeklärten Gründen.
Gleichzeitig setzt sich auch Jeff Parker auf die Spur der Verschwundenen. Auf einer anderen Insel der Scillys begegnet er einem mysteriösen Spuk; ein geisterhaftes Mädchen verlangt von ihm, den Feuerschädel zu finden, der ihm einst gestohlen wurde. Jeff befreit sich mit einem Trick aus der Zwangslage, doch was es mit dem Feuerschädel auf sich hat, erfährt er nicht. Er ahnt allerdings, dass er nicht der Einzige ist, der sich auf dieser Suche befindet.
Derweil erinnert sich Dorian an einige Geschehnisse aus seinem elften Leben, der Existenz nach dem Jungen Daniel. Dort begegnete er schon einmal dem Freak Harrison – nur dass dieser damals noch ein echter Dämon war, den außerdem eine Besonderheit auszeichnete. Harrison, der sich damals noch anders nannte, litt in der Gegenwart von Wahnsinnigen keine Schmerzen, was ihn von allen anderen Dämonen unterschied. Er versuchte, zu ergründen, warum dies so war, und unternahm Versuche mit Irrsinnigen.
Dabei schlug sich Dorian in seinem elften Leben als Sir William an seine Seite und unterstützte ihn, geriet immer tiefer in die Faszination der morbiden Forschungen. Oder doch nicht? Zum ersten Mal erinnert sich Dorian an zwei Versionen eines vergangenen Lebens. War er vielleicht doch der Dorfdepp Billy, eines der Versuchskaninchen?
Dorian ist verwirrt, und die Erinnerungen stocken, als eines der Experimente fehlschlägt, ein Experiment, in dem der Feuerschädel eine große Rolle spielte. Sir William verliert den Verstand ...
Der steinerne Himmel
von Logan Dee
Unsere Schritte knirschten auf dem felsigen Untergrund. Das heißt, es waren nur meine und Darjas Schritte zu hören. Harrison, der Freak, bewegte sich ausschließlich mithilfe seiner kräftigen Arme fort. Dies geschah erstaunlich lautlos. Er würde sich gut als Spion eignen – eine Tatsache, die ich vielleicht noch einmal in Anspruch nehmen würde.
So richtig hatte ich keine Ahnung, wo wir uns befanden. Klar, auf der versunkenen Insel, auf der wir mit Darjas U-Boot gestrandet waren. Allerdings hätte ich zu gern gewusst, wo diese riesenhafte Höhle hinführte. Und vor allem: Was uns hier unten noch an Überraschungen erwartete.
Ein Schwarm schwimmender Monster hatte uns havarieren lassen. Dabei hatte die gesamte Besatzung des U-Boots ihr Leben verloren. Kaum dass wir drei diesen Angriff überlebt hatten, war die russische Kommandantin von einem Werwolf angesprungen worden. Harrison hatte ihm schließlich mit einem Felsbrocken den Schädel zertrümmert.
Der Werwolf spukte mir noch immer im Kopf herum. Selten war mir ein heruntergekommenerer Vertreter seiner Gattung begegnet. Er schien uns aus reinem Hunger und Verzweiflung angegriffen zu haben.
Zu guter Letzt hatten uns dann noch zwei Wetterhexen übel mitgespielt. Aber auch diesen Angriff hatten wir überstanden. Ich fragte mich, was uns wohl als Nächstes bevorstand.
»Zigarette?«, fragte Darja. Meine durchnässte Players-Schachtel hatte ich längst weggeworfen.
Ich nickte, und sie warf mir die Blechdose zu, in der sie ihre Jin Lings lagerte. Ein übles Kraut, aber in der Not fraß ich Fliegen. Allerdings wusste ich nicht, wie lange sie noch so großzügig ihre Zigaretten mit mir teilen würde. Sie rauchte Kette. Wenn das so weiterging, würden wir uns irgendwann um die letzte Zigarette duellieren.
Darja sah verteufelt gut aus. Ihr durchnässter dunkelblauer Arbeitsanzug klebte an ihrem kurvigen Körper wie eine zweite Haut. Ihr rassiges Gesicht hätte sogar auf ein Vogue-Cover gepasst. Das schwarze Haar, das sie zu einem einfachen Zopf gebunden hatte, stand dazu in Kontrast. Es verlieh ihrem Aussehen etwas Amazonenhaftes. Ich schätzte Darja, die mit vollem Namen Darja Andrejewna Kusnezow hieß, auf dreißig Jahre.
Zu verdanken hatte ich ihre Bekanntschaft meinem alten Freund Jeff. Es gab wahrscheinlich nur einen Mann auf der Welt, der einem kurzerhand ein U-Boot vorbeischickte, wenn man es brauchte. Und Darja war die einzige Kommandantin, die sich für solch ein Himmelfahrtskommando anheuern ließ.
Dabei hatte sie die bisherigen Konfrontationen erstaunlich cool weggesteckt. Immerhin waren Harrison und ich an Dämonen gewohnt – für sie war es das erste Mal, dass sie gegen die Schwarze Familie kämpfte.
Ich sog an der Zigarette und inhalierte den Rauch. Darja beobachtete mich mit ihren glutvollen, dunklen Augen.
»Was überlegen Sie?«, fragte ich.
»Ich überlege, ob ich nicht zu großzügig bin.«
»Setzen Sie die verdammten Zigaretten doch auf die Rechnung!« Ich inhalierte einen weiteren Zug.
»Eine Rechnung, die vielleicht nie beglichen wird – weil sie ihren Empfänger niemals erreicht«, antwortete Darja.
Ich zuckte mit den Schultern. Diese Diskussion hatten wir schon vor dem Angriff der Wetterhexen geführt. »Sollten wir hier jemals wieder rauskommen, wird Jeff Sie für den Verlust Ihres U-Boots entschädigen. Allerdings haben wir nur gemeinsam eine Chance!«
Harrison, der auf seinen Händen einige Meter vorausgewatschelt war, drängte zur Eile: »Ich möchte die Herrschaften nicht hetzen, aber vielleicht könnten Sie ja im Gehen weiterrauchen.« Für seine Verhältnisse war diese Ausdrucksweise ganz schön forsch. Normalerweise sprach er mich mit »Meister« an. Noch immer versuchte ich zu ergründen, wie es dazu gekommen war, dass er mich derart vergötterte. Immerhin hatte ich während der letzten Stunden einige Vergangenheitsflashs gehabt. Ich hatte mich in blitzartigen Sequenzen an mein elftes Leben erinnert! Und nicht nur das: Es schien, als wäre ich damals schizophren gewesen – also erinnerte ich mich an zwei Leben. In dem einen war ich ein Student gewesen, der mit Feuereifer und dem ererbten Vermögen seiner von Dämonen hingemetzelten Eltern die damaligen Forschungen Harrisons unterstützte. In dem anderen war ich ein Dummkopf namens Dave, der sprachlich zurückgebliebene Diener Harrisons. Doch in beiden Existenzen war Harrison ein Dämon gewesen. Allerdings ein ganz besonderer Dämon: Aus irgendeinem Grunde war er immun gegen eine der größten Gefahrenherde, die seinesgleichen bedrohte. Die Nähe von Verrückten und Irrsinnigen machte ihm nicht das Geringste aus. Für ihn war dies Anlass, mit fanatischem Eifer dieses Rätsel zu erforschen. Zuletzt waren meine Erinnerungen an der Stelle meines früheren Lebens angekommen, als es um einen geheimnisvollen Totenschädel ging, der ein dämonisches Eigenleben entwickelt hatte.
Jedenfalls hatten beide Stränge meiner Erinnerungen, mochten sie auch noch so unterschiedlich sein, nach Shovell-Island geführt. Eine Insel, die später versunken war; auf ihr befanden wir uns nun anscheinend in einer Art unterirdischen Höhle.
»Glaubst du etwa, dass noch weitere dieser Wetterhexen auftauchen werden?«, fragte ich Harrison.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht, Meister, aber ich habe ein ungutes Gefühl. Wir sollten sehen, dass wir hier wegkommen. Die Flut steigt …«
Obwohl wir die Wetterhexen vernichtet hatten, schossen nach wie vor Wasserfontänen in die Höhle. Unser Weg führte leicht bergan, sodass wir längst festen Boden unter den Füßen spürten. Dennoch war der Kies feucht, und wenn der Pegel wieder stieg, würde es den beinlosen Harrison als Ersten erwischen.
»Er hat recht«, pflichtete ihm Darja zum ersten Mal bei. Sie sah sich unbehaglich um. Zwar handelte es sich nur um einen von mehreren Gängen, doch dieser war immer noch riesig. Die Decke erstreckte sich gut zwanzig Meter über unseren Köpfen. Das Merkwürdige daran war, dass von irgendwoher nach wie vor Licht hereinschien, obwohl es sich um massives Felsgestein handelte. Für mich war dies ein weiteres Indiz, dass es hier unten nicht mit rechten Dingen zuging. Aber auch Harrison schien dies zu spüren, und selbst Darja fühlte sich offensichtlich immer unwohler.
Dabei hatte sie bisher am ehesten Nerven bewiesen. Sie war mir wie eine der eiskalten Gegenspielerinnen von James Bond vorgekommen – doch mit jedem Schritt weiter hinein in diese Unterwelt bröckelte ein Stück von der stählernen Rüstung ihres Selbstvertrauens ab.
Ich fand sie so, wie sie nun war, sympathischer. Menschlicher.
Ich nickte Harrison zu, und dieser watschelte auf seinen Händen erneut voran. Dabei sog er die Luft ein und schnüffelte – wie ein Hund. Immer wieder schaute er sorgenvoll und misstrauisch nach oben zur Decke.
Der Gang verengte sich zusehends. Schließlich konnten wir nicht mehr neben-, sondern nur noch hintereinander hergehen. Darja nahmen wir in die Mitte, ich bildete die Nachhut.
Wir waren vielleicht zehn Minuten gelaufen, als ich plötzlich ein Geräusch hörte. Ich hielt an, während die anderen es nicht bemerkten und weitergingen.
Ein, zwei Sekunden war das Geräusch noch zu hören, dann verebbte es. Ich war mir sicher, Schritte gehört zu haben. Die Tritte von Schuhen, die sich auf feuchtem Kies bewegen …
Ich drehte mich zur Hälfte herum, aber ich konnte nichts erkennen. Der Gang war kurvig, und bereits hinter der letzten Kurve mochte unser Verfolger stecken.
Auch Harrison und Darja blieben stehen. Sie schauten sich nach mir um. Ich legte den Finger an den Mund und bedeutete ihnen, weiterzugehen.
Die Russin verstand sofort. Der Miene des Freaks entnahm ich, dass er damit überhaupt nicht einverstanden war. Darja zog ihn zum Glück mit sich.
Ich sah ihnen nach, wie sie hinter der nächsten Biegung verschwanden. Ihre Schritte verklangen ebenfalls. Es war mucksmäuschenstill. Lautlos zog ich die Beretta und wartete. Der Verfolger regte sich nicht.
Schließlich verlor ich die Geduld. Ich setzte mich in Bewegung und ging den Weg zurück. Als ich die Kurve erreichte, rechnete ich jeden Moment damit, dass sich eine weitere Kreatur auf mich stürzen würde.
Aber sie war verschwunden.
Nichts geschah.
Fluchend steckte ich die Beretta wieder ins Holster zurück. Ich hatte mich foppen lassen. Oder meine Nerven hatten mir einen Streich gespielt. Wie auch immer, ich beeilte mich, zu den anderen aufzuschließen. Da hörte ich abermals die Schritte in meinem Rücken. Ich fuhr herum, sah aber niemanden.
Wieder verharrte ich. Auch mein Verfolger war erneut stehen geblieben. Mir wurde bewusst, dass es ein Spiel war, wer die besseren Nerven besaß.
Nur das Klopfen meines Herzens war zu hören. Da zerriss ein Schrei die Stille. Darja!
Augenblicklich vergaß ich den Verfolger und stürmte in die andere Richtung vorwärts. Der Gang verlief so schmal, dass ich mir an den scharfkantigen Felswänden einige Schrammen zuzog. Ich unterdrückte den Schmerz.
Endlich erreichte ich das Ende des Ganges. Darja und Harrison waren in einen Hinterhalt geraten. Verzweifelt setzten sie sich gegen ihren Angreifer zur Wehr. Solch ein Monstrum hatte ich noch nicht gesehen. Es besaß menschenähnliche Gestalt, aber dunkles Fell bedeckte den ganzen Leib. Der Kopf ähnelte ebenfalls dem eines Menschen, das Gesicht war jedoch zu einer furchterregenden Fratze verzerrt. Mit den faserigen, langen Haaren und dem flackernden Blick erinnerte das Monster an einen Wahnsinnigen. Die krächzenden Laute, die es ausstieß, ließen selbst mich erschauern. Und ich hatte ein ziemlich dickes Fell.
Plötzlich verspürte ich einen Schlag im Rücken. Ich ging zu Boden, rollte mich aber instinktiv ab. Über mir tauchte ein weiteres Ungeheuer in meinem Blickfeld auf. Es wirkte wie eine Zwillingskreatur des ersten. Jetzt wusste ich, was mich verfolgt hatte.
Mit den langen Krallenfingern versuchte es, mein Gesicht zu erreichen. Ich versetzte ihm einen Tritt, der es zwei Meter durch die Luft schleuderte. Noch im Liegen zog ich die Beretta. Blitzschnell kam ich wieder auf die Beine. Ich zog durch und gab einen Schuss ab. Das Monster schrie auf, als sich die silberne Kugel in seinen Magen bohrte und dort ihre verheerende Wirkung entfaltete. Innerhalb von Sekunden schrumpfte es zusammen, als hätte jemand die Luft aus seinem Inneren gelassen. Die Hülle zuckte konvulsivisch, während die Schmerzensschreie in ein Krächzen und schließlich in ein Todesröcheln übergingen. Noch ein letztes Zucken ging durch das Monster, dann zerfiel es zu Staub.
Ich wandte mich wieder meinen beiden Begleitern zu. Die Kreatur hielt Darja umfasst, während Harrisons kräftige Hände am Hals des Monsters hingen und zudrückten.
Es war zu gefährlich, einen Schuss abzugeben. Fluchend steckte ich die Beretta in die Tasche und stürzte vorwärts. Abermals schrie Darja auf. Diesmal vor Wut! Der Angreifer hatte sie in den Arm gebissen. Blut schoss aus der Wunde, die sich knapp über dem Handgelenk befand.
Dann war ich endlich heran! Harrison umfasste noch immer den Hals der Bestie, während ich nun den Schädel packte. Er fühlte sich hart und knochig an.
»Zusammen!«, brüllte ich, und Harrison verstand. »Eins, zwei …!«
Bei ›drei‹ drehten wir mit einer blitzschnellen, gemeinsamen Kraftanstrengung den Kopf des Monsters um einhundertachtzig Grad nach links. Das Biest schrie auf, der Schrei erstarb jedoch, noch während es zu Boden ging.
Darja schlug die Arme des Sterbenden beiseite und befreite sich. Fluchend versetzte sie der Kreatur einen Tritt in den Unterleib. Das Monstrum spürte den Schmerz nicht mehr. Zwar verwandelte es sich nicht sofort zu Staub wie sein Artgenosse, aber der Leib verdorrte vor unseren Augen.
»Ob noch mehr von denen hier lauern?«, fragte Harrison schwer atmend.
Ich sah mich um. Zu sehen waren jedenfalls keine weiteren Angreifer. Wir befanden uns auf einer steinigen Ebene. Sogar Büsche wuchsen hier. Meine Überraschung wuchs …
Doch zunächst wandte ich mich der Russin zu. »Zeigen Sie mir Ihre Wunde«, verlangte ich.
Sie hielt die Arme verschränkt und funkelte mich an. »Das ist nur ein Kratzer. Ich bin keine Ihrer westlichen Zuckerpüppchen. Lassen Sie uns lieber sehen, dass wir endlich hier rauskommen!« Das Blut lief an ihrem Unterarm entlang und tropfte zu Boden.
»Das Blut könnte noch mehr von diesen Bestien herbeilocken«, warnte ich. »Sie sollten die Wunde zumindest verbinden.«
»Na schön«, knurrte sie, aber es klang nicht mehr ganz so bärbeißig wie bisher. Ich sah, dass sie die Lippen zusammenkniff. Offensichtlich litt sie Schmerzen, wollte es aber nicht zugeben.
Bevor ich ihr helfen konnte, riss sie sich ein Stück vom Ärmel ihres Anzugs ab.
»Zeigen Sie schon her und spielen Sie nicht die einsame Heldin!«, forderte ich. Immerhin hielt sie mir den Arm hin und ließ zu, dass ich die Wunde versorgte.
»Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen jetzt etwas schuldig bin«, sagte sie.
Ich zog den provisorischen Verband so eng an, dass sie aufschrie. »Muss sein!« Ich grinste. »Nur so ist es ein echter Pressverband. Außerdem brauchen Sie sich keine Sorgen machen, mir unnötig dankbar zu sein. Immerhin haben Sie diesen Werwolf erledigt.« Das war zwar nur die halbe Wahrheit, wahrscheinlich wäre er sowieso an Harrisons Felsbrockenattacke verschieden, aber ich hatte keine Lust, mit ihr zu diskutieren.
Sie nickte. »Gut, dass Sie das nicht vergessen haben.«
»Wie sollte ich.« Ich wandte mich Harrison zu. »Was waren das für Kreaturen? So welche sind mir noch nie im Leben begegnet. Kennst du sie?«
»Ich kann mich nicht erinnern, Meister. Aber ich fürchte …« Er kniete sich neben den verwesenden Überresten auf den Boden und unterzog sie einer genaueren Untersuchung.
Diesmal war ich es, der zur Eile drängte. »Lass uns schon verschwinden, Harrison! Der Gestank ist unerträglich.«
»Einen winzigen Augenblick noch, Meister«, bat der Arzt und Forscher unterwürfig. Er schob die verschrumpelte Oberlippe des Toten über dessen Gebiss.
Ich pfiff durch die Zähne. Harrison schaute besonders besorgt drein. Die Eckzähne der vernichteten Kreatur waren lang und spitz. »Ein Vampir.«
Ich wusste, worauf er hinauswollte. »Zumindest scheint es sich um irgendeine entfernt ähnliche Art zu handeln. Es bedeutet nicht …« Ich blickte zu Darja, die unser Gespräch verfolgte.
»Reden Sie ruhig weiter, Hunter«, forderte sie mich auf.
»Aber Meister«, jammerte Harrison. »Ihr wisst genau, was es bedeutet. Der unheilvolle Keim könnte bereits auf sie übergegangen sein …«
»Welcher Keim?«, fragte die Russin misstrauisch. »Irgendwelche Mikroben?«
»Er meint den Vampirkeim«, erklärte ich.
»Ich bin nicht abergläubisch«, betonte Darja.
»Das hätte ich auch nicht von Ihnen erwartet«, erwiderte ich. »Schließlich wäre dies eine Schwäche, die Sie sich eingestehen müssten.« Ich begriff allmählich, wieso sie innerhalb der letzten Stunden nicht schlicht und einfach den Verstand verloren hatte, sondern nach wie vor die starke Kommandantin markierte: Weil die Kreaturen, die uns bisher attackiert hatten, für sie nichts Übernatürliches waren, sondern Monster, Mutanten – im Zweifelsfalle irgendwelche Freaks; wenn sie auch etwas anderes darunter verstand als ich.
»Wir müssen sie vernichten«, zeterte Harrison währenddessen.
»Sorgen Sie dafür, dass diese Missgeburt die Klappe hält!«, knurrte Darja.
Ich nahm den Freak beiseite. »Beherrsch dich!«, befahl ich ihm. »Noch ist nicht sicher, dass sie wirklich infiziert wurde.« Ich wies auf meinen Arm. »Immerhin hat mir dieser Werwolf auch einen Kratzer zugefügt. Nach altem Aberglauben müsste ich mich über kurz oder lang auch in einen Werwolf verwandeln …«
»Aber Ihr doch nicht, Meister!«
Es reichte mir plötzlich. Meine Hände fuhren Harrison an den Hals, und ich schüttelte ihn durch. »Ich will endlich die Wahrheit wissen! Wieso hast du Angst vor Vampiren? Was weißt du darüber? Und über die Schwarze Familie?«
Er duckte sich wie ein geprügelter Hund. »Ich weiß es nicht, Meister! Nichts Genaues! Ich habe mich nur plötzlich – erinnert!«
Ich schüttelte ihn dennoch weiter durch. »Ich habe mich auch erinnert«, fauchte ich. »Und du, Harrison, hast damals in meinem Leben eine nicht unbedeutende Rolle gespielt. Bevor Asmodi dich zum Freak machte, warst du ein Dämon, der davon besessen war herauszufinden, warum er als Einziger nicht auf die Ausstrahlung des Wahnsinns reagierte!«
Harrison wimmerte wie zuvor die Kreaturen. Dabei hatte ich ihn noch nicht einmal wirklich hart angefasst.
»Ja, das war so«, gab er jammernd zu. »Aber Ihr habt es doch auch miterlebt, Meister! Und auch Ihr habt einen großen Teil Eures Gedächtnisses verloren …«
Ich ließ den Freak los. Er ging zu Boden und krümmte sich zusammen. Dabei schluchzte er. Fast tat er mir leid. »Hör zu«, sagte ich. »Möglicherweise hast du ja sogar recht mit deiner Besorgnis. Wir werden die Russin auf jeden Fall im Auge behalten.«
Er schniefte und raffte sich wieder auf. »Meine Sorge gilt doch nur Euch, Meister. Damit Euch nichts geschieht.«
»Es ist gut«, entschied ich und ging erneut zu Darja. Diese tat, als hätte sie von der ganzen Auseinandersetzung nichts mitbekommen. Stattdessen wies sie auf den Weg, der sich vor uns schlängelte. »Das alles sieht hier nicht mehr aus wie das Innere einer Höhle«, sagte sie.
In der Ferne erkannte ich sogar Bäume. »Stimmt, eher so, als würden wir uns auf der Oberfläche genau jener Insel befinden, die wir im Meer gesucht haben.«
»Aber das ist unmöglich«, stellte sie fest. »Wir stecken unter der Meeresoberfläche fest – daran gibt es nichts zu deuteln.« Sie wies nach oben. »Und über unseren Köpfen befindet sich kein Himmel, sondern eine Höhlendecke.«
Das war aber auch der einzige Unterschied. Es sei denn, der Himmel hätte sich plötzlich in Felsgestein verwandelt. Auch die Lichtverhältnisse glichen denen auf der Erdoberfläche – nur dass keine Sonne zu sehen war.
Mir ging mit einem Mal ein bizarrer Gedanke durch den Kopf. War es denn möglich, dass irgendeine ungeheure Kraft, die ich mir nur als magisch vorstellen konnte, die ursprüngliche Insel quasi nach unten gedrückt und den ursprünglichen Fels umgestülpt hatte, sodass er statt eines Himmels drohend über unseren Köpfen hing?
Ich wies auf einen Hügel, der sich in kaum einem Kilometer Entfernung von uns in die Höhe schraubte. »Also los«, entschied ich. »Vielleicht kann man ja von dort oben mehr erkennen. Und im besten Fall stoßen wir auf jemanden, der uns aufklären kann, was hier eigentlich los ist!«
Von dem Hügel aus gewannen wir tatsächlich einen optimalen Ausblick. Von unserer Seite schauten wir in ein kleines, nahezu kreisrundes Tal. Den Durchmesser konnte ich aus der Höhe nur schlecht schätzen, aber er betrug sicherlich nicht mehr als fünfzig Meter.
Das Überraschende war jedoch nicht das Tal an sich, das auch an den anderen Seiten Hügel und Berge gut abschirmten, sondern die Häuser darin. Die winzige Siedlung schien sogar bewohnt zu sein.
»Merkwürdig«, sagte Darja. »Ausgerechnet in dieser Umgebung auf Häuser zu stoßen. Das riecht nach einer Falle.«
Harrison gab ihr recht. Er warf mir einen geradezu flehenden Blick zu. »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden, Meister«, bettelte er.
Ich rieb mir das Kinn. »Nein«, entschied ich. »Ich will wissen, was hier vor sich geht. Schließlich sind wir hergekommen, um das Geheimnis dieser Insel zu lüften. Dass wir hier alles anders antreffen, als wir vermutet haben, bestärkt mich nur in der Gewissheit, dass bei ihrem Untergang dämonische Kräfte mitgewirkt haben.«
»Dann lasst mich dort hinuntergehen, Meister!«, flehte Harrison. »Ich werde für Euch herausfinden, was es mit dieser Siedlung auf sich hat.«
Mein Blick ließ ihn verstummen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir wirklich vertrauen kann, Harrison. Diese Häuser dort unten lösen irgendetwas bei mir aus, eine Art Déjà-vu-Erlebnis. Ich habe das Gefühl, das alles schon einmal gesehen zu haben …«
»Vielleicht in Eurem früheren Leben, Meister.«
»Vielleicht …«, erwiderte ich nachdenklich. Meine Erinnerung endete an dem Punkt in meinem elften Leben, an dem ich als Sir William durch Harrisons fehlgeschlagenes Experiment den Verstand verlor. »Merkwürdig finde ich nur, dass sie dann bei dir nichts auslösen.«
»Absolut nichts, Meister!«, schwor Harrison.
Während wir noch diskutierten, stieß Darja plötzlich einen Warnlaut aus. »Dort kommt jemand!«, zischte sie uns zu. Augenblicklich ließen wir uns zu Boden gleiten und verbargen uns hinter einem Busch.
Aus dem Talkessel, in dem die Siedlung vor sich hinschlummerte, kam ein Mann den Berg heraufgewandert. Er bewegte sich völlig frei und unbekümmert. Offensichtlich hatte er uns noch nicht bemerkt. Er trug einfache Kleidung. Ein Leinenhemd, eine Arbeitshose und Sandalen. Seine feuerroten Haare waren das Markanteste an ihm.
»Er gefällt mir nicht«, sagte Darja.
»Wir können leider nicht darauf warten, dass irgendwann Ihr Mister Perfect vorbeistiefelt«, erwiderte ich verärgert. »Außerdem scheint er schnurstracks hierherzukommen. Vielleicht haben sie uns doch schon von unten entdeckt.«
»Sie können ja in die Falle tappen. Ich nicht.« Die Kommandantin blieb stur.
»Harrison und ich könnten mit dem Mann sprechen«, sagte ich. »Während Sie sich verstecken und abwarten, was geschieht. Wenn es tatsächlich eine Falle ist, hauen Sie uns raus.«
»Nein, ich traue ihr nicht!«, mischte sich der Freak ein. »Diese Dame würde unsere Seelen sogar Asmodi verkaufen, wenn sie einen Vorteil davon hätte. Außerdem …«
»Stopfen Sie Ihrem widerlichen Giftzwerg endlich das Maul!«, drohte Darja. »Sonst knöpfe ich ihn mir vor!«
»Lassen Sie Harrison ausreden!«, befahl ich. »Vergessen Sie nicht, dass ich Sie bezahle.«
Zum Glück schwieg sie.
»Danke, Meister. Wir dürfen ihr weder trauen noch uns auf sie verlassen. Sie ist möglicherweise mit dem Vampirkeim infiziert!«
»Das stimmt«, sagte ich. Und zu Darja: »Glauben Sie mir, es ist in Ihrem Interesse, wenn jemand auf Sie achtgibt.«
»Ich bin mein ganzes Leben allein zurechtgekommen, also kann ich das auch zukünftig.«
»Schluss mit der Debatte!«, entschied ich. »Du versteckst dich hier oben«, sagte ich zu Harrison. »Die Kommandantin und ich werden uns diesen Herrn mal vorknöpfen. Aber was auch geschieht: Lass dich nicht blicken, verstanden?«
Harrison nickte ergeben. Ohne weiteres Palaver setzte er sich in Bewegung und lief auf seinen Händen in Richtung der Büsche.
Der Mann war unterdessen näher herangekommen. Ich hielt es an der Zeit, uns zu zeigen. Als er uns sah, schien er nicht einen Moment erstaunt zu sein. Schließlich erreichte er uns. Trotz des Aufstiegs war er kein bisschen außer Atem. Auf Darja verweilte sein Blick etwas länger.
»Guten Tag«, begrüßte ich ihn.
Er nickte. »Ich habe Sie hier noch nie gesehen.« Es klang weniger misstrauisch, als vielmehr wie eine Feststellung.
»Wir sind nicht von hier«, erklärte ich. »Wir sind, nun ja, gestrandet.«
Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Gestrandet, so, so?« Als ich schon dachte, er würde mich der Lüge bezichtigen, sagte er freundlich: »Schiffbrüchige sind auf Shovell Island immer willkommen.« Er streckte Darja die Hand hin: »Mein Name ist George McKenzie. Ich wohne dort unten im Tal.«
Darja nannte ihren Namen. »Das klingt, als ob Sie eine weite Reise hinter sich hätten«, sagte McKenzie. »Ich freue mich über Ihren Besuch. So etwas hat man hier ja selten.« Dann wandte er sich mir zu. Ich drückte ihm die Hand, die sich rau und hart wie die eines Landarbeiters anfühlte. »Dorian Hunter«, stellte ich mich vor.
Er nickte mir freundlich zu. »Sind Sie die einzigen Überlebenden Ihrer Mannschaft?«
Bluffte er oder wusste er tatsächlich, was vorgefallen war?
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich.
»Na ja, es ist nicht ganz einfach, Shovell Island zu erreichen.«
»Allerdings«, stimmte ich ihm zu. »Aber wo wir jetzt schon mal hier sind, können Sie mir vielleicht sagen, was hier unten vorgeht.«
»Dort unten? Im Tal?«
»Nein, hier unten!«, beharrte ich. »Mich würde interessieren, wann diese Insel versunken ist!«
Sein Blick irrte von mir zu Darja und wieder zurück. Offensichtlich verstand er mich nicht richtig. Dann antwortete er: »Aber diese Insel ist nicht … versunken.« Er sprach wie mit einem kleinen Kind.
Allmählich wurde ich wütend. Ich ließ mich nicht gerne auf den Arm nehmen. Ich schaute nach oben und wollte auf den steinernen Himmel weisen.
Doch der war verschwunden. Zwar ließ sich noch immer keine Sonne blicken, aber der Himmel war nun eindeutig als solcher zu erkennen. Er war grau in grau und voller Wolken.
»Wir sind zu zweit«, erklärte die Russin rasch, während ich die neue Situation erst einmal verdauen musste. »Unser kleiner Segler ist auf Grund gelaufen.«
Seine Augen verengten sich abermals. »So, so«, stellte er fest. »Auf Grund gelaufen.« Erneut betrachtete er ausgiebig Darja. Was er sah, schien ihm zu gefallen. »Sie sollten sich etwas Trockenes anziehen«, riet er. »Und den Verband wechseln. Er ist blutdurchtränkt.« Er wies nach unten. »Ich kann Sie leider nicht begleiten, aber im Dorf finden Sie Hilfe.«
Sein Blick irrte an uns vorbei. Ich fürchtete, dass er uns vielleicht doch schon früher beobachtet hatte und wusste, dass sich Harrison versteckt hielt.
»Sagen Sie, Sie haben nicht zufällig einen kleinen Jungen gesehen?«, fragte er.
»Einen kleinen Jungen?« Diesmal war es an mir, die Frage zu wiederholen.
»Ja, ungefähr so groß.« Er zeigte auf seine Hüfte. »Blonde Haare, kurze Hose …«
Wir schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Er heißt Thomas«, fuhr McKenzie fort. »Der verflixte Bengel ist mal wieder ausgebüxt.«
»Na dann: Viel Erfolg!« Mehr wusste ich nicht darauf zu erwidern. McKenzie wirkte zwar auf mich relativ normal, aber seine Sprache klang gedehnt, und die Art, wie er sich ausdrückte, eher befremdlich.
»Bis später, wir sehen uns sicherlich noch«, sagte er, winkte uns zu und stiefelte davon.
»Was halten Sie von ihm?«, fragte Darja, als er außer Hörweite war.
»Das ist noch die geringste Sorge, die ich habe«, erwiderte ich. »Aber was halten Sie davon?« Ich wies gen Himmel. »Das sieht nicht so aus, als würden wir uns noch in einer riesigen Unterwasserhöhle befinden.«
»Bei uns in Russland gibt es ein Sprichwort: Höher als bis zu deinem Kopf kannst du nicht springen! Was scheren mich Dinge, die ich nicht verstehe?«
Ich nickte. »Lassen Sie uns auf das hören, was uns der Mann geraten hat. Ihre Wunde sieht wirklich nicht gut aus. Vielleicht finden wir dort unten einen Arzt …«
»Ich brauche keinen Arzt, sondern einen Wodka«, widersprach sie.
Ich drehte mich um und ging voran. Von der Seite, die in das Dorf hinunterführte, war der Hügel viel steiler. Zum Glück wuchsen genügend Büsche, an denen wir immer wieder Halt fanden. Im Nachhinein wunderte es mich umso mehr, wie leichtfüßig McKenzie diesen Berg erstiegen hatte.
Einmal verlor Darja den Halt, und ich stützte sie. Sie schüttelte meinen Arm sofort ab. Dennoch machte ich mir Sorgen um sie. Die Wunde musste unbedingt medizinisch versorgt werden.
Je mehr wir uns dem Talkessel näherten, umso pittoresker erschien mir das Dorf. Es passte nicht zu dem rauen Charme dieser Insel.
Endlich erreichten wir das Tal. Ich hörte Kinderlachen. Einen Moment später kamen zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen, aus einer Seitengasse gelaufen und trieben einen Reifen vor sich her.
Als sie uns sahen, liefen sie sogleich herbei. Der Junge schien schon älter. Er war hoch aufgeschlossen und schlaksig. Das Mädchen war höchstens sieben. Es steckte in einem Sonntagskleidchen. Die blonden, lockigen Haare waren zu Zöpfen geflochten. Neugierig schauten uns die beiden an.
»Guten Tag«, begrüßte uns das Mädchen keck. »Kommen Sie auch wegen Sara?«
»Sara?« Ich wechselte einen Blick mit Darja, bevor ich fortfuhr. »Nein, wir haben uns verlaufen. Das ist Darja, und ich bin Dorian.«
»Ich heiße Abigail, und das ist Marty«, erklärte das Mädchen. Sein Blick fiel auf Darjas Verband. »Hast du dich verletzt?«
»Nicht der Rede wert.«
»Habt ihr hier einen Arzt?«, fragte ich.
Abigail nickte. »Ja, Doktor Spice ist ein guter Arzt, obwohl Mama sagt, dass er zu viel trinkt. Als ich Halsschmerzen hatte, hat er mir eine Flasche von seinem Brandy abgefüllt und gesagt, ich solle damit gurgeln.«