Der Autor
Axel Petermann hat als Leiter der Mordkommission in Bremen und stellvertretender Leiter im Kommissariat für Gewaltverbrechen mehr als 1000 Fälle bearbeitet, in denen Menschen eines unnatürlichen Todes starben. Im Jahr 2000 begann er mit dem Aufbau der Dienststelle »Operative Fallanalyse«, deren Leiter er bis zu seiner Pensionierung im Oktober 2014 war. Aktuell kümmert er sich im Auftrag von Angehörigen um ungeklärte Todesfälle. Ebenfalls seit 2000 ist er ständiger Berater des Bremer Tatort (mit Sabine Postel und Oliver Mommsen); vier seiner Fälle wurden für die ARD mit Nina Kunzendorf und Joachim Król verfilmt. Seit vielen Jahren lehrt er als Dozent für Kriminalistik an der Hochschule für Öffentliche Verwaltung. Seine beiden Bücher Auf der Spur des Bösen und Im Angesicht des Bösen wurden Bestseller.
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Die in diesem Buch geschilderten Fälle entsprechen den Tatsachen. Bis auf die Fälle von Heike Rimbach und Alexandra Wehrmann wurden die Namen der genannten Personen und Orte des Geschehens anonymisiert. Etwaige Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten wären rein zufällig. Darüber hinaus sind alle Dialoge und Äußerungen Dritter nicht wortgetreu zitiert, sondern ihrem Sinn und Inhalt nach wiedergegeben.
Originalausgabe 07/2015
Copyright © 2015 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur, Zürich,
unter Verwendung eines Fotos von Stefan Kuntner
Redaktion: Marita Böhm
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN: 978-3-641-16167-5
www.heyne.de
Inhalt
Prolog:
Wie viele Mörder sind unter uns?
Heike Rimbach –
das Grauen auf dem Dachboden
Wer das Schweigen bricht – das Geheimnis von Zelle 26
Torso – die Spuren lügen nicht
Mörder ohne Gesicht – 40 Jahre Warten oder die Tote am Bahndamm
Epilog: Wer klärt die ungelösten Morde auf?
Dank
Prolog:
Wie viele Mörder sind unter uns?
Ich bin Profiler. Ein Spezialist für ungeklärte Morde. Ein Grübler und Querdenker unter den Ermittlern. Bei meinen Kollegen der Mordkommission bin ich in den letzten Jahren vielleicht nicht immer sehr beliebt gewesen, obwohl ich selbst viele Jahre in der Mordkommission gearbeitet habe, lange Zeit als deren Leiter. Aber meine Ansätze sind oft ungewöhnlich, nahezu verrückt: Ich stelle nach, wie Mörder töten. Ich begebe mich in die Rolle des Opfers. Ich stehe stundenlang an einem Tatort und warte darauf, dass er zu mir spricht. Nicht jeder versteht immer genau, was ich gerade tue.
Mit unseren besonderen Methoden und außergewöhnlichen Sichtweisen hilft die sogenannte Operative Fallanalyse (OFA), Verbrechen aufzuklären, die andere als unlösbar betrachten. Manchmal bewahren wir Profiler so Verdächtige vor falschen Verurteilungen und geben den Ermittlungen oft den entscheidenden Impuls. Die Mordserie des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) in den Jahren 2000 bis 2007 mit zehn unschuldigen Opfern ist dafür ein mahnendes Beispiel. Da hatte es bereits nach den ersten Taten konkrete Hinweise von Fallanalytikern auf eine rechtsradikale Tätergruppe gegeben. Die Ermittler aber verfolgten andere Spuren: Sie suchten die Täter im Bereich der organisierten Kriminalität oder im ethnischen Umfeld der Opfer. Eine tragische Fehlentscheidung, wie wir heute wissen.
Die Statistik sagt, dass in Deutschland jedes Jahr rund 300 Morde geschehen. Die Statistik sagt auch, dass rund 90 Prozent dieser Verbrechen aufgeklärt werden. Was die Statistik nicht sagt: Wie viele dieser Ermittlungen haben tatsächlich den richtigen Täter identifiziert? Und wie viele Morde ereigneten sich, die wir nicht als Morde erkannt haben? Wie viele Unglücksfälle oder angebliche Suizide waren in Wahrheit gut getarnte Morde?
In meiner Arbeit als Profiler habe ich oft erlebt, wie schnell Ermittlungen eine falsche Richtung einschlagen. Wie hoher Zeitdruck, fehlende Mittel und zu wenig Personal zu vorschnellen Ergebnissen führen, an deren Ende die Falschen der Tat bezichtigt werden. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage: Wie viele Mörder leben unerkannt in unserem Land, nur weil wir nicht alles Menschenmögliche in den Ermittlungen unternommen haben, um sie zu finden? Und wie viele Menschen sitzen unschuldig im Gefängnis, weil die Ermittlungen nicht zum wahren Täter führten? Die Operative Fallanalyse kann helfen, die Fehlerquote bei der Aufklärung zu senken.
Vor gut 25 Jahren wurde die fast 80 Jahre alte Wilhelmine Heuer in ihrem kleinen Tante-Emma-Laden in Bremen vergewaltigt, erschlagen und erdrosselt. Der Täter raubte mehrere Hundert Mark und flüchtete. Die Polizei ermittelte und schien schnell fündig geworden zu sein: Ein arbeitsloser Trinker aus der Nachbarschaft wurde als Verdächtiger identifiziert. Er kaufte häufig in dem kleinen Laden ein, hatte aber nur selten eigenes Geld. Alle Beweise sprachen gegen den Mann: Seine Blutgruppe stimmte mit den Spuren am Opfer überein. Auch Fasern seiner Kleidung wollte man am Tatort identifiziert haben. Zwar schien die DNA-Untersuchung seiner Körperzellen in einem Labor in England seine Unschuld zu beweisen, doch methodische Fehler verhinderten, dass das Gutachten für seine Entlastung herangezogen werden konnte. 20 Jahre lang lebten der Mann und seine Familie mit dem Makel des Mordvorwurfs. Die Erlösung kam spät. Nach einer ausführlichen Fallanalyse und dem Fund einer winzigen Spermaspur des Täters konnte der wahre Mörder schließlich gefasst werden; es war der Enkel der besten Freundin der Toten. Seine Großmutter hatte ihm ein falsches Alibi gegeben.
Mit meiner Vehemenz und Ausdauer bei den Recherchen habe ich nur eines im Blick: die restlose Aufklärung eines Verbrechens, zumindest aber die Aufhellung eines Mysteriums. Die Ergebnisse einer Fallanalyse oder des »Profilings« sollen den Ermittlern der Mordkommission helfen, ein Verbrechen nachzufühlen, das Motiv des Täters zu erkennen und seine Persönlichkeit zu verstehen, sodass er aus einer Vielzahl von möglichen Verdächtigen herausragt und identifizierbar wird. Deshalb ist es auch mein Anliegen, der Methode der Operativen Fallanalyse mehr Raum zu geben: Mut bei den Ermittlungen! Nicht vom ersten Eindruck täuschen lassen! Geht ganz neue Wege! Nur so gelingt es uns, die Wahrheit hinter dem Verbrechen zu erkennen. Nur so verringern wir die Zahl der unentdeckten Verbrechen. Das Profiling ist keine Konkurrenz der klassischen Ermittlung, sondern eine Ergänzung. Es ist ein Serviceangebot für die Vertreter der klassischen Ermittlungen.
In meinem dritten Buch werde ich über einige spektakuläre Fälle berichten, die größtenteils nur durch die unkonventionellen Methoden des Profilings gelöst werden konnten. Das Buch ist nicht nur eine Abhandlung über die kriminalistische Arbeit bei Tötungsdelikten und die Erstellung von Täterprofilen. Detailliert zeige ich, wie ich im Zusammenspiel von Fakten und Beweisen, von Theorien und Studien, von Aussagen und Expertenmeinungen eine Ermittlungsstrategie entwerfe. Ich erkläre, was man alles aus den Spuren eines Tatorts lesen kann und wie am Ende ein Täterprofil entsteht. Ich schlüpfe in die Rolle des Mörders, um das Verbrechen mit seinen Augen sehen zu können. Der Weg dieser Erkenntnis führt auch durch Leichenhallen, Sektionssäle und Schlachthäuser. Das ist der Preis, den man zahlen muss, wenn man einen ganz anderen Blick auf das Böse haben will.