JACQUELYN FRANK

World of

Nightwalkers

Ewige Sehnsucht

Roman

Ins Deutsche übertragen

von Beate Bauer

Zu diesem Buch

Leo Alvarez ist als Söldner einiges gewohnt, doch dass sich sein bester Freund Jackson neuerdings seinen Körper mit der Seele eines alten ägyptischen Pharaos teilt, ist selbst ihm nicht ganz geheuer. Denn er sieht sich plötzlich mit einer Welt konfrontiert, die ihm völlig fremd ist – bevölkert mit Schattenwandlern und anderen übernatürlichen Wesen, die zudem um ein Vielfaches gefährlicher sind als alles, was Leo bisher kannte. Als Jackson von einem Dämon angegriffen und schwer verletzt wird, ist Leo gezwungen, sich mit dem Nachtengel Faith zusammenzutun, um seinen Freund zu retten. Obwohl er nicht sicher ist, ob er ihr wirklich vertrauen kann, weiß er doch, dass Jackson sein Leben nur Faiths Einschreiten verdankt. Und auch Leo wäre ohne sie in dieser ihm unbekannten Welt verloren. Gleichzeitig entfacht Faith mit ihrer über-irdischen Schönheit ein Feuer der Leidenschaft in Leo, dem er sich nicht entziehen kann. Gemeinsam müssen sie sich nicht nur den dunklen Mächten stellen, sondern bald auch ihren Gefühlen füreinander …

Für Darynda, meine Schreibfreundin.

Du spornst mich an, mit dir Schritt zu halten.

Ich liebe dich, selbst wenn du

mir beim Karate den Kehlkopf zerschmetterst!

Die verlorene Schriftrolle der Völker

… und so wird es in künftigen Zeiten geschehen, dass die Nationen der Schattenwandler auseinandergerissen und einander fremd werden. Durch Ungemach und Vorsatz werden diese zwölf Nationen zu unterschiedlichen Zielen kommen und füreinander mit der Zeit in Vergessenheit geraten. In der Zukunft werden diese Nationen Mühen und Kämpfe zu bestehen haben wie noch nie zuvor, und nur indem sie wieder zusammenfinden, können sie darauf hoffen, dem Bösen entgegenzutreten, das sie heimgesucht hatte. Doch sie sind füreinander verloren und werden das auch bleiben, bis ein großer Feind besiegt wird … und ein neuer wiederaufersteht …

1

… Warum hast du mich verlassen? …

Leo Alvarez war kein religiöser Mensch. Solange er denken konnte, war er alles andere als religiös gewesen. Er hatte einen weiten Weg zurückgelegt von der Sonntagsmesse und dem Katechismusunterricht, zu dem seine Mutter ihn jahrelang geschickt hatte.

Einen sehr weiten Weg.

Er war nicht gerade das, was man als guten Menschen bezeichnen würde. Er war aber auch nicht böse, sondern sogar überraschend weit entfernt davon, wenn man bedachte, wie hart sein Leben gewesen war. Doch er war bestimmt kein Engel. Er war nicht frei von Sünde, und viele dieser Sünden waren sogar schwerwiegend. Doch sollte er jemals dafür zur Rechenschaft gezogen werden, würde Leo sich nicht entschuldigen für die Dinge, die er getan hatte. Er hatte einen Kodex, dem er folgte, und der würde für ihn sprechen.

Doch egal, wie schwer seine Sünden auch waren, er hatte die Strafe nicht verdient, die gerade über ihn verhängt wurde. Niemand hatte so eine grausame und schmerzhafte Folter verdient, wie er sie gerade durchlitt.

Immer wieder verlor Leo das Bewusstsein, doch er wusste, dass er aus dem gnädigen Zustand der Bewusstlosigkeit wieder gewaltsam herausgerissen würde, sobald die Klinge, die in sein Fleisch schnitt, auf die hochempfindlichen Nerven und Rezeptoren traf.

Die Botschaft würde in Form eines durchdringenden Schmerzes registriert und ihn zwingen, die Zähne zusammenzubeißen, bis sie knirschten.

Doch er würde nicht mehr schreien. Er war schon heiser von dem, was er vor der Folter erlebt hatte. Er ging ihm jedoch nicht darum, keine Schwäche zu zeigen. Nein. Nichts davon war im Moment wichtig. Nichts war für Leo wichtig, bis auf das eine Wort. Das eine Ziel.

Lebe.

Lebe, Alvarez, ermahnte er sich zum tausendsten Mal. Obwohl klar war, dass der verrückte Dämon, der seine Qualen sorgfältig orchestrierte, nicht vorhatte, ihn umzubringen.

Nein.

Das wäre viel zu gnädig, und dieses bösartige Wesen – diese Kreatur, die ihn an den rauen Zementboden gefesselt hatte, weshalb seine Handgelenke in den schweren Eisenhandschellen völlig aufgeschürft waren – war das Gegenteil von gnädig. Doch diese Wunden würden in kurzer Zeit heilen. So wie auch die jüngsten Wunden, die das Monster seinem Körper zufügte. Die Heilung würde erst einsetzen, wenn das Wesen, das Chatha genannt wurde, Leos Organe herausgeschnitten hätte, um sie ihm zu zeigen, bevor er sie direkt vor den Augen seines Gefangenen sezierte.

Diesmal fuhr er tief in ihn hinein, und Leo spürte, wie er in seinem Bauch herumtastete, noch tiefer glitt und wie seine glitschigen Finger zuerst Mühe hatten, zuzupacken. Doch schließlich fand Chatha Leos Niere und riss sie heraus, kicherte, als er sie hochhielt, mit einem Finger hineindrückte, ohne sich darum zu kümmern, dass Leo rasch verbluten würde.

Vielleicht … vielleicht sterbe ich diesmal, bevor er mich wieder heilen kann, dachte Leo. Doch er versuchte, die Hoffnung zu dämpfen, denn er wusste, dass es zum Folterritual dieser Missgeburt gehörte, ihn am Leben zu lassen. Sie wollte ihn nur glauben machen, dass er Erlösung im Tod finden würde, dass die Folter endlich vorbei wäre. Erneut verlor er das Bewusstsein. Er griff nach etwas … nach etwas jenseits des Lebens. Nach etwas, das auf ihn wartete. Nach etwas von unendlichem, beseligendem Frieden.

Dann ließ Chatha die Niere fallen und kroch auf allen vieren über ihn. Er beugte sich tief über Leo, und in dessen dunkler werdendes Blickfeld schob sich das unschuldige, manische Gesicht.

»Nein, nein«, sagte Chatha tadelnd und wackelte drohend mit einem blutigen Finger vor Leos Nase. »Kein Glück!«

Auf einmal brannten Tränen in Leos Augen, und wie ein bibelfester Priester, der von Gott berührt worden war, legte Chatha ihm die Hände auf und heilte ihn.

Leo erwachte mit einem lauten Schrei und schoss aus dem Bett, sodass er stolperte und hinfiel, als seine schlaffen Muskeln den Dienst versagten. Er sackte zu Boden und konnte gerade noch rechtzeitig die Hände ausstrecken, um nicht mit dem Gesicht voraus auf dem luxuriösen Teppich zu landen. Schweiß tropfte von seinen Haarspitzen, als sein Körper aufprallte, und salziges Wasser spritzte in alle Richtungen. Er war überströmt davon, seine bloße Brust war schweißnass, und seine Boxershorts klebten am Körper.

Er versuchte, langsamer zu atmen und sich begreiflich zu machen, dass er wach und in Sicherheit war. Dieses Haus gehörte seinem besten Freund. Dem Freund, der gesehen hatte, wie er geheilt worden war, und der nun geduldig darauf wartete, dass er sich öffnete und über das Grauen sprach, das er durchlitten hatte.

Doch er würde vergeblich warten, denn Leo würde niemals auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlieren. Er wollte diese Augenblicke nicht am helllichten Tag zum Leben erwecken. Er würde keiner Menschenseele das Grauen zumuten, das er irgendwie überstanden hatte.

Nein. Er würde es mit ins Grab nehmen. Würde es mitnehmen ins Jenseits.

Sie legte den Kopf schräg und lauschte dem Wind, spürte, wie er wehte oder, besser gesagt, um die Dinge herumfegte. Sein Rauschen war wie ein Echolot und verriet ihr allein dadurch, wie er sich bewegte, wo sich alles befand. Wenn es keinen Wind gab, war sie so gut wie blind für das, was in der Welt vor sich ging, und das war für sie beängstigend wie für alle Menschen, wenn sie wüssten, was da draußen vor sich ging. Was da draußen ohne ihr Wissen noch lebte und atmete.

Wissen. Wissen war der Schlüssel, und es war ihre Aufgabe, die Informationen zu liefern. Ihre Leute konnten überall Dinge fühlen und wahrnehmen … so wie es bei ihr im Augenblick mit dem Wind der Fall war. Doch im Gegensatz zu der Gewissheit, dass sich in zwanzig Schritt Entfernung zu ihrer Linken eine Kuh und zwanzig Meilen südlich eine Kirche mit einem Turm befanden, barg die Zukunft unergründliche Entwicklungen. Der Wind der Zukunft blies ungünstig, und wenn er nur in eine Richtung blies, würden Trauer und Schrecken vorherrschen. Wenn er in eine andere blies, würden Trauer und Überleben bestimmend sein. Und eine andere brächte Sieg und Freude. Ersteres musste um jeden Preis verhindert werden. Die anderen … die anderen würden wehen, wie sie wollten, und so sollte es sein.

»Pfeife und wehe. Pfeife und wehe«, murmelte sie – der Satz, der ihnen in Fleisch und Blut übergegangen war, womit ihresgleichen zum Ausdruck bringen wollte: »Es kommt, wie es kommt.«

Sie stieß den Ast eines Baums weg, ließ den Wind über sich hinweggleiten und ließ sich von ihm durch die Luft tragen. Das Gefühl, wie er über ihren Körper strich, war das angenehmste Gefühl, das sie kannte. Auf der ganzen Welt gab es nichts Vergleichbares, nichts Befreienderes. Sie hatte keine Ahnung, wie man das als selbstverständlich hinnehmen konnte, oder wie Sterbliche es ertrugen, an die Erde gebunden zu sein. Aber schließlich versuchten sie ja, mit ihren schwerfälligen Maschinen aus Stahl dagegen anzukämpfen. Arme Wesen. Wahrscheinlich war es ihre bequeme und sichere Art, Dinge zu tun. Doch der Wind war nicht sicher, und auch wenn er einen noch so sehr oben hielt, war es doch der steile Sturzflug in Richtung Erde, der einem ein Gefühl von Lebendigkeit gab. Diese Menschen, die auf Seidenschwingen flogen … ja, die waren von der mutigen Sorte. Zu wissen, dass ein einziger Riss in der Seide ihr zerbrechliches Leben beenden konnte … es war erquickend. Sie sehnte sich danach, sie besser kennenzulernen.

Doch das war unmöglich. Der Kontakt zu Menschen war streng verboten. Nun … jedenfalls im engeren Sinn. Man konnte sich dieser Tage räumlich kaum noch austoben, ohne auf einen Menschen zu treffen. Deshalb lebten sie auch so weit entfernt von der nächsten menschlichen Ansiedlung. Doch so ähnlich war es auch in anderen Bereichen, und auf der Erde wurde es langsam eng.

Doch das wäre für lange Zeit nicht das Problem, wenn der Wind weiterhin so seltsam wehte. Sie bewegte sich im Tiefflug, und zwar ziemlich schnell, wobei sie sich über die Kakteen und die andere seltsame Vegetation wunderte. Sie war noch nie in diesem Teil der Vereinigten Staaten gewesen. Was wirklich seltsam war. Sie liebte es, zu reisen und die Welt zu sehen, zu sehen, wie sehr sich die Orte voneinander unterschieden. Und wenn sie eine Region ausreichend erkundet hatte, bewegte sie sich tiefer in das Gebiet hinein, ging unter Menschen, lernte alles über die verschiedenen Kulturen, die dort ansässig waren, und über die Schönheit ihrer Sprachen. Und über das Essen. Gott, wie sie das Essen liebte.

Sie schüttelte den Gedanken ab. Sie ließ sich ablenken. Sie hatte etwas zu erledigen. Sightseeing gäbe es ein andermal und unter anderen Umständen.

Marissa Anderson blickte vom Garten hoch und schaute über die Schulter in Richtung Haus. Ein Stück von der Stelle entfernt, wo sie im Dreck kniete, stand Leo, an einen großen Wüstenfelsen gelehnt, einen Stiefel auf dem Boden und den anderen gegen den Stein gestützt.

Dahinter lag das Haus. Sie hob die Hand zum Schutz gegen das helle Mondlicht, damit sie einen besseren Blick auf ihren Liebsten hatte, der dasaß und seinen Freund aufmerksam betrachtete. Marissa wusste, wie besorgt Jackson um Leo war. Auch wenn man es ihm nicht anmerkte. Es gab tatsächlich eine Menge anderer Dinge, über die sie sich Sorgen machen mussten. Leo war ein Mensch, der auf unsanfte Weise in eine übermenschliche Welt geworfen worden war. Er hatte auf die harte Tour erfahren, welche Gefahren damit einhergingen, und er hatte auch erfahren, dass die beiden wichtigsten Menschen in seinem Leben Teil dieser gefährlichen nächtlichen Welt waren. Das war neben der Folter eine ganze Menge, womit er fertigwerden musste.

»Sie anzustarren macht die Sache auch nicht besser«, brummte eine tiefe Stimme mit schottischem Akzent neben ihr. Sie drehte sich zu Ahnvil um, der wie sie im Garten kniete, wo sie arbeiteten. Trotz ihrer neu entdeckten Körperwandlerkräfte hatte er darauf bestanden, ihr bei den besonders schweren Arbeiten zu helfen, wie er es häufig tat. Doch vor einer Weile hatte sie herausgefunden, dass es weniger mit Hilfsbereitschaft zu tun hatte als damit, dass es ihm wirklich Freude machte, in der freien Natur zu sein und etwas zum Wachsen und zum Blühen zu bringen. Er war groß, und im Moment sah er genauso menschlich aus wie sie – obwohl sein Hautton blasser war als ihrer. Doch Marissa wusste, dass Wasserspeier ebenfalls menschliche Gestalt annehmen konnten. Oder sie nahmen die wahrhaft groteske Gestalt eines Wasserspeiers an, mit angsteinflößenden Gesichtszügen und riesigen Flügeln, die den mächtigen Körper in die Lüfte heben konnten.

»Ich weiß«, sagte sie mit einem tiefen Seufzen und wandte sich wieder dem verdorrten, farbenprächtigen Wüstenboden von New Mexico zu. Sie pflanzte Stiefmütterchen, die dort eigentlich nicht heimisch waren, doch sie hielt sie für zäh genug, dass sie überleben würden. Sie vermisste Stiefmütterchen. Im Osten hatte es so wunderschöne Blumen und blühende Pflanzen gegeben, wie Tulpen und Hortensien und viele andere. Es war eins der kleinen Dinge, die sie hier draußen vermisste.

Sie blickte sich nach dem Mann um, dem Grund dafür, dass sie nach New Mexico gekommen war. Dem Grund, weshalb sie beschlossen hatte, zu sterben und in einer mächtigen Königin der Körperwandler wiedergeboren zu werden.

Wir sind eine Königin, berichtigte Hatschepsut rasch tief in Marissas Seele. Du bist genauso Königin wie ich, vergiss das nicht.

Ihr Verschmelzungsprozess war noch frisch und, wie man ihr gesagt hatte, noch nicht ganz abgeschlossen. Wenn es so weit wäre, würde sie über außergewöhnliche Kräfte verfügen. Sie konnte sich das kaum vorstellen, denn sie war schon jetzt zu unglaublichen Dingen fähig. Weshalb sie dankbar dafür war, dass sie eine ausgeglichene Person war. Jemand, der kein so ausgeglichenes Wesen hatte, könnte bei einem Kontrollverlust diese Kräfte auf dunkle Weise zum Einsatz bringen.

»Der Mann wird wieder gesund. Mit der Zeit werden wir alle wieder gesund«, sagte Ahnvil.

Seine Stimme war tiefer und ernster als sonst, und sie wandte sich ihm zu. Sie wusste so wenig über ihn. Doch was sie wusste und was auf jeden Gargoyle zutraf, war, dass er als Sklave geboren war. Sie verstand nicht, warum, oder wie es dazu gekommen war, doch sie alle waren Sklaven der bösen Tempelpriester gewesen, die ihre schwarze Magie dazu benutzt hatten, sich ihre Diener zu erschaffen, und sie hatten Prüfsteine benutzt, um sie gefangen zu halten und an sich zu fesseln. Schließlich hatte der, der über den Prüfstein verfügte, das Leben des Wasserspeiers in der Hand.

Aber das waren nur ganz allgemeine Informationen. Sie wusste sehr wenig über die Lebensumstände dieses Wasserspeiers. Doch ihre Fähigkeit, Gefühle nachzuempfinden, egal, wie stark oder wie schwach sie waren, sagte ihr, dass ihn ein schweres Trauma umgab. Er lebte mit den Nachwirkungen und schleppte es die ganze Zeit mit sich herum. Es muss anstrengend sein, dachte sie mit einem Stirnrunzeln. Sie wandte sich wieder dem Garten zu und begann energisch, Unkraut zu jäten, während sie ihren Gesichtsausdruck zu verbergen versuchte. Sie wusste, dass er Mitgefühl nicht besonders gut vertragen konnte.

Sie blickte zu Leo und wusste, dass für ihn das Gleiche galt. Nur dass Leos Trauma tiefer ging und noch ziemlich frisch war. Und auch wenn ihr Geliebter noch so sehr wollte, dass Leo sich ihm anvertraute, um es zu überwinden, wusste sie, dass Leo nicht so bald dazu in der Lage sein würde. Marissa wusste zwar nicht, wie man das ändern könnte, trotzdem war sie hoffnungsvoll. Genauso für Jackson wie für Leo. Aber das war zu erwarten gewesen. Jacksons Gefühle würden sie stets am tiefsten berühren. Sie waren miteinander verbunden, und das schon viele Leben lang. Bei jeder Wiedergeburt war jeder in einem anderen Körperwirt, doch sie fanden sich. Sie nannten es eine ewige Liebe, und sie lagen nicht falsch damit. Sie kannte diese Gefühle erst seit Kurzem, doch wegen der Körperwandlerin, die sie beherbergte, war es, als wären sie ihr von jeher vertraut.

Die Vorstellung von einer Zukunft ohne ihn erzeugte einen kalten, bitteren Geschmack in ihrem Mund, und sie widerstand dem Drang, auf die fruchtbare dunkle Erde zu spucken. Schon allein bei dem Gedanken zog sich ihr der Magen zusammen. Und die Angst war berechtigt. In ihrer letzten Inkarnation hatte sie kaum zwei Wochen gelebt, als sie Opfer des verdammten Kriegs mit den Templern geworden war. Sie war weitere hundert Jahre von ihrer Liebe getrennt worden, und obwohl er ihr rasch in den Äther gefolgt war, war die Zeit zu kurz gewesen. War es egoistisch von ihr, wenn sie mehr Zeit in körperlichem Zustand haben wollte? Wenn sie ihn berühren und jede Nacht umarmen wollte, als wäre es das letzte Mal? Wenn sie ihn drängte, wieder und wieder mit ihr zu schlafen, damit sie die körperliche Existenz voll auskosten konnte?

»Leo.«

Leo drehte sich zu Jackson Waverly um. Es war so seltsam, ihn und seinen hübschen kleinen Rotschopf auf der Veranda sitzen beziehungsweise im Garten arbeiten zu sehen, als wäre es ein entspannter sonniger Tag in New Mexico und nicht dunkle Nacht, und es fehlten nur noch ein paar Gläser kalte Limonade, um die Idylle perfekt zu machen. Er war es nicht gewohnt, im Dunkeln zu leben, und er wusste auch nicht, ob er sich je daran gewöhnen würde. Obwohl er im Dunkeln immer besser gewesen war. Verborgen. Unsichtbar. Gefährlich.

Doch im Moment war er nichts von alledem. Sein ganzer Körper schmerzte und war übersät mit Narben und Schnittwunden, die noch nicht richtig verheilt waren. Zum Kranken hatte er noch nie getaugt, also blieb er in Bewegung und lehnte ein Krankenbett ab, weil er wusste, dass die körperlichen Schmerzen schließlich verschwinden würden … und dass dieser Wundheilungsschmerz nichts war im Vergleich zu dem, was er durchlitten hatte.

»In einer Minute«, rief er seinem Freund zu.

Er drehte und wendete das Wort Freund in seinem Kopf. Vielleicht war Jackson noch immer der Freund, den er kannte und liebte. Vielleicht war er aber auch ein böses Ding, das nur so aussah wie jemand, dem er vertraute. Das war alles, woran er denken konnte, seit Jackson ihm erklärt hatte, was ein Körperwandler war. Eine Seele aus dem alten Ägypten, wiedergeboren in einem Körperwirt, wo sie angeblich mit diesem ein symbiotisches Leben lebte. Sein bester Freund war also im günstigsten Fall eine Verpflichtung eingegangen. Im schlimmsten … Leo hoffte inbrünstig, dass er seinen Bruder nicht töten müsste, um an das Ding heranzukommen, das in ihm existierte. Niemals könnte er zusehen, wie ein Wesen wie Chatha seinen Freund in die Finger bekam. Dieser geisteskranke Körperwandler hatte sich der unschuldigen Seele eines Mannes mit Downsyndrom bemächtigt, ein reißender Wolf im leicht zu erkennenden Schafspelz. Doch laut Jackson gab es gute Körperwandler, die politischen Führer, die auch in Jackson und in dessen besserer Hälfte, Marissa, wohnten, und es gab böse Körperwandler, die Tempelpriester, welche die Seele ihres neuen Wirts unterwarfen und sie gänzlich in Besitz nahmen.

Was Leo betraf, so gab es keinen großen Unterschied. Darüber hinaus hatte er eine äußerst nützliche Lektion gelernt. Wende nie jemandem den Rücken zu, auch wenn er noch so freundlich und harmlos erscheinen mag. Und im Augenblick schloss das Jackson und Marissa mit ein. Körperwandler-Pharaonen.

Fragwürdige Wesen.

Leo richtete sich auf und wischte die Grashalme, die er zerdrückt hatte, von der Jeans. Es fiel ihm zu spät ein, dass er das mit einer gewissen Vorsicht tun sollte, doch ein stechender Schmerz brachte es ihm rasch wieder in Erinnerung. Einen Moment lang stand er mit zusammengebissenen Zähnen da, bis der Schmerz nachließ. Er atmete tief durch die Nase ein und stieß die Luft dann kraftvoll wieder aus. Besser. Viel besser.

Dann ging er zur Verandatreppe hinüber, blieb jedoch in sicherem Abstand davor stehen.

»Was gibt’s?«

»Witzig, ich wollte dich genau dasselbe fragen.«

»Nicht viel. Ich sitze nur herum und genese. Ich glaube, ich bin ein bisschen zu faul. Zu viel Auszeit tut mir nicht gut.«

Jacksons Augen zeigten, dass er verstand. Nichts war so nervtötend, wie herumzusitzen und nichts zu tun.

»Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob ich es mir verkneifen kann, eurem Mitbewohner Kamenwati mit einem Bleistift ein Auge auszustechen.« Leo vollführte pantomimisch die Bewegung des Zustechens einschließlich des Herausfließens von Hirnmasse durch die Augenhöhle.

Jackson konnte es ihm nicht verdenken. Ihr »Mitbewohner« war Kamenwati, die frühere rechte Hand von Odjit, der Anführerin der Tempelpriester, und derjenige, der Leo dem wahnsinnigen Chatha vorgestellt hatte. Kamen hatte Chatha wie einen tollwütigen Hund auf Leo gehetzt, angeblich aus Rache für seine fast getötete Herrin. Leo hatte dem Miststück die Kehle durchgeschnitten, in völliger Unkenntnis darüber, wer und was und wie wichtig sie für die Tempelpriester war. Er hatte in dem Moment nur gewusst, dass sie Jackson getötet hatte.

Zumindest hatte man es ihm so erzählt. Anscheinend war die Begegnung vollständig aus seinem Gedächtnis gelöscht worden, eine Methode, um ihn über die Existenz des Schattenwandlervolks – dieser Geschöpfe der Nacht mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten – im Unklaren zu lassen. Doch indem man ihn seines Gedächtnisses beraubt hatte, hatte man ihn auch der Möglichkeit beraubt, sich zu schützen vor der Rache, die Kamenwati und Chatha geübt hatten.

Leo war darüber ziemlich sauer.

Er holte tief Atem, bezähmte seine Wut und setzte ein gleichmütiges Gesicht auf.

»Er ist kein Mitbewohner, Leo«, sagte Jackson mit finsterer Miene. »Leute, die unter Bewachung stehen und die nachts in die Mangel genommen werden, damit sie Informationen preisgeben, sind wohl kaum willkommene Gäste.«

»Es ist mir egal, wenn du ihm nachts die verdammten Nägel ausreißt!«, griff er Jackson wütend an. »Er hat den Tod verdient, und es juckt mich in den Fingern, die Aufgabe zu übernehmen! Wenn du das verhindern willst, dann muss ich von hier verschwinden. Und ehrlich gesagt, du solltest mich schleunigst gehen lassen, weil ich mir nicht sicher bin, ob du die nächsten vierundzwanzig Stunden überstehst.«

»Leo!«, bellte Jackson und sprang auf. »Ich bin nicht dein Feind!«

»Nein, aber du beherbergst ihn! Oder vielleicht bist du ja doch mein Feind. Ich habe keine Ahnung, was für ein Ding das ist, das sich da in dir windet. Ich weiß nur, dass man niemandem in diesem Haus trauen kann. Es sind zu viele Variablen im Spiel, und ich kann nicht schlafen, solange ich das nicht herausgefunden habe. Ich habe die Nase gestrichen voll von blindem Vertrauen. Bei Tagesanbruch verschwinde ich, und wenn ich es richtig verstanden habe, können weder du noch ein Wasserspeier mir folgen. Das Schöne ist ja, dass ich mich bei Tageslicht frei bewegen kann. Ich kann mich Tausende Meilen von eurer kaputten Welt entfernen, bevor die Sonne untergeht, und glaub mir, wenn ich dir sage, dass du mich nicht finden wirst.«

»Meinst du?«, versetzte Jackson. »Ich werde dich finden, Leo. Du denkst in menschlichen Kategorien, mein Freund. Aber das hier ist die Schattenwandlerwelt. Ich lebe mit Wasserspeiern, die Flügel und einen ausgeprägten Geruchssinn haben. Oder vielleicht schnappe ich mir Docias und Rams kleine Dschinn-Freundin, damit sie mit den Fingern schnippt und dich augenblicklich wieder zurückholt.«

»Das beweist mir, dass ich recht habe. Der Jackson, den ich kenne, würde nicht versuchen, mich mit Gewalt zu etwas zu zwingen. Er hätte mich nach meiner Fasson leben lassen. Doch jetzt hast du diese Kräfte«, schnaubte er voller Abscheu und ließ einen giftigen Blick über Jackson gleiten, »und niemand kann dich davon abhalten, sie nach Belieben einzusetzen.«

»Der Jackson, den du kennst, würde für dich kämpfen«, sagte Jackson, während sein Ärger verflog und seine Stimme sanfter wurde. »Er würde dafür sorgen, dass du dich erholst. Er würde wollen, dass du erst gesund wirst, bevor er dich mit lückenhaften Informationen ziehen lassen würde, damit du der Welt und mehr noch dir selbst beweisen kannst, was für ein toller Hecht du bist.«

»Der Jackson, den ich kenne, würde nie in der dritten Person über sich selbst sprechen«, fauchte Leo.

»Wirklich? Ist das deine Rechtfertigung? Dafür, dass du dich von mir abwendest, weil du die Welt nicht verstehst, in die du hineingeraten bist? Der Leo, den ich kenne, würde nicht weglaufen wie ein verängstigtes kleines Mädchen. Er würde sich seinen Ängsten stellen und es mit der Welt um ihn herum aufnehmen. Ich brauche dich, Leo. Ich brauche Leute, die ich kenne und denen ich vertraue.« Er trat vor, und Leo wich automatisch einen Schritt zurück, was bei Jackson ein Stirnrunzeln hervorrief. »Ich habe es mit einem Feind zu tun, der die Kräfte eines Gottes hat, Leo. Eines Gottes, von dem ich sehr wenig weiß. Die Tempelpriester sind da draußen und warten darauf, dass ein neuer Anführer den Platz von Odjit einnimmt. Und sie wissen noch gar nicht, dass die Spieler gewechselt haben. Dass der Gott Apep in Odjits Körper wiedergeboren wurde. Sie glauben, sie würden ihrem Anführer folgen und nicht diesem … diesem Ding, das Kamenwati zum Leben erweckt hat …!«

»Ein Grund mehr, ihn zu töten«, stieß Leo hervor. »Ich sag dir was, gib mir einen Bleistift, und lass mich fünf Minuten allein mit ihm, und ich bleibe.«

»Du weißt, dass ich das nicht tun kann«, entgegnete Jackson grimmig. »Selbst wenn er sich nicht als so mächtiger Verbündeter erweisen würde, jetzt, wo er zu uns übergelaufen ist – ich bin immer noch Jackson Waverly, wie ich auch Menes, der Körperwandler-Pharao, bin. Ich habe nicht vor, irgendjemanden, ob gut oder böse, willkürlich zum Tode zu verurteilen.«

»Willkürlich? Dieser Spinner hat einen Psychopathen auf mich gehetzt! Ich spüre noch immer, wie die Hände dieses Ungeheuers in mir herumgetastet haben, während er sich überlegt hat, welches von meinen Organen er mir als Nächstes zeigen wird! Er hat den Tod verdient. Qualvoll, unter Schmerzen. Und zwar bald. Denn wenn du glaubst, dass ich das einfach so hinnehme …«

»Leo, du bist ein Mensch. Du bist angreifbar und sterblich, ein zerbrechliches Ding, wie du ja schon erfahren hast angesichts der Kräfte, über die er und seinesgleichen verfügen. Du würdest nicht einmal in seine Nähe kommen.« Jackson seufzte und rieb sich den schmerzenden Nacken. »Glaubst du wirklich, dass ich dich nicht gern auf ihn hetzen würde? Dass ich es nicht gern selbst tun würde? Doch Menes weiß furchtbare Dinge darüber, wie es war, als der Dämonengott das letzte Mal die Herrschaft über dieses Reich übernehmen wollte. Ich habe auch nicht mehr Schlaf bekommen als du, seit du zurück bist, Sonne hin, Sonne her.«

Leo schwieg. Jackson war wach gewesen? »Aber ich dachte …«

»Ich sei gelähmt bei Tageslicht? Das bin ich auch … wenn ich dem Tageslicht ausgesetzt bin. Die Fenster im Gebäude sind polarisiert. Glaubst du, wir wollten einem Angriff wehrlos ausgeliefert sein? Ist das irgendwie nachvollziehbar?«

Jackson bemerkte den besorgten Ausdruck in Leos Gesicht. »Oh ja, ich habe dich jedes Mal gehört, wenn du aufgewacht bist und auf geradezu unmenschliche Weise geschrien hast. Hast du wirklich gedacht, dass niemand es mitbekommen würde?«

»Ich weiß nicht«, schnaubte Leo, »du bist irgendwie ziemlich gut darin, die unmenschlichen Dinge in deinem Haus zu ignorieren.«

Jackson seufzte. Er hatte gleich gewusst, dass es keinen Sinn haben würde, mit seinem Freund darüber zu sprechen. Er hatte bei Leo noch nie etwas ausrichten können, sobald der sich von seinen Gefühlen leiten ließ. Im Gegensatz zu dem, was er andere glauben machen wollte, hatte Leo sehr tiefe Gefühle. Jackson konnte nur an Leos gute Seite appellieren. Doch wenn er diese Taktik jetzt anwendete, würde Leo sich wahrscheinlich auf ihn stürzen und ihm den Bleistift ins Auge rammen.

»Ich bin ein unmenschliches Ding«, sagte er leise. »Und das wird sich nie ändern. Erst wenn ich wirklich tot bin und von dieser Erde verschwunden. Und wenn ich mir vorstelle, ich müsste ein Leben führen, in dem du mich hasst, ist das sehr schmerzhaft. Doch nicht halb so schmerzhaft wie für Docia, die Frau, die ich mit deiner Unterstützung großgezogen habe und die dich liebt wie einen Vater, einen Bruder und eine Mutter. Was ist mit ihr, Leo? Wirst du ihr einen Bleistift ins Auge rammen und dann zur Tagesordnung übergehen?«

Die nüchterne Frage überraschte Leo, wie es beabsichtigt war. Und sie machte ihn noch wütender, weil Jackson seine Schwachstelle ausnutzte. Und doch … das Ärgerlichste an der Sache war … dass Jackson recht hatte. Docia war immer noch das Mädchen, das er liebte. Nur dass sie jetzt mehr war. Schöner, mächtiger, weiser. Nachdem er sie letzte Woche genau beobachtet hatte, hatte er eine stille Kraft und ein Selbstvertrauen entdeckt, die sie ohne Tameri, ihre Körperwandlerin, die sie zu ihrem Wirt und zu einer Art existenziellem Hotel gemacht hatte, nicht ausgestrahlt hatte.

Die Tatsache, dass sie sterben musste, bevor sie zu einem Körperwirt werden konnte, machte ihn ganz krank. Wenn Tameri nicht gewesen wäre, wäre Docia als aufgedunsene Leiche ans Ufer des Esopus River gespült worden, nachdem jemand sie von der Brücke gestoßen hatte. Er hätte sie beinahe verloren. Er konnte nicht leugnen, dass er Tameri für ihr Eingreifen einen gewissen Dank schuldete.

Doch es war schwer, darüber hinwegzukommen, dass Bruder und Schwester jetzt anders waren und dass er ihnen nicht mehr so vertraute, wie er es stets getan hatte. Andererseits bezweifelte er, dass er überhaupt jemals wieder jemandem vertrauen würde. Bestimmt nicht jemandem von dieser Welt, dieser verborgenen Welt, von der normale, verwundbare Sterbliche keine Ahnung hatten.

Was Docias Geliebten betraf, der ebenfalls ein Körperwandler war … nun, obwohl Leo sie noch nie so glücklich, so strahlend und so lebendig gesehen hatte … war er gegen diese Verbindung. Als Ram noch ein »Original« gewesen war, wie sie es gerne nannten, war er ein für seine Grausamkeit berüchtigter Pharao von Ägypten gewesen, der brutale Ramses II. Leo war als braver Katholik in einem frommen katholischen Haus aufgezogen worden, und obwohl er nicht mehr viel damit am Hut hatte, kannte er seinen Katechismus und die grausamen Geschichten des Exodus. Sollte er sich etwa auf ihr Wort verlassen, dass Ram jetzt ein guter Mensch war? Sollte er sich überhaupt darauf verlassen, dass sie die aufgeklärte Version einer ägyptischen Elite waren? Sie waren in einen Bürgerkrieg verstrickt, und das sollte aufgeklärt sein? Als hätten seine Gedanken ihn herbeigerufen, trat Ramses II., derzeit als Ram bekannt, auf die Veranda. Nachdem er Leo kurz zugenickt hatte, nahm er auf einem Stuhl gegenüber von Jackson Platz. Er saß auf der Kante, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Jackson nahm seinen Platz ebenfalls wieder ein.

»Wir müssen ein paar Dinge besprechen, Bruder«, sagte er zu Jackson, als wäre Leo gar nicht da. Leo schäumte vor Wut, was man ihm deutlich ansah.

»Bist du dir sicher, dass du das in Gegenwart eines unbedeutenden kleinen Menschen tun willst, Bruder?«, stieß er hervor. Zwischen den beiden bestand keine familiäre Bindung, dachte Leo verärgert. Er hatte sie nie über so etwas sprechen hören. Sie waren in verschiedenen Dynastien Pharaonen gewesen. Erst viele Leben später waren sie Freunde geworden. Sogar Brüder. Trotzdem hatte dieser Mann keine Ahnung, was es bedeutete, der Bruder eines Mannes wie Jackson Waverly zu sein.

Ram schaute ihn ruhig und prüfend an und wandte sich dann wieder Jackson zu. »Du hast dich noch nicht an deinen Wirtskörper gewöhnt«, sagte er. »Deine Kräfte kommen ziemlich unkontrolliert zum Einsatz, weil dein Wirt noch Übung braucht.«

»Der Wirt hat einen Namen, Blödmann«, fauchte Leo.

Ram schaute Leo noch einmal mit diesem abwägenden Blick an. Also wirklich, dachte Leo. Der Kerl sieht aus wie Ken als Navy SEAL. Blondes Haar, goldene Augen und ein Ouroboros-Tattoo auf dem gebräunten Unterarm.

Wie zum Henker kann jemand, der kein Tageslicht verträgt, nur so gebräunt sein?

»Es ist nur eine Art Anrede, ›dein Wirt‹ wird genauso benutzt wie ›dein Bruder‹ und ›deine Schwester‹. Doch wenn du dich dabei unbehaglich fühlst, werde ich die Eigennamen benutzen.« Er wandte sich wieder zu Jackson. »Jackson kann die Kräfte in Anspruch nehmen, die du hast, um emotional auf Dinge zu reagieren. Er hat nicht deine mentale Disziplin.«

»Jackson hat wahrscheinlich im kleinen Finger mehr Disziplin als ihr beide zusammen«, schnaubte Leo. »Er ist ein Cop. Er sieht jedes Mal dem Tod ins Auge, wenn er eine Verkehrskontrolle durchführt. Er hat sich mit einem Meth-Typen angelegt, der so zugedröhnt war, dass er Jacksons Polizeihund erschossen hat. Weißt du, was es ihn gekostet hat, den Bastard nicht umzubringen und ihm nur ins Knie und in die Hand zu schießen? Abgesehen von Docia und mir hat dieser Hund ihm alles bedeutet. Also behandle ihn nicht wie ein ungezogenes Kind, das dir im Weg ist.«

»Das habe ich doch überhaupt nicht gemeint«, sagte Ram leise. »Ich weiß, dass er diszipliniert ist. Ich weiß, dass er sehr selbstbeherrscht ist und in einer angespannten Situation entschlossen handeln kann. Doch er hat Tag für Tag mit einer Handfeuerwaffe trainiert und gelernt, sie möglichst effektiv einzusetzen. Es wäre unverantwortlich, wenn wir ihn im Umgang mit einer Waffe nicht kontrollieren, die einen Häuserblock dem Erdboden gleichmachen kann.«

»Wir müssen jedenfalls trainieren«, versuchte Ram, sich erneut an Jackson zu wenden, »und es gibt keinen besseren Ort.« Er zeigte auf das weite, flache Brachland, das sich hinter dem Garten ihres Grundstücks erstreckte. Das Haus stand allein, und nur eine Straße führte hin, ansonsten war ringsum nichts als unbewohntes Land. »Nur Kojoten besuchen uns hier.«

»In Ordnung. Wann möchtest du anfangen?«

»Morgen Abend. Marissa hat sich langsam umgestellt. Hatschepsut und sie verschmelzen gut miteinander. Sie scheint wirklich glücklich zu sein.«

Drei Männerköpfe drehten sich nach der Frau im Garten um. Sie wühlte im wahrsten Sinne des Wortes im Dreck, formte kleine Hügel aus dunklem Mutterboden aus einer fast leeren Tüte. Sie lächelte und hatte Spaß dabei. Leo runzelte die Stirn. Er konnte nicht sagen, dass er Marissa Anderson gut kannte, doch nach dem, was er mitbekommen hatte, war sie so verklemmt, so wohlerzogen und kultiviert, wie Psychiater eben waren. Wahrscheinlich wäre sie lieber gestorben, als in Jeans und barfuß herumzulaufen.

Oh. Hey.

Dann wurde ihm klar, dass sie genau das getan hatte. Sie war gestorben. Beinahe jedenfalls. Er wusste nicht in allen Einzelheiten Bescheid, wie man ein Körperwandler wurde, und es interessierte ihn auch nicht. Es würde nichts daran ändern, wie er empfand. Es würde ihn nicht besänftigen.

»Ich mach die Biege«, sagte Leo mit einem herablassenden Unterton. Er schob sich zwischen den beiden Männern hindurch und ging ins Haus.

Ram sah dem Mann, den Jackson als seinen engsten Freund betrachtete, nach und wartete, bis die Tür hinter ihm zugefallen war, bevor er sagte: »Er wird ein Problem werden.«

»Da irrst du dich«, entgegnete Jackson. »Es wird nicht leicht mit ihm, aber er würde nie etwas tun, was mich oder Docia in Gefahr bringen würde.«

»Ich werde für Kamenwati rund um die Uhr eine Wache abstellen, aber es ist nicht sicher, wenn die beiden unter einem Dach leben.«

»Ich wüsste nicht, was für eine Wahl wir hätten«, sagte Jackson stirnrunzelnd. »Egal, was er sagt, Leo will keineswegs weggehen, und Kamen müssen wir streng überwachen. Es kann sein, dass er Leo als Friedensangebot benutzt, um an uns heranzukommen, doch das heißt nicht, dass ich seinen Motiven vollständig traue.«

»Das tue ich auch nicht«, stimmte Ram zu. »Sorgen wir dafür, dass du gut in Form bist. Docia braucht ebenfalls Training. Und mit Marissa sind es drei. Ich bin der Einzige, der mit seinem Wirt schon länger als einen Monat verschmolzen ist. Das macht uns, offen gesagt, schwächer und verwundbarer, als mir lieb ist. Vor allem angesichts der neuen Gefahr, der wir laut Kamenwati ausgesetzt sind. Wenn man ihm glauben darf.«

»Einverstanden. Glaubst du ihm nicht?«, fragte Jackson.

»Nein. Leider nicht.«

»Es bräuchte etwas ziemlich Radikales, um Kamenwati dazu zu bringen, seiner Gefolgschaft von Odjit abzuschwören nach so vielen Leben, in denen er ihr erster General war. Ich habe mich oft gefragt, ob sie ein Liebespaar waren, so wie Hatschepsut und ich.«

»Ich hätte nie gedacht, dass er je auf unsere Seite wechselt«, sagte Ram.

»Ich schon.«

Ram zog eine Braue hoch. Sein kurzes Lachen klang ungläubig.

»Wirklich, ich schon«, wiederholte Jackson. »Da war immer so etwas … Fieberhaftes in der Art, wie er seine Kämpfe mit uns ausgefochten hat. Und mit fieberhaft meine ich nicht Odjits Fanatismus. Odjit war wie jede große Anführerin faszinierend und hat den rechten Weg versprochen … wobei sie verbreitet hat, dass wir, der Feind, daran schuld seien, dass wir uns vom Sonnenlicht fernhalten müssen, sollte Amun jemals wieder auferstehen. Aber im Grunde war sie nur machthungrig wie so viele. Doch für Kamen …« Nachdenklich tippte Jackson mit dem Finger auf das Holz der Armlehne. »Kamen war auf der Suche nach etwas. Ich kann es nicht genau benennen. Aber ich habe immer gedacht, wenn ich ihn einfach in einen Raum lotsen und unter vier Augen mit ihm sprechen könnte, dann würde er vielleicht auf die Stimme der Vernunft hören.«

»Dann traust du ihm mehr zu als ich. Schließlich ist er nur hier, weil ihn das Ding, das er zum Leben erweckt hat, in Angst und Schrecken versetzt. Der Feind meines Feindes ist mein Freund oder so ähnlich.«

»Vielleicht. Aber ich vermute, dass hinter dem oberflächlichen Bild eines Mannes, der sich ängstlich versteckt, viel mehr Tiefe steckt. Zumindest könnte man daraus schließen, dass er wirklich glaubt, Odjit hätte ihren Körper verlassen … oder sie hätte zumindest keine Kontrolle mehr darüber. Dieser unheilvolle Gott beherrscht sie jetzt, und das … Ich fürchte, das bringt uns in eine äußerst schwierige Lage. Immerhin wussten wir bei Odjit, woran wir sind. Was wir über Apep wissen, sind uralte wirre Geschichten einer längst vergangenen Version unseres religiösen Glaubens. Das bedarf einer intensiven Recherche von Köpfen, die viel mehr mit solchen Dingen zu tun haben als wir alle.«

»Ich nehme an, du hast jemanden im Auge.«

»Genau.« Jackson lächelte verschmitzt, und Ram lächelte ebenfalls. Was er damit bezweckte, war typisch für Menes. Es gab ein paar Dinge an Menes, die sich nie änderten, und egal, wie viele Leben er bereits gelebt hatte und wer sein Körperwirt war, er hatte immer dieses vertrauensvolle, sorglose Lächeln. »Ich habe daran gedacht, SingSing, eure neue Dschinn-Freundin, antanzen zu lassen.«

»SingSing?« Rams Stimme klang ungläubig und fassungslos. »Sie ist wie ein Kind, das in einem Dschinnkostüm herumhüpft. Wenn du SingSing in dieses Durcheinander hineinziehst, wird alles noch verrückter. Und ehrlich gesagt, sie wirkt auch nicht gerade wie eine Gelehrte.«

»Nicht unbedingt«, meinte Jackson mit einem Nicken, »aber ich wette, sie kennt eine Menge andere Dschinn, von denen manche Tausende Jahre alt sind und die vielleicht etwas über Dinge wissen, die bereits vor Tausenden Jahren stattgefunden haben, falls sie selbst es tatsächlich nicht weiß.«

»Und selbst wenn sie es wüsste, wäre es, als würde man einer Sechsjährigen Informationen entlocken wollen«, sagte Ram zögernd.

»Sie sagt jedenfalls immer, was sie denkt, daran besteht kein Zweifel. So wie die Jungen, die es nicht besser wissen, und die Alten, die es nicht mehr kümmert, was die Leute über sie denken.«

»Vermutlich. Soll sie ebenfalls hier einziehen?« Sie hatten in dem riesigen Haus mehr als ein Dutzend Schlafzimmer, mehr als genug, um eine kleine Armee unterzubringen. Doch dann wurde Ram klar, was Jackson vorhatte, und diesmal fuhren beide Brauen hoch. »Du willst, dass sie herkommt. Sie und alle anderen Schattenwandler, die du kriegen kannst? Herrje, Jackson.« Erregt fuhr Ram sich durchs Haar. »Sag mir, dass du nicht vorhast, auch Geister herzubitten.«

»Ich bin verzweifelt, nicht dumm.« Beide Männer schüttelten das Gefühl der Angst ab, das sie beschlichen hatte. Was verständlich war, wenn man bedachte, um was für ein Thema es ging. Man musste nur in diese kalten, toten weißen Augen blicken, um zu wissen, dass man etwas Unheiliges betrachtete. »Wenn ich eines Tages zu den Geistern gehen und sie um Hilfe bitten muss, dann sind wir wirklich in Schwierigkeiten. Ich bete, dass dieser Tag nie kommen wird.«

»Ich auch.« Bei dem Gedanken blickte Ram finster drein.

»Was für ernste Gesichter«, stellte Docia tadelnd fest, als sie durch die Fliegengittertür trat. Rams ernste Miene verschwand augenblicklich, und er lächelte sie an.

»Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich dich vermisst habe«, sagte er charmant.

»Du Schmeichler«, sagte sie vorwurfsvoll. Doch das Kompliment brachte sie zum Strahlen. Sie hatte sich noch nicht daran gewöhnt, dass sie für jeden Atemzug, den sie machte, angebetet wurde. Es hatte Jackson wirklich geärgert, dass seine Schwester eine weniger hohe Meinung von sich hatte als er, und er freute sich sehr über die Veränderung. In dem einen Monat seit ihrer Verschmelzung hatte sie sich stark verändert.

Es gab ein klickendes Geräusch, das Geräusch von Hundepfoten auf dem Verandaboden, und Sargent, der früher zur Hundestaffel der Polizeistation von Saugerties gehört hatte, machte Platz neben Docia, der er hinausgefolgt war. Abwesend kraulte Docia Sargent hinter den Ohren.

Er hätte unbedingt darauf bestehen sollen, Sargent zur Polizei von Saugerties zurückzuschicken, dachte Jackson mit einem Stirnrunzeln. Der Hund hatte sich als genauso furchtlos und treu erwiesen wie sein früherer Hundepartner Chico. Ehrlich gesagt war das Hundetraining, nachdem Sargent seine Verspieltheit verloren hatte, sogar viel schneller vorangegangen, als es für einen normalen Hundestaffelhund üblich war. Natürlich war es ganz hilfreich gewesen, dass Menes so etwas wie einen sechsten Sinn hatte, was Tiere betraf. Jackson hatte Mühe gehabt, Sargent dazu zu bringen, auf ihn zu hören. Doch sobald Menes ins Spiel gekommen war, hatte Sargent fast wie von selbst gehorcht, um seinem veränderten Herrn zu gefallen. Jackson hätte eigentlich gekränkt sein müssen, aber er freute sich einfach, dass er Sargent endlich doch noch etwas beibringen konnte.

Doch das änderte nichts daran, dass er mit einer Investition der Polizeistation von mehreren Tausend Dollar verschwunden war und deren Hundestaffel nun nur noch aus einem einzigen Hund bestand. Und sie konnten nicht einfach den Züchter anrufen und sofort Ersatz bekommen. Diese Art Training brauchte Zeit … und selbst die beiden teuren Welpen, die Jackson ihnen geschickt hatte, würden vor Ablauf eines Jahres noch nicht einsatzfähig sein.

»Erinnere mich daran, dass ich dem Police Department eine kleine Spende mache«, sagte sie abwesend zu niemand Bestimmtem.

»Wie viel? Ich kümmere mich darum«, sagte Ram schnell.

»Ich brauche dich für andere Dinge als für die Buchhaltung«, sagte Jackson mit ernster Miene. »Haben wir einen Buchhalter?«

»Nicht im Haus, aber es gibt eine kleine Körperwandlerin namens Nailah, die sich um das meiste kümmert. Doch sie verfügt nicht gerade über Superkräfte, und ich weiß nicht, ob du sie, wenn’s hart auf hart kommt, dabeihaben möchtest.«

»Wir müssen alle unsere Pflicht erfüllen«, sagte Jackson. »Und vielleicht wird uns unser braves Lämmchen eines Tages ja noch überraschen. So wie es aussieht …«

Jackson verstummte, und ein Ausdruck, den Docia noch nie gesehen hatte, trat in sein Gesicht. Er sprang von seinem Stuhl auf, wobei ihm die Bierflasche aus der Hand glitt. Sie schlug auf der Veranda auf, drehte sich, und der Inhalt spritzte Docia auf die Füße.

»Hey!«, rief sie und sprang zurück.

Vielleicht hätte sie sich sonst beschwert, doch der unergründliche Ausdruck in seinem Gesicht hatte sich in eine Mischung aus Angst und Entschlossenheit verwandelt.

»Docia, geh wieder hinein«, sagte er und packte sie am Arm, drehte sie herum und stieß sie grob in die Richtung. »Und nimm Sargent mit. Marissa!«

Mit einem Satz sprang er von der Veranda. Ram hatte inzwischen begriffen, dass etwas nicht stimmte, und war aufgestanden und hatte Docia am Arm gepackt.

»Au! He! Warum packt mich jeder am Arm? Ich kann selber …«

»Docia«, fauchte Ram grimmig.

»Marissa!«

Die Art, wie ihr Bruder nach Marissa rief, jagte Docia einen eisigen Schauer über den Rücken. Jackson war losgespurtet, und alles an ihm schrie vor Angst.