Als Ravensburger E-Book erschienen 2020
Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2020 Ravensburger Verlag
Copyright © 2020 by Jennifer Alice Jager
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.
Lektorat: Gudrun Likar
Umschlaggestaltung und Vorsatzkarte: Carolin Liepins, München
Verwendetes Bildmaterial von © Marvin Dela Cruz, © Irina Alexandrovna, © progressman, © Bokeh Blur Background und © CARACOLLA, alle von Shutterstock
Illustration S. 444–445: © Jennifer Alice Jager

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

ISBN 978-3-473-51073-3

www.ravensburger.de

Das Herrenhaus des Barons von Embran glich einem Schloss. Es lag gut zwei Stunden Fußmarsch von der Grenze zum Menschenreich entfernt, abseits der Städte, auf einem grünen Hügel.

Zum feierlichen Anlass der Verlobung seiner Tochter hatte der Baron alle Hochalben der Umgebung eingeladen. Von den Schatten des Waldes aus beobachtete ich, wie ihre Kutschen vorfuhren. Fackeln säumten den Weg, Musik und Gelächter drangen bis zu mir vor und verscheuchten die Tiere des Waldes. Alle, bis auf mich, die ich in den Augen der Hochalben auch nicht besser war als ein Tier.

Schließlich war ich eine Nachtalbe. Ich trug nicht etwa nur ihr Blut in mir, wie viele Alben im Grenzland, ich war durch und durch ein Wesen der Dunkelheit. Mein Haar war schwarz, meine Haut blass wie der Mond und die Augen katzenhaft. Hochalben, deren Blut weder vom Erbe der Menschen noch von meinesgleichen verwässert war, sahen mit Abscheu oder gar Angst auf mich herab. Das war mit ein Grund dafür, dass man in ganz Farhir immer weniger Nachtalben zu Gesicht bekam. Viele meiner Art hatten sich für ein Leben in den Wäldern entschieden und waren über die Jahrzehnte zu eben den Tieren geworden, die die Hochalben in uns sahen. Andere hatten sich die Haare gebleicht und Mischblüter geehelicht, um ihren Kindern das Schicksal und den Fluch der Nachtalben zu ersparen.

Warum meine Eltern das nicht getan hatten, würde ich wohl nie erfahren. Vielleicht weil sie in diesem Erbe mehr sahen als nur einen Fluch. Sicher aber nicht, damit ich meine Fähigkeiten, im Dunkeln sehen zu können und mich lautlos durch die Nacht zu bewegen, für Diebeszüge nutzte. Was sie wohl sagen würden, wenn sie wüssten, zu wem ihre Tochter ohne elterliche Fürsorge geworden war? Ob sie Stolz empfänden? Wohl kaum.

Aber das scherte mich schon lange nicht mehr. Ich hatte überlebt und das Beste aus meinem Schicksal gemacht. Ich bewies es mir Nacht für Nacht und würde es auch an diesem Abend tun.

Als wäre ich ein Teil der wachsenden Schatten schlich ich den sanft abfallenden Hügel hinauf und umrundete den Vorplatz des Herrenhauses. Ich bewegte mich ganz nahe dem Boden fort, nur eine Armlänge entfernt von den Hufen der Kutschpferde, ohne dass mich eines der Tiere wahrnahm und scheute. So erreichte ich unbemerkt den Turm des Ostflügels.

Wie ich in Erfahrung gebracht hatte, ließ der Baron zwar alle Eingänge bewachen, nicht aber die hoch gelegenen schmalen Fenster der Türme. Man ging wohl nicht davon aus, dass irgendjemand fähig wäre, dort hinaufzuklettern, geschweige denn durch diese Fenster einzudringen. Schließlich waren sie kaum breiter als die Öffnungen eines Gitterspaliers.

Ein Spalier war auch das, was ich in diesem Moment gut hätte gebrauchen können. Ich stand am Fuß des Turmes und blickte hinauf. Die Fugen zwischen den Steinen waren schmal, das Mauerwerk glatt gearbeitet. Von Weitem hatte es grober gewirkt. Doch nun gab es kein Zurück mehr. Ich entledigte mich meiner Lederhandschuhe, ging in die Hocke und zerrieb trockene, sandige Erde zwischen meinen Fingern. Dann begann ich mit dem Aufstieg.

Noch etwas, wofür man uns belächelte, was aber viele Vorteile mit sich brachte, war die Größe der Nachtalben. Die meisten Hochalben überragten uns um fast einen Kopf. Selbst die Menschen waren größer als wir. Zudem waren wir Nachtalben schmächtig gebaut. Ich selbst wog kaum mehr als ein Jüngling von zwölf. Es hieß, verwilderte Nachtalben, die in den Wäldern hausten, könnten sich lautlos durch Baumwipfel bewegen, und ich erklomm fast mühelos Steinmauern, ohne von meinem eigenen Gewicht hinuntergezogen zu werden.

Diesen Turm hochzuklettern, verlangte mir allerdings mehr ab, als ich vermutet hatte. Bereits nach der Hälfte der Strecke ging mein Atem schwer, und ich biss mir auf die Unterlippe. In den Fugen fand ich kaum Halt, musste lange nach einer passenden Stelle suchen, um mich weiter nach oben zu ziehen, und stieß dadurch bald an meine körperlichen Grenzen. Meine Fingerkuppen brannten, und meine Arme begannen zu zittern.

Ich durfte nicht schnaufen, sonst hätte man mich rasch entdeckt. Ein Blick nach unten verriet mir, dass ich ungefähr drei Meter über dem Boden war. Von dieser Höhe konnte ich noch problemlos abspringen und lautlos im Gras landen. Aber aufgeben kam für mich nicht infrage. Dazu hatte ich schon zu viel Zeit in das Auskundschaften des Anwesens gesteckt. Entschlossen schaute ich nach oben, den Blick auf eines der Fenster gerichtet, und zog mich Stück für Stück weiter hinauf.

Oben angekommen, musste ich mich seitwärts drehen und die Luft anhalten, um durch die schmale Fensteröffnung zu passen. Ich schlüpfte hindurch wie Wasser durch den Sprung in einer Vase, glitt ins Innere des Turmes und fand mich in einem abgedunkelten Raum wieder.

An den Wänden befanden sich Tische, die sich unter dem Gewicht der Reichtümer, die darauf lagen, bogen. Und die Truhen in der Mitte des Zimmers waren derart mit Schätzen vollgestopft, dass man sie nicht mehr zubekam.

Ich schmunzelte zufrieden. So also bewahrte der Baron seine Schätze auf. Statt sie geschützt vor den Blicken und gierigen Fingern Fremder im Kellergewölbe unterzubringen, wie die meisten der betuchten Hochalben es taten, stellte er sie zur Schau. Meine Quellen hatten also die Wahrheit gesagt. Der Baron war ein eitler Mann, der jede Gelegenheit nutzte zu zeigen, was er an Besitztümern angehäuft hatte. Wahrscheinlich brachte er regelmäßig seine Liebschaften in diesen Turm. Ich konnte mir gut vorstellen, wie die Augen der verarmten Bauernmädchen leuchteten, wenn er sie herbrachte.

Der Gedanke widerte mich an. Ich kannte solche Männer zur Genüge, und es erfüllte mich mit Genugtuung, einem von ihnen zu stehlen, was ihm ach so teuer war.

Meine Finger glitten über die vielen Juwelen, Goldketten und Edelsteine, die ein ganzes Dorf ein Jahr lang hätten ernähren können. In den letzten zehn Jahren hatte ich schon unzählige Einbrüche begangen, aber meist nur die Schmuckkästchen edler Damen und die Geldbörsen ihrer Männer ausgeräumt. Zu sehen, wie viel ein einzelner Hochalbe anhäufte, ohne es je in seinem Leben ausgeben zu können, ekelte mich an. Nicht weit von diesem Anwesen verhungerten die Kinder auf der Straße, aber das schien den Baron nicht zu kümmern.

Ich blieb vor einer Truhe stehen, ging in die Hocke und öffnete sie. Sie war bis obenhin mit Goldmünzen gefüllt.

Damit konnte ich mehr anfangen als mit edelsteinbesetzten Ketten und Ringen. Ich wusste aus Erfahrung, wie schwer diese sich verkaufen ließen. Je wertvoller der Schmuck, desto größer die Angst der Hehler vor den Blutalben – den Soldaten der Königin.

Aus meinem Miedergurt zog ich einen leeren Lederbeutel, füllte ihn mit Münzen und ließ ihn wieder verschwinden. Mit etwas Glück würde der Baron gar nicht erst merken, dass er bestohlen worden war. Ich würde wiederkommen können und meinen Diebeszug so oft wiederholen, wie es mir beliebte.

Vielleicht war das meine Chance. Ich würde nicht länger gefährliche Aufträge annehmen, mich fast jede Nacht hinausschleichen und zwielichtige Gestalten treffen müssen. Es hätte vielleicht bald ein Ende damit, immer wieder neue Pläne zu schmieden und mit der Angst zu leben, mein nächster Einbruch könnte der letzte sein. Und das alles dank diesem eitlen Widerling, dem Baron von Embran.

Ich wagte es nicht, mich dieser Hoffnung hinzugeben.

Stimmen, die von draußen zu mir hereindrangen, rissen mich aus meinen Gedanken. Ich stand auf, schlich zum Fenster und warf einen Blick nach unten. Zwei Stallburschen standen mit einer Gruppe Pferde am Fuß des Turmes. »Der Baron lässt uns windelweich prügeln, wenn er das erfährt!«, zischte einer der beiden.

»Was sollen wir denn tun, wenn kein Platz mehr in den Ställen ist?«, fragte der andere. »Außerdem muss er es ja nicht erfahren. Wir bleiben hier und passen auf die Viecher auf. Dann passiert schon nichts.«

Ich hätte schreien können vor Wut, blickte stattdessen aber zum Himmel. »Danke, Muraya!«, sagte ich bissig. Wer sonst, außer der Göttin der Alben selbst, hätte mir diese Männer schicken können? Das also war die Strafe für meinen Hochmut. Von wegen »einfaches Spiel«! Ich konnte nicht mehr auf demselben Weg zurück, auf dem ich gekommen war. Selbst bei Dunkelheit war ich als Nachtalbe nicht fähig, unbemerkt an den herumlungernden Stallburschen vorbeizukommen. Ich musste einen anderen Weg finden oder warten und hoffen, dass die Burschen wieder verschwanden, bevor der Baron seinen Gästen diesen Raum zeigte. Und so wie ich ihn einschätzte, war das nur eine Frage der Zeit.

Auf Zehenspitzen schlich ich von Fenster zu Fenster. Ich hatte nicht grundlos gerade dieses gewählt. Genauso wenig wie ich den Stallburschen vor der Nase herumklettern konnte, durfte ich mich an der beleuchteten Vorderseite des Turmes zeigen. Und an der Rückseite befanden sich steil abfallende Klippen, sodass ich sehr wahrscheinlich in den Tod gestürzt wäre, hätte ich dort mein Glück versucht.

Frustriert ging ich zur Tür. Sie war schwer, eisenbeschlagen und aus massiver Eiche. Bestimmt hielt sie einem Dutzend Männern stand und führte zudem genau dorthin, wo ich um keinen Preis der Welt landen wollte: ins Innere des Anwesens, wo sich die Gäste des Barons und seine bewaffneten Wachen tummelten. Allein beim Gedanken, durch hell erleuchtete Korridore zu schleichen, schlug mein Herz schneller. Eine andere Wahl blieb mir aber nicht.

Ich zog ein kleines, zusammengeschnürtes Ledertäschlein hervor, rollte es auf und holte zwei der abgenutzten Dietriche heraus. Ich ließ mich auf ein Knie nieder und begann am Schloss zu hantieren, als ein Schatten den Türschlitz verdunkelte. Schritte waren zu hören.

Das konnte doch nicht wahr sein! Es kam mir vor, als wäre der ganze Abend verflucht. So viel Vorbereitung, so ein einfacher Einstieg – und dann ging wirklich alles schief. Ich schnaubte vor Wut und Frustration, packte eilig meine Dietriche zusammen und huschte gerade noch rechtzeitig an die Wand, um hinter der Tür zu verschwinden, als ich auch schon hörte, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.

»Eine Fackel!«, befahl eine raue Stimme.

Die Tür wurde aufgeschoben, und Fackellicht fiel in den Raum. Ich hielt die Luft an. Jedes Mal wenn ich so knapp davorstand, gefasst zu werden, ging ich im Geist durch, was mit mir geschehen würde, fiele ich den Blutalben in die Hände. Der Galgen wäre noch gnädig. Folter, öffentliches Auspeitschen und das Abhacken von Gliedmaßen gehörten zu ihren üblichen Methoden. Der Gedanke daran verlieh mir den Mut, auch in der brenzligsten Lage die Ruhe zu bewahren. Panik würde bedeuten, Fehler zu begehen, und die konnte ich mir nicht leisten.

Ein älterer Hochalbe, ungewöhnlich füllig für seinesgleichen, betrat den Raum. Gekleidet war er in samtene, mit Nerz besetzte Gewänder, ein Goldreif zierte sein sich lichtendes Silberhaar, und in der von Ringen geschmückten Hand hielt er eine Fackel. Ihr Licht fiel auf die Schätze und brachte sie zum Funkeln. Zwei junge, kichernde Mädchen folgten dem Mann.

»Schaut euch ruhig um«, forderte er sie auf. »Sucht euch ein Schmuckstück aus. Ihr dürft es den ganzen Abend tragen.«

»Wirklich?«, fragte eines der Mädchen ungläubig.

»Wirklich«, versprach er und schwenkte die Fackel, um auch den letzten Winkel des Raumes damit auszuleuchten.

Die beiden jungen Hochalben quiekten freudig und stürzten sich auf die Schätze wie ausgehungerte Hunde auf ein paar Knochen.

Noch einen Schritt, dachte ich und betete, dass Muraya mir diesmal gnädig war. Ich schloss die Augen, lauschte und wartete geduldig ab. Dann endlich war es so weit. Ich hörte, wie der Baron einen weiteren Schritt in den Raum hinein tat, machte die Augen wieder auf und huschte unbemerkt hinter ihm vorbei durch die Tür – wohl wissend, dass mich auf der anderen Seite mindestens einer seiner Untergebenen erwartete.

Eilig schaute ich mich um, entdeckte den Wachposten, der mir entgegen meiner Befürchtung den Rücken zukehrte, und lief in die entgegengesetzte Richtung. Es war ein reines Glücksspiel gewesen. Das wusste ich. Ebenso gut hätte ich dem Mann direkt in die Arme laufen können. Doch gerade das machte es so aufregend.

An einer Treppe angekommen, hörte ich noch immer das Gekicher der Mädchen. Ich nahm die Stufen nach unten und gelangte dadurch tiefer in das Anwesen hinein. Mein Weg führte mich ins Erdgeschoss und an einer Garderobe vorbei. Unbemerkt von der Magd, die die Mäntel und Umhänge der Besucher bewachte, nahm ich mir einen möglichst unauffälligen Überwurf und hüllte mich darin ein.

So fiel ich nicht weiter auf, passierte mehrere Gäste und Bedienstete und erreichte schließlich ein Fenster, von dem aus ich den Abstieg wagen konnte.

Erleichtert zog ich gerade mein Knie auf den Sims, als ich ein vertrautes Kichern hörte. Es versetzte meinen Körper sofort in höchste Anspannung. Der Baron und seine Begleiterinnen waren auf dem Weg zu mir. Ich sah ihre Schatten bereits über den Boden wandern und wusste, dass sie mich erreicht hätten, noch bevor ich aus dem Fenster gestiegen war.

Ich trat einen Schritt zurück und wandte mich der einzigen Richtung zu, in die ich laufen konnte. Direkt zu den Festivitäten hin, von wo Musik und die Stimmen der vielen Hochalben zu mir drangen.

Gerade als der Baron um die Ecke bog, lief ich los, nahm die Treppe in die große, von mehreren Hundert Gästen gefüllte Halle und schlängelte mich durch sie hindurch.

Außer mir trug niemand einen Überwurf. Schon gar nicht über dem Kopf und weit ins Gesicht gezogen. Auch wenn die Menge mir kurzzeitig Schutz bot, war es nur eine Frage der Zeit, bis ich auffallen würde.

Ich blickte mich eilig um, fand aber kein offenes Fenster, durch das ich klettern und über den Hof hätte flüchten können. Es wäre ohnehin riskant gewesen, dem dortigen Personal vor die Füße zu springen. Unbewachte Türen gab es auch keine. Ich schob mich durch das Gedränge auf den Haupteingang zu. Zwei Wachen waren dort postiert, und ich überlegte, wie ich sie ablenken und an ihnen vorbeikommen könnte. Doch schon war ich einem der beiden aufgefallen. Kein Wunder, schließlich war ich der einzige Gast, der sein Gesicht verbarg. Noch verließ der Mann seinen Posten nicht, reckte sich aber beim Versuch, mich zwischen den vielen Alben besser erkennen zu können. Ich wich zurück, verschwand wieder im Schutz der Menge, und meine Gedanken rasten. Irgendeinen Ausweg musste es doch geben. Es gab immer einen!

Der Duft nach frisch gebackenem Brot, Kräutern und gesottenem Fleisch stieg mir in die Nase, und ich entdeckte das Büfett am Rand des Saales. Schätze, wie ich sie im Turmzimmer gesehen hatte, brachten mich schon lange nicht mehr aus der Fassung. So ein Überfluss an Nahrung allerdings schon.

Die lange Tafel bog sich beinahe unter dem Gewicht der vielen Speisen. Pudding, Früchte und sogar Spanferkel lachten mich an, und das Wasser lief mir im Mund zusammen.

Erneut warf ich einen Blick zum Ausgang. Ob die Wache noch immer nach mir Ausschau hielt, konnte ich nicht erkennen. Mein Überwurf würde mich aber verraten, wenn ich mich ihm erneut näherte. Und den konnte ich nicht ablegen. Schließlich war ich eine Nachtalbe, umzingelt von Adligen, die schreiend weglaufen würden, wenn sie wüssten, was sich darunter verbarg. Vielleicht brauchte ich aber genau das, um zu entkommen. Ein Lächeln huschte mir über die Lippen, und ich fasste einen Entschluss.

Zielstrebig ging ich auf das Büfett zu, schnappte mir ein Brot und brach es mit bloßen Händen entzwei. Allein das zog schon Aufmerksamkeit auf sich. Als ich dann noch eine Gabel klirrend zu Boden fallen ließ, mich rasch umdrehte, den halben Laib Brot fest an meine Brust drückte und gegen den Tisch stieß, waren die Blicke aller auf mich gerichtet.

Gehetzt schaute ich mich um, als mich auch schon jemand am Arm packte und mir der Überwurf vom Kopf gerissen wurde. Einige der Alben schrien tatsächlich, andere wichen vor mir zurück.

Der Mann, der mich beim Stehlen erwischt hatte, war niemand Geringeres als der Baron selbst. Seine Hand schloss sich fest um meinen Arm.

»Bitte!«, flehte ich mit bebender Stimme und hoffte, dass er mir meine Maskerade abkaufte. »Ich habe solchen Hunger.«

»Du diebisches kleines Dreckstück«, zischte er und schüttelte mich, dass es wehtat. »Wie bist du hier reingekommen?«

»Bitte!«, stieß ich erneut aus, biss mir auf die Lippen und sah ihn mit großen Augen an. Ich setzte alles daran, so verzweifelt wie möglich zu wirken.

Der Baron ließ sich nicht davon erweichen. Er zerrte mich durch die Menge, direkt auf die Wachen am Ausgang zu.

»Ich tue alles!«, schwor ich. »Mein Herr, glaubt mir, ich tue alles!« Das Brot fiel mir aus der Hand, gerade als er mich bis zur Tür bugsiert hatte. Ich stürzte auf die Knie, und er packte mich mit beiden Händen beim Versuch, mich wieder hochzuziehen, während ich mich an seine Gewänder klammerte wie ein Kleinkind an den Rockzipfel der Mutter.

»Alles«, wiederholte ich eindringlich und blickte zu ihm auf. Ich war mir sicher, dass er verstand, worauf ich hinauswollte. Seine Augen verengten sich, und er musterte mich von oben bis unten. Ich wusste, wofür er mich in diesem Moment hielt und dass er vor seinen Gästen sicher nicht darauf eingehen würde.

»Hast du noch mehr gestohlen?«, fragte er.

Ich schüttelte den Kopf und ließ es mir gefallen, dass er mich auf die Füße zog und gegen die Wand drängte. Er riss mir den Überwurf von den Schultern, trat einen Schritt zurück und gab einem seiner Wachen mit einem Kopfnicken zu verstehen, mich zu durchsuchen. Wahrscheinlich wollte er sichergehen, dass ich wirklich nur ein Brot bei mir hatte und nicht etwa so etwas wie einen prall gefüllten Beutel mit Gold.

Die Wache zögerte nicht und griff nach meinem Miedergürtel. Ohne nachzudenken, packte ich den Mann bei den Händen, ehe er mich entkleiden konnte, und er schaute mich misstrauisch an. Es wäre wohl nicht die beste Idee, mich gegen eine Durchsuchung zu wehren. Widerwillig ließ ich meine Hände wieder sinken und erlaubte ihm, die Schnüre meines Mieders mit einem kräftigen Ruck zu zerreißen. Es fiel zu Boden, und ich stand, nur noch in ein Leinenhemd gehüllt, vor ihm. Der fadenscheinige Stoff meines Oberteils bot mir kaum Schutz, aber ich war gezwungen, es stillschweigend zu ertragen, dass mich die Wache von oben bis unten abtastete und eine ganze Horde Adliger dem Mann dabei zusah. Es kostete mich all meine Überwindung, das ohne Gegenwehr zu dulden.

Nach einer gefühlten Ewigkeit trat er endlich zurück, und ich konnte die Arme vor meiner Brust kreuzen, um mich nicht völlig entblößt zu fühlen.

»Sie ist sauber«, sagte er.

»Du hast Glück gehabt«, meinte der Baron. »Hättest du mehr gestohlen als nur das Brot, würde ich dich nicht ungeschoren davonkommen lassen.«

Im Saal war es still geworden, ein Kreis aus leise tuschelnden Adligen hatte sich um uns gebildet, und einer von ihnen näherte sich dem Baron. »Ihr solltet sie den Blutalben übergeben.«

Der Baron antwortete dem Mann nicht. Stattdessen wandte er sich seinen Gästen zu. »Die Ärmsten in Farhir leiden Hunger«, erklärte er laut. »Ich weiß nicht, wie dieses arme Ding in mein Haus gelangt ist, aber ich kann mich meiner Verantwortung nicht entziehen. Das kann keiner von uns.«

Zustimmendes Gemurmel wurde laut, ein paar der Gäste applaudierten, und wie ich es erwartet hatte, badete der Baron geradezu in der Bewunderung, die sie ihm entgegenbrachten. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, klaubte er das Brot vom Boden auf und drückte es mir in die Hände. Dann packte er mich am Arm und drängte mich zum Ausgang. Es lag mir auf der Zunge, ihn aufzufordern, mir auch mein Mieder zurückzugeben, aber ich wollte mein Glück nicht überstrapazieren.

Die Wachen öffneten die Tür, und der Baron stieß mich nach draußen. Ein breites Grinsen lag ihm auf den Lippen. »Erzähle all deinen Freunden, wie großzügig und gutherzig euer Baron ist«, forderte er mich auf.

»Das mache ich«, schwor ich und deutete eine Verbeugung an. Ich wusste nicht, ob ich zu dick auftrug, aber offenbar kaufte er mir meine Dankbarkeit ab.

»Braves Kind«, sagte er, und im nächsten Moment schlossen die Wachen die Tür. Dunkelheit hüllte mich ein, und ich richtete mich wieder auf. Nun war ich es, die breit grinste. »Ganz sicher nicht«, sagte ich siegessicher und wandte mich zum Gehen.

Es hätte auch ganz anders ausgehen können. Das war mir klar. Ich hatte einfach darauf gebaut, dass der Baron vor seinen Gästen den Gönner mimen würde. Und genau so war es gekommen.

Dennoch war es ein Glücksspiel gewesen. Genauso gut hätte ich in dieser Sekunde in seinem Kerker sitzen können. Aber gerade die Tatsache, dass ich dem nur knapp entronnen war, löste ein Hochgefühl in mir aus wie kaum etwas anderes.

Ich überquerte den Hof und ließ Licht, Stimmen und Musik hinter mir. Erst als ich sicher war, unbeobachtet zu sein, riss ich den halben Laib Brot entzwei und holte meine Dietriche und den goldgefüllten Lederbeutel hervor. Zufrieden mit mir und meinem schauspielerischen Können, warf ich den Beutel in die Luft und fing ihn wieder auf. Wenn es nach mir ging, hätte jeder meiner Raubzüge so enden können.

Es war bereits spät in der Nacht, als ich meine Heimatstadt erreichte. Bashtana wirkte im Dunkeln beinahe beschaulich, wie es so still und grau vor mir lag. Fast mein ganzes Leben hatte ich an diesem Ort verbracht, und ich kehrte nach jedem Einbruch wieder dorthin zurück. Es war, als würde ich zwei Leben führen. Das eines einfachen Waisenkindes, aufgenommen und großgezogen von einem gütigen alten Mann, und das einer Diebin bei Nacht. Weder von dem einen noch von dem anderen konnte ich mich trennen.

Das Brot und ein paar der Goldmünzen legte ich auf den Stufen des Tempels der Muraya ab, dann nahm ich den Weg über die Hauptstraße zum Marktplatz.

Ich war noch nicht weit gekommen, als mich ein ungutes Gefühl überkam. Irgendetwas stimmte nicht. Ich wusste nur noch nicht, was es war. Mein Blick huschte über die windschiefen Häuser, die sich dicht aneinandergeschmiegt zu beiden Seiten in die Höhe reckten. Es war still. Lichter brannten keine mehr, und die meisten Läden und Vorhänge waren zugezogen. Nur hier und dort sah ich schemenhafte Gestalten hinter den Fenstern stehen.

Mein Herz schlug schneller. Das war es, was mich beunruhigte. Wieso waren einige der Bewohner noch wach, und warum beobachteten sie aus abgedunkelten Zimmern heraus die Straße?

Ich huschte zur Seite, versank im Schatten und schlich an einer Fassade entlang zur nächstgelegenen Seitengasse. Von dort gelangte ich auf den Marktplatz.

Eine Kutsche stand quer und verlassen am stillgelegten Brunnen. War es das, was die Anwohner neugierig machte? Es handelte sich um ein edles Gespann. Nichts, was man in Bashtana häufig zu Gesicht bekam. Hatte sich ein betuchter Hochalbe verfahren und fragte ausgerechnet in dieser heruntergekommenen Grenzstadt nach dem Weg? Wenn ich eine unvorsichtige Diebin gewesen wäre, hätte ich versuchen können, diese Leute auszurauben, solange ihre Kutsche unbewacht war. Aber für eine Nacht hatte ich mein Glück zur Genüge auf die Probe gestellt.

»Aufmachen!«, hörte ich einen Mann rufen.

Ich suchte die Häuserreihen ab, doch erst als ich vollends aus der Gasse getreten war, erkannte ich, wo der Fremde einzutreten verlangte. Eine Gruppe Männer stand vor Baldurs Haus. Dem Haus, in dem ich wohnte.

Wie erstarrt stand ich da und beobachtete, wie Baldur die Tür öffnete. Sein ergrautes Haar war vom Schlaf zerzaust. Mit kleinen Augen und im Nachtgewand blickte er in die Gesichter der Fremden.

Es handelte sich nicht um irgendwelche Reisenden und erst recht nicht um einen reichen Hochalben mit Gefolge. Es waren Blutalben. Die Soldaten der Königin. Ihre roten Stiefel und dunklen Uniformen verrieten sie schon von Weitem.

Mein Herz hämmerte wie wild in meiner Brust, meine Gedanken rasten, und ich wich einen Schritt zurück.

»Dort!«, schrie einer der Männer und deutete auf mich.

Ohne zu zögern, drehte ich auf dem Absatz um und rannte los.

Ich verharrte in den Schatten. Dort konnten die Blutalben mich nicht sehen, dort würden sie nicht nach mir suchen. Die Dietriche und das Gold hatte ich gut versteckt. Nun musste ich nur noch warten.

Mein Körper bebte vor Anspannung, und die Schürfwunden, die ich mir beim Hinaufklettern auf den Turm zugezogen hatte, brannten unerträglich. Es war, als würden sie mich daran erinnern wollen, wie dumm ich doch gewesen war, einen Baron auszurauben. Aber war mein missglückter Einbruch wirklich der Grund dafür, dass die Soldaten der Königin nach mir suchten? Wie hätten sie so schnell herausfinden können, wo ich wohnte? Und wieso hätte der Baron seine Meinung ändern sollen?

Ich versuchte, flacher zu atmen, schaute hinauf zu den Sternen, um mich zu beruhigen, und versank in ihrer Stille.

Die Nacht war mein Freund. Ich liebte das Funkeln in der Dunkelheit, die Küsse der nächtlichen Brise auf meiner Haut und die Ruhe, die sich dabei wie eine Decke über mich und ganz Farhir legte. Wenn der Mond hoch am Himmel stand und Abertausende Sterne vergebens gegen die Schatten ankämpften, fühlte ich mich sicher. Sogar vor einer Horde Blutalben.

Ich beugte mich vor, kniff die Augen zusammen und musste grinsen. Ich konnte die roten Stiefel der Soldaten sehen. Sie gehörten ihrem Hauptmann, der genau vor mir stehen geblieben war und seinen Männern gerade befahl: »Schwärmt aus! Sucht jeden Winkel dieses verkommenen Nestes ab, dreht jeden Stein um. Findet dieses kleine Miststück!«

Wieder ergriff mich dieses Hochgefühl, wie ich es nach meinem Diebeszug empfunden hatte. Mein Grinsen wurde so breit, dass die Zähne zum Vorschein kamen, und hätte der Hauptmann sich umgedreht und einen Blick nach unten geworfen, hätte er sie in der Dunkelheit aufblitzen sehen wie die Mondsichel über unseren Köpfen.

Aber er drehte sich nicht um, und seine Männer würden auch nicht jeden Winkel absuchen. Der Dreck, in dem ich saß, war ihnen zuwider. Das war einer der Gründe dafür, dass man nur selten Soldaten der Königin von Farhir in dieser kleinen, heruntergekommenen Stadt sah. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Blutalben abziehen und so schnell nicht wiederkommen würden.

Der Hauptmann lief weiter, und ich zog mich lautlos zurück in die schmale Gasse zwischen den Häusern, als mir plötzlich eine fette Ratte auf die Schulter sprang. Das Vieh fauchte, und seine gelben Augen starrten mich voller Entsetzen an – wohl geschockt darüber, dass sich der Dreck unter ihm bewegte.

Ich sprang auf, wollte die Ratte gegen die Wand schlagen, bevor sie mir in die Kehle beißen konnte, doch sie hatte sich bereits an meinem Arm festgekrallt und biss zu. Ich schrie vor Schmerz auf, packte sie am Genick und riss sie von mir los.

In diesem Moment stand auch schon der Hauptmann im Eingang zur Gasse, und ich schleuderte ihm die Ratte geradewegs ins Gesicht. Noch bevor er begriff, wie ihm geschah, wirbelte ich herum und rannte davon.

Er brüllte und fluchte mir hinterher, während die Schritte seiner Männer, die mir nun doch wieder dicht auf den Fersen waren, von den Wänden widerhallten. Ich erreichte das Ende der Gasse, wo sich der Müll der Anwohner mannshoch stapelte. Ohne innezuhalten, sprang ich auf eine der Kisten, stieß mich davon ab und zog mich auf die Mauer.

Kaum war es mir gelungen, meinen Oberkörper über den Sims zu hieven, hatten mich meine Verfolger auch schon eingeholt. Einer von ihnen packte mich an den Füßen und zerrte daran. Ich fauchte nicht weniger beeindruckend, als die fette Ratte es getan hatte, trat nach den Männern und klammerte mich mit aller Kraft an der Mauer fest. Sie durften mich auf keinen Fall in die Hände bekommen.

»Holt sie da runter!«, schrie der Hauptmann.

Meine Finger schmerzten. Wund, wie sie ohnehin schon waren, schürfte der raue Stein sie endgültig blutig, wodurch ich den Halt verlor, abrutschte und mit der Stirn gegen die Mauer prallte. Alles verschwamm mir vor den Augen, doch ich trat weiter um mich, schlug nach den Soldaten und zerkratzte ihnen die Gesichter. Ich tat alles, was ich konnte, um mich ihrer zu erwehren. Doch es waren vier Blutalben gegen eine unbewaffnete Nachtalbe. Ich konnte nicht gewinnen, und diese Gewissheit ließ mich panisch werden.

Die Männer warfen sich auf mich, drückten mich zu Boden und hielten meine Arme wie im Schraubstock fest.

»Loslassen!«, schrie ich und zappelte dabei wie ein Fisch auf dem Trockenen, bis mich meine Kräfte endgültig verließen und sie mich auf die Beine zogen.

Der Hauptmann schaute angewidert auf mich herab, hielt sich ein Tuch vor Nase und Mund und winkte seine Männer zu sich heran.

»Und jetzt nichts wie raus aus diesem stinkenden Loch«, befahl er.

Er drehte sich um und ging voraus. Seine Männer zwangen mich, ihm zu folgen. Ich leistete weiterhin Gegenwehr, auch wenn ich wusste, dass ich keine Chance hatte. Ich war den Blutalben ins Netz gegangen, und die würden sicher nicht so gnädig sein wie der Baron von Embran. Ganz gewiss nicht.

»Das werdet ihr bereuen!«, fauchte ich. Ich wollte nicht aufgeben, mich nicht kampflos in mein Schicksal fügen, und doch raubte mir der Gedanke an das, was mich als Nächstes erwarten würde, schier den Verstand.

»Sieh an, sieh an. Das Ding kann sprechen«, höhnte der Hauptmann.

Ich kochte vor Wut. Sie war alles, woran ich mich in meiner Lage klammern konnte. Noch nie hatte ein Blutalbe Hand an mich gelegt. Seit fast zehn Jahren war ich nachts als Diebin unterwegs, hatte Verbrechen begangen, für die ich schon Dutzende Male an den Galgen gehört hätte, aber erwischt worden war ich nie. Auch wenn ich schon oft so nahe daran gewesen war wie im Herrenhaus des Barons. Jedes einzelne Mal war es mir gelungen, zu entkommen. Und nun das.

Die Soldaten hatten genau gewusst, wo sie suchen mussten, hatten bereits auf mich gewartet, während ich noch sicher gewesen war, den Baron hinters Licht geführt zu haben. Ich hätte ihnen entkommen müssen, doch ich war es nicht. Einer elenden Ratte wegen.

»Ich kratz dir die Augen aus!«, spie ich dem Hauptmann entgegen. Ich konnte meinen Hass auf die Blutalben kaum zügeln. Nicht nur, weil sie mich festhielten, sondern auch wegen dem, was sie mir genommen hatten, als ich noch ein unschuldiges Kind gewesen war. Noch einmal sammelte ich all meine Kräfte, um gegen die Soldaten anzukämpfen, schrie und warf mich nach vorn.

Der Hauptmann blieb stehen und bedachte mich mit einem abfälligen Blick. »Ich werde dir die Augen auskratzen, heißt das«, verbesserte er mich. »Ihr Nachtalben seid nicht besser als Tiere. Es sollte euch nicht wundern, dass man euch auch so behandelt.«

Ich spuckte dem Mann geradewegs ins Gesicht, und einer seiner Soldaten vergalt es mir mit einem Fausthieb in die Rippen. Der Schlag trieb mir die Luft aus der Lunge, ich krümmte mich, und für einen Moment raubte der Schmerz mir den Atem.

»Zurückhaltung, bitte«, befahl der Hauptmann. Mühsam blickte ich zu ihm auf. Er hatte ein Taschentuch hervorgezogen, tupfte sich meinen Speichel von der Wange und warf es dann achtlos weg. »Wir sollen sie unbeschadet zum Palast bringen.«

Unbeschadet? Damit ich bei vollem Bewusstsein war, wenn sie die Todesstrafe über mich verhängten und mich zum Galgen zerrten? Oder wollten sie mir die Hände abhacken, wie es eine Diebin in ihren Augen verdient hatte? Weder für das eine noch für das andere musste ich unverletzt sein, und es passte nicht zu den Soldaten der Königin, ihre Gefangenen mit Vorsicht zu behandeln. Irgendetwas verschwieg man mir.

»Nenn mir deinen Namen!«, verlangte ich von dem Hauptmann. Vielleicht würde ich auf die Wahrheit stoßen, wenn ich ihn irgendwie zum Reden brachte.

Der Mann lächelte süffisant. »Wozu willst du den wissen, Nachtalbe?«

»Damit ich dich wiederfinde, wenn ich aus Murayas Totenreich zurückkehre und dich und deine Familie heimsuche«, gab ich zurück.

Auch wenn es nur Geschichten waren, so glaubte man noch immer, dass wir Nachtalben als Geister auferstehen und an unseren Feinden Rache nehmen würden, wenn wir eines unnatürlichen Todes starben. Die Mythen darüber, dass wir ungesehen in die Häuser der Wehrlosen eindrangen und ihnen ihre Seelen raubten, hielten sich standhaft. Dabei waren wir Nachtalben nicht einmal von Muraya gesegnet. Wir waren nicht fähig, Magie auszuüben, wie es die Hochalben waren, geschweige denn uns von den Seelen anderer zu nähren.

Dennoch erstarrte das Grinsen des Mannes. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber er hatte Angst. Und Angst ließ einen unvorsichtig werden.

»Knebeln und fesseln«, befahl der Hauptmann.

Seine Männer zerrten mich von ihm weg, und von Weitem sah ich bereits die Kutsche, die noch immer vor Baldurs Haus stand. Es handelte sich um einen prachtvollen Vierspänner mit Goldbeschlägen und samtenen Vorhängen. Die weißen Pferde hatten Federn an ihrem Zaumzeug, und auf den Schabracken prangte das Wappen Farhirs.

Der Hauptmann hatte diese Kutsche wohl gewählt, um seine wahren Absichten zu verschleiern, und ich hasste mich dafür, dass ich darauf hereingefallen war. Hätte ein vergitterter Karren auf dem Marktplatz gestanden, wäre ich rechtzeitig geflohen.

Das Gebrüll der Blutalben hatte die Stadtbewohner endgültig aus ihren Häusern gelockt. In Decken und Umhänge gehüllt, waren sie auf die Straße getreten und beobachteten das Geschehen. Auch Baldur stand mit einer Laterne vor seinem Hauseingang und kam näher, als die Männer mich zur Kutsche zerrten.

»Was hat Sheera denn getan?«, fragte er mit zittriger Stimme.

»Aus dem Weg, Alter!«, verlangte einer der Soldaten und stieß Baldur beiseite. Er stolperte an den Straßenrand und sah mich mit angsterfülltem Blick an.

»Wie könnt ihr es wagen?«, zischte ich.

Baldur hatte ihnen nichts getan. Er ahnte nicht einmal, dass er eine Diebin in seinem Hinterzimmer schlafen ließ. Er war ein gutmütiger, unbescholtener Bürger Farhirs, in dessen Adern neben dem Blut der Menschen auch das der Hochalben floss. Seine leuchtend blauen Augen und die spitzen Ohren hätten den Blutalben Hinweis genug sein müssen. Wenn sie also schon nicht seinem hohen Alter Respekt zollten, so wenigstens seiner Herkunft.

»Wenn sie Schulden hat …«, rief Baldur ihnen nach, doch er sprach nicht weiter, als ihm klar wurde, dass niemand ihm zuhörte.

An der Kutsche angelangt, banden sie mir die Hände auf den Rücken, und einer von ihnen wollte mir ein Tuch in den Mund stopfen. Ich ließ meine Zähne aufblitzen und schnappte nach der Hand des Mannes, sodass er es nicht wagte, mir näher zu kommen.

»Wartet!«, rief eine durchdringende Stimme.

Der Hauptmann wandte sich um und nahm Haltung an, als er den Hochalben und Diener Murayas sah, der sich mit ausgebreiteten Armen näherte. Der Priester hatte sich in aller Eile seine Kutte übergezogen, sein silbernes Haar stand ihm zu Berge, und der Schlaf hing ihm noch in den Augenwinkeln. Ihm folgten der Bürgermeister und seine Frau. Beide noch im Nachtgewand.

»Mit welchem Recht nehmt ihr eine freie Bürgerin Farhirs in Gewahrsam?«, wollte der Priester wissen.

Ich wehrte mich gegen meine Fesseln, in der Hoffnung, der Aufruhr würde die Soldaten ablenken. Doch die Männer ließen nicht locker.

Der Hauptmann deutete eine Verbeugung an, zog ein Schriftstück aus seiner Uniform und reichte es dem Priester.

»Befehl der Königin«, erklärte er.

Der Königin? Dann konnte das hier nichts mit meinem Einbruch beim Baron von Embran zu tun haben. So schnell hätte das niemand zur Anklage bringen können. Aber was hatte die Blutalben dann auf meine Fährte gebracht?

»Sie ist ein unschuldiges Kind«, beteuerte Baldur, der sich inzwischen zum Bürgermeister gesellt hatte. »Sheera hat niemandem etwas getan. Sie sammelt Kräuter und verkauft sie auf dem Markt. Das ist doch kein Verbrechen. Sie hat auch nie den Grenzwald betreten, falls man ihr das vorwerfen sollte.«

»Es steckt weitaus mehr in dieser schmutzigen, kleinen Nachtalbe, als es den Anschein hat«, sagte der Hauptmann.

Er warf mir einen flüchtigen Blick zu, und es war unverkennbar, dass er Dinge über mich wusste, die niemand jemals herausfinden durfte. Um keinen Preis durfte Baldur je erfahren, dass ich eine Diebin war.

Der Hauptmann wandte sich wieder an Baldur und wollte gerade etwas sagen, als ich ihm rasch ins Wort fiel.

»Nein! Es ist schon gut. Ich komme freiwillig mit.«

Anerkennend hob der Hauptmann die Brauen. »Das Täubchen zeigt also doch Einsicht«, stellte er fest. Er nahm dem Priester das Schreiben aus der Hand, ehe der zu Ende gelesen hatte, und steckte es wieder ein.

»Sheera?« Baldur sah mich fast flehend an, doch ich konnte seinen Blick nicht erwidern.

Er hatte sich meiner angenommen, als ich verzweifelt und hilflos gewesen war, hatte mir meine Familie ersetzt und war immer für mich da gewesen. Wenn er wüsste, wer ich wirklich war, würde es ihm das Herz brechen. Das durfte nicht geschehen.

Auch wenn ich noch immer nicht wusste, welche meiner vielen Verbrechen man mir vorwarf, sprach das Gesicht des Priesters Bände. Er starrte mich voller Entsetzen an, und als der Bürgermeister auf den Hauptmann zugehen wollte, hob dieser den Arm und hielt ihn zurück.

Entmutigt senkte ich den Blick.

»Hier gibt es nichts zu sehen!«, rief der Hauptmann den Leuten zu, die sich auf der Straße versammelt hatten. Er deutete zur Kutsche. »Rein mit ihr«, befahl er seinen Männern.

Ich wehrte mich nicht weiter, hielt mein Versprechen und ließ mich widerstandslos abführen. Es wunderte mich, dass sie mich nicht an die Kutsche banden und ich nicht den ganzen langen Weg bis zum Palast hinter ihnen herstolpern musste. Das war ebenso merkwürdig wie die Tatsache, dass ich auf Befehl der Königin hin festgenommen worden war. Unzählige Fragen gingen mir durch den Kopf, doch ich bezweifelte, dass einer der Blutalben bereit wäre, mir auch nur eine davon zu beantworten.

Sie ließen mich einsteigen, und der Hauptmann nahm mir gegenüber Platz. Er sah mich forschend an. Es widerte mich an, dass er sich nicht schämte, mich derart anzustarren. Aber es wunderte mich nicht. Er war da nicht besser als der Baron. Nicht besser als jeder andere Hochalbe. Ich war eine Nachtalbe und hatte keinen Respekt verdient. Nicht in ihren Augen.

Ich konnte den Hauptmann auch nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen. Egal, wie lange ich ihn anstarrte, er wandte den Blick nicht von mir ab.

Blutalben. Das war aus mehreren Gründen die passende Bezeichnung für die Soldaten der Königin. Neben ihren roten Stiefeln und der Tatsache, dass ihnen das Foltern und Töten im Blut lag, waren sie alle reinen Geschlechtes. Hochalben ohne auch nur einen Tropfen Menschenblut oder dem verdorbenen Erbgut der Nachtalben in ihren Adern. Sie hielten sich deshalb für etwas Besseres. Doch ich sah das anders. Allein dass reinblütige Alben sich als höhergestellt ansahen, wies doch schon auf ihre Überheblichkeit hin.

Die Kutsche rumpelte schon eine Weile über die Straßen. Die Nacht verlor allmählich den Kampf gegen den anbrechenden Tag, die Sterne waren einem rötlichen Schimmer gewichen, und es roch nach Tau und Morgenwind.

Der Hauptmann lehnte sich zurück und ließ seinen Blick von meinem schwarzen, zottigen Haar über meinen von einem dünnen Hemd bedeckten Oberkörper bis zu meiner abgewetzten Lederhose wandern. Als er wieder aufsah, blickte er mir direkt in die Augen.

»Sheera heißt du«, sprach er das Offensichtliche an.

»Stell dir vor, das weiß ich bereits«, sagte ich.

Er schnaubte verächtlich. »Ist es schon vorbei mit der Höflichkeit?«

Ich antwortete nicht.

Der Hauptmann warf dem Soldaten neben mir ein gehässiges Grinsen zu, wandte sich dann wieder an mich und beugte sich vor.

»Wir haben die ganze Stadt auf den Kopf gestellt, um eine Sheera Abendhauch zu finden«, erklärte er. »Dein Familienname hätte uns schon Hinweis genug sein sollen, aber keiner von uns hatte wirklich daran geglaubt, dass unser Auftrag darin bestand, eine Nachtalbe aufzustöbern.«

»Aber hier bin ich«, sagte ich.

Der Hauptmann lehnte sich wieder zurück.

»Ja, hier bist du …«, murmelte er nachdenklich.

Ich sah aus dem Fenster, ließ meinen Blick über die Weite Farhirs schweifen und versuchte, mir die Schönheit des Landes einzuprägen.

Das Schimmern zarter Tropfen auf dem hohen Gras erinnerte an die Sterne. Als wären sie vom Himmel gestürzt und hätten im Reich der Alben ihre letzte Ruhestatt gefunden. In der Ferne schmiegten sich beschauliche Gutshäuser an sanfte Hügel, Bäche schlängelten sich durch das Tal, und auf den Weiden grasten friedlich die Pferde der Bauern. Ihre Mähnen wehten in einem kräftigen Morgenwind, der den Duft wilder Blumen mit sich trug. Ich atmete tief ein und versuchte, die Erinnerung an diesen Geruch, den Geruch nach Freiheit in mein Herz zu schließen.

Es hieß, kein Land wäre mit Farhir vergleichbar, keines von solch einer Farbenpracht, kein Volk so gütig und friedlich zugleich. Mein Leben lang war es mir vorgekommen, als würde ich all das bloß durch einen Spiegel betrachten. Ich sah die Schönheit und Anmut Farhirs, aber ich war nichts weiter als eine Beobachterin. Kein Teil davon. Dennoch liebte ich meine Heimat, und es war erschreckend, nicht zu wissen, ob mir dieser Anblick je wieder vergönnt sein würde.

Ich wusste, was man denen antat, die im Palast angeklagt und verurteilt wurden. Das war nicht vergleichbar mit den Hinrichtungen in meiner Heimatstadt. Bei lebendigem Leib verbrannt zu werden, war verglichen mit der Unbarmherzigkeit der königlichen Armee noch ein gnädiges Schicksal. Sie war da, um den Frieden, den wir alle so liebten, aufrechtzuerhalten, um Exempel zu statuieren und jeden Alben des Landes wissen zu lassen, dass es Schlimmeres gab als den Tod.

»Hauptmann Taros?«, sprach einer der Blutalben seinen Vorgesetzten an.

Ich sah, wie dem Hauptmann die Farbe aus dem Gesicht wich, und sofort lächelte ich breit und gehässig. Nun kannte ich seinen Namen. Ich konnte mit diesem Wissen zwar nichts anfangen, aber das wusste er ja nicht.

»Was?«, fuhr Taros ihn an.

Der Soldat schien sich seines Fehlers bewusst zu werden, denn mir entging nicht, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat.

»Wir … wir sind bald da«, brachte der arme Kerl schließlich mit bebender Stimme heraus.

Taros sah ihn scharf an. »Und du glaubst, das weiß ich nicht?«

Der Soldat zerrte am engen Kragen seiner Uniform. »Es ist nur, weil sie noch gefesselt ist«, meinte er.

»Ach ja? Und was willst du jetzt tun? Sie losbinden und hoffen, dass sie brav hier sitzen bleibt? Ist das hier deine erste Begegnung mit einer Nachtalbe? Wie dumm bist du eigentlich?«

Mein Grinsen wurde breiter. »Ich verspreche, ich werde ganz brav sein«, behauptete ich.

Der Hauptmann lachte. »Vergewissere dich, dass die Fesseln gut sitzen«, befahl er.

Ich schaute den Soldaten herausfordernd an – entschlossen, mich von ihm nicht anfassen zu lassen –, wurde jedoch von dem abgelenkt, was ich in seinem Rücken erkennen konnte. Hinter den Hügeln im Osten waren die ersten Türme des Palastes zu sehen.

Mein Herz pochte schneller. Ich war noch nie in der Hauptstadt gewesen. Es hieß, Haran sei voller Wunder und atemberaubender Schönheit, sodass es einem jeden, der die Stadt das erste Mal betrete, die Tränen in die Augen triebe.

Der Soldat griff nach meinen Fesseln, und ich wehrte mich nicht, als er sie fester zog. Ich hätte ihm mühelos ein Ohr blutig beißen können, doch ich war kein wildes Tier, wie man mir nachsagte, und selbst wenn, zog mich der Anblick der weißen Türme, funkelnd wie ein See im Morgenlicht, zu sehr in den Bann.

»Warum?«, fragte ich den Hauptmann. Ich riss mich von der Aussicht los. »Wie seid ihr auf mich gekommen?«

Ich war mir sicher, immer vorsichtig gewesen zu sein. Meinen Namen kannte nur, wem ich rückhaltlos vertraute – also weder jene, die meine Dienste in Anspruch nahmen, noch die Opfer meiner Raubzüge. Einzig der Baron von Embran hatte mein Gesicht gesehen, und so abgelenkt, wie er von meinem Körper gewesen war, hätte er mich wohl kaum wiedererkannt.

»Angst?«, fragte der Hauptmann hämisch. »Ich frage mich, was du alles angestellt hast, dass du vor der Leibgarde der Königin geflohen bist, kaum dass wir nach dir gefragt haben.«

Die Leibgarde höchstpersönlich? Ich hatte sie für einfache Soldaten gehalten. Sie mussten von meinen schlimmsten Verbrechen wissen, wenn sie so weit gingen, mir diese Männer auf den Hals zu hetzen. Und wenn dem so war, würde ich Haran nie lebend verlassen.

»Ich bin eine Nachtalbe. Ich habe keine Angst. Vor nichts und niemandem«, entgegnete ich und hoffte, dass niemand hörte, wie meine Stimme dabei zitterte.

Lysander hätte sie ewig einfach nur beobachten können. Amelia war atemberaubend schön. Beinahe unbekleidet lag sie neben ihm im Himmelbett, bedeckt nur von einem hauchdünnen Seidenlaken. Sein Blick glitt über die Wölbungen ihres perfekten und doch so zerbrechlichen Körpers, der sich deutlich unter dem durchscheinenden Stoff abzeichnete.

Dass vor den Fenstern der Burg von Agrino bereits die Vögel sangen, erinnerte ihn daran, wie wenig gemeinsame Zeit ihnen noch blieb. Die Sonne war aufgegangen und warf ihre goldenen Strahlen auf Amelias gebräunte, von Schweiß glitzernde Haut. Sie kitzelte die junge Zofe an ihrer kleinen Stupsnase, sodass Amelia sie runzeln musste und Lysander damit zum Lächeln brachte.

Sie war einfach das schönste Wesen, das er je gesehen hatte. Er konnte kaum glauben, dass er neben ihr liegen durfte.

Er war einfach ein Glückspilz. Seit geraumer Zeit sah er ihr nun schon beim Schlafen zu und fragte sich, ob er selbst überhaupt wach war. Das alles kam ihm vor wie ein Traum. Hatte sie ihm letzte Nacht wirklich jenes Versprechen gegeben, oder gehörten die Worte, die sie ihm ins Ohr gehaucht hatte, während sie einander näher gewesen waren denn je, ebenfalls zu einem Traum, der bald schon enden würde? Das alles kam ihm zu unwirklich vor, als dass es wahr sein konnte. Und dennoch war es das.

Amelia drehte sich im Schlaf um und wandte ihm nun das Gesicht zu. Es war nur noch eine Handbreit von ihm entfernt – nah genug, um sie auf die Stirn küssen zu können. Es kostete ihn seine ganze Beherrschung, es nicht zu tun. Er wollte sie noch nicht wecken. Zu groß war seine Befürchtung, diesen friedlichen Moment zu zerstören.

Ihre Finger umschlossen das Kissen, auf dem sie ruhte, und sie seufzte leise auf.

Wie lang ihre Wimpern doch waren, wie elegant geschwungen ihre dichten dunklen Brauen. Egal, wie lange er sie anschaute, er fand immer wieder kleine Details, die seine Liebe zu ihr aufs Neue entfachten. Nichts auf der Welt konnte sich mit ihrer Schönheit messen. Ganz gleich, wie viele Schätze sein Vater auch anhäufte, wie viele Gemälde er anfertigen ließ, wie viele Statuen die Bildhauer ihm in die endlosen Gänge der Burg stellten: Nichts davon reichte auch nur ansatzweise an den Liebreiz einer schlafenden Frau heran. Keine Juwelen und kein Gold der Welt.

Es kam Lysander vor, als wäre das Gezwitscher vor den Fenstern an diesem Morgen nur für sie bestimmt. Als wäre es der einzige Lebenssinn der Vögel, die Stunden, die Liebende miteinander teilten, mit Musik zu untermalen.