And into the forest I go to lose my mind and find my soul.
Und ich gehe in den Wald, um meinen Verstand loszulassen und meine Seele zu finden.
John Muir
© 2020 Christoph-Maria Liegener
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Cover-Bild: Shutterstock
ISBN: 9783751987592
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Diese Geschichte ist fiktiv. Es ist ein utopischer Roman, der in übertriebener Weise unserer Gesellschaft den Spiegel vorhält: gleichzeitig satirisch und prophetisch. Nichts davon ist wahr und doch enthält das Erzählte eine Wahrheit, die man nur entdecken muss.
Christoph-Maria Liegener
Ein Schrei zerriss die Stille des Waldes. Die junge Frau, die geschrien hatte, wurde von einem stämmigen Mann zu Boden gerissen. Ihren kleinen Sohn, den sie an der Hand geführt hatte, ließ sie im Fallen los und rief ihm zu:
„Lauf weg! Versteck dich! Schnell!“
Der erschrockene Junge stand einen Augenblick wie erstarrt, dann rannte er los, so schnell er konnte und ohne anzuhalten.
Wie von Furien gejagt floh er ins Unterholz, lief, stolperte, lief weiter … und weiter. Er war noch nicht erfahren im Laufen und kam nicht schnell voran. Glücklicherweise wurde er nicht verfolgt, weil der Angreifer noch mit der Mutter des Jungen beschäftigt war.
So befolgte der Junge den letzten Wunsch seiner Mutter. Er hätte ihr nicht helfen können; sie verlor an diesem Tag ihr Leben. Der Täter verscharrte ihren Leichnam im Wald.
Für den Täter war es das erste Mal, dass er mordete. Er würde später zum Serienmörder werden und noch viele Opfer finden. Was für ein Drama, dass wegen der psychischen Störung eines Menschen so viele andere sterben mussten! Hier hatte in einer Tragödie begonnen, was als Trauma den armen Jungen lange Zeit begleiten sollte.
Der entflohene Junge überlebte. Er war in den Wald gelaufen, immer tiefer und tiefer. Schließlich versteckte er sich im dichten Gestrüpp.
Er hatte schreckliche Angst und blieb im Wald versteckt, immer auf der Hut vor dem Mörder seiner Mutter.
Abends glaubte er die Stimme seiner Mutter im Wispern des Waldes zu hören. Die Geräusche des Waldes machten ihm nun keine Angst mehr – im Gegenteil der Wald beruhigte ihn. Seine Mutter war Teil dieses Waldes geworden. Wenn sie noch lebte, würde sie ihn hier finden. Wenn sie tot war, was er noch nicht wissen konnte, würde sie durch den Wald zu ihm sprechen. Was auch immer das Jenseits sein mochte, hier öffnete sich durch den Wald ein Tor zu jener Welt. Emotional hielt der Junge den Kontakt zu seiner Mutter. Objektiv gesehen schien er jedoch jetzt auf sich allein gestellt zu sein.
In seinem verstörten Zustand handelte er nicht rational. Alles um ihn herum machte ihm Angst. Es war aber nicht der Wald selbst, der ihn ängstigte, sondern die Befürchtung, böse Menschen könnten sich heranschleichen. Die Menschen waren die Bedrohung. Er zog sich immer mehr in die Tiefe des Waldes zurück. Der Wald wurde seine Welt.
Mit der Zeit lernte er zu überleben. Er ernährte sich von Beeren, Käfern, Würmern, Insekten und anderen kleinen Tieren, ja, auch Spinnen. Zum Schlafen bastelte er sich ein Lager aus Moos in einer kleinen Höhle.
So verbrachte er viele Jahre im Wald, versteckte sich vor den Menschen, die ohnehin selten genug derart tief in den Wald vordrangen.
Der Wald hatte die Elternrolle übernommen und behütete das kleine Kerlchen. Der Junge passte sich diesem Leben an und wurde ein Waldmensch.
Eduard Oberhof machte sich Sorgen. Seine Frau war am Vormittag mit ihrem gemeinsamen Sohn zu einem Spaziergang in den Wald gefahren. Jetzt brach der Abend herein, es dunkelte und sie waren noch nicht zurück.
Diese Nacht konnte er nicht schlafen.
Am nächsten Morgen ging er zur Polizei. Man nahm seine Vermisstenanzeige auf und versprach, sich um die Sache zu kümmern. Alle Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen. Es wäre immerhin möglich gewesen, dass die beiden entführt worden waren. Dagegen sprach nach einiger Zeit, dass keine Lösegeldforderungen eingingen.
Auch sonst gab es keine Spur.
Fotos der Vermissten erschienen in den Zeitungen, sogar im Fernsehen. Es gab keine hilfreiche Resonanz. Zwar hatten aufmerksame Spaziergänger die beiden noch im Wald gesehen, aber dann verlor sich ihre Spur. Eine aufwändige Suchaktion der Polizei im Wald im Umkreis der Sichtung führte schließlich zur Auffindung der Leiche der Mutter, vom Kind jedoch fehlte jede Spur.
Nach einer angemessenen Frist wurde die Akte geschlossen und Herr Oberhof war auf sich gestellt. Er engagierte einen Privatdetektiv, der weiterermittelte. Zwar zeitigte das vorerst keinen greifbaren Erfolg, aber man hatte doch wenigstens das Gefühl, etwas zu tun.
Mark und Julia waren Kollegen. Beide verrichteten ungefähr gleich lang den Polizeidienst. Sie hatten sich angefreundet und gingen zusammen auf Streife. Ihr Revier befand sich am Rande des Waldes und sie kontrollierten unter anderem öfter die Waldwege.
Eines Tages kamen sie zufällig in den Teil des Waldes, in dem der Waldmensch lebte, jener inzwischen erwachsen gewordene Junge, dessen Mutter seinerzeit im Wald umgebracht worden war. Die beiden Polizisten überraschten ihn. Er hatte keine Zeit mehr, sich zu verstecken.
Die Ordnungshüter waren nicht minder überrascht. Sie reagierten jedoch schnell und stellten den Waldmenschen. Dieser geriet in Panik, hatte er doch in ständiger Angst vor den Menschen gelebt. Die Polizisten redeten beruhigend auf ihn ein, als sie ihn unter Kontrolle brachten:
„Ist ja alles gut. Gut … gut … gut …“
Schließlich brachten sie ihn zur Feststellung seiner Personalien aufs Revier.
Zunächst war eine Verständigung nahezu unmöglich. Sie boten ihm zu Essen aus ihren Esspaketen an, zeigten darauf und sagten: „Gut!“
Während er aß, zeigten sie auf sich, nannten ihre Namen und fügten „gut“ hinzu. Dann zeigten sie auf ihn und sahen ihn fragend an. Tatsächlich antwortete er und sagte:
„Gut!“
Offenbar kannte er seinen Namen nicht mehr.
Das Essen vertrug der arme Kerl überhaupt nicht. Sein Verdauungssystem war nicht auf Zivilisationsnahrung eingestellt. Die Dinge, die die normalen Menschen aßen, waren für ihn überhaupt nicht „gut“. In der Tat bekam er Durchfall und erleichterte sich in der Ecke seiner Zelle. Als Mark die Bescherung bemerkte, rief er entsetzt aus:
„Das kann doch nicht wahr sein! Was hast du denn da gemacht?“
Der Waldmensch antwortete:
„Gut!“
„Nein, gar nicht gut. Ich werde dir wohl zeigen müssen, wie man das macht.“
Und er unterwies ihn in der Benutzung einer Toilette. Der Waldmensch begriff zunächst nicht, dass es einen Unterschied zwischen einem Waschbecken und einer Toilette gab und wollte sich ins Waschbecken erleichtern. Er hatte im Wald immer sein Geschäft im Stehen verrichtet und hätte von seiner Größe auch mit dem Waschbecken kein Problem gehabt. Schnell hatte Mark es ihm anhand der Höhe erklärt. Als dann sein lernwilliger Schüler ein Urinal zum Händewaschen benutzen wollte, konnte Mark ihn gerade noch stoppen. Aller Anfang ist schwer.
Nun musste der Findling erkennungstechnisch erfasst werden. Fingerabdrücke und eine DNA-Probe wurden genommen, Fotos gemacht.
Ein Arzt wurde konsultiert und stellte fest, dass der Waldmensch um die neunzehn Jahre alt sein musste und sich bei guter Gesundheit befand.
Mit der Zeit kam bei dem verwilderten jungen Mann rudimentäre Erinnerungen an die menschliche Sprache zurück und er versuchte, sich zu verständigen, wobei er sehr undeutlich und mit einem gutturalen Knurren sprach.
Nach einer ersten Befragung wussten die Polizisten immerhin, dass er die letzten Jahre keinen Kontakt zu Menschen gehabt hatte und sich tatsächlich an seinen Namen nicht mehr erinnern konnte oder wollte.
Provisorisch gaben sie ihm daher den Namen „Kaspar Doe“, einer Mischung aus dem Vornamen von Kaspar Hauser, der angeblich bis zu seiner Auffindung auch kaum mit Menschen gesprochen hatte, und dem Nachnamen von John Doe, der amerikanischen Bezeichnung für Personen mit unbekanntem Namen.
Sie behielten ihn zunächst einmal auf der Wache, wo sie ihn vorsichtshalber in einer Zelle unterbrachten. Kaspar tobte und wollte hinaus. Das wäre nun ganz gegen jegliche Vorschrift gewesen und er musste bleiben. Ein herbeigerufener Arzt gab ihm eine Beruhigungsspritze. Ein Psychologe, der ebenfalls hinzugezogen wurde, bescheinigte dem jungen Mann eine gesunde Psyche bei fehlender Sozialisation. Er prophezeite ihm eine vollständige Eingliederung in die Gesellschaft innerhalb von zwei Jahren.
Zu essen bekam Kaspar rohe Früchte und geringe Mengen an rohem Fleisch. Auf so etwas war sein Verdauungssystem eingestellt.
Sie besorgten ihm Kleidung, die er zuerst nicht wollte, weil sie ihn beengte: Trotzdem drängten die Polizisten ihn, sich zu bekleiden, wenigstens des Anstands halber. Das verstand Kaspar nun überhaupt nicht, aber er war zur Kooperation bereit. Er bekam weite Sportkleidung und Sportschuhe mit Klettverschluss.
Das funktionierte – bis auf die Aufgabe, zwei zueinander passende Schuhe zu finden. Julia machte ihn nach der Anprobe darauf aufmerksam, dass er zwei nicht zueinander passende Schuhe trage.
„Aber wieso denn?“, wollte Kaspar wissen. „Diese da sehen doch genauso aus“, und er wies auf das „Paar“ der beiden übriggebliebenen Schuhe. Julia ließ ihn gewähren: Wenn ihm die Schuhe in dieser Weise gefielen, gab es keinen Grund, anderes zu erzwingen. Zusammengehörige Schuhe zu tragen, war doch bloß eine Konvention und eine Zeit lang galt es ja sogar als modern, asymmetrische Schuhpaare zu tragen. Sollte Kaspar also machen, was er wollte.
Der Schlafplatz stellte indes doch ein Problem dar. Kaspar schlief nicht im Bett, sondern auf der Erde, wobei er den Geruch des Waldes vermisste. Seine Betreuer Mark und Julia brachten im schließlich Laub und Moos aus dem Wald, woraus er sich eine Schlafstelle baute.
Man sagte sich, dass es ja nur provisorisch sei. Irgendwann würde der junge Mann zivilisiert werden. Wie das gehen sollte, stand noch in den Sternen. Es war klar, dass er, sobald man ihn freiließe, wieder in den Wald zurückkehren würde.
Wäre das so schlimm? Den Vorschriften wäre ja schon Genüge getan, wenn er registriert wäre. Könnte man ihn dann nicht gehen lassen? Es war bizarr: Der Staat hatte eine gewisse Fürsorgepflicht für Kaspar übernommen. Alles musste jetzt geregelt werden, ob er wollte oder nicht.
Eines Tages wurde ein Räuber auf frischer Tat ertappt und zu Kaspar in die Zelle gesperrt. Der Verbrecher erwies sich als redselig und verwickelte Kaspar bald in ein Gespräch. Er stellte sich als Hotte vor und erfuhr von Kaspar dessen Schicksal. Wie alt er denn sei, wollte Hotte von Kaspar wissen.
„Neunzehn Jahre und fünf Tage“, antwortete Kaspar.
„Woher weißt du das so genau? Ich denke, du warst im Wald.“
„Ja, aber vor fünf Tagen hat der Arzt mir gesagt, dass ich neunzehn Jahre alt sei.“
Der Räuber grinste und verkniff sich einen Kommentar. Nach einer Weile begann er, von seinem Raub zu schwadronieren. Er hatte seinem Opfer eine Menge Geld geraubt und gab damit an.
Kaspar konnte nicht verstehen, warum man Gewalt aufwenden sollte, um jemand anderem bedrucktes Papier zu entwenden.
„Was willst du mit dem Papier?“, fragte er neugierig.
„Das ist Geld. Dafür bekomme ich, was ich will“, erklärte der andere.
„Aber was brauchst du denn?“, wollte Kaspar wissen. „Wenn du Hunger hast, findest du doch überall etwas.“
Hotte versuchte zu erklären, dass es Besseres gäbe als das, was man im Wald fände, konnte aber nicht begründen, warum man Besseres brauchen sollte. Es lief darauf hinaus, dass er im Lauf seines Lebens Begehrlichkeiten nach all den Dingen entwickelt hatte, die er um sich herum sah. Nachdenklich gestand er Kaspar zu:
„Wenn ich wie du im Wald aufgewachsen wäre, hätte ich wohl nicht getan, was ich getan habe.“
„Und warum gehst du dann nicht in den Wald?“
„Weil ich von der Zivilisation verwöhnt bin.“
Bald bekamen sie ihre erste gemeinsame Mahlzeit – jeder einen Kunststoffteller, Hotte mit Eintopf, Kaspar mit rohem Fleisch. Das Essen sollten sie am kleinen Zellentisch zu sich nehmen.
Kaspar, der das Essen am Tisch nicht gewohnt war stieß versehentlich Hottes Teller hinunter, so dass sich der Inhalt auf dem Boden verteilte.
„He, pass doch auf!“, rief dieser wütend aus. Dann fegte er seinerseits Kaspars Teller vom Tisch.
„Wie du mir, so ich dir“, fügte er noch hinzu.
Kaspar verstand nichts davon. Dass sie jetzt beide nichts zu essen hatten, das verstand er, aber nicht, warum Hotte auch seinen Teller hinuntergeworfen hatte. Sein eigenes Missgeschick bereute er doch und hätte Hotte auch gern von seinem Teller abgegeben.
Hotte erklärte es ihm mit Äsops Fabel vom Fuchs und dem Storch:
„Hör zu! Die Geschichte geht so: Der Fuchs hatte den Storch zum Essen eingeladen. Nur konnte der Storch nichts essen, weil der Fuchs alles in flache Schalen gefüllt hatte. Der Storch pickte mit seinem langen Schnabel darin herum, konnte aber nichts aufnehmen.
Ein paar Tage später lud der Storch den Fuchs ebenfalls zum Essen ein. Er hatte alle Leckereien in enghalsige Krüge gefüllt, in die er mit seinem langen Schnabel gut hineinkam, der Fuchs aber nicht.
Die Moral: Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.
Übrigens wird nicht gesagt, dass der Fuchs den Storch mit Absicht ärgern wollte. Es könnte gut sein, dass er gar nicht auf die Idee kam, dass der Storch Schwierigkeiten mit dem Geschirr haben könnte, das er, der Fuchs, jeden Tag benutzte.“