Harald Schneider

Blutbahn

Palzkis sechster Fall

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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1. Auflage 2012

 

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Christoph Neubert

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Black7 / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3810-3

 

 

 

Mensch, verspotte nicht den Teufel,

Kurz ist ja die Lebensbahn,

Und die ewige Verdammnis

Ist kein bloßer Pöbelwahn.

 

Mensch, bezahle deine Schulden,

Lang ist ja die Lebensbahn,

Und du musst noch manchmal borgen,

Wie du es so oft getan.

 

Heinrich Heine

 

 

 

Für alle, die gerne mit der S-Bahn Rhein-Neckar fahren

1
Teufeleien

 

Es hätte so ein schöner Tag werden können.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte ich nach oben. Verdammt, was war das? Mein Puls erhöhte sich rekordverdächtig von 80 auf beinahe 200 Schläge. Die Szene, die sich gerade vor mir abspielte, verstand ich nicht einmal ansatzweise. War ich in der Hölle angekommen, und wenn ja, warum? Das grelle Licht blendete mich, ich konnte nur die Umrisse des Satans erkennen. Seine schrecklich verzerrte Stimme ließ mir einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Ich versuchte mich aufzusetzen, was mein Gleichgewichtssinn mit einem heftigen Schwindel beantwortete. Warum lag ich überhaupt hier? Wo war ich? Eine zweite teuflische Gestalt kam in mein Blickfeld. Sie schien etwas größer zu sein und ihre ebenfalls verzerrte Stimme klang noch angsteinflößender. Beide redeten gleichzeitig auf mich ein, ich konnte nicht einmal ausmachen, um welche Sprache es sich handelte, geschweige denn, ob sie irdischer Natur war. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das helle Licht und auf einmal erkannte ich, wo ich mich befand. Sah so das Ende aus? Aus statistischer Sicht starben die meisten Menschen zuhause in ihrem Bett und genau da lag ich auch. Seltsam, dass mich der Höllenchef persönlich im eigenen Schlafzimmer begrüßte. Mein Adrenalinspiegel, der das Maximum erreicht hatte, behinderte nach wie vor mein Denkvermögen. Erfreulicherweise konnte ich nun aus einiger Entfernung eine weibliche Stimme vernehmen, die in deutscher Sprache rief: »Paul, Melanie! Ich habe zwar gesagt, dass Ihr euren Vater wecken sollt, aber nicht auf diese Art und Weise!«

Die beiden Teufel fingen an zu lachen. Paul, mein achtjähriger Sohn, zog seine Maske ab und sprang mit einem Hechtsprung zu mir ins Bett. »Papa, schau mal, was Mama uns Geiles gekauft hat!«

»Paul!«, hörte ich Stefanies Stimme aus dem Off. »Lass bitte diese Ausdrücke sein.«

Während die drei Jahre ältere Melanie das Schlafzimmer wieder verlassen hatte, kuschelte sich der zum Mensch gewordene Teufel unter mein Federbett.

»Da, Papa«, forderte er meine Aufmerksamkeit, indem er mir einen kleinen Kasten, etwa so groß wie eine Streichholzschachtel, zeigte. »Das ist ein Stimmenverzerrer. Meine Lehrer werden sich nächste Woche ganz schön wundern.« Er steckte den Kasten ein Stück weit in den Mund und ich hörte wieder die außerirdisch klingenden Töne.

»Wo habt ihr das her? Gestern Abend hattet ihr das noch nicht!«

Ich bemerkte, dass meine Frau im Türrahmen stand.

»Dann schau mal auf die Uhr, du Langschläfer!« Sie klang belustigt. »Komm zum Frühstück, sonst wird der Kaffee kalt.«

Ein Blick auf den Wecker offenbarte mir die in Bälde einbrechende Mittagszeit. »Ihr spielt mir doch einen Streich! Ihr habt die Uhr vorgestellt, stimmt’s?«

»Reiner, ich war mit den Kindern mehr als zwei Stunden lang einkaufen. Ich hatte gar nicht in Erinnerung, dass du so ein Faultier bist.«

Wie wahr. Stefanie lebte mit den Kindern seit über zwei Jahren von mir getrennt. Jetzt endlich wollten wir einen Neuanfang wagen. Es war Anfang Februar, die Kinder hatten gerade ihre Halbjahreszeugnisse bekommen, also ein guter Zeitpunkt, um die Schule zu wechseln. Seit Tagen fuhr ich abends nach Dienstschluss mit meinem Kollegen Gerhard Steinbeißer nach Ludwigshafen, um Stefanies Hausrat nach Schifferstadt zu transportieren. Gestern waren Waschmaschine und Wäschetrockner an der Reihe. Nach diesem Kraftakt, man war ja schließlich nicht mehr der Jüngste, gingen wir noch auf ein Pils in die Kanne, einem alten Schifferstadter Gasthaus mit angeschlossenem Hotel. Bei einem Pils blieb es nicht, aber an einem Freitagabend störte mich das nicht sonderlich.

Am heutigen Samstag waren die Kinderzimmer an der Reihe. Auch diesmal hatte sich Gerhard bereiterklärt, mir zu helfen. Da er mal wieder eine kurze Solozeit zu überbrücken hatte, machte es ihm nichts aus. Gerhard genoss sein Leben und gestaltete es sehr abwechslungsreich. Ich selbst war wesentlich konservativer eingestellt, ich liebte meine Frau nach wie vor wie am ersten Tag. Und seit ich wusste, dass unsere Familie nochmals Nachwuchs bekommen würde, noch viel mehr. In drei Monaten war es soweit, Stefanie schob bereits ein kleines Bäuchlein durch die Gegend. Mein Heimbüro hatte ich längst ausgeräumt und mit einer Benjamin-Blümchen-Tapete tapeziert. Stefanie rümpfte darüber zwar die Nase, sagte aber nichts. Ich war mir sicher, hätte ich eine Star-Wars-Tapete genommen, wäre es ihr ebenfalls nicht recht gewesen.

Ich stand auf und schlurfte ins Bad. Dieses Mal klappte alles. Kein akuter Mordfall, der meine Anwesenheit auf der Schifferstadter Kriminalinspektion notwendig machte.

Glücklicherweise konnte ich der vor einer Woche aufgefundenen, nicht unter natürlichen Umständen verblichenen Dame mittleren Alters und Aussehens noch so etwas wie eine verspätete Genugtuung zukommen lassen, indem ich ihren Mörder festnahm: Die Sterblichkeit, die ihr zum Verhängnis wurde, hatte ihr Vermieter brutal ausgenutzt. Ob es sich hierbei um eine neue Form der Eigenbedarfskündigung handelte, würden die weiteren Ermittlungen ergeben. Der Eigenbedarf war nach der erfolgreichen Aufklärung des Kapitalverbrechens natürlich nicht mehr gegeben: Sowohl die tote Mieterin als auch der tötende Vermieter waren bereits mit jeweils unterschiedlich fremder Hilfe ausgezogen.

Auch wenn solche Verbrechen meinen Arbeitsplatz sicherten und daher in meinen Augen unentbehrlich waren, so hatte ich sie heute rigoros ausgeblendet. Der Umzug musste vollendet werden. Und für heute Abend hatte ich Paul und Melanie versprochen, sie zur Fastnachtsparty für junge Leute ins Pfarrzentrum St. Jakobus zu fahren. Na ja, sollten sie ihren Spaß haben. Noch rund eineinhalb Wochen, dann war das Thema Fastnacht wieder vergessen. Auch die Kollegen von der Schutzpolizei würden wieder aufatmen, nachdem sie während der fünften Jahreszeit wie jedes Jahr an dem Berg einkassierter Führerscheine zu ersticken drohten.

Mit inzwischen deutlich gesenktem Puls ging ich nach einem Badbesuch in die Küche. Melanie futterte einen Muffin. Keine Ahnung, wie sie das bei ihrer Mutter durchsetzen konnte. Paul pulte gelangweilt in einem Käsebrot.

»Komm, setz dich, Reiner«, forderte mich Stefanie auf und stellte mir eine Tasse Kaffee auf den Tisch. Im Vergleich zu dem Kaffee, den Gerhard immer auf der Dienststelle braute, beziehungsweise buk, überwog hier der Wasseranteil deutlich gegenüber dem Kaffeepulver.

»Möchtest du einen leckeren Vollkornmuffin?«

Melanie presste diese Frage mit solch einem sarkastischen Unterton heraus, dass ich sofort wusste, dass sie dieses Teil nicht freiwillig aß. Um meine beiden Kinder bei Laune zu halten, plante ich spontan, vor der Fastnachtsparty am Imbiss Caravella vorbeizufahren.

»Danke, Melanie. Ich habe im Moment noch keinen Hunger.«

»Ich auch nicht mehr«, maulte meine Tochter und knallte den angebissenen Muffin auf den Teller.

Stefanie überging diese Szene und äußerte stattdessen ihren Missmut über meinen Jogginganzug. »Den hattest du schon getragen, da waren wir noch nicht verheiratet. Meinst du nicht, dass es mal an der Zeit für einen neuen wäre?«

Ich erschrak. So fing es immer an, wenn meine Frau mit mir eine längere Tour durch sämtliche Bekleidungsgeschäfte der Region plante. Ich setzte zu meiner selten erfolgreichen Abwehrtaktik an. »Warum denn? Der ist doch noch gut. Er hat nur ein paar glänzende Stellen, ich zieh ihn ja nur daheim an.«

»Und zum Umzug, du hast ihn die ganze Woche angehabt.«

»Na und? Soll ich einen Anzug und Krawatte anziehen, wenn ich deine Waschmaschine transportiere?«

»Das nicht gerade. Erinnerst du dich, wo du mit Gerhard gestern noch hingegangen bist? Die Leute in der Wirtschaft haben bestimmt ganz blöd geschaut. Außerdem muss dich der Hosenbund inzwischen in der Taille ziemlich schneiden.«

Ich prüfte den Sitz mit meinem Daumen. »Die Hose ist bei der Wäsche etwas eingegangen.«

»Oder du etwas aufgegangen«, konterte sie bissig aber dennoch freundlich.

Stefanie hatte ja recht. In der Kanne war ich tatsächlich etwas aufgefallen. Zumal dort gerade eine feine Gesellschaft tafelte. Und den viel zu lauten Satz einer Dame vom Nachbartisch hatte ich nur zu gut verstanden: »Schau mal da rüber, Berti, der da drüben hat einen Schockinganzug an.«

Der Kaffee tat gut, wie bei einem frischen Pils. Der erste Schluck war der beste. Es klingelte an der Haustür.

»Ich geh schon«, meinte Stefanie, ohne zu wissen, was sie damit lostrat. Wenn sie Pech hatte, war es unsere Nachbarin, die ewig vor sich hinschnatternde Ackermann. Dann käme sie unter zehntausend Wörtern nicht davon. Ich hatte einmal mit einem vorgetäuschten Herzanfall versucht, ihren Oralorgien zu entgehen. Doch das half nur für Minuten. Dann stand sie mit einem Stapel Gesundheitszeitschriften und einem prall mit Medikamenten gefüllten Schuhkarton vor meiner Tür.

Es war nicht Frau Ackermann.

»Guten Morgen, allerseits«, grüßte Gerhard in die Runde.

»Kann es sein, dass du zwei Stunden zu früh bist?«, wunderte ich mich. »Oder habt ihr die Uhr zurückgestellt?«, wandte ich mich fragend an meine Kinder. Jetzt erst bemerkte ich die ernsten Gesichter von Gerhard und Stefanie. »Was ist los mit euch? Komm Gerhard, setz dich und nimm dir einen dieser köstlichen Muffins!«

Dieser schüttelte den Kopf. »Danke, mir ist der Appetit vergangen.«

»Was? Bist du lebensmüde? Diese leckeren Vollkorndinger hat Stefanie selbst gebacken!«

»Nein, nein«, entschuldigte sich mein Kollege sofort, »ich meine nicht die Muffins. Komm, Junge, wir müssen los.«

»Darf ich wenigstens meinen Kaffee austrinken? Bei unserem Umzug kommt es schließlich auf eine Minute mehr oder weniger nicht an.«

»Es geht keineswegs um den Umzug, Reiner, sondern um einen Regionalzug. Genauer gesagt, um eine S-Bahn.«

Ich verstand immer noch nicht. »Der Bahnhof ist mindestens zwei Kilometer entfernt, für einen Umzug ist das nicht praktikabel. Für was haben wir unsere Dienstwagen? Da passt alles rein.«

»Mensch, Reiner, stehst du heute mal wieder auf den Gleisen.« Gerhard schüttelte den Kopf. »Wir haben einen Einsatz! Also los, erhebe dich.«

Ziemlich verdattert stand ich auf. »Und da sollen wir mit dem Zug hinfahren?«

Jetzt lachte mein Kollege kurz auf. »Jetzt versteh ich, was du meinst. Ne, du bist auf dem falschen Dampfer. Wir fahren zum Zug, nicht mit dem Zug. Es gibt eine Leiche in der Bahn.« Und zu Stefanie sagte er: »Sobald es möglich ist, kommen wir zurück, das mit dem Umzug kriegen wir heute bestimmt noch in die Reihe.«

Die Stimmung meiner Frau war alles anders als euphorisch. »Dann macht mal, dass ihr fortkommt.«

Ich bemerkte, wie sie mich stirnrunzelnd fixierte, als ich ihr zum Abschied einen Kuss gab. Dass sie damit meinen verwaschenen, lilafarbenen Glanzsportanzug meinte, darauf kam ich erst später.

Melanie rief mir etwas nach, was ziemlich wütend klang: »Wenn du uns heute nicht zur Party fährst, ziehe ich morgen wieder nach Ludwigshafen.«

Ohne jegliche Konfrontation mit meiner Nachbarin konnte ich in Gerhards Wagen steigen. Auch er musterte mich eindringlich.

»Willst du dich noch schnell umziehen? Oder zumindest einen Mantel drüberziehen? Die Minute hole ich wieder rein.«

»Fahr los«, entgegnete ich. »Es ist zwar Februar, aber wir haben fast zwölf Grad, da brauche ich keinen Mantel. Und bitte, keine Geschwindigkeitsrekorde brechen. Das macht die Leiche auch nicht wieder lebendig. Was ist überhaupt passiert?«

»Keine Ahnung. Ich war nur kurz auf der Dienststelle, weil ich gestern in meinem Büro das Handy liegengelassen habe. Und ausgerechnet in diesen wenigen Minuten kam der Notruf rein. Tote Person in der S-Bahn im Hauptbahnhof Schifferstadt.«

»Na ja«, entgegnete ich. »Das kann alles bedeuten. Vielleicht hat nur jemand einen Herzinfarkt bekommen. Hast du KPD informiert?«

KPD war die Abkürzung für Kriminaloberrat Klaus P. Diefenbach, seines Zeichens Dienststellenleiter unserer Kriminalinspektion. Wegen einiger Verfehlungen war er vor vier Monaten vom Präsidium in Ludwigshafen nach Schifferstadt aufs Land strafversetzt worden. Seit er das Regiment führte, hatte sich unser dienstliches Leben drastisch verändert.

»Versucht habe ich es«, meinte Gerhard. »Aber seine Frau meinte, er wäre auf einem Zigarrenkongress in Harsewinkel. Keine Ahnung, wo das liegt.«

Mein Kollege fuhr in diesem Moment auf den Bahnhofsvorplatz und ich erschrak. Nicht wegen seiner Fahrweise oder der großzügigen Absperrung und den vielen Gaffern, sondern wegen eines Reisemobils, das direkt auf dem Taxifeld stand. ›Mobile Gesundheitsberatung und Prophylaxe – Doktor Metzger‹ stand in blutroter Schrift auf der Seite. Etwas kleiner las ich ›Homöopathie nach Art des Hauses‹.

Gerhard parkte direkt vor Metzgers Wagen und meinte: »Dieser Not-Notarzt riecht seine Opfer meilenweit. Wie schafft er es nur, immer als Erstes vor Ort zu sein?«

Ich wusste, dass der Doktor, der seine Kassenzulassung längst zurückgegeben hatte und nur noch in seiner Freizeit manchmal Notarztwagen fuhr, regelmäßig den Polizeifunk abhörte. Bei unserem vorletzten Abenteuer kurz vor Weihnachten erfuhren wir, dass er sich mit einer mobilen Gesundheitsberatung selbstständig gemacht hatte und die gesetzlichen Regelungen recht individuell auslegte. Solange es Metzger gab, würde ich mir in seinem Einzugsgebiet keinen Organspenderausweis zulegen.

Ich schlüpfte unter dem Absperrband hindurch, während mein Kollege, der regelmäßig Marathon lief, lässig und ohne Anlauf oben drübersprang. Auf Gleis 1, direkt neben dem Hauptgebäude des Bahnhofs, stand eine rote S-Bahn in Fahrtrichtung Ludwigshafen. Am Ende des Zuges herrschte ziemlicher Trubel. Ein weiterer Wegweiser für uns war der Zinksarg, der an dieser Stelle auf dem Bahnsteig stand. Just als wir auf der Höhe der hintersten Tür der Bahn angelangt waren, kam er heraus. Nein, nicht mein Lieblingsfeind Staatsanwalt Borgia, der mich stets zu provozieren wusste, sondern Doktor Matthias Metzger. Wie immer trug er einen schmutziggrauen Arztkittel, aus dessen Seitentasche eine angegammelte Bananenschale herausspitzelte. Seine langen feuerroten und zum Mittelscheitel gekämmten Haare wehten in ihrer fettigen Substanz wirr um seinen Hinterkopf. Zusammen mit seinem nervösen Tic, ein zuckender Mundwinkel, wirkte er wie Klaus Kinski des 21. Jahrhunderts. Sein bellendes, abgehacktes Lachen ließ mich an der Evolutionstheorie zweifeln. Sein Blick wanderte langsam von meinem Kopf zu meinen Füßen.

»Alaaf, Herr Palzki, willkommen im Narrenzug. Sie haben ja bereits die passende Kleidung an. Setzen Sie sich besser eine Pappnase auf, drinnen riecht es etwas streng.« Er zeigte auf das Innere des Zuges und verfiel wieder in sein unmenschliches Lachen.

»In dieser Region sagt man Ahoi, Herr Dr. Metzger«, klärte ich ihn auf. »Hat der oder die Tote noch unter den Lebenden geweilt, als Sie am Tatort ankamen?«

Metzger stutzte. »Ich bitte Sie, ich bin nicht Gevatter Tod! Das Geschäft boomt, die meisten meiner Kunden empfehlen mich weiter. Vor allem die, die es noch können.« Wieder musste ich mir sein Gelächter anhören.

»Ich kann Sie und Ihren Kollegen beruhigen, Herr Palzki. Der Kerl war mausetot, als ich ankam. Teuflisch, teuflisch, kann ich da nur sagen. Kommen Sie rein, schauen Sie selbst.«

Er trat beiseite und Gerhard und ich betraten die S-Bahn. Es stank bestialisch, Metzger hatte nicht zu viel versprochen. Der Tote saß gleich auf der ersten Vierersitzgruppe. Ich schätzte ihn auf Mitte 60, ein Altersrentner am Beginn seines Return on Investment. Egal, wie viel er in die Rentenkasse eingezahlt haben mag, es war für ihn umsonst gewesen. Seine seriöse Erscheinung, er trug einen Anzug mit gedeckter Krawatte und eine sicherlich wertvolle Brille, wurde durch ein Objekt empfindlich gestört: In seiner Brust steckte ein Dreizack.

»Tag, die Herren«, sprach uns eine fremde uniformierte Kollegin an. »Grün, Donna, ist mein Name, ich bin von der Bundespolizei. In welcher Funktion sind Sie anwesend?« Sie musterte naserümpfend meine Bekleidung.

Beinahe hätte ich die Dame mit dem österlichen Namen gefragt, wo sie ihren Kollegen Karl Frei gelassen hatte, doch ich wollte der Dame von der Bundespolizei, wie der Bundesgrenzschutz neuerdings hieß, nicht wegen ihres Namens zu nahe treten.

»Kriminalpolizei Schifferstadt. Mein Kollege Steinbeißer –«, ich zeigte auf Gerhard, »und ich bin Kriminalhauptkommissar Reiner Palzki. Können Sie mir Näheres berichten? Warum ist der Tote bekleidet? Ich dachte, die erste Leichenschau wurde längst durchgeführt?«

Dr. Metzger drängelte sich von hinten in die Unterhaltung. »Ich bitte Sie, Palzki, warum soll ich den Kerl ausziehen? Auch wenn es eine noch so wichtige Vorschrift ist, der Kerl ist tot. Erstochen, mit diesem Dreizack, das sieht ein Blinder. Da brauch ich nicht zu schauen, ob er seine Pockenimpfung erhalten oder eingewachsene Zehennägel hat.«

So kam ich nicht weiter, ich wandte mich mit einem erneuten Versuch an die Frau mit dem vorösterlichen Namen. »Gibt es Zeugen? Warum stinkt es so erbärmlich nach faulen Eiern?«

Frau Grün deutete auf einen Fleck und winzige Glasscherben unterhalb der Sitzbank, auf der der Tote saß. »Die letzte Frage kann ich Ihnen sofort beantworten. Da unten liegt eine Stinkbombe.«

»Schülerstreich?«

»Mit tödlichem Ausgang?« Die Beamtin schüttelte energisch den Kopf. »Allerdings kennen wir seinen Beruf noch nicht. Aber selbst wenn er Lehrer war, dürfte der Dreizack eher nicht auf einen Schülerstreich schließen lassen.«

»Das habe ich auch nicht gemeint«, rechtfertigte ich mich. »Das eine kann von dem anderen unabhängig sein.«

Metzger setzte sich neben die Leiche und zog eine weit über das Mindesthaltbarkeitsdatum gereifte Banane aus seinem Kittel, schälte sie, biss hinein und begann schmatzend zu reden.

»Palzki, Sie müssen die Symbolik verstehen. Schauen Sie sich die Waffe einmal genauer an.«

Angewidert wandte ich mich von Metzger in Richtung Leiche, was genauso unangenehm war. Das Blut, welches aus den Wunden bis auf die Hose gelaufen war, war noch frisch. Der Dreizack bestand aus einer gabelförmigen Spitze mit drei Schneiden unterschiedlicher Länge. Am anderen Ende war ein etwa 50 Zentimeter langer hölzerner Stab befestigt.

Dem Notarzt dauerte meine Untersuchung zu lange. »Der Dreizack ist rot und schwarz. Er soll ein Werkzeug des Teufels symbolisieren.«

»Teufel?«, fragte ich fassungslos und mir fiel die Weckaktion meiner Kinder ein.

»Ja, Teufel. Und der Sage nach stinkt es wie die Hölle, wenn der Teufel persönlich anwesend war.«

Ich blickte nach unten zur zerbrochenen Stinkbombe.

»Sie meinen –«

Metzger nickte.

Frau Grün zeigte auf den Dreizack. »Das Gerät ist eine selbstgebaute Sonderanfertigung. Oberflächlich betrachtet wirkt es wie ein billiger Fastnachtsartikel aus Plastik, in Wirklichkeit sind die Schneiden messerscharf. Und zusätzlich sind sie beweglich gelagert. Das heißt, wenn eine oder mehrere Schneiden beim Zustechen auf eine Rippe stoßen, rutschen sie ab und das Ergebnis sehen Sie ja.«

»Alle drei Stiche waren höchstwahrscheinlich jeweils für sich allein gesehen tödlich«, ergänzte Metzger.

»Wir haben noch etwas herausgefunden, das für die These dieses angeblichen Arztes spricht«, meinte die Bundesbeamtin mit einem höchst herablassenden Blick auf den Doktor. »Der Mann hieß Willibald Teufelsreute.«

 

2
Teuflische Stimmung

 

Gerhard hatte sich in den letzten Minuten im Fahrgastraum umgesehen. »Hat das niemand mitgekriegt?«, fragte er. »Das ist hier ja alles offen, wie auf einem freien Platz. Da müssen doch mehr als zwei Personen in dem Abteil gewesen sein.«

Donna Grün nickte. »Samstag vormittags sind die S-Bahnen meist gut gefüllt. Eine Idee, wie das passieren konnte, haben wir bisher nicht. Ein Kollege meinte, dass es direkt am Bahnhof passiert sein könnte. Während Leute ausgestiegen sind, könnte der Mörder schnell zugestochen und sich dann unter die aussteigenden Menschen gemischt haben. Diese These finde ich allerdings sehr gewagt.«

Während Gerhard ein paar Notizen machte, hakte ich nach. »Wann wurde der Tote gefunden?«

»Direkt hier am Bahnhof während des planmäßigen Halts. Die Frau, die die Sache entdeckte, sitzt mit einem leichten Schock in der Bahnhofskneipe.«

Metzger schluckte das letzte Stück Banane runter. »Mit der können Sie ruhig plaudern, Palzki. Die sah sehr robust aus. Außerdem gibt es medizinisch gesehen keinen leichten Schock, das sind alles Simulanten, die sich nicht im Griff haben. Ich bekomme ja auch keinen Schock, wenn’s mal bei einer Operation nicht so läuft, wie es soll.«

Ich ersparte mir, seinen Redebeitrag zu kommentieren. Frau Grün schüttelte den Kopf, wahrscheinlich fragte sie sich gerade, warum der Notarzt frei herumlaufen durfte. »Ein paar der Fahrgäste, die in Schifferstadt ausgestiegen sind, haben wir abfangen können. Die Betroffenen, die in diesem Abteil saßen, sitzen ebenfalls in der Kneipe und werden zurzeit vernommen.«

»Von wem?«, wollte ich wissen und spielte damit auf das ewige Zuständigkeitsgerangel zwischen Kripo und Bundespolizei an.

»Von uns natürlich«, meinte sie. »Unsere Beamten vom Neustadter Revier waren schneller vor Ort als Sie und Ihr Kollege aus Schifferstadt.«

»Na, na«, entgegnete ich. »Wir von der Kripo haben noch ein paar andere Aufgaben, als uns um S-Bahnen zu kümmern. Aber lassen wir das. Wo sind die Fahrgäste, die noch weiterfahren wollen?«

Sie zeigte mit ihrem Daumen in Richtung Bahnhofsgebäude. »Für die gilt das Gleiche wie für die anderen. Nur, dass diese Leute demnächst mit einem Ersatzbus abgeholt werden, wenn die S-Bahn länger blockiert sein sollte.«

»Worauf Sie sich verlassen können. Bis jetzt wurde ja nicht einmal die Leiche abtransportiert. So wie es aussieht, scheint wenigstens die Spurensicherung fertig zu sein.«

Metzger, der immer noch neben der Leiche saß, antwortete für seine Verhältnisse recht kleinlaut: »Von denen habe ich noch keinen gesehen, Chef.«

Verwirrt schaute ich zu Donna Grün, doch sie winkte mürrisch ab. »Das fällt ganz klar in Ihren Aufgabenbereich, damit haben wir nichts zu tun.«

Gerhard, der in den letzten Sekunden ziemlich blass geworden war, suchte nach Worten. »Du, Reiner, das ging vorhin so schnell, als ich in der Dienststelle war, da hab ich doch glatt vergessen –«

Um die peinliche Situation zu retten, unterbrach ich ihn und befahl in einer autoritären Tonlage: »Die Spurensicherung wird jeden Moment hier sein. Vorläufig beschlagnahme ich die ganze S-Bahn. Würden Sie bitte prüfen, ob die Bahn auf ein anderes Gleis gefahren werden kann, damit wir den Fahrplan nicht weiter strapazieren müssen?«

Im Hintergrund sah ich, wie Gerhard, der ans Ende des Abteils gegangen war, leise, aber hektisch telefonierte.

»Selbstverständlich«, antwortete Frau Grün und verließ den Zug. Fast unhörbar, aber eben nur fast, murmelte sie ›komischer Laden hier‹.

»Können wir Sie eine Weile alleine lassen?«, fragte ich den Notarzt, obwohl ich die Antwort bereits kannte.

»Denken Sie, dass der Tote mich beißen wird?«, antwortete dieser. »Gehen Sie nur rüber, in der Kneipe gibt’s ein exzellentes Exportbier. Ich warte solange auf Ihre Kollegen, damit die nichts an meiner schönen Leiche kaputtmachen. Vielleicht kann man ihn ja konservieren.«

»Ich trinke nur Pils«, meinte ich und verließ mit Gerhard die Bahn.

Der Wartesaal des Hauptbahnhofes bot eine triste Erscheinung. Neben den obligatorischen Fahrplänen gab es kaum Erwähnenswertes. Karl May hätte zwar auch hierzu eine mindestens 40-seitige Beschreibung des Saales geliefert, doch so etwas konnte man in der heutigen hektischen Zeit niemandem mehr zumuten. Einige Beamte unserer Dienststelle liefen herum, und bestimmt 20 Zivilpersonen saßen und standen im Saal, die meisten wirkten verärgert. Mehrere Anwesende waren angesichts der fünften Jahreszeit mehr oder weniger aufwändig verkleidet. Mit meinem Jogginganzug passte ich gut dazu. Da sollte Stefanie noch einmal behaupten, ich könnte mich meiner Umgebung nicht anpassen. Zu unserer Überraschung kam Jutta aus der Gaststätte. Jutta Wagner, eine ganz liebe Kollegin, war normalerweise im Innendienst beschäftigt und plante und organisierte Besprechungen wie keine andere. Ohne sie würde es auf der Dienststelle ziemlich chaotisch ablaufen, wie überall in deutschen Beamtenstuben, wo Männer in der Überzahl waren. Nur gegen unseren KPD, da kam sie meist nicht an.

»Hallo, ihr beiden, da seid ihr ja endlich. In der Zentrale wurde mir gesagt, dass ich euch hier finde.«

»Und wieso bist du hier?«, fragte ich stutzig.

Sie lächelte. »Was macht man normalerweise in einem Bahnhof? Auf den Zug warten? Ich war auf dem Weg nach Ludwigshafen zum shoppen. Durch den Leichenfund hat sich das erübrigt.«

»Was?«, sagte ich überrascht. »Du wolltest genau in die Bahn steigen, die da draußen steht?«

»Mach mal halblang, junger Mann. Ich habe von der Tat nichts mitbekommen, ich bin nämlich am vorderen Ende des Zuges eingestiegen. Ich wurde bereits ungeduldig, aber nach einigen Minuten kam eine Durchsage, dass es wegen eines angeblichen Unfalls noch eine Weile dauert und wir auf keinen Fall aussteigen sollen. Das kam mir ein bisschen spanisch vor. Deshalb ging ich zum Fahrzeugführer in den Führerstand, der gerade wie wild telefonierte. Ich gab mich als Polizeibeamtin zu erkennen. Er hat mir dann von dem Toten erzählt und dass zufällig anwesende Bundespolizisten gerade dabei wären, den hinteren Zugteil zu evakuieren. Von ihm erfuhr ich auch, dass die Kripo bereits auf dem Weg sei. Zur Sicherheit rief ich selbst an und man sagte mir, dass Gerhard schon unterwegs sei. Der Fahrzeugführer ließ mich dann raus und ich habe versucht, die Fahrgäste etwas vorzusortieren.«

Ich nickte anerkennend. »Das war bestimmt eine Aufgabe nach deinem Geschmack. Kennst du bereits den Täter?«

Jutta sah mir fest in die Augen. »Auch wenn es so aussieht, das hier ist keine Agatha-Christie-Spielrunde. Wir haben keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Täter sich in diesem Gebäude aufhält.«

»Lass dich doch nicht auf den Arm nehmen«, sagte Gerhard. »Du weißt doch, wie sarkastisch Reiner sein kann. Insbesondere, wenn sein Tagesplan durcheinandergerät.«

Jutta wurde wieder sachlich. »Gefunden hat ihn eine Frau Uta Wohnhaupt. Ich habe bereits mit ihr sprechen können. Sie ist nichtsahnend in die S-Bahn gestiegen und war gerade im Begriff, sich dem Toten gegenüber zu setzen, als sie den Gestank wahrnahm und im gleichen Moment den Dreizack in seiner Brust und das Blut bemerkte. Nach ihren Angaben waren etwa sechs weitere Personen im Abteil. Ein jüngerer Mann, den wir bis jetzt noch nicht identifizieren konnten, ist nach ihrem Schrei zu ihr gegangen. Als er die Misere entdeckt hatte, ist er nach vorne gerannt. Dort hat er den Fahrzeugführer informiert, danach ist er ausgestiegen und weggelaufen.«

»Der Fahrzeugführer hat ihn nicht aufgehalten?«

»Der hat das Ganze für einen Scherz gehalten und ist zunächst selbst nach hinten gegangen, um nachzuschauen. Eigentlich müssten beide an mir vorbeigekommen sein, doch ich achtete nicht darauf, es gab ja schließlich keine Veranlassung dazu.«

Gerhard schrieb eifrig mit, was mir wie immer sehr angenehm war.

»Wie viele Personen hast du inzwischen identifiziert, die im gleichen Abteil wie das Opfer saßen?«

»Das ist sehr mühsam«, meinte Jutta. »Von denen, die ausgestiegen sind, haben wir bis jetzt keinen gefunden. Bis der Fahrzeugführer Alarm geschlagen hatte, waren die längst in alle Winde verstreut. Von den Fahrgästen, die noch im Fahrgastraum waren, sind zwei dabei, die eventuell etwas gesehen haben könnten, da sie direkt auf der Bank gegenüber saßen. Ich wollte das Pärchen gerade näher befragen, da habe ich euch durch die Kneipenscheibe entdeckt.«

»Na los, dann lass uns in die Kneipe gehen, die sollen ein gutes Pils haben.« Ich zog den Bund meiner Hose höher, da mir das Gummi unangenehm in den Bauch schnitt.

Unsere Kollegin ging voraus und auf einen runden Tisch zu, an dem ein junges Pärchen händchenhaltend saß. Sie sahen extrem skurril aus. Er war nicht älter als Anfang 20, hatte einen Bauch, für den ein Normalsterblicher mindestens 50 Jahre brauchen würde, ein Fünffachkinn und überhaupt sah alles an ihm irgendwie herausgewachsen aus. Seine fettigen, ungekämmten Haare verdeckten nur unvollständig die Tattoos mit überbreiten japanischen Schriftzeichen an seinem Hals. Neben ihm saß ein hochgewachsenes Model, das Männerherzen höher schlagen ließ. Sie sah aus, als wäre sie gerade unterwegs zu Fotoaufnahmen für den Playboy. Was hatte dieser Typ, was ich nicht hatte? War es nur Geld oder hatte er andere Qualitäten?

Während Jutta uns vorstellte, kam Dr. Metzger in die Gaststätte und bestellte an der Theke lautstark zwei Export. Eins für sich und eins für seinen Durst, wie er der Bedienung erklärte.

»Also«, begann Mister Kalorie, »mer hänn nix gsehe. Uff de anner Seid war so ähn Deifel ghockt und de Kerl, der wu do umkumme iss.«

Miss Playboy nickte und ergänzte in lupenreinem Hochdeutsch: »Wir sind in Germersheimeingestiegen und haben uns, zugegebenermaßen, mehr mit uns selbst beschäftigt als mit unserer Umgebung.« Sie lächelte vielsagend, bevor sie fortfuhr: »Der Mann nebenan ist mir aufgefallen, weil er ein Teufelskostüm trug. Ob er sich mit seinem Opfer unterhielt, kann ich Ihnen nicht sagen. Hinter uns saßen noch weitere verkleidete Fahrgäste. Tut mir leid, wir wurden erst durch den Schrei der Frau aufmerksam.«

»War der Teufel zu diesem Zeitpunkt noch im Abteil?«

Sie schüttelte ihre kunstvoll gestylten Haare und brachte mich damit fast aus dem Konzept. »Ich kann mich nicht erinnern, den Teufel zu diesem Zeitpunkt noch gesehen zu haben. Bestimmt war er bereits ausgestiegen.«

»Können Sie das Gesicht des Teufels beschreiben? War er groß, hatte er bestimmte Auffälligkeiten?«

Ihr Prolofreund mischte sich wieder ein. Warum war er mir so unsympathisch?

»Der war ganz schwarz agemolt. Hot halt ausgsehe wie ähn Deifel.« Er zuckte mit den Schultern.

»Er hatte blaue Augen«, meinte die Schöne. »Daran kann ich mich erinnern. Blaue Augen finde ich sehr sinnlich.«

Die Augenfarbe. Natürlich, daran kann sich nur eine Frau erinnern. Männer wissen im Normalfall nicht einmal, dass es verschiedene Augenfarben gibt. Ich überwand mich und schaute kurz in die braunen Augen ihres Begleiters und schöpfte im Unterbewusstsein Hoffnung.

»Herr Palzki«, rief vom Eingang her eine weibliche Stimme. Es war Donna Grün von der Bundespolizei. »Hier ist jemand, der Sie dringend sprechen will!«

Ich suchte blitzschnell nach einem Grund, um mich nicht von der Playboydame trennen zu müssen, doch Jutta hatte mich längst durchschaut und war schneller. »Geh nur, Reiner, wir kriegen das bestimmt alleine hin.«

Während ich aufstand, bemerkte ich das sabbernde Gesicht meines Kollegen. »Komm mit, Gerhard«, forderte ich ihn nicht ohne Hintergedanken auf. Mindestens mit Mordgedanken folgte er meiner Aufforderung.

»Das ist Herr Münzighofer, der erste Beigeordnete der Stadt Schifferstadt«, stellte Frau Grün mir einen seriös aussehenden Mann im besten Alter vor. Dieser begutachtete mit faltiger Stirn meine Bekleidung, bevor er mich ansprach: »Guten Tag, Herr Palzki. Frau Grün hat mich ja vorgestellt. Eigentlich müsste ich im Moment auf einer Veranstaltung eine bedeutsame Rede halten, aber das hier ist mir wichtiger. Sie scheinen ja ebenfalls gerade auf einer Fastnachtsveranstaltung gewesen zu sein. Na ja, in unserem Job kann man sich die Arbeitszeit nicht immer aussuchen.«

Oha, offensichtlich jemand, der sich wichtig machen will. Kurz angebunden fragte ich ihn: »Ja, bitte?«

»Ich muss dringend mit Ihnen über die Sicherheitsaspekte des Bahnhofumfeldes reden.«

»Hat das nicht Zeit bis nächste Woche?«, entgegnete ich und bemühte mich dabei, möglichst genervt zu klingen. »Da gibt es bestimmt Ausschüsse und Unterausschüsse und so Sachen.«

»Sie verstehen nicht, Herr Palzki. Es geht um ein bestehendes Konzept.«

»Na, dann ist ja alles bestens, Herr, äh, Herr Münzighofer. Wo liegt das Problem? Der Hauptbahnhof in Schifferstadt ist sowieso kein sozialer Brennpunkt. Mehr als zwei oder drei Schwerverletzte gab es im Monat noch nie.«

»Sie haben recht, die Kriminalitätsrate ist stark gesunken, seit wir die Kameras installiert haben.«

»Sie haben hier eine Videoüberwachung? Wieso weiß ich davon nichts?«

Münzighofer druckste herum. »Ja, das ist so –« Er schaute zu Boden. »Die Kameras sind noch nicht genehmigt, wir haben das im Stadtrat in nichtöffentlicher Sitzung als Probelauf deklariert.«

»Na, das ist doch mal eine tolle Information. Selbstverständlich beschlagnahme ich sofort alle Aufnahmen, das kann unsere Arbeit sehr erleichtern. Werden die Videos zentral gespeichert?«

»Das schon. Aber verstehen Sie mich richtig, Herr Palzki. Ich darf Ihnen die Daten nicht geben. Der Datenschutzbeauftragte der Stadt Schifferstadt würde mir die Hölle heißmachen. Es gibt die klare Regel, dass die Aufnahmen bis zu einer endgültigen Genehmigung der Videoüberwachung keineswegs verwendet werden dürfen.«

Ich glaubte, nicht richtig zu hören. »Sagen Sie mal, wissen Sie, was Sie da sagen? Hier geht es um Mord, nicht um das Persönlichkeitsrecht von ein paar zufällig auf den Aufnahmen befindlichen Personen. Ich muss den Teufel finden, außerdem habe ich keine Lust, die Waschmaschine wieder nach Ludwigshafen zu fahren, Herr Münzighofer!«

Während Gerhard lachte, stand der Beigeordnete mit offenem Mund da und war sprachlos. Teufel und Waschmaschine waren für ihn böhmische Dörfer. Eine gute Gelegenheit, mich zu verabschieden. Ein kurzes Nicken musste reichen.

Ich bat Frau Grün, sich um die Videoaufnahmen zu kümmern. »Die Bundespolizei macht doch alles rund um den Bahnhof, wenn ich mich recht erinnere?« Beleidigt zog auch sie ab. Ich war heute mal wieder so ein richtiger Menschenfreund.

 

3
Bahnhofsgeschichten

 

Unschlüssig stand ich da und überlegte mir die nächsten Schritte. Am Rande hatte ich mitbekommen, dass einige meiner Kollegen aus ihrem Wochenende in den Dienst gerufen worden waren und sich um die ganzen Leute kümmerten. Alle Fahrgäste, deren wir noch habhaft werden konnten, mussten ihre Personalien angeben. Ich hatte keine Lust, bei dem Protokollieren mitzumischen. Gerhard stand neben mir und schaute mich an. Er hatte bestimmt ähnliche Gedanken. Jutta kam auf uns zu.

»Jungs«, so sprach sie uns in letzter Zeit öfters an, »ich denke, ihr könnt schon mal ins Büro fahren. Ich organisiere schnell den Rest, dann komme ich nach.« Sie bemerkte meinen flüchtigen Blick auf die Armbanduhr. »Ich weiß, Reiner, der Samstag ist so gut wie gelaufen. Aber wenn nicht noch etwas Dramatisches passiert, können wir unsere Teambesprechung kurz halten. Das Aufnehmen und Sondieren der ganzen Protokolle können wir getrost den Kollegen überlassen. Übrigens hat mich eben eine Frau Grün angesprochen. Die Festplatte der Videoüberwachung will sie später im Waldspitzweg in der Inspektion vorbeibringen. Den Laden muss sie sich unbedingt von Innen anschauen, meinte sie. Wisst ihr, was sie damit meinte?«

Ohne uns abzusprechen, starrten Gerhard und ich in die Luft und taten so, als hätten wir die Frage nicht gehört.

Jutta verstand. »Habt ihr mal wieder eine Kollegin traumatisiert? Na ja, mir soll’s egal sein. Bis später.«

»Was machen wir mit den Kinderzimmern?«, fragte ich Gerhard, als wir im Auto saßen.

»Keine Panik, Reiner. Das erledigen wir morgen. Ist zwar ein Sonntag, aber der Umzug macht ja keinen großen Lärm.«

»So ein Mist«, fluchte ich. »Am Montag gehen meine Kinder zum ersten Mal in Schifferstadt zur Schule. Und ausgerechnet jetzt muss ein Teufel verrückt spielen. Warum hat er nicht in Mannheim zugestochen? Dann wären andere Beamte zuständig.«

»Mach dir da drüber mal keine Gedanken. Ich habe ein wichtiges Indiz dafür, dass es sich um keine große Sache handelt. Du wirst sehen, auf den Videoaufnahmen erkennen wir, wie der Teufel auf dem Parkplatz in einen Personenwagen einsteigt. Bis morgen haben wir ihn geschnappt.«

»Wieso bist du dir so sicher?«, fragte ich verwirrt. »Welches Indiz meinst du überhaupt?«

Gerhard lachte. »Becker. Dietmar Becker. Oder hast du den Studenten heute schon gesehen?«

Stimmt, mein Freund hatte recht. Dieser Student der Archäologie stolperte mir in meinen letzten Fällen ständig über den Weg. Anfangs hatte er sich selbst verdächtig gemacht, bis er mir sagte, dass er neben seinem Studium als Journalist für Zeitungen arbeitet und davon träumt, einen Krimi zu schreiben. Nun gut, fünf Stück hatte er inzwischen geschafft und eine stattliche Anzahl von Kurzkrimis in Zeitungen veröffentlicht. Mein Verhältnis zu Becker muss als seltsam bezeichnet werden. Durch seine Journalistentätigkeit hatte er mir das eine oder andere Mal tatsächlich wichtige Informationen besorgen können. Selbstverständlich nur zufälligerweise. Aber da ich kein Unmensch war, hatte ich ihm als kleine Gegenleistung, was aber um Himmels willen niemand erfahren durfte, einige Hintergrundinformationen zu den tatsächlichen Fällen gegeben. Den Studenten mochte ich wegen seiner ehrlichen und offenen Art. Seine Krimis mochte ich weniger, weil er den ermittelnden Kommissar immer etwas chaotisch und skurril beschrieb, was so nie in der Realität funktionieren würde. Zum Glück lebte ich selbst in der Realität, denn wenn ich nur eine Becker’sche Romanfigur wäre, hätte ich keine solchen Freiheiten, die ich nur allzu gerne genoss.

»Stimmt. Es wurde jemand ermordet und Becker war nicht da. Vielleicht ist er krank? Was meinst du, soll ich ihn anrufen?«

»Bloß nicht. Es reicht, wenn du ihm bei Gelegenheit über die Tat berichtest, dann kann er von mir aus eine Kurzgeschichte über die Sache schreiben.«

Keine fünf Minuten später waren wir in unserer Dienststelle angekommen. Vorteilhaft war, dass am Wochenende nur wenige Kollegen anwesend waren, die mich allesamt, als sie mich sahen, mit einem ›Ahoi‹ begrüßten. Im Besprechungsraum angekommen, stellte Gerhard als Erstes eine Kanne Kaffee, seinen berüchtigten Sekundentod, auf. Ungeübte hatten faktisch nur dann eine Überlebenschance, wenn sie den Sekundentod mindestens im Verhältnis 1:20 mit Milch verdünnten. Gerhard und Jutta tranken ihn am liebsten schwarz.

Jürgen, unser Jungkollege, kam herein. »Servus, ihr beiden und ahoi, Reiner. Jutta hat mich angerufen. Ich habe alles nach ihren Wünschen vorbereitet. Die Videoaufnahmen sind gerade angekommen. Die Beamtin, die die Festplatte gebracht hat, fragte mich allen Ernstes, ob wir eine Auffangdienststelle für auffällig gewordene Polizisten wären.«

»Und, was hast du geantwortet?«, fragte ich gelangweilt.

»Nicht viel. Nur, dass wir im Guinness Buch der Rekorde stehen als die Dienststelle mit dem höchsten Vorstrafenregister und wir im letzten Jahr den inoffiziellen Oscar für den höchsten Drogenverbrauch erhalten haben, noch vor dem BKA.«

»Gut gemacht, Jürgen«, lobte Gerhard, während er lachte. »So langsam entwickelst du dich zu einem richtigen Beamten.«

Auf einem Tisch hatte Jürgen das Gerät mit den Videoaufzeichnungen gestellt und mit unserem Beamer verkabelt, der an der Decke hing. Die Leinwand war bereits heruntergezogen. Um die Wartezeit zu überbrücken, ging ich zu unserem Getränkeautomaten im Keller. An die Heißgetränke traute ich mich seit Anfang an nicht. Das mit Dutzenden von Tasten übersäte Bedienfeld überforderte mich. Doch auch mit dem Kaltgetränkeautomaten hatte ich so meine schlechten Erfahrungen. Aus diversen Gründen, meist steckten Kollegen dahinter, polterte fast immer statt einer kühlenden Cola eine eklig schmeckende Diätlimonade in den Ausgabeschacht. Doch ich war nicht lernresistent. Ich schaute kurz aus dem Raum, ob die Luft rein war, zog hämisch grinsend einen Spezialschlüssel aus meiner Hosentasche und öffnete den Automaten. Ich griff mir ruckzuck eine Cola aus dem Depot. Auf die gesicherte Kasse, die sich im Innern des Automaten befand, legte ich ein 50 Cent Stück. Der Automatenbefüller würde sich in den nächsten Tagen sehr wundern. Stolz ging ich mit meiner Cola in den Besprechungsraum. Jürgen starrte die Flasche in meiner Hand an und meinte »das gibt’s ja nicht«, und verschwand. Zwei Minuten später kam er mit nach unten gezogenen Mundwinkeln zurück.