Gerhard Loibelsberger

Reigen des Todes

Historischer Roman

Zum Buch

DIE SPUR DES TODESENGELS Wien 1908. Ein Obdachloser findet am Ufer des Donaukanals einen abgetrennten Unterarm. Er bringt ihn dem Gerichtsredakteur Leo Goldblatt und tischt ihm gegen ein kleines Honorar die unglaubliche Geschichte vom Kannibalismus unter Wiens Obdachlosen auf. Goldblatt wittert die große Story. Doch nicht nur diese mysteriöse Angelegenheit schlägt dem Inspector und ausgewiesenen Gourmet Joseph Maria Nechyba gewaltig auf den Magen, sondern auch die Suche nach dem seit Tagen vermissten Oberstleutnant Vestenbrugg. Bewegung kommt erst in den Fall, als bei einer Großrazzia im Wiener Kanalsystem Vestenbruggs abgeschnittener Kopf auftaucht und sich herausstellt, dass er eine junge Geliebte hatte: Steffi Moravec, deren amouröse Fähigkeiten auch andere Herren der Wiener Gesellschaft sehr zu schätzen scheinen …

Gerhard Loibelsberger wurde 1957 in Wien geboren. 2009 startete er mit den »Naschmarkt-Morden« eine Serie von historischen Kriminalromanen rund um den schwergewichtigen Inspector Joseph Maria Nechyba. Den »Naschmarkt-Morden« folgten 2010 der »Reigen des Todes« sowie 2011 »Mord und Brand«. 2012 folgten »Nechybas Wien – 33 Lieblingsspaziergänge und 11 Genusstipps« sowie Loibelsbergers erster Venedig-Krimi »Quadriga«. 2013 kam der 4. Band der Nechyba-Serie »Todeswalzer«. 2014 wurden der Kurzgeschichtenband »Kaiser, Kraut und Kiberer« sowie die Anthologie »Wiener Seele« veröffentlicht, bei der er als Herausgeber fungierte. 2014 erschien die CD »Loibelsbergers Kriminelles Wien – 18 Mördersongs«. 2010 Nominierung für den Leo-Perutz-Preis der Stadt Wien. 2016 wurde »Der Henker von Wien« mit dem goldenen HOMER Literaturpreis ausgezeichnet.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Der Henker von Wien (2015)

Wiener Seele (2014)

Kaiser, Kraut und Kiberer (2014)

Todeswalzer (2013)

Quadriga (2012)

Nechybas Wien (2012)

Mord und Brand (2011)

Die Naschmarkt-Morde (2009)

Impressum

Immer informiert

Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie

regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.

Gefällt mir!

 

Facebook: @Gmeiner.Verlag

Instagram: @gmeinerverlag

Twitter: @GmeinerVerlag

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

5. Auflage 2017

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung des Bildes »Beethovenfries« von Gustav Klimt /
zeno.org

ISBN 978-3-8392-3498-3

Widmung

Für meine Lebensgefährtin Lisa und für meinen Hund Jester, der mir auf meinen Spaziergängen durch Wien ein treuer Wegbegleiter ist.

Verzeichnis der historischen Personen

Oberst Hugo Daler (1859 – 1922): Kommandant des k.u.k. Infanterieregimentes Hoch- und Deutschmeister N° 4.

Franz Josef I. (1830 – 1916): Kaiser von Österreich, König von Ungarn.

Sigmund Freud (1856 – 1939): Arzt und Neurologe. Begründer der Psychoanalyse.

Ferdinand Gorup von Besanez (1855 – 1928): Zentral­inspector der Wiener Sicherheitswache, ab Juli 1908 stellvertretender Polizeipräsident.

Marie Sidonie Heimel-Purschke (1853 – 1928): Schriftstellerin.

Oskar Kokoschka (1886 – 1980): Maler, Grafiker und Dichter. Bedeutender Vertreter des Expressionismus.

Adolf Kratochwilla (1860 – 1938): Besitzer des Café Sperl.

Karl Lueger (1844 – 1910): Wiener Bürgermeister.

Alfred Fürst Montenuovo (1854 – 1926): Obersthofmeister.

Johann Schwarzer (1880 – 1914): Fotograf, Kameramann und Filmproduzent. Gründete Österreichs erste Filmproduktion, die Saturn-Films.

Leopold Tomola (1862 – 1926): Bürgerschuldirektor, Wiener Gemeinderat, Obmann des Subkomitees Kinderhuldigung.

Februar/März 1908
 

»Dieses Buch ist den Elenden gewidmet, den Verdammten der Gesellschaft, den Lumpen von Schicksals Gnaden.«

Aus Emil Klägers Durch die Wiener Quartiere des Elends und Verbrechens, Wien 1908.

I.

Ein steif gefrorener Finger ragte aus dem Bündel Fetzen, das unmittelbar unter der Stefaniebrücke1 lag. Der Finger zeigte flussabwärts, wo auch die grauen Fluten des Donaukanals unablässig hinstrebten. Auf der Wasseroberfläche trieb allerlei Unrat, vereinzelt waren Eisschollen dabei.

Der Rücken schmerzte. Er wälzte sich auf seinem harten Lager von einer Seite auf die andere, doch in jeder Stellung tat ihm das Kreuz weh. Er rollte sich ein wie ein Fötus und stieß dabei mit der Kniescheibe an einen Stein. Stechender Schmerz durchfuhr ihn, mit einem Schlag war er wach. Die Glieder steif vor Kälte. Lumpen, mit denen er sich zugedeckt hatte, waren während des Schlafs fortgerutscht. Seine zerschlissene Kleidung bot wenig Schutz gegen die feuchte Kälte der Februarnacht, genauso wenig wie sein Schlafgemach, ein etwa anderthalb Meter hoher, tunnelartiger Schacht, in dem sich Steinhaufen, einige Fetzen sowie drei weitere Obdachlose befanden. Nachdem an ein Einschlafen nicht mehr zu denken war, kroch Anastasius Schöberl auf allen vieren in Richtung Schachtausgang. Dabei stieß er dem Zigeuner ans Schienbein, was dieser ihm mit einem gegrunzten Fluch dankte. Schöberl stieg aus dem Schacht ins Freie, musste sich aber sofort an die Wand lehnen, so schwarz wurde ihm vor den Augen. Nach einigen Minuten verging das Schwindelgefühl und nagender Hunger begann in seinen Eingeweiden zu rumoren. Die Restsäure des Fusels, den er am Vorabend gesoffen hatte, brannte in seinem Schlund, ein Feuer, das keine Wärme spendete. Noch immer benommen vom Schlaf, taumelte er das gemauerte Flussufer des Donaukanals entlang. Dann lenkte er seine Schritte ans träge dahinfließende Wasser, knöpfte sich die Hose auf und verrichtete plätschernd seine Notdurft. Der Bogen des Urins dampfte ebenso wie sein Atem. Der weiße Hauch wurde vom eisigen Wind, der den Donaukanal entlangpfiff, verweht. Er knöpfte sich den Hosenladen zu und bemerkte ein paar Schritte weiter, am Rande des Wassers, ein Bündel Fetzen. Hatte jemand Kleidungsstücke oder vielleicht etwas Kostbares, das zur Tarnung in Lumpen gehüllt war, verloren? Schöberl wankte zu dem Bündel, hob es auf und erstarrte: Ihm ragte ein blau gefrorener Finger entgegen. Vorsichtig schob er die Tücher rund um den Finger beiseite und sah, dass es sich nicht nur um einen Finger, sondern um einen ganzen Unterarm handelte. Entsetzt unterdrückte er den ersten Impuls, das Bündel fallenzulassen. Er starrte es eine Zeit lang an. Nein, zur Polizei würde er damit nicht gehen …

Aber an eine Zeitung könnte er sich wenden; an den Redakteur Goldblatt, den er aus längst vergangenen Tagen kannte. Wenn er dem seinen Fund zeigen und ihm eine Räubersg’schicht auftischen würde, wäre vielleicht ein Lohn von ein paar Hellern möglich.

Schneeregen setzte ein und der Aufstieg zur Stefaniebrücke wurde zu einem rutschigen Abenteuer. Als er dies keuchend geschafft hatte, wankte er über die Brücke in den 1. Bezirk. Hier herrschte dichter Verkehr: Fiaker, Einspänner, Pferdefuhrwerke und hin und wieder ein knatterndes Automobil. Schöberl kämpfte immer noch mit einer Ohnmacht. Er musste höllisch aufpassen, nicht unter die Räder zu kommen. Sein Ziel waren die prachtvollen Bürgerhäuser, die im 1. Bezirk den Donaukanal säumten. Aus ihren Fenstern strahlte warmes Licht in das düstere Grau der Morgendämmerung. Wehmütig und halb wahnsinnig vor Hunger dachte Anastasius Schöberl an seine einstmalige bürgerliche Existenz als Fleischergeselle. Zwar hatte er nie in einer modernen, geräumigen Wohnung in der Innenstadt logiert, aber immerhin in einer Wohnung mit Zimmer, Küche und Kabinett in der Gumpendorfer Vorstadt. Es war ein gemütliches Zuhause; mit einem riesigen Herd in der Küche, den er abends mit Kohle fütterte und der bis in den Morgen hinein Wärme spendete. Wenn er in der Früh einige Holzscheite nachlegte, verbreitete der Herd sehr bald wieder wohlige Wärme. Außerdem konnte man dann Kaffee kochen und Wasser für die Morgentoilette wärmen. Zu herrlich duftendem Bohnenkaffee gab es immer ein dickes Stück Wurst. Schließlich war er die rechte Hand des Fleischermeisters gewesen. Ein wohlhabender Mann, dem nicht nur die Fleischhauerei, sondern das gesamte Haus gehörte. Hier hatte Schöberl auch seine Wohnung gemietet.

Als er die Brücke überquert hatte und in das Verkehrsgewühl des noch stärker befahrenen Franz Josefs Quais wankte, riss ihn das laute Fluchen eines Kutschers aus den Erinnerungen. Zum Glück blieb er erschrocken mitten am Quai stehen. Wenige Zentimeter vor seinen Zehen donnerte ein mit Baumaterial schwer beladenes Pferdefuhrwerk vorbei. Rasant näherte sich auch ein Automobil, das schrill hupte. Im letzten Augenblick sprang Schöberl auf den sicheren Gehsteig. Vor ihm befand sich ein hell beleuchteter, mit Marmor verzierter Hauseingang, dessen Tür mit kunstvollen Schmiedearbeiten verziert war. Nun stand er da – wie die Kuh vorm neuen Tor. Doch neuerlich hatte er Glück, ein elegant gekleideter Herr verließ eiligen Schrittes das Haus. Mit einem Sprung vorwärts verhinderte Schöberl das Zufallen der Tür. Klatsch­nass – durch den heftigen Schneesturm – trat er in die trockene Geborgenheit des Bürgerhauses ein. Er sah einen prunkvollen Stiegenaufgang mit breiten Treppen sowie einen aus edlem Holz und Glas gefertigten Lift und genoss die Wärme und die Gerüche, die aus den Wohnungen strömten. Mit bebenden Nasenflügeln witterte er den Duft einer morgendlichen Eierspeise sowie ein Bouquet unterschiedlicher Kaffeearomen: Bohnen-, Malz- und Zichorienkaffee. Auch der Geruch von angebrannter, auf die heiße Herdplatte übergelaufener Milch lag in der Luft.

Plötzlich hörte er, wie im Stockwerk oberhalb eine Tür aufgemacht und wieder geschlossen wurde. Eilige Schritte kamen den Gang entlang. Blitzschnell überlegte er, wo es für ihn ein Versteck gäbe. Denn eines war klar: Erwischen lassen durfte er sich in diesem Stiegenhaus nicht. Eine Verhaftung wegen Vagabundage oder gar wegen Mordes – er hatte ja noch immer den in Fetzen gehüllten Unterarm bei sich – wäre die unmittelbare Folge gewesen. In seiner Not fand er unterhalb der nach oben geschwungenen Treppe einen Hohlraum, in dem er sich verkroch. Von hier aus erhaschte er den Anblick derber Frauenschuhe sowie den Saum eines Rocks und einer weißen Schürze. Vorsichtig lugte er aus seinem Versteck und sah ein Dienstmädchen, das in einen weiten Umhang gehüllt mit weißer Haube auf dem Kopf und bauchigem Einkaufskorb in der Hand, hinaus ins Schneegestöber verschwand, den zarten Geruch von Kernseife und das würzige Aroma frisch gemahlener Kaffeebohnen im Stiegenhaus zurücklassend …

1 heute: Salztorbrücke

II.

Als Leutnant Hans Popovic auf den Kasernenhof hinaustrat, formte sein Atem eine bleiche Fahne. In der eisigen Kälte des Februarmorgens sah er, dass die Kompanie samt seinem eigenen Zug in rechteckiger Formation angetreten war. Vom Eingang des Kompaniegebäudes ging er die Stiegen hinunter, der diensthabende Unteroffizier Ladislaus Novak salutierte. Popovic dankte ihm nachlässig grüßend und beobachtete danach aus den Augenwinkeln, dass der Oberleutnant Dunzenberger und der Fähnrich Biasutti, die ihm folgten, noch viel nachlässiger grüßten, indem sie nur mit dem Kopf nickten. Wortlos bezogen die Offiziere Position bei ihren Zügen. Ladislaus Novak kommandierte mit einer gewaltigen Fahne warmen Atems vorm Gesicht »Habt Acht!« und alle warteten, dass nun die rundliche Gestalt des Kompaniekommandanten erscheinen werde. Doch wie so oft, während bereits die Befehle von den anderen Kompanien herüberhallten, war Hauptmann Korenyi ein bisserl unpünktlich. Und so standen die Soldaten der 2. Kompanie reglos in der Kälte und verfolgten, wie eine blutrote Sonne Stück für Stück hinter der Kaserne den eisgrauen Himmel emporkroch.

Er, Leutnant Hans Popovic, hatte für das Naturschauspiel keinen Kopf. Denn der seine schmerzte, und er kämpfte einen tapferen Kampf mit seinem Kreislauf, der ihm den Dienst versagen wollte. Die blödsinnige Sauferei gestern Abend … War ja ganz lustig gewesen mit dem Hauptmann, dem Dunzenberger, dem Oblak und dem Biasutti. Vor allem die Mädel, die sie in dem Prater-Etablissement auf ihren Schößen sitzen gehabt hatten. Alle Achtung! Fesche junge Dienstmädel. Solche, die bei ihren gnädigen Frauen daheim richtig hart anpacken und den ganzen Tag treppauf, treppab rennen mussten, und die deshalb so stramme Waden und Schenkeln hatten. Alle Achtung! Nur das viele Saufen, das hätte nicht sein müssen. Während von den anderen Kompanien die Standeskontrollen zu hören waren, war der Korenyi noch immer nicht erschienen. Hoffentlich war ihm nix passiert. So angesoffen wie der war, konnte der glatt aus dem Bett gefallen sein und sich das Genick gebrochen haben. Oder vielleicht war er im Schlaf am eigenen Erbrochenen erstickt? Der Korenyi war ein echter Ungar. Der soff Schnaps so wie andere Wasser. Das Schnapssaufen war auch der Grund für Popovics Malaise.

Als g’standener Wiener trank er lieber Bier oder Wein. Bier vor allem im Sommer, wenn es heiß war. Aber wenn sie mit dem Hauptmann ausgingen, wurde immer Schnaps getrunken. So lange, bis der Korenyi umfiel. Und als ihm gerade das durch den Kopf ging, erschien der Hauptmann. Leichten Fußes tänzelte er die Stiege hinunter und die Standeskontrolle konnte endlich beginnen.

Später, als sich die Soldaten der 2. Kompanie des k.u.k. Infanterieregiments N° 4 für das vormittägliche Exerzieren auf der Wasserwiese im Prater fertig machten, tranken die Offiziere in der Kompaniekanzlei noch schnell einen türkischen Mokka. Ein Usus, den Korenyi vor Jahren eingeführt hatte. Der Türkische wurde während der Standeskontrolle von Korenyis Burschen gekocht, sodass die Herren, nachdem sie aus der Kälte in die wohlig warme Kanzleistube getreten waren, dampfend heißen Kaffee schlürfen konnten. Heute war Popovic dem Korenyi dafür dankbarer als je zuvor. Der Türkische wärmte und brachte seinen Kreislauf auf Trab. Als er aus dem Reich der Halbtoten wieder hinüber zu den Lebenden gewechselt war, betrat eine Ordonnanz des Regimentskommandanten die Kanzlei. Der Fähnrich begrüßte die Anwesenden mit einem »Na, sind wir schon so früh bei einem Kaffeeplausch, meine Herren? Wünsche einen schönen guten Morgen!«

Korenyi, der auf Unverschämtheiten äußerst sensibel reagierte, maß die Ordonnanz vom Scheitel bis zur Sohle und sagte leise, ohne dabei die Kaffeeschale wegzustellen: »Herr Fähnrich! Bevor du kecke Bemerkungen machst, solltest du lieber einmal grüßen lernen …«

Der Fähnrich nahm Haltung an, salutierte und machte Meldung. »Herr Hauptmann soll sich umgehend in das Regimentskommando begeben. Befehl von Oberst Daler.«

Korenyi murmelte »Da schau her« sowie ein leises »Abtreten«, worauf die Ordonnanz salutierte und den Raum verließ. »Meine Herren, ihr habt gehört, ich muss zum Alten. Also: Dunzenberger, Oblak und Popovic, ihr macht’s mit unseren Leuten das ganz normale Exerzieren. Keine Gewalttouren, keine Extrawürste. Dazu ist es heute ein bisserl zu kalt. Biasutti, du bleibst herinnen und kümmerst dich um die Kanzlei. Hoffe, dass ich jetzt nicht stundenlang beim Alten sitzen muss … Eine mühselige Lagebesprechung würde mir heut gar nicht konvenieren. Meine Herren, gemmas an!« Damit verließen die Offiziere die Kanzlei und ein ganz normaler Vormittag nahm seinen Lauf.

Zu Mittag, zurück in der Kaserne, erfuhren Popovic, Oblak und Dunzenberger von Korenyi folgende Neuigkeit: Der Kommandant des ersten Bataillons, Oberstleutnant Vestenbrugg, war heute nicht zum Dienst erschienen. So wie es aussah, hatte er die Nacht auch nicht in seinem Zimmer in der Kaserne verbracht. Das Regimentskommando war beunruhigt und hatte eine Suche nach Vestenbrugg eingeleitet. Beim Mittagessen im Offizierskasino war das Verschwinden des Oberstleutnants das alles beherrschende Thema. Nach dem Essen nahm Popovic gemeinsam mit Dunzenberger und Korenyi im Rauchsalon einen Kaffee. Da kam sein Bursche und überbrachte ihm einen Brief mit der Bemerkung: »Wurde für Sie von einem Mädel beim Torposten abgegeben, Herr Leutnant.«

»Popovic, hast ein Gspusi, von dem wir nichts wissen?«, lachte Dunzenberger. »Willst uns den Brief nicht vorlesen? Vielleicht gar von dem Dienstmädel, das du gestern Nacht in den Büschen im Prater glücklich gemacht hast … wobei ich es für unwahrscheinlich halte, dass so eine überhaupt schreiben kann …«

»Komm, Popovic, spann uns nicht auf die Folter und lies vor!«, raunzte Korenyi in einem freundschaftlichen, aber doch befehlenden Tonfall. Der Leutnant brach das Siegel auf, faltete den Brief auseinander und las – etwas konsterniert – den anderen vor:

Lieber Hansi!

Verzeih, dass ich mich aus heiterem Himmel nach so vielen Jahren bei Dir melde. Bin in einer schrecklichen Notsituation und weiß nicht aus noch ein. Bitte hilf mir! Heute! Bitte!

Deine dankbare Steffi Moravec

Popovic ließ den Brief sinken, sah seine Kameraden verblüfft an und brummte: »Die Steffi. Na so was …«

Dunzenberger nahm ihm den Brief aus der Hand, prüfte dessen Papierqualität, roch daran und bemerkte fachmännisch: »Handgeschöpftes Büttenpapier, ordentliche Qualität. Zartes Rosenparfum, passable Handschrift. Sag, Popovic, hast gar mit einer verheirateten Frau ein Pantscherl?«

»Blödsinn!«, knurrte dieser. »Die Steffi ist eine Jugendfreundin von mir. Außerdem kennst sie ja eh. Die war doch eine Zeit lang Sitzkassierin im Café Sperl.«

»Ah, die fesche Kleine mit dem Riesenbusen«, mischte sich Korenyi ein, »an die erinnere ich mich gut. Die würde ich nicht von der Bettkante stoßen. Geh, zeig mir einmal das Brieferl, Popovic.« Aufmerksam studierte der Hauptmann den Brief.

Popovic trank inzwischen seinen Kaffee aus, tötete seinen Zigarillo ab, stand auf und nahm Haltung an. »Herr Hauptmann, darf ich dich für heut Nachmittag und die kommende Nacht um eine Beurlaubung bitten?«

Korenyi knabberte nachdenklich an seiner Zigarre, blies den Rauch weit von sich, sah Popovic grinsend an und sagte schließlich: »Willst zu dem Mädel, gell? Na dann fahr ab, du Schweinkerl!«

III.

Laut Völker, laut, zu höchst erhabnen Ruhme,

Auf dass es alle hören, vom Kleinkind bis zur Muhme.

Sind sechzig Jahre doch nun hingefloh’n,

seit Franz Josef kam auf Habsburgs Thron.

Drum schmettert heut zum Himmelsdom empor

Gleich Lerchentrillern euren Jubelchor.

Und jeder bittend fromm die Hände falte:

Heil Dir, Franz Josef, dass Dich Gott erhalte!

»Was für ein gestelzter Unsinn! Eine Aneinanderreihung hohler Phrasen, die diese völlig unbegabte Blödistin zu holprigen Versen und gezwungenen Reimen zusammengeschustert hat«, murmelte Nikolaus Graf Collredi in seinen ausufernden Backenbart. Es schüttelte ihn vor Widerwillen. Seufzend trat er an ein Fenster seines Arbeitszimmers und starrte in das undefinierbare Grau des Wintertages hinaus. Dieses Weib hat wirklich keinen Geschmack und leider auch keine solide Bildung! Hätte sie doch nur in der Jugend ihren Ovid und Vergil ordentlich studiert! Dann müsste er, Markgraf Nikolaus Collredi, sich jetzt nicht mit diesem ›dichterischen‹ Machwerk herumschlagen. Immer wurden ihm die unangenehmsten Aufgaben bei Hof übertragen. Nun ja, er war halt einer der wenigen Freunde des Obersthofmeisters Fürst Montenuovo. Diesem Umstand verdankte er es, dass er in Bälde den Wiener Gemeinderat Leopold Tomola – wie kann man nur Tomola heißen? – empfangen würde. Gemeinsam mit diesem unbegabten Frauenzimmer – wie war ihr Name? Ach ja. Marie Sidonie Heimel-Purschke. Da Montenuovo offensichtlich keine Lust hatte, den beiden persönlich seine Unzufriedenheit mitzuteilen, hatte er diese Aufgabe seinem Freund Collredi übertragen. Und zwar ganz nebenbei, im Vorübergehen. »Geh Collredi, mein Lieber! Sei so gut und rede einmal mit den Leuten, die für das Festspiel bei der Kinderhuldigung zum sechzigsten Regierungsjubiläum Seiner Majestät zuständig sind. Weißt eh, mit dem verantwortlichen Wiener Gemeinderat und mit der sogenannten Dichterin. Sag ihnen, dass das Ganze leider unter dem Niveau eines der deutschen Dichtung kundigen Menschen ist. Leider haben wir nichts Besseres im Moment. Deshalb müssen wir diesen … diesen … diesen Ballawatsch trotzdem vor Seiner Majestät aufführen. Aber eines werden wir auf gar keinen Fall akzeptieren: Diesen unsäglichen Beginn! Hör dir das einmal an: Laut Völker, laut, zu höchst erhabnen Ruhme, auf dass es alle hören, vom Kleinkind bis zur Muhme … Nein, nein und nochmals nein! Wenn er schon den restlichen Blödsinn über sich wird ergehen lassen müssen, das werden wir den Ohren Seiner Allerhöchsten Majestät ersparen … Der Beginn wird geändert!«

Und so kam es, dass Collredi heute um halb zwei Uhr Nachmittag eine Unterredung mit dem Gemeinderat und der Dichterin angesetzt hatte. Da er ein Frühaufsteher war, mühte er sich nun schon seit Stunden mit diesen unsäglichen Versen ab. Trotz eifrigem Nachschlagen bei Goethe, Heine und Novalis kam ihm keinerlei Idee, wie er das Problem von ›Ruhme‹ und ›Muhme‹ sprachlich elegant lösen könnte. Weiters war er mit Montenuovo einer Meinung, dass das Adjektiv ›erhaben‹ in einer Huldigung an Seine Apostolische Majestät nur auf ihn selbst angewendet werden dürfe.

Es klopfte an der Tür seines Arbeitszimmers. Er schreckte aus seinen trübsinnigen Gedanken hoch, die ihm beim Hinausstarren in die winterliche Annagasse gekommen waren. Die hohe Tür wurde geöffnet und August, der Kammerdiener, betrat, auf einer Hand elegant das Tablett mit dem Mittagessen balancierend, das Zimmer. Er stellte es auf dem Schreibtisch ab und richtete an. Collredi bevorzugte (so wie Seine Allerhöchste Majestät) zu Mittag Tafelspitz im eigenen Süppchen. Dazu aß er einen Erdäpfelschmarren mit einer Portion Apfelkren. Der Tafelspitz, der in einer Suppenterrine serviert wurde, blieb so lange in der dampfend heißen Brühe, bis der Graf einen Teller Suppe mit scheibenförmig geschnittenen Karotten und gelben Rüben genossen hatte. Dann wurde ihm auf einem warm gehaltenen Teller eine schöne Scheibe Tafelspitz samt einem Gupf Erdäpfelschmarren, mit etwas Suppe übergossen, serviert. Seitlich flankiert wurde der Teller von einer Schale Apfelkren. Und da seine gräflichen Gnaden heute dringend Inspiration benötigten, orderte er ein Gläschen Weißwein; einen reschen Grünen Veltliner von den Hängen des Nußberges.

Nachdem er gespeist hatte und sich ein weiteres Glas Grünen Veltliner einschenken ließ, entspannte sich Collredi. Er begab sich in die Bibliothek, griff zu einem seiner Lieblingsbücher und machte es sich in einem geräumigen Ohrensessel bequem. Bedächtig nahm er einen Schluck Wein und schlug die ›Venus im Pelz‹ von Leopold Sacher-Masoch auf. Mit Genuss las er von den Erniedrigungen des Erzählers, die dieser freiwillig auf sich nahm. Und während er las, empfand er rückwirkend höchste Befriedigung bezüglich des eigenen quälenden Vormittags. Die holprigen Verse der Marie Sidonie Heimel-Purschke fasste er nun als lustvolle Strafe auf. Er nahm einen weiteren Schluck Wein und schloss die Augen. Er stellte sich die Dichterin als prachtvolles Weib in einem dunklen, langen Pelzmantel vor. In einem düsteren Raum, in dem nur ein Kaminfeuer flackerte, quälte sie ihn unablässig mit ihren Versen. Ein wunderbar warmes Gefühl durchdrang ihn und er glitt hinüber in die Traumwelt eines Mittagschläfchens.

»Exzellenz, aufwachen! Die Herrschaften sind da!«

Collredi schreckte aus seinen Träumen, gähnte herzhaft, strich sich den Backenbart zurecht und murrte: »Führen Sie die beiden in den kleinen Salon.« Außerdem ließ er sich ein Lavoir und einen Krug mit kaltem Wasser bringen. Er wusch sich das Gesicht, seine Lebensgeister kehrten augenblicklich zurück. Er begab sich in den kleinen Salon, wo ihm als Erstes der eisgraue Spitzbart Tomolas ins Auge stach. Seine Erziehung nicht vergessend, wandte er sich aber zuerst der Dichterin zu und erschrak. Vor ihm stand die Antithese seines erotischen Traums. Ein kleinwüchsiges, schmächtiges Weib mit aufgestecktem Haar, Knopfaugen und einem bissigen Zug um den Mund. Trotzdem begrüßte sie der Graf mit einem »Küss die Hand, gnädige Frau«. Er bot beiden an, sich zu setzen, und machte es sich selbst hinter einem massiven Barocktisch bequem.

»So … mein lieber Stadtrat, meine liebe gnädige Frau! Wir sind heute hier zusammengekommen, weil uns eine äußerst delikate Aufgabe übertragen wurde. Es handelt sich um die im Mai dieses Jahres von Seiner Exzellenz, dem Herrn Bürgermeister Lueger, und dem Wiener Stadt- und Gemeinderat geplante Kinderhuldigung anlässlich des sechzigsten Regierungsjubiläums Seiner Kaiserlichen Hoheit. Wie Sie sicher wissen, liegt die Genehmigung der Durchführung dieses Festes in den Händen Seiner Durchlaucht des Fürsten Montenuovo. Dieser wiederum ist – wie soll ich es ausdrücken? – ein bisserl unglücklich …«

Tomolas Spitzbart schoss nach vorne. Das feiste Gesicht des Stadtrats färbte sich rötlich und mit lauter Stimme verlangte er Aufklärung über das »Unglücklichsein Seiner Durchlaucht«. Die Dichterin schwieg, doch ihr ohnehin schon verkniffener Mund verkrampfte sich merklich, sodass er eine auffallende Ähnlichkeit mit einem Hühnerpopo bekam.

Nikolaus Graf Collredi lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück, holte tief Luft und ließ die Katze aus dem Sack. »Um es auf den Punkt zu bringen: Seine Durchlaucht findet die Anfangsverse der Dichtung Gott erhalte! für absolut unpassend, um nicht zu sagen für unmöglich.«

Marie Sidonie Heimel-Purschke stieß einen Zischlaut aus, der dem eines mit kochendem Wasser gefüllten Teekessels glich. Leopold Tomolas Kopf wurde noch röter und seine Stimme noch lauter. »Ich bitte Exzellenz, Folgendes zu bedenken und auch Durchlaucht zur Kenntnis zu bringen: Die Dichtung Gott erhalte wurde von einem Spezialkomitee, das aus den Gemeinderäten Philip, Stangelberger, Monsignore Laux, Bezirksschulinspector Professor Habernal und meiner Person bestand, unter drei Entwürfen ausgewählt. Auch Seine Exzellenz, der Herr Bürgermeister Lueger, hat die Dichtung begutachtet und sich wohlwollend dazu geäußert.«

Collredi sagte eine Weile nichts. Stattdessen zupfte er an seinem Backenbart und bemerkte mit einem maliziösen Lächeln: »Vom Obersthofmeisteramt war aber kein Vertreter in diesem Spezialkomitee. Und soviel ich weiß, wurde das Obersthofmeisteramt auch in so manchen anderen Fragen bezüglich der geplanten Kinderhuldigung nicht konsultiert …«

Tomolas Kinn samt Spitzbart wurde eingezogen, die Röte verschwand aus seinem Gesicht. Er bemerkte, dass er gerade im Begriff war, sich in Opposition zu Seiner Durchlaucht zu stellen. Und das war – gelinde ausgedrückt – unklug. Denn Alfred Fürst von Montenuovo hatte den Ruf, cholerisch, machtbewusst sowie streit- und rachsüchtig zu sein. Tomola erkannte, dass er die Sache zu einem gütlichen Ende bringen musste, anderenfalls würde Montenuovo wahrscheinlich die gesamte Kinderhuldigung sowie weitere Festakte der Stadt Wien anlässlich des allerhöchsten Jubiläums verhindern. Das konnte er auf keinen Fall riskieren. Also erwiderte er mit leiser Stimme: »An welche zu ändernde Stelle haben Exzellenz gedacht?«

Collredi schmunzelte und nahm das Machwerk zur Hand. Er blätterte gelangweilt darin und warf es schließlich vor Tomola auf den Tisch. Ganz ruhig, in verbindlichem Ton, erklärte er: »Seiner Durchlaucht und auch mir gefällt das ganze … wie soll ich sagen … Werk nicht. Absolut inakzeptabel ist aber der Anfang: Laut, Völker laut, zu höchst erhabnen Ruhme, Auf dass es alle hören, vom Kleinkind bis zur Muhme Das kann auf keinen Fall so bleiben. Ich bitte die Dichterin, zumindest diese beiden … äh … Verse zu ändern.«

Marie Sidonie Heimel-Purschke stieß wiederum einen Zischlaut aus. Ihr Gesicht war weiß wie ein Stück Tafelkreide, ihre Knopfaugen verdrehten sich und sie kippte mit einem weiteren Zischer vom Sessel. Tomola sprang auf und beugte sich über die in Ohnmacht gefallene Frau. Collredi läutete nach seinem Kammerdiener. Der brachte Riechsalz, welches alsbald Wirkung zeigte und die Dichterin ins Hier und Jetzt zurückholte. Während dieser Vorgänge kritzelte Collredi gedankenverloren auf dem Titelblatt der Dichtung herum. Als Marie Sidonie Heimel-Purschke wieder aufrecht saß, eröffnete er ihr im Plauderton: »Meine liebe gnädige Frau, während Sie uns gerade für kurze Zeit verlassen haben, hat mich die Muse geküsst. Stellen Sie sich vor, ich hab eine praktikable Lösung für die ersten beiden Verse gefunden. Die werden wir in die Endfassung einfügen. Das zeigen wir nochmals Seiner Durchlaucht, und ich bin überzeugt, dass dann alles in bester Ordnung ist.«

Marie Sidonie Heimel-Purschke gab nun erstmals artikulierte Laute von sich. »Aber Sie können … Sie können doch nicht einfach so in meine Dichtung eingreifen …«

Collredi lächelte und erwiderte sanft: »Müssen, gnädige Frau. Müssen! Weil sonst können Sie sich Ihre ›Dichtung‹ – pardon – an den Hut stecken. Wenn Sie also bitte notieren wollen … Die Einstiegsverse der Dichtung ›Gott erhalte!‹ lauten wie folgt: Laut, Völker laut, zu wunderseltner Feier, Tön’ euer Sang, erklinge eure Leier.«

Einen kurzen Augenblick war es völlig still im Raum, keinerlei Zischlaute ertönten. Nach dieser Schrecksekunde fiel Marie Sidonie Heimel-Purschke neuerlich in Ohnmacht.

IV.

Im 9. Wiener Gemeindebezirk wartete Schöberl nun schon gute drei Stunden vor dem Haus, in dem Leo Goldblatt als Redakteur arbeitete. Mehrmals hatte er bereits versucht, sich einer Gruppe hineingehender Menschen anzuschließen, war aber immer am Portier gescheitert. Der rotgesichtige Zerberus hatte mit scharfem Auge Schöberls abgerissene Kleidung erspäht und ihm den Zutritt zum Gebäude verwehrt. Denn so ein Subjekt hatte seiner Meinung nach hier nichts zu suchen. Schöberl hatte es auch mit höflicher Rede und Argumentation versucht, doch der Portier blieb erbarmungslos. Er beschied ihm: »Wennst zum Herrn Doktor Goldblatt willst, musst draußen warten. Denn der ist nämlich noch nicht in der Redaktion. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass der Herr Redakteur mit dir etwas zu tun haben will. Also: Scher dich fort. Es hat eh keinen Sinn …«

Da Schöberl wusste, dass es sehr wohl Sinn machte, mit dem Redakteur zu sprechen, wartete er draußen in der Kälte. Um den Kreislauf einigermaßen in Bewegung zu halten und nicht vor Kälte zu erstarren, ging er in einem fort auf und ab. Wie ein Hamster im Rad. Schließlich war er schon so sehr in dieser Routine gefangen, dass er Goldblatts schmächtige Gestalt fast übersehen hätte. »Herr Redakteur! Herr Redakteur Goldblatt! Sie, Herr …«

Goldblatt schreckte aus seinen Gedanken, drehte sich um und schreckte sich gleich noch einmal.

Schöberl, ein großer kräftiger Kerl, machte einen demütigen Buckel und sprudelte los: »Wenn sich der Herr Redakteur vielleicht noch an mich erinnern? Damals bei den Morden am Naschmarkt2? Da war ich einer der schuldlos Verdächtigen … Anastasius Schöberl … Fleischergeselle.«

Ein Erkennen leuchtete in Goldblatts Augen auf und er murmelte: »Herrgott, ja.«

»Gnädiger Herr Redakteur, lang ist’s her, dass ich eine bürgerliche Existenz gehabt hab. Jetzt bin ich ein Obdachloser und wohn unten bei der Stefaniebrücke in einem Seitenschacht des Sammelkanals. Und dort, dort hab ich heute Morgen was gefunden. Etwas, das Sie sich unbedingt anschauen müssen. Bitte …«

Er hielt Goldblatt das Fetzenbündel hin. Dieser runzelte zuerst die Augenbrauen, nahm aber dann Schöberl in die Redaktion mit. Gemeinsam gingen sie an dem rotgesichtigen Portier vorbei, der Goldblatt unterwürfig grüßte und dessen Begleiter mit unverhohlener Verachtung musterte. Als Ressortleiter des Chronikteils verfügte Goldblatt über ein eigenes Zimmer. Er schob seinem Gast einen Sessel hin und nahm selbst hinter dem Schreibtisch Platz. Vorsichtig legte Schöberl das Lumpenpaket vor Goldblatt hin und enthüllte – nach einer kurzen theatralischen Pause – zuerst den steifen, bläulichen Finger und danach den von rostbraunen Blutflecken bedeckten Unterarm. Goldblatt wurde schneeweiß im Gesicht, Schweißperlen traten ihm auf die Stirn. »Schöberl, zum Kuckuck! Was ist das?«

»Das ist eine menschliche Hand, die ich heute Morgen am Ufer des Donaukanals gefunden hab.«

Damit begann er Goldblatt eine unglaubliche Geschichte von Kannibalen zu erzählen. Obdachlose, die zu Tausenden in den Kanälen Wiens hausten und die aus Hunger Leute überfielen, schlachteten und aufaßen. Goldblatt, der mittlerweile seine Contenance wiedergefunden hatte, begann sich Notizen zu machen, stellte Zwischenfragen und sah vor seinem geistigen Auge einen sensationellen Aufhänger in der morgigen Ausgabe des Blattes, für das er schrieb.

Als Schöberl schließlich Goldblatts Büro verließ, hatte er von diesem nicht nur zwei Kronen bekommen, sondern auch den Auftrag, weiterzurecherchieren. In zwei Tagen wollten sie sich in der Suppen- und Teeanstalt am Tiefen Graben treffen.

2 Siehe: Die Naschmarkt-Morde, Gmeiner Verlag 2009.

V.

Infolge eines irrwitzig schnell voranschreitenden Verwesungsprozesses begann der massige Männerkörper in der blauen Deutschmeisteruniform stark aufzuquellen. Die Nähte der immer praller gefüllten Uniform ächzten, die Uniformknöpfe wurden abgesprengt und schossen wie Schrapnelle durch das immer enger werdende Zimmer. Je gewaltiger die Verwesungsgase den Körper des Toten aufblähten, desto mehr zog sich in einer synchronen Bewegung das Zimmer rund um Steffi Moravec zusammen. Als alle Knöpfe abgerissen und alle Nähte geplatzt waren, begann der nur mehr mit einigen Fetzen Unterwäsche bedeckte Leichnam zu schweben. Die Gasentwicklung innerhalb des toten Körpers war so gewaltig, dass dieser donnernde Flatulenzen von sich gab, deren Rückstoß den nun kuhgroß im Zimmer schwebenden Vestenbrugg durch den Raum fliegen ließ. Als schließlich des Oberstleutnants Korpus, von einer monströsen Flatulenz angetrieben, mit dem Schädel voran – seine hervortretenden Augen hatten die Größe von Billardkugeln – auf Steffi Moravec zusteuerte, wachte sie mit einem Schreckensschrei auf und schlug um sich. Dabei traf sie den neben ihr schlafenden Popovic voll ins Gesicht.

»Bist narrisch?«, brummte der verschlafen und drehte sich um.

Steffi Moravec war nun hellwach und verspürte zweierlei: Grauen und Ekel. Ersteres ergriff sie aufgrund des Ablebens von Oberstleutnant Vestenbrugg, der nicht nur ihr Geliebter, sondern auch ihr Gönner gewesen war. Es graute ihr davor, plötzlich finanziell völlig auf sich alleine gestellt zu sein. Der Ekel bezog sich auf ihren Bettgefährten. Wie hatte sie nur diesem Lausbuben in Leutnantsuniform erlauben können, wiederholte Male mit ihr zu schlafen und auch des Öfteren bei ihr zu übernachten? War das die Angst, alleine in der Wohnung zu sein, in der Vestenbrugg zu Tode gekommen war? Oder war es Dankbarkeit, weil der Hansi, nachdem sie ihm das Brieferl zukommen hatte lassen, sofort bei ihr aufgekreuzt und ihr bei der Beseitigung des Malheurs hilfreich zur Seite gestanden war? Dankbarkeit war allerdings kein Kriterium, um mit einem Mann auf längere Zeit hindurch ins Bett zu gehen, räsonierte die Moravec. Und was die Angst betraf, alleine in der Wohnung zu übernachten, damit musste sie fertig werden. Dass Vestenbrugg nicht ewig an ihrer Seite sein würde, war ihr bereits zu Beginn der Beziehung klar gewesen. Dafür war er viel zu alt und sein Körper viel zu verkommen. Als sie den Oberstleutnant das erste Mal ohne Uniform vor sich stehen sah, hatte sie sich gedacht: Was für ein fettes, schlaffes Mannsbild … Und in den drei Jahren, die seither vergangen waren, hatte Vestenbrugg um die Leibesmitte noch einige Speckringe zugelegt. Sonderlich attraktiv war er aufgrund seines Übergewichts ja nicht gewesen. Gleichwohl bedauerte sie sein Ableben. Denn ohne Vestenbrugg war sie mehr oder weniger mittellos. Wer würde nun für ihren Lebensunterhalt aufkommen? Der neben ihr schnarchende und furzende Hansi Popovic sicher nicht. Er kam so wie sie aus kleinen Verhältnissen. Als Kinder hatten sie an den damals noch nicht regulierten Ufern des Wienflusses Räuber und Gendarm gespielt. Wobei der Hansi, wann immer er sie fangen konnte, seinen Körper an den ihren gedrückt und meistens nach ihren kleinen, unschuldigen Brustwarzen gegriffen hatte. Das war eine schöne Zeit damals. Aber was sollte sie heute mit dem Hansi anfangen? Mit einem kleinen, schlecht bezahlten Leutnant? Friedrich Freiherr von Vestenbrugg war immerhin Stabsoffizier und Kommandant eines Deutschmeister-Bataillons. Außerdem bezog er von seiner sehr vermögenden Familie eine stattliche Apanage, die er früher versoffen und verspielt, in den letzten drei Jahren aber in seine Geliebte investiert hatte. Vestenbrugg hatte ihr teure Geschenke gemacht und außerdem die Miete der Dreizimmerwohnung bezahlt. Ob der Hansi zumindest diese Kosten übernehmen könnte? Steffi Moravec grübelte vor sich hin und gab schließlich dem schnarchenden Popovic mit dem Ellbogen einen Stoß. Dieser wachte grunzend auf und wurde – noch im Halbschlaf – mit folgender Frage konfrontiert: »Sag, Hansi, kannst du mir in Zukunft die Miete zahlen? Sie beträgt hundert Kronen im Monat …«

»Was? Wie kommst denn auf diese Idee? Wo soll ich bei meinem lächerlichen Sold hundert Kronen im Monat hernehmen?« Verschlafen rieb er sich die Augen, wurde aber plötzlich hellwach, als die Moravec die Bettdecke lüftete und ihm einen harten Faustschlag in den Unterleib versetzte. Die Attacke wurde unbarmherzig fortgeführt, indem sie mit beiden Händen sein Haar ergriff und seinen Schädel so lange gegen das Betthaupt aus massivem Eichenholz schlug, bis er bewusstlos war. Steffi Moravec stand auf, packte seinen Körper und schleppte ihn hinaus ins Vorzimmer. Anschließend kehrte sie ins Schlafzimmer zurück, sammelte die verstreut herumliegenden Uniformteile sowie Popovics Degen ein, öffnete das Fenster und warf alles in den Hof hinunter. Sie sperrte die Wohnungstür auf, zog den nackten Leutnant ins Treppenhaus, holte ihn mit ein paar Ohrfeigen in die Realität zurück, legte ihm den Zeigefinger an den Mund und flüsterte: »Psst! Du bist völlig nackt … deine Uniform und dein Degen liegen unten im Hof. Also mach keinen Skandal! Geh runter und zieh dich an. Und dann verschwind aus meinem Leben!«