Wenn Bildung etwas mit Macht zu tun hat,
wird sie nicht dort zu finden sein, wo alle sind.

Und wenn Bildung dort ist, wo alle sind,
wird sie nichts mehr mit Macht zu tun haben.

(Liessmann 2006, S. 54)

1 Einleitung: Die soziale Selektivität des Bildungsgeschehens als gesellschaftliches Konfliktfeld

1.1 Bildung als Gegenstand von Elterninteressen

»Wenn alle Eltern so lautstark und gewichtig darauf bestehen würden, dass ihre Kinder das Abitur machen, wie es Akademiker auch dann tun, wenn ihre Sprösslinge nur sehr mäßige Schulleistungen aufzuweisen haben, dann wäre der vorzeitige Abgang (aus weiterführenden Schulen) bei allen Gruppen so gering wie bei Kindern aus höheren Schichten.«

An dieser von Ralf Dahrendorf stammenden Beobachtung aus den 1960er Jahren über die spezifische Interessenwahrnehmung durch Akademikereltern im Hinblick auf die Bildung ihrer Kinder hat sich bis heute nur wenig geändert. Auch ein halbes Jahrhundert später unterscheidet sich das Elternverhalten in Abhängigkeit von ihrem jeweiligen Bildungshintergrund deutlich, sobald es um die elterliche Einflussnahme auf das Bildungsgeschehen ihrer Kinder geht. Im Kern haben wir es dabei mit dem grundgesetzlich garantierten individuellen Elternrecht (Artikel 6, Absatz 2) und den sozial bedingten (ungleichen) Nutzungsformen dieses Rechts zu tun, das allen Eltern konkurrierend zum staatlichen Gestaltungsrecht von Bildungsprozessen in der Schule (Artikel 7, Absatz 1 Grundgesetz) eingeräumt worden ist.

Neben der individuellen Wahrnehmung von Elternrechten in der Schule verbinden besonders Akademikereltern auch kollektive (also gruppenbezogene) Rechtsansprüche auf die Schule (und deren Gestaltung). Erst aus dieser Verknüpfung von individueller und kollektiver Wahrnehmung von Elternrechten ergibt sich ein Problemzusammenhang, der für die Thematik dieses Buches von erheblicher Bedeutung ist: Wie sieht das Verhältnis von individuellem und kollektivem Elternrecht aus und welche (unterschiedlichen?) Formen der Wahrnehmung bzw. Nutzung dieses Rechts sind dabei erkennbar? Welche Bedeutung hat vor allem das kollektive Elternrecht, wenn man dessen Wahrnehmung weniger als Instrument für eine Abwehr staatlicher Eingriffe in die Privatsphäre der Familie sieht, sondern als willkommenes Instrument, um (kollektive) Elterninteressen öffentlich zu artikulieren und politisch durchzusetzen?

Eltern sind in dieser Hinsicht, das soll mit dieser Fragerichtung angedeutet werden, keine homogene Gruppe mit identischen Interessen in Bildungs-, Erziehungs- und Betreuungsfragen. Vielmehr haben Eltern zumeist konkurrierende Bildungsinteressen und konkurrierende elterliche Bildungsansprüche für ihre Kinder, die im komplexen Geflecht von gesellschaftlichen Interessen- und Lebenslagen sowie institutionellen Regelsystemen verortet sind. Dahrendorf deutet mit seiner oben zitierten Beobachtung an, dass das Elternrecht traditionell vor allem von Akademikereltern als wichtiges und ausgesprochen wirksames Instrument, ja als Waffe benutzt wird, um Bildungsvorteile für die eigenen Kinder zu erreichen. Insofern darf man nicht übersehen, dass z. B. Akademikereltern ihr Elternrecht in teilweise sehr unterschiedlicher Form im Vergleich zu Eltern aus einem nicht-akademischen Milieu sehen und nutzen, selbst wenn es dabei vordergründig bei beiden Elterngruppen zumeist um Belange des allgemeinen Kindeswohls gehen mag und nicht immer erkennbar ist, wem (und welchen Kindern) welche Initiative oder Maßnahme mehr nützt als anderen.

Wenn sich also besonders Akademikereltern dafür stark machen, dass ihre Kinder die durch eine günstige Lernausgangslage bedingten Startvorteile im Rahmen der schulischen Bildung zu ihren Gunsten nützen (können), ist das aus deren »Interessenlage« durchaus nachvollziehbar. Ob es – bezogen auf die schlechteren (leistungsunabhängigen!) Bildungserfolgschancen – für den Rest der Kinder aus einem nicht-akademischen Umfeld auch gerecht ist, steht in der Regel auf einem anderen Blatt. Immerhin besteht aber diesbezüglicher Klärungsbedarf, ob und inwieweit die unterschiedliche Wahrnehmung von Elterninteressen mit realen Bildungsgerechtigkeitsproblemen verbunden ist, denen wir in diesem Buch genauer nachgehen wollen.

1.2 Bildung als Privileg?

Kommen wir noch einmal zurück auf das von Dahrendorf angesprochene Engagement von Akademikereltern, die es schaffen, ihren Kindern zu möglichst exklusiven Bildungslaufbahnen zu verhelfen, selbst wenn diese nur mäßige Bildungsleistungen vorweisen können. Hier geht es – so unsere These – im Kern um die Verteidigung einer traditionellen gesellschaftlichen Vormachtstellung des Bildungsbürgertums, das über den Zugang zu (höherer) Bildung seine ihm überwiegend angestammten (privilegierten) sozialen Positionen einschließlich des damit verbundenen gesellschaftlichen Ansehens absichern möchte. Eng verbunden ist damit der Anspruch, die sog. bildungsbürgerliche Kultur und den bürgerlichen Lebensstil als Vorbild und möglichst verbindlichen Maßstab für soziale Anerkennung und (schulischen) Bildungserfolg durchzusetzen. So werden die traditionellen bildungsbürgerlichen Normen und Werte nicht nur rhetorisch als unverzichtbar beschworen, sondern sie werden zugleich auch als allgemeiner Maßstab für das Erreichen von (privilegierenden) Titeln und (hervorgehobenen) sozialen Positionen verstanden.

Mit traditionellem Bildungsbürgertum sind jene Familien gemeint, deren Kinder noch bis Anfang der 1960er Jahre zu den rund 5 % eines Altersjahrgangs gehörten, die als Kinder des Bildungsbürgertums ihre schulische Allgemeinbildung »traditionell« mit dem Abitur abgeschlossen haben. Die Bildungsexpansion nach 1965 hat dann allerdings dazu geführt, dass das traditionelle Bildungsbürgertum seine über einen längeren historischen Zeitraum verteidigte Exklusivität verloren hat. Ist es doch in der Folge der Bildungsexpansion zu einer deutlichen Vergrößerung der Anzahl von Familien gekommen, deren Kinder die Schule mit dem Abitur abschließen und eine Hochschulzugangsberechtigung erwerben konnten.

Selbst wenn in vielen dieser Familien das Abitur erstmals, also in der ersten Generation erworben werden konnte, veränderten sich dadurch die traditionellen bildungsbezogenen Interessenkonstellationen, die sich entsprechend auch in einer veränderten Wahrnehmung des Elternrechts niederschlugen. Gehörten doch nun (nach der Bildungsexpansion) erheblich mehr Eltern zu jener vergrößerten Gruppe von Familien, deren Nachwuchs sich mit Hilfe von höheren Bildungsabschlüssen als Nutznießer der veränderten Rahmenbedingungen beim Wettbewerb um möglichst exklusive Bildung fühlen konnte. Auch wenn nun für eine größere Anzahl von Personen relativ exklusive Chancen für den sozialen und beruflichen Aufstieg in Aussicht gestellt wurden, blieb es im Grundsatz dabei, dass (höhere) Bildung am wahrscheinlichsten für jene Kinder erreichbar war, deren Eltern (aus einer relativ privilegierten Situation heraus) in der Lage waren, ihre Bildungsinteressen entsprechend zu ihren Gunsten zur Geltung zu bringen (vgl. dazu ausführlicher Achinger u. a. 1980).

Mit der Bildungsexpansion war bei der Frage des privilegierten Zugangs zu mehr (höherer) Bildung eine historisch veränderte Interessenkonstellation entstanden. Die Bildungsaspirationen, die mit Hilfe eines verstärkten meritokratischen Moments beim Zugang zu Bildung im Zuge der Bildungsexpansion durchgesetzt werden konnten1, galt es nun auch für die nachfolgenden Generationen derjenigen Familien zu verteidigen, denen es gelungen war, für ihre Kinder erstmals Zugang zu höherer Bildung zu erlangen. Auch hier diente im weiteren Verlauf der Schulentwicklung das Elternrecht als Instrument für die Verteidigung entsprechender bildungspolitischer Interessen. Insofern finden wir neben dem traditionellen Bildungsbürgertum nunmehr Eltern, in deren Familien es keine längere Tradition als Akademikerfamilie gibt, die aber in Anbetracht der neuen Gegebenheiten als »neues« Bildungsbürgertum (das häufig auch als aufstiegsorientierte Mittelschicht bezeichnet wird) eigene Bildungsinteressen zu verteidigen haben und die (schulische) Bildung ihrer Kinder zu deren Vorteil in vergleichbarer Art zu beeinflussen suchen.

Bei der Wahrnehmung des Elternrechts durch das »neue« Bildungsbürgertum tauchen nun allerdings zusätzlich auch bildungspolitische Positionen auf, die auf eine Entmachtung der (zuvor dominierenden) traditionellen bildungsbürgerlichen Kultur als alleinigem Vorbild und exklusivem Maßstab für anerkennenswerten (schulischen) Bildungserfolg gerichtet sind (vgl. dazu Genaueres im Kap. 2). Gleichzeitig geht es dieser Elterngruppe aus dem »neuen« Bildungsbürgertum aber auch (in einer »heimlichen« Koalition mit der Elterngruppe des traditionellen Bildungsbürgertums) um die Verteidigung der vergleichsweise besseren Bildungschancen ihrer Kinder gegenüber den nachdrängenden »Massen« von Kindern, die sich bemühen, ebenfalls teilzuhaben an einer erstrebenswerten weiterführenden Bildung, die mit dem Versprechen besserer Berufschancen und höherer sozialer Anerkennung verbunden ist.

Negativ betroffen von diesen bildungspolitischen Entwicklungen sind auf der anderen Seite Elterngruppen, deren Familien als Verlierer der Bildungsexpansion angesehen werden müssen. Zu diesen Verlierern zählen jene inzwischen ca. zwei Drittel aller Familien in Deutschland, deren Kinder auch weiterhin mit Problemen beim Zugang zu höherer Bildung konfrontiert sind. Kinder aus diesen Familien sind beim verschärften Wettbewerb um (höhere) Bildung von Generation zu Generation immer wieder unterlegen und müssen auf die Vorteile verzichten, die sich aus dem Nachweis höherer Bildung ergeben. Zwar hat sich, seit Dahrendorf seine zitierte Beobachtung zu Papier gebracht hat und fast 50 Jahre vergangen sind, beim Wettstreit um mehr und bessere Bildung einiges verändert, aber es handelt sich dabei um graduelle, nicht aber prinzipielle Veränderungen. Die Bildungsstrategien mancher Eltern aus bestimmten sozialen Statusgruppen (die wir hier als traditionelles und neues Bildungsbürgertum bezeichnet haben) tragen somit auch weiterhin dazu bei, dass Bildung als gesellschaftliches Privileg angesehen werden muss, um das interessenbezogen gekämpft wird.

1.3 Bildungsferne als Stigma?

Auch am Beginn des 21. Jahrhunderts ist es eine inzwischen gut belegte Tatsache, dass es nach wie vor eine herkunftsbedingt ungleiche Bildungsteilhabe gibt. Der für Kinder aus den unteren sozialen Statusgruppen erschwerte Zugang zu Bildung wird mit dem Modewort »Bildungsferne« etikettiert, von der bestimmte Familien offenbar über Generationen hinweg betroffen sind. Die Exklusionsmacht, die mit höherer Bildung verbunden ist, ermöglicht auch weiterhin mehr oder weniger privilegierte bildungsbiographische Weichenstellungen, bei denen die soziale Herkunft und der Bildungshintergrund der jeweiligen Herkunftsfamilie maßgebend sind. Auch von den »Bildungsnahen« (ebenso wie im öffentlichen bildungspolitischen Diskurs) wird die soziale Vererbung von Bildungsnähe und Bildungsferne zwar »irgendwie« als ungerecht empfunden; aber die damit zum Ausdruck gebrachte Besorgnis trägt Züge von Scheinheiligkeit (Preisendörfer 2008). Denn heute wie damals (vor der Bildungsexpansion) spielt in der öffentlichen Debatte weniger das Ungerechtigkeitsempfinden, sondern eher die ökonomisch begründete Sorge eine zentrale Rolle, wenn dazu aufgefordert wird, die brachliegenden Bildungsreserven zu mobilisieren, die, so kann man immer wieder hören oder lesen, nicht verschwendet werden dürfen.

Erst in zweiter Linie geht es in der aktuellen Bildungsrhetorik auch um die Frage, wie Bildung für alle erreicht werden kann, die allen (bei entsprechenden Bildungsleistungen) zusteht und wofür die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden müssen. Im Gegensatz zu den 1960er Jahren (also den Jahren vor der Bildungsexpansion) steht heute allerdings weniger das Glück der vielen einzelnen Subjekte und die Realisierung des Grundsatzes »Bildung ist Bürgerrecht« (Dahrendorf 1965) im Vordergrund der bildungspolitischen Debatte. Vielmehr geht es im Bildungsland Deutschland eher um die internationale Reputation eines Landes, das für sich in Anspruch nimmt und sich auf dem Weltkindergipfel 2002 dazu verpflichtet hat, »...eine kindergerechte Welt zu schaffen, in der die Grundsätze der Demokratie, der Gleichberechtigung, der Nichtdiskriminierung, des Friedens und der sozialen Gerechtigkeit (...) die Grundlage für eine nachhaltige menschliche Entwicklung bilden« (BMFSFJ 2005). Die wegen ihrer vermeintlichen Bildungsferne nicht selten auch noch stigmatisierten Menschen werden vor einem solchen Hintergrund dann leicht zu einem »sozialen Problem«.

Bildungspolitisch wichtiger scheint derzeit vor allem die geringe Anzahl von Hochschulabsolventen als Ausdruck mangelhafter Eliteförderung zu sein, und die hohe Anzahl der Schulabgänger ohne Abschluss gelten als Belege für das Versagen des deutschen Bildungswesens und als beschämender Hauptgrund dafür, dass Deutschland von der OECD an den Bildungspranger gestellt werden konnte. Die immer wieder zum Ausdruck gebrachte Besorgnis und das Wohlwollen vieler Bildungsnahen gegenüber den Bildungsfernen ist deshalb nicht selten mit Herablassung und elitärer Bildungsdünkelhaftigkeit vergiftet, wodurch die Scham der ins Abseits gestellten Bildungsfernen durch Beschämung eher noch verstärkt wird2. Einerseits soll den Bildungsfernen in unserer Gesellschaft also mehr Bildungsnähe ermöglicht werden, aber de facto sorgen viele Bildungsnahe bei konkreten Reformmaßnahmen gleichzeitig dafür, dass entsprechende »Annäherungsversuche« der Bildungsfernen mit dem Ziel von mehr Bildungsnähe nicht in einen »ungesunden Bildungsdrang« ausarten (vgl. dazu Kap. 5).

Insofern sind Zweifel an der Ernsthaftigkeit des proklamierten Strebens nach mehr Bildungsgerechtigkeit nicht ganz unberechtigt. Beim erst 2006 verabschiedeten Gleichbehandlungsgesetz spielt z. B. die soziale Herkunft als Gleichbehandlungskriterium keine Rolle. Das vom Deutschen Bundestag beschlossene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) soll Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität verhindern oder beseitigen. Herkunftsbedingte Benachteiligungen bleiben im Gesetzestext hingegen unberücksichtigt, was dazu führt, dass sich auch die Aktivitäten der Antidiskriminierungsstellen des Bundes und der Länder nicht explizit an dieser Form der Benachteiligung ausrichten.

In unserem Einführungsband geht es uns in Anbetracht dieser komplexen Problematik vor allem aus bildungssoziologischer Sicht darum, die strukturbildenden und strukturerhaltenden Mechanismen der immer noch nachhaltigen sozialen Selektivität im Feld des Bildungsgeschehens genauer zu beleuchten.

1.4 Bildung und gesellschaftliche Teilhabe

So wie von materieller Armut und materiellem Reichtum bzw. Einkommensarmut und Einkommensreichtum die Rede ist, wird seit einiger Zeit in Analogie dazu auch von Bildungsarmut und Bildungsreichtum gesprochen, um auf die hervorgehobene Bedeutung bildungsbedingter sozialer Ungleichheit hinzuweisen. Wie aber zeigen sich bildungsbedingte soziale Ungleichheiten? Hier wird zwischen relativer Zertifikats- und Kompetenzarmut im Vergleich zu entsprechendem Bildungsreichtum unterschieden. Wer z. B. die allgemeinbildende Schule ohne Abschluss verlassen hat, wird im Vergleich zu Absolventen »höherer« Bildungsgänge als bildungsarm bezeichnet, weil hier ein Fall von Zertifikatsarmut vorliegt. Entsprechend liegt bei jener sog. Risikogruppe von Schülerinnen und Schülern, die die unterste Kompetenzstufe in den PISA-Studien (z. B. bei der Lesekompetenz) nicht erreichen und damit als »funktionale Analphabeten« gelten, Kompetenzarmut vor (Allmendinger 1999; Allmendinger/Leibfried 2002), weil diese Schülerinnen und Schüler basale Kulturtechniken nicht beherrschen, die in modernen Gesellschaften als Grundvoraussetzung für eine befriedigende Lebensführung und eine aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben angesehen werden.

Der Tatbestand einer vorliegenden Bildungsarmut (als Ergebnis von zuvor abgelaufenen Bildungsprozessen) muss allerdings bereits im Vorfeld mit den ungleich verteilten Möglichkeiten des Zugangs zur Ressource Bildung und gleichermaßen mit der Bildungsverlaufsperspektive in Verbindung gebracht werden. Die viel diskutierte These von einer milieuspezifisch ausgeprägten sozialen Schließung des Zugangs zur Ressource Bildung besagt dabei, dass sich eine Gruppe von Personen auf Kosten anderer Vorteile verschafft (hat), so dass es zu Bildungsarmut bzw. Bildungsreichtum kommt, von der Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft unterschiedlich betroffen sind. Dass es neben der sozialen Herkunft auch andere, z. B. geschlechtsspezifische oder migrationsbedingte Einflussfaktoren gibt, die dazu beitragen können, dass es zu Bildungsarmut oder Bildungsreichtum kommt, soll bereits an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, auch wenn wir erst später darauf zurückkommen werden (vgl. Kap. 6 und 7).

Indem wir die Untersuchung von herkunftsbedingten Disparitäten beim Bildungserwerb zum Gegenstand dieses Buches machen, beschäftigen wir uns mit einem immer wieder nachgewiesenen Hauptdefizit des deutschen Bildungsgeschehens in Verbindung mit dem Anspruch, mehr Bildungsgerechtigkeit unabhängig von den vorhandenen sozialen Ausgangslagen zu ermöglichen, damit Beeinträchtigungen aufgrund von Bildungsarmut minimiert werden können. Kann doch von Bildungsgerechtigkeit erst dann gesprochen werden, wenn es möglich ist, die unterschiedlichen Voraussetzungen beim Bildungsgeschehen so auszugleichen, dass gleiche Chancen zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben auch wirklich gegeben sind.

Bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Bildungsungleichheiten finden wir häufig eine getrennte Analyse von schulischen und außerschulischen Bildungszusammenhängen, die freilich – so ist aus unserer Sicht zu betonen – in einem engen Interdependenzverhältnis zueinander stehen. Während die Benachteiligung von Arbeiterkindern und Kindern mit Migrationshintergrund im Schulsystem relativ umfassend untersucht worden ist, gilt dies für die Möglichkeiten des außerschulischen Bildungserwerbs in weitaus geringerem Maße. Besonders die Ausgestaltung der Eltern-Kind-Beziehungen und die kulturelle Alltagspraxis in Familien aus unterschiedlichen Herkunftsmilieus bei der Entstehung bzw. bei der Herstellung von Bildungsungleichheiten sind noch vergleichsweise wenig erforscht. Eine solche Ausgangslage verführt dazu, diesen Forschungsstand zum Thema Bildung und soziale Ungleichheit in der Gliederung eines entsprechenden Einführungsbandes zu replizieren. Das wollen wir jedoch insofern vermeiden, als wir lebenslaufbezogen die vielen verschiedenen Stationen berücksichtigen, die beim individuellen Bildungserwerb durchlaufen werden (können und müssen). Pate für eine solche Vorgehensweise steht beispielsweise der Untertitel eines vor kurzem erschienenen Sammelbandes: Bildung und soziale Ungleichheit vom Kindergarten bis zur Hochschule (Krüger u. a. 2010). Die Frage, warum es in Deutschland noch immer ein erschreckend hohes Niveau an herkunftsbedingter Ungleichheit beim Zugang zu schulischer und außerschulischer Bildung gibt, die sich aus biographischer Sicht aufschichtet und sich auch unter Karriereperspektiven als kumulativer Prozess erweist, stellt sich also mit besonderer Dringlichkeit (Baumert/Schümer 2001).

1.5 Der Abbau von Bildungsungleichheiten zwischen Anspruch und Realität

Die Inhalte der aktuellen bildungspolitischen Kontroversen scheinen die Vermutung zu bestätigen, dass es beim Thema Bildung immer wieder (und nach wie vor) um wichtige soziale und politische Interessengegensätze geht. Wer, wie die schwarz-grüne Regierungskoalition in Hamburg noch kurz vor dem Volksentscheid (im Juli 2010) über die Einführung einer sechsjährigen Primarschule, vom Tauziehen um einen Bildungskompromiss oder von einem endlich notwendigen »Schulfrieden« spricht, der unterstellt gravierende Konflikte bei Bildungsfragen, die z. B. auch in Hessen schon seit den 1970er Jahren traditionell als »Kulturkampf« ausgetragen werden (v. Friedeburg 1992). Und immer wieder wird bei diesen bildungspolitischen Auseinandersetzungen das Elternrecht auf freie Schulwahl für ihre Kinder ins Spiel gebracht. Dabei stehen vor allem die Interessen jener Eltern im Vordergrund, die vom bestehenden selektiven (»gegliederten«) Schulsystem traditionell eigentlich besonders begünstigt werden; gleichwohl spielen hier Motive der Besitzstandwahrung oder sogar die Furcht vor dem Verlust von Privilegien eine wichtige Rolle (vgl. dazu Griesinger 2009).

Dass es bei Fragen der Bildungsgerechtigkeit um zentrale gesellschaftliche Interessenkonflikte geht, wollen wir im nächsten Kapitel – nicht zuletzt auch im Spiegel der vorangegangenen »Kulturkämpfe« um die Verteidigung von Bildungsprivilegien – weiter verdeutlichen, indem wir einen Blick in die deutsche Schulgeschichte werfen. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil einiges dafür spricht, dass die Verteidigung der Exklusionsmacht im Bildungsbereich einerseits und das Ringen um die Würde des (von Bildung) ausgeschlossenen Personenkreis andererseits durchaus mit den Klassenkämpfen im 19. Jahrhundert vergleichbar ist (Beck 2010). Solange die Verweigerung der sozial gerechteren Teilhabe an Bildung in Verbindung steht mit der Legitimation des Ausschlusses von Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft, wird der Wettstreit um die knappe Ressource »Bildung« auch weiterhin mit ernsten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die Legitimität von Privilegierung und Deprivilegierung bei der Teilhabe an Bildung verbunden sein. Dies umso mehr, als wir davon ausgehen müssen, dass das Investieren in Bildung »sozusagen die Sozialversicherung (ist), die nach der Sozialversicherung kommt« (ebd., 36).

1 Zum Begriff »Meritokratie« als System der Belohnung von Leistungsbereitschaft und Leistung sowie den kennzeichnenden Merkmalen des meritokratischen Denkens im Kontext von Bildungsfragen vgl. Kap. 3.1.

2 Denken wir dabei nur an Schülerinnen und Schüler, denen in der fünften Jahrgangsstufe unmissverständlich mitgeteilt wird, dass sie eigentlich nicht in eine weiterführende Schule gehören und besser anderswo unterrichtet werden sollten. Oder denken wir an Schülererlebnisse aus der vorangegangenen Schulzeit in der Grundschule, wo die Spreu vom Weizen getrennt worden ist und manche Eltern froh waren, wenn einige Mitschülerinnen und Mitschüler ihrer Kinder endlich andere (Schul-)Wege gehen (mussten).

2 Chancengleichheit im Bildungswesen – Konfliktlinien im historischen Rückblick

2.1 Bildung im Spannungsfeld zwischen Symbol- und Realpolitik

Klagen über herkunftsbedingte Bildungsungleichheiten und eine damit verbundene Diskriminierung von Individuen und ganzen sozialen Gruppen beim Zugang zu (höherer) Bildung aufgrund »geburtsständischer Privilegien« haben in Deutschland eine lange Tradition (vgl. dazu Herrlitz/Hopf/Titze 1993). Viele der damit zusammenhängenden Probleme einer Demokratisierung der Bildungschancen in Abhängigkeit von der sozialen Herkunft sind bis heute weitgehend ungelöst und stehen auch weiterhin auf der bildungspolitischen Agenda. Immer wieder haben wir vom Bildungsbürgertum getragene Elterninitiativen und Elternaktivitäten erlebt, die Gründe dafür ins Feld führen, dass vorgeschlagene, auf mehr Bildungsgerechtigkeit zielende Bildungsreformen mit problematischen Folgen verbunden seien und deshalb unterbleiben müssen. Das führt zu (endlosen?) kontroversen Zieldebatten, die letztlich die Umsetzung von entsprechenden Reformschritten immer wieder behindern oder verhindern, so dass der Abbau der fortbestehenden »sozialen Selektivität« der Teilhabechancen an Bildung nicht wirklich vorankommt.

Spätestens seit dem 19. Jahrhundert ist es dem deutschen Bildungsbürgertum so durch eine entsprechende Interessenpolitik gelungen, dem eigenen Nachwuchs mit Hilfe der Ressource Bildung den Zugang zu exklusiven sozialen und beruflichen Positionen in der Gesellschaft zu sichern. Und bis hinein ins 21. Jahrhundert geht damit zugleich die soziale Schließung des Zugangs zu (höherer) Bildung für große, bis dato bildungsferne soziale Gruppen aus der unteren Mittelschicht und der Arbeiterschaft einher (Herrlitz/Hopf/Titze 1993). Heute sind es darüber hinaus besonders Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund, die bei der Gestaltung ihrer Bildungsbiographien mit den Widrigkeiten solcher sozialer Schließungstendenzen fertig werden müssen.

Zwar ist die in der ständisch geprägten Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bestehende »selbstverständliche« Trennung von hohem und niedrigem Bildungswesen nach Standes- und Klassenzugehörigkeit ebenso überwunden wie die grundsätzliche Trennung von Jungen- und Mädchenbildung oder die Trennung nach Konfessionen. Aber in Fragen der gerechten Bildungsbeteiligung hat die deutsche Gesellschaft auch am Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer deutlichen demokratischen Nachholbedarf. Und dies umso mehr, je einhelliger programmatisch erklärt wird, dass Bildung eine Bedingung von Demokratie und gesellschaftlicher Teilhabe ist und Bildungsgerechtigkeit vor allem auf Beteiligungsgerechtigkeit abzielt, wobei ein ungleicher Zugang zu Bildung an möglichst allen Bildungsorten ausgeschlossen sein soll.

Das Thema »soziale Selektivität« und die sich ständig wiederholenden Aufforderungen zur Demokratisierung des Bildungswesens im Spannungsfeld der Verteidigung traditioneller Bildungsprivilegien und dem Kampf um Anerkennung »neuer« Bildungsansprüche ziehen sich, wie wir an ausgewählten Beispielen zeigen wollen, wie ein roter Faden durch die Bildungsdebatten vergangener Jahrzehnte und Jahrhunderte. Da gab es z. B. bereits Schulkämpfe zu Beginn der Weimarer Republik, die vor fast einhundert Jahren – reformpädagogisch begründet und von der Arbeiterbewegung getragen – zur Aufhebung der Privatschulen und zur Einrichtung der vierjährigen Grundschule für alle führten. In der Mitte der 1960er Jahre löste die denkwürdige Streitschrift von Ralf Dahrendorf (»Bildung ist Bürgerrecht«) den Startschuss für eine in der alten Bundesrepublik ausgesprochen wichtigen Phase der Bildungsexpansion aus, und nun sind es die Ergebnisse der ersten PISA-Studie (2001), die (erneut) einer Zwischenphase, in der die Ungleichheit in Sachen Bildung mehr oder weniger in Vergessenheit geraten war, ein vorläufiges Ende bereitet haben.

Dabei ist der normative Anspruch der Chancengleichheit bei der Teilhabe an Bildung und Kultur schon weitaus länger auf der Agenda der Bildungsreformdebatte. Machte doch bereits vor fast 200 Jahren der große Gelehrte und pädagogische Klassiker Friedrich Schleiermacher in seinen Vorlesungen aus dem Jahr 1826 auf das Problem der Chancenungleichheit aufmerksam, als er »die Ungunst der äußerlichen Verhältnisse« als Ursache dafür ausmachte, dass es zu einer »Aristokratie des geistigen Vermögens und der geistigen Bildsamkeit« komme (Schleiermacher 1996). Diese Einsicht veranlasste ihn zu der noch heute zentralen Forderung, dass man zwar der Natur freien Lauf lassen müsse, dass man aber der Natur kein Hindernis in den Weg legen dürfe, wenn es darum gehe, tüchtig zu werden für eine angemessene Stellung in Staat und Gesellschaft.

In Anbetracht der »angestammten« (heute würde man sagen: herkunftsbedingten) Ungleichheit der äußerlichen Verhältnisse sei es »frevelhaft«, diese Ungleichheit absichtlich und gewaltsam auf dem Punkt festzuhalten, auf welchem sie stehe. Nach dem demokratischen Prinzip käme es vielmehr darauf an, die durch die äußerlichen Verhältnisse, also die soziokulturellen Voraussetzungen für Bildung und Erziehung Begünstigten nicht noch mehr zu begünstigen. Insofern erklärte schon Schleiermacher das Problem der ungleichen Bildungsteilhabe im Wesentlichen nicht zu einer Frage der Intelligenz oder der Gene, auch wenn diese, wir wissen, keineswegs bedeutungslos sind, wenn es um Bildungsprozesse im Lebensverlauf eines einzelnen Menschen geht.

Ein solches Credo, das von Schleiermacher mit Bezug auf die Ständegesellschaft des 19. Jahrhunderts formuliert worden ist, lässt sich weitgehend auf die aktuelle Debatte über den Abbau von ungleichen Bildungschancen am Beginn des 21. Jahrhunderts übertragen. Insofern ist das Nachdenken über die Voraussetzungen und Folgen der sozialen Selektivität bei der Bildungsteilhabe keineswegs »Schnee von gestern« (Solga/Powell/Berger 2009). Noch immer gehen Kinder aus der Bildungsaristokratie (heute: aus Akademikerfamilien) eher auf das Gymnasium und die Hochschulen als Kinder aus dem Volk (heute: aus Arbeiter- und Migrantenfamilien), obwohl sie vielfach nicht dümmer, sondern nur ärmer an Chancen sind. Insofern muss das individuelle Leistungsprinzip als wohl wichtigste normative Rechtfertigung bzw. als Legitimationsinstrument für die soziale Selektivität des Bildungsgeschehens gelten (vgl. dazu Kap. 3.1).

2.2 Restaurations- und Stagnationsphase nach dem Zweiten Weltkrieg

Ein etwas genauerer Blick in die Nachkriegsentwicklung des deutschen Bildungswesens soll nun verdeutlichen, welche bildungspolitischen Strömungen dazu beigetragen haben, dass die Nachkriegs- und Wiederaufbauphase zu den Ergebnissen geführt haben, die bis heute als prägende Merkmale des deutschen Bildungswesens gelten müssen. Gleich in den ersten Monaten nach Kriegsende steht in den Aufrufen des Zentralausschusses der SPD und den gemeinsamen Aufrufenvon SPD und KPD die Forderung ganz oben, durch die Aufhebung aller Bildungsprivilegien (zusammen mit der restlosen Vernichtung aller Spuren des Hitlerregimes auch im Bildungswesen) mehr Bildungsgerechtigkeit zu ermöglichen (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 174). Insbesondere sollten die Tore der höheren Schule und der Hochschule für die Söhne und Töchter des einfachen Volkes nicht länger verschlossen bleiben.

Das Ziel dieser Initiativen war die Brechung des Bildungsmonopols »der herrschenden Klassen«, das allerdings von Anfang an in einem ausdrücklichen Spannungsverhältnis zu jenem traditionellen (abgestuften) Begabungsverständnis stand, das ein Recht auf Bildung abhängig machte von den entsprechenden Anlagen und Fähigkeiten eines Kindes (ebd., 178). Hinzu kam, dass der Anspruch einer antifaschistisch-demokratischen Bildungsreform schon sehr frühzeitig überlagert wurde vom zunehmenden Ost-West-Gegensatz zwischen Sowjetischer Besatzungszone (SBZ) und den Westzonen, der dazu führte, dass sich sowohl die bildungspolitische Programmatik als auch die tatsächliche Entwicklung des Bildungswesens bald in sehr unterschiedliche Richtungen zu bewegen begann. Am ursprünglichen Ziel, den Bildungsbesitz einer Minderheit zum Besitz aller zu machen, wurde später nur noch in der DDR festgehalten und dort mit »Instrumenten der Gegenprivilegierung« (Bonus für Arbeiter- und Bauernkinder, soziale Quotierung beim Zugang zu höherer Bildung, Arbeiter- und Bauernfakultäten) äußerst konsequent umgesetzt (Geissler 1992).

In den Westzonen (und ab 1949 in der entstehenden BRD) knüpften solche Bildungsreformversuche an anderen Traditionen an. Reformmaßnahmen benötigten hier (im Gegensatz zur »Reform von oben« in der SBZ/DDR) nicht nur eine »revolutionäre Legitimität«, sondern es waren parlamentarische Legitimationsverfahren erforderlich, um entsprechende Mehrheiten für bestimmte Reformmaßnahmen zu erreichen. Selbst die westlichen Siegermächte wagten nicht, die Egalisierung und Demokratisierung des Bildungswesens gegen den Willen der bürgerlichen Eliten in den Westzonen durchzusetzen. Der Zusammenbruch des »Dritten Reiches« und die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft lösten in den ersten Nachkriegsjahren zwar auch hier viele bildungspolitische Initiativen aus, die eine grundlegende Demokratisierung des traditionellen deutschen Bildungssystems forderten. Ausgangs- und Bezugspunkt für derartige Reformpläne war aber der bis Kriegsende vorgegebene gegliederte Schulaufbau, der in der Weimarer Republik entwickelt worden und auch von der nationalsozialistischen Bildungspolitik weitgehend unangetastet geblieben war, und in dem das fortgeschrieben wurde, was von der »Weimarer Koalition« schulstrukturell ermöglicht worden war: eine obligatorische vierjährige Volksschule (Grundschule) für alle, aber eben auch ein gegliedertes Sekundarschulwesen mit Volksschuloberstufe (Klassen 5 – 8), Mittelschule und Gymnasium, verbunden mit einer rigiden Übergangsauslese.

Besonderen Stellenwert hatte in dieser Reformphase vor allem die Umerziehungs-(»Re-Education-«)Programmatik, mit der vor allem die anglo-amerikanischen Vertreter der alliierten Besatzungsmächte eine demokratische Neugestaltung des gesamten Schullebens erreichen und eine sich wiederholende ideologische Durchdringung der Schule mit autoritärem Gedankengut verhindern wollten (Bungenstab 1970; Kuhlmann 1970; Pakschies 1979). Gleichzeitig drängten aber nicht nur die Vertreter der alliierten Besatzungsmächte nach Kriegsende auf die Durchsetzung einer demokratischen Bildungsreform, die gleiche Bildungschancen für alle, Unentgeltlichkeit des schulischen Unterrichts und eine starke Betonung staatsbürgerlicher Erziehung vorsah. Auch von deutscher Seite wurde in einer gemeinsamen Erklärung von SPD und KPD anfangs für ein »einheitliches Schulsystem« plädiert. Selbst Fürsprecher innerhalb der neu gegründeten CDU sprachen sich zunächst für ein einheitliches öffentliches Schulsystem mit klarer Trennung von Kirche und Schule aus, das »im Geiste einer kämpferischen Demokratie« verwirklicht werden sollte. In Gesetzesinitiativen bis Ende 1948 spiegelte sich das Bemühen, eine mehr oder weniger einschneidende Umstrukturierung des (west-)deutschen Schulwesens zu erreichen (vgl. dazu Kuhlmann 1970).

Das änderte sich jedoch deutlich im Zuge der Konstituierung der Westzonen als BRD. Spätestens dann verschoben sich die bildungspolitischen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Bundesländern, so dass sich solche weitgehenden Reformüberlegungen nicht mehr realisieren ließen. Im späteren Düsseldorfer Abkommen der Kultusminister der westdeutschen Bundesländer (1955), denen das Grundgesetz die Bildungs- und Kulturhoheit garantierte, wurde schließlich das in der Weimarer Zeit entwickelte gegliederte Schulsystem im Kern bestätigt und somit für die BRD die Wiederherstellung des selektiven, dreigliedrigen Schulwesens nach 1945 endgültig besiegelt (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 161 f.). Die Widerspiegelung der sozialen Hierarchie in der Hierarchie der Schulformen blieb bestehen und jeder Versuch, daran etwas zu ändern und dem »ungesunden Bildungsdrang« entgegen der natürlichen Begabung (Bayerische Schule 1956) nachzugeben, wurde heftig befehdet.

Die grundlegenden Reformüberlegungen im Hinblick auf die traditionell selektive Schulstruktur in den Jahren 1946 bis 1948 waren damit gescheitert. Rückblickend wird deshalb auch von einer »Restauration des Schulwesens« nach 1945 gesprochen, die mit einer bildungspolitischen Stagnationsphase bis hinein in die frühen 1960er Jahre verbunden war. Das von Ludwig Erhard propagierte und auf die Wirtschaftspolitik abzielende Schlagwort »Keine Experimente« galt auch für die Bildungspolitik. Trotz Wirtschaftswunder in den Wiederaufbaujahren bewegten sich die Ausgaben für das Bildungswesen auf niedrigem Niveau, auch wenn (unabhängig davon) die Auslesebestimmungen beim Übergang in weiterführende Schulen von einer ursprünglich obligatorischen Aufnahmeprüfung zugunsten eines Probeunterrichts teilweise gelockert und die Verwirklichung der Schulgeldfreiheit auch für weiterführende Schulen eingeführt worden war.

Ein weiterer Unterschied zur Entwicklung in der SBZ/DDR ist erwähnenswert: Die Entlassung der Altlehrer im Zuge der Entnazifizierung erfolgte in den Westzonen weit weniger gründlich als in der SBZ, wo der Anteil der sog. Neulehrer teilweise bis zu 80 % betrug (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 177). Um den Schulalltag nach 1945 möglichst schnell wiederherzustellen, hatten sich die alliierten Besatzungsmächte in den Westzonen in Kooperation mit den lokalen deutschen Verwaltungskräften bemüht, den geordneten Unterrichtsbetrieb in den teilweise notdürftig reparierten Schulen rasch wieder aufzunehmen. Dabei wurde auf vorhandene Verwaltungsstrukturen und auf vorhandenes Personal zurückgegriffen, soweit dieses nicht erkennbar politisch belastet war, eine »pragmatische« Maßnahme, die sich nicht immer im Sinne der Reformkräfte auswirkte. Hinzu kam, dass zwar in den oberen Etagen der Schulverwaltung die Erneuerung des Personals zunächst relativ wirksam gewesen zu sein scheint, dass aber in den mittleren und unteren Rängen der Anteil der übernommenen, oft konservativ eingestellten Lehrkräfte vergleichsweise hoch war. Auch durften viele Lehrkräfte nach erfolgter Entnazifizierung (teilweise nach kurzen Unterbrechungen) im Schuldienst verbleiben, so dass die neuen oder reaktivierten Reformkräfte vielfach isoliert wurden und bei der Durchsetzung von Reformbestrebungen nicht oder nur in geringem Umfang zum Zuge kamen. Gerade auch unter dem Eindruck des sich verschärfenden Ost-West-Gegensatzes gewannen so diejenigen bildungspolitischen Kräfte an Einfluss, die am herkömmlichen selektiven Aufbau des Schulsystems festhalten wollten und eine Einheitsschule nach DDR-Vorbild (»sozialistische Experimente«) ausdrücklich ablehnten.

Die Umsetzung des nach 1945 erklärten Ziels der strukturellen Erneuerung des Bildungswesens und, in Verbindung damit, die Abschaffung von Bildungsprivilegien gerieten vor diesem Hintergrund in der BRD bis in die Mitte der 1960er Jahre nahezu in Vergessenheit. Erst 1959 sprach sich der Deutsche Ausschuss für das Erziehungs- und Bildungswesen, ein im Jahre 1953 vom Innenministerium und der Kultusministerkonferenz einberufenes ehrenamtliches Beratungsgremium, programmatisch erneut für umfassende Reformen im Bildungswesen und für die Förderung von bildungsexpansiven Tendenzen aus: »Die Pflicht zu sozialer Gerechtigkeit und der vermehrte Bedarf der modernen Gesellschaft an höher gebildetem Nachwuchs machen es nötig, jedem Kind den Weg zu öffnen, der seiner Bildungsfähigkeit entspricht. Der Schulaufbau muss gestatten, alle kindlichen Begabungen zu wecken und sie nach Art und Grad auch an anspruchsvolleren Aufgaben zu erproben« (Deutscher Ausschuss 1964, 16). Damit wurden Reformgedanken formuliert, wie sie später in der Bildungsexpansionsphase ab Mitte der 1960er Jahre an Bedeutung gewinnen: Die Notwendigkeit der gezielten kindlichen Begabungsförderung und das Arbeitskräftebedarfsargument.

Und schließlich spielte ein dritter Zusammenhang eine nicht unwesentliche Rolle: Vor allem die Diskussion über zwei Prämissen des Deutschen Ausschusses – dass es unerkannte »Begabungsreserven« in beträchtlichem Umfang gäbe und dass die Förderstufe eine zuverlässigere und gerechtere Auslese verbürge als die traditionelle punktuelle Form der Auslese – verdeutlichte den Mangel an empirischen Kenntnissen über das Bildungswesen, zu dem die geisteswissenschaftlich ausgerichtete Pädagogik der 1950er Jahre ebenso beigetragen hatte wie eine Entwicklungspsychologie, die stets die Angeborenheit und Konstanz von »Begabungen« behauptet, aber nie hatte richtig nachweisen können (hierzu näher Kuhlmann 1970, 113f.). Der empirischen Forschung in der Bundesrepublik waren damit Fragen aufgegeben, deren Beantwortung sie sich in der ersten Hälfte der 60er Jahre endlich zuwandte (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 170). Die »realistische Wendung der Erziehungswissenschaft« (Roth 1963) beendete daraufhin die bis dahin weitgehende Empirieabstinenz der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik und bereitete der empirischen Bildungsforschung den Weg, um eine gesicherte Datenbasis über die konkrete Bildungspraxis bereitzustellen und um notwendige Bildungsreformmaßnahmen angemessen begründen und in ihrer Wirksamkeit überprüfen zu können. Parallel dazu fällt in diese Zeit das Ende der erklärten Planungsfeindlichkeit der Kultusministerien in den Ländern und die Öffnung der z. B. in Baden-Württemberg erstmals im Jahre 1964 eingerichteten Bildungsplanungsabteilungen der Kultusverwaltungen für Daten, Fakten und Prognosen zur Steuerung der Entwicklung des Bildungswesens.

In der SBZ (und späteren DDR) kam es im Unterschied zur restaurativen Bildungspolitik in den Westzonen zu einer substanziell deutlich anderen Entwicklung, selbst wenn in den 1960er Jahren auch in der DDR die Umorientierung von einer proportionalen zu einer leistungsorientierten Chancengleichheit erfolgte. Diese »Entideologisierung« der Auslesekriterien vollzog sich interessanterweise parallel zu der Verschärfung der ideologischen und ökonomischen Systemauseinandersetzungen zwischen Ost und West in der Folge des Sputnik-Ereignisses im Jahre 1957. Die Konvergenzen in Fragen der Bildungspolitik und Bildungsplanung in Ost und West sind vor dem Hintergrund der Meisterung der wissenschaftlich-technischen Revolution (DDR) bzw. der zweiten industriellen Revolution (BRD) und den damit verbundenen Qualifikationsanforderungen verblüffend (Herrlitz/Hopf/Titze 1993, 188): Kam es doch zu einer Annäherung an das liberale Konzept von Chancengleichheit (»Aufstieg der Tüchtigen«) und einer »meritokratischen Wirklichkeit«, die einherging mit einer zunehmenden sozialen Schließung des Bildungssystems in der DDR (Anweiler 1990).

2.3 Bildungsexpansionsphase seit Mitte der 1960er Jahre

Der Rahmenplan des Deutschen Ausschusses für das Erziehungs- und Bildungswesen von 1959 gilt als Vorläufer der Neuorientierung der westdeutschen Bildungspolitik und Schulentwicklung in der Nachkriegszeit, der Vorschläge für die Behebung des (im Vergleich zu anderen westlichen Industrienationen) eingetretenen Modernisierungsrückstands enthält. Obwohl bereits in diesem Rahmenplan unüberhörbar von sozialer Gerechtigkeit, von steigendem Bedarf an höher gebildetem Nachwuchs, von der Förderung von bisher unentdeckten Begabungsreserven und neuen Formen der Übergangsauslese die Rede ist (Deutscher Ausschuss 1964), fällt der öffentlichkeitswirksame Startschuss für die Bildungsexpansionsphase im Jahr 1964, als Georg Picht in einer Artikelserie in »Christ und Welt« (Picht 1964) für die Bundesrepublik Deutschland den Bildungsnotstand ausrief. Im internationalen Vergleich stellte er eine auffallend niedrige Abiturientenquote fest, die mit 4,3 % (1950/51) bzw. 6,7 % (1960/61) unzureichend erschien, um den Bedarf an höher qualifizierten Nachwuchskräften abzudecken (vgl. dazu auch Poignant 1966, 64 f.). Um die internationale Konkurrenzfähigkeit der Bundesrepublik sei es vor diesem Hintergrund und nicht zuletzt auch unter dem Eindruck des Sputnik-Schocks (1957) schlecht bestellt, zumal es laut Berechnung der Kultusministerkonferenz für die 1970er Jahre bei steigenden Schülerzahlen zu einem erheblichen Lehrerfehlbestand kommen werde. Wenn es nicht gelinge, so Picht, die Starrheit des dreigliedrigen Schulsystems zu überwinden und unentdeckte Begabungsreserven auszuschöpfen, drohe eine Bildungskatastrophe ungeahnten Ausmaßes. Die Bundesrepublik würde den Anschluss an die Erfordernisse einer modernen Wissensgesellschaft verlieren, wenn nicht rasch entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen würden.

Der damit angesprochene Grundgedanke einer bedarfsorientierten Bildungsplanung war allerdings Mitte der 1960er Jahre vor allem deshalb heftig umstritten, weil Planung als Zurückdrängung der freien Initiative und als Lenkung und Manipulation des Menschen nach dem Vorbild von totalitären Staaten (und insbesondere in der DDR) verstanden wurde. Erst mit dem Eintritt der planungsfreundlicheren SPD in die Regierungsverantwortung (Große Koalition 1966, Regierung Brandt/Scheel 1969) setzte ein Umdenken ein, so dass der Planungsbedarf allmählich anerkannt und durch eine politikberatende Wissenschaft sachlich untermauert wurde. Neben dem Bedarfsargument (mehr besser qualifizierte Arbeitskräfte) galt zunehmend auch das Demokratiegebot (mehr Chancengleicheit im Bildungswesen) als Legitimationsbasis für entsprechende Planungsschritte im Bildungswesen.

Nachdem Schelsky schon 1957 (18) seine (zunächst weniger beachtete) These von der Schule als der »primäre(n), entscheidende(n) und nahezu einzige(n) soziale(n) Dirigierungsstelle für Rang, Stellung und Lebens-Chancen des einzelnen« in der modernen Gesellschaft formuliert hatte, wurde Bildung in zunehmendem Maße als Vehikel des sozialen Aufstiegs begriffen. Gefordert wurden vor diesem Hintergrund gezielte Reformmaßnahmen, die ein Mehr an Chancengleichheit beim Zugang zu weiterführender Bildung garantieren sollten. Insofern war die öffentliche Reformdebatte zunehmend mit der Erwartung verbunden, dass mit dem Abbau von Bildungsungleichheiten auch der Abbau von sozialen Ungleichheiten betrieben werden könne. Der Traum vom Aufstieg durch Bildung war geboren. Und Dahrendorf (1965) lieferte mit seinem Buch »Bildung ist Bürgerrecht« ein entsprechendes Plädoyer zugunsten einer Politik der Chancengleichheit.

Wenn Dahrendorfs Plädoyer für mehr Demokratie im Bildungswesen und Pichts dringlicher Aufruf zugunsten einer stärker bedarfsorientierten Bildungsplanung immer wieder als Beginn der Bildungsexpansion proklamiert werden, darf allerdings nicht übersehen werden, dass bereits vor ihrer öffentlichen Ankündigung eine Bildungsexpansion stattgefunden hatte, die wegen der geburtenschwachen Nachkriegsjahrgänge, die damals die Schulen durchwanderten, nur nicht als solche wahrgenommen wurde (von Friedeburg 1978). Fand doch bereits in den 1950er Jahren ein vermehrter Übergang von der Grundschule auf weiterführende Schulen (Realschule, Gymnasium) statt, der mit einem drastischen Rückgang des relativen Hauptschulbesuchs und gleichzeitig mit einer erhöhten Abiturientenquote verbunden war, so dass es (im Rückblick betrachtet) schon vor 1964 einen deutlichen Wandel bei der Bildungsnachfrage gab, ohne dass dieser sich abzeichnende Trend als solcher wahrgenommen worden wäre. Im Gegenteil: Die bildungsökonomisch begründete Bedarfsplanung ging von Prognosewerten und amtlichen Statistiken aus, die sich im Nachhinein als fehlerhaft erwiesen und die zu irreführenden Schlussfolgerungen führten.

Die Befürworter einer Politik der Chancengleichheit im Bildungswesen konnten sich seit den 1960er Jahren zunehmend auf Forschungsergebnisse stützen, die auf nationaler ebenso wie auf internationaler Ebene vorgelegt wurden und die teilweise extrem ungleichen Voraussetzungen beim Zugang zu Bildung mit empirischen Forschungsdaten belegten. So zeigte Dahrendorf (1968, 51) am Beispiel der sozialen Herkunft der Studierenden im Wintersemester 1962/63, dass nur rund 5 % der Kinder aus Arbeiterfamilien, aber jeweils ein Drittel aller Kinder aus Beamten- und Akademikerfamilien an (west-)deutschen wissenschaftlichen Hochschulen immatrikuliert waren. Die Kunstfigur des »katholischen Arbeitermädchens vom Lande« sollte dabei veranschaulichen, welche Personengruppen aufgrund der punktuellen Übergangsauslese am Ende des vierten Grundschuljahres besonders geringe Bildungschancen hatten: Mädchen, Arbeiterkinder, Landkinder und Kinder aus katholischen Elternhäusern schafften in deutlich geringerem Umfang, diese Selektionshürde zu überwinden. Und auch im Hinblick auf die »Schulversager« ließen sich deutliche Zusammenhänge von sozialer Herkunft und Schulerfolg nachweisen, so dass die herkunftsbedingte Benachteiligung durch das vorgegebene Schulsystem zu einem viel diskutierten Thema jener Jahre wurde (Rolff 1997; Mangold 1978).