Martin Meißner
Die Flöte mit dem Wunderton
ISBN 978-3-86394-212-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1987 in Der Kinderbuchverlag Berlin
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Foto: Foto Hille
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Der Junge hieß Sebastian. Er war klein und rundlich und bewegte sich mit kurzen trippelnden Schritten vorwärts. Wenn er mit seinen Eltern die Straße überquerte, hopste er manchmal, um nicht zurückzubleiben, wie eine Amsel im Gebüsch. Aber lieber machte er seine gewohnten kurzen Schritte, die Fußspitzen ein wenig nach außen gedreht.
Der Junge hatte dicke Backen und ein rundes Kinn mit einem lustigen Grübchen darin. Die Haare waren kurz geschnitten. An der linken Schläfe bildeten sie einen Wirbel und ragten wie ein Mützenschirm über die Stirn nach vorn.
Mit fünf Jahren zog Sebastian aus der großen Stadt Magdeburg in das kleine Städtchen Klobenwalde.
Als er den dritten Tag im Kindergarten war, versteckte er sich in der Besennische. Während die anderen Kinder seiner Gruppe duschten, hockte er hinter einem Vorhang zwischen Wischeimern, Kehrblechen und einer Bohnermaschine. Wie das stachelt, dachte er, während die Borsten eines Schrubbers durch seinen Bademantel drangen, weil er sich in dem engen Verschlag nicht vom Fleck rühren konnte. Aber besser dieses Piken, als unter der Brause zu stehen.
Bei einer unvorsichtigen Bewegung stießen zwei hängende Kehrbleche aneinander und verrieten ihn. Er wurde von Hilda entdeckt.
Hilda war die größte Frau im Kindergarten von Klobenwalde. Sie verteilte mittags das Essen, das in Kübeln gebracht wurde, machte sauber und passte nachmittags auf die Kinder auf. Hilda wurde von allen Hilda genannt. Die Eltern sagten manchmal Frau Hilda oder Fräulein Hilda. Die wenigsten wussten, dass sie mit Nachnamen Lüddemann hieß.
»Wer bist du denn?«, fragte sie, als sie den Vorhang zurückzog.
»Sebastian Pröhl.« Er richtete sich zwischen den Eimern auf.
»Was machst du hier?«
»Ich warte.«
»Worauf wartest du?«, fragte Hilda und schaute den Flur entlang.
»Ich bleibe hier, bis meine Gruppe mit dem Duschen fertig ist. Wenn das Wasser nicht mehr rauscht, gehe ich zurück und ziehe mich wie die anderen an.«
»Und du duschst nicht?«
Sebastian zog den Bademantel zu und kreuzte die Arme vor der Brust, als wäre ihm kalt.
Als das Duschen beendet war, wurde der Junge vermisst.
»Sebastian! Sebastian!«, rief Fräulein Lauschert durch den Flur. Sie war seine Kindergärtnerin.
Hilda zog den Vorhang zu und schob Sebastian in die Küche.
»Wo steckt er nur?« Fräulein Lauschert kam näher.
Hilda trat wieder auf den Flur hinaus. Sie hatte ein Geschirrtuch genommen. Sie breitete es aus. Sie knüllte es zusammen.
»Wir haben einen Neuen«, erklärte Fräulein Lauschert. »Er hat sich vor dem Duschen gedrückt.«
»Ach, Sie meinen Sebastian«, sagte Hilda. »Ja, der ist in der Küche. Er hat mir geholfen. Heute gibt es eingelegte Heringe. Wir haben die Gräten herausgenommen.«
Die Kindergärtnerin schaute der älteren Frau ins Gesicht. »Komm mit, Freundchen!«, rief sie in die Küche.
Als Sebastian mit kleinen Schritten und eingezogenem Kopf neben der Erzieherin herging, schaute Hilda ihnen nach.
Mandy, ein Mädchen aus derselben Gruppe, lief den beiden entgegen.
»Er ist wasserscheu, Fräulein Lauschert«, stellte sie entrüstet fest. »Er ist sowieso solch ein Dicker. Kein Wunder, dass er sich nicht abhärten will.«
»Wasser ist eben nass«, bemerkte die Erzieherin.
»Ich dusche gern«, sagte Mandy.
Sebastians Eltern waren nach Klobenwalde gezogen, weil seine Mutter Arbeit im größten Betrieb der Stadt angenommen hatte.
Dieses neu erbaute Werk hatte der Junge vor Augen, wenn er aus dem Wohnzimmer nach draußen schaute. Es war das größte Gebäude der Stadt. Am höchsten und breitesten erschien es im Dunkeln. Mit seinen unzähligen erleuchteten Fenstern sah es wie eine riesenhafte viereckige Laterne aus, die angezündet war, um der ganzen Stadt mit ihren Häusern, Gärten und Straßen zu leuchten.
Vom Kinderzimmer aus fiel sein Blick auf den Poggenberg. Das war ein bewaldeter Hügel, der schwarz emporragte und in der Dämmerung genau wie die Fabrik zu wachsen schien, um die angrenzenden Wiesen, Wege und Gräben in Dunkelheit zu hüllen.
Als Sebastian drei Wochen in Klobenwalde lebte, saß er an einem Abend im Wohnzimmer und schlief. Er hatte die Stirn auf den Tisch gelegt. Neben seinem Kopf lag ein blauer Teddy und an der anderen Seite die Puppe Christian. Die Mutter hatte die Puppe Christian selbst genäht. Christian hatte einen flachen Kopf wie ein Eierkuchen und strähniges gelbes Haar aus Schafwolle.
Als die Mutter vom Einkäufen zurück war und ins Zimmer kam, trat sie leise an den Jungen heran. Sie strich ihm über die Haare, die sich aufrichteten und wieder niederlegten.
»Basti«, flüsterte sie.
Er erwachte, hob seinen Kopf und schaute die Mutter mit großen Augen an.
»Warst du lange weg?«, fragte er.
»Nicht sehr lange.«
»Es ist schon dunkel draußen«, stellte er fest. Er rutschte von seinem Stuhl herunter und ging zum Fenster. Dort zog er die Gardine beiseite und schaute nach draußen.
Die Mutter trat neben ihn.
»Wo ist der Baum, Mutti?«, fragte er, indem er sein Gesicht ganz nah an die Scheibe hielt.
»Was für ein Baum, Basti?«
»Wenn ich sonst hier an der Gardine entlanggucke, sehe ich immer einen Baum.«
»Es ist zu dunkel geworden, Basti.«
»Aber er ist doch ganz groß. Er ist größer als unser Haus.«
»Trotzdem.«
»Ist er weg?«
»Wo soll ein Baum hingehen?«, fragte die Mutter.
»Vielleicht hat er Angst allein. Wenn es dunkel wird, geht er zu den anderen Bäumen in den Wald. Morgens kommt er wieder auf seinen Platz in den Wiesen zurück.«
Die Mutter lächelte. »Wer weiß«, sagte sie und setzte sich an den Tisch.
Sebastian dachte an den großen Baum.
Dieser war ihm gleich am ersten Tag aufgefallen. Er fragte seinen Vater nach dem Namen. Aber der war sich nicht ganz sicher. Eine Kastanie wäre es nicht, sagte er. Dazu erschienen ihm die Blätter zu klein. Sie besaßen auch nicht diese langen Schlitze. Eher konnte es eine Esche oder Erle sein.
»Ich bin Schornsteinmaurer, Basti«, hatte sich der Vater entschuldigt. »Oben von einem Schornstein ähneln sich die Bäume sehr. Wenn wir erst unsere Wohnung eingerichtet haben, dann gehen wir mal hin. Wir pflücken uns ein Blatt ab und gucken auf dem Boden nach, ob Früchte herumliegen. Die Bäume unterscheidet man nach ihren Blättern und Früchten. Bis dahin sagen wir einfach - der große Baum. Was macht es da, ob es eine Esche oder eine Erle oder ganz was anderes ist!«
Sebastian beobachtete, wie auf der Chaussee ein Auto näherkam. Als es um die Kurve fuhr, huschte das Licht der Scheinwerfer über die Wiese. So sah der Junge einen Moment den großen Baum.
»Wer hat auf den Baum aufgepasst, als er noch klein war?«, fragte er die Mutter.
»Keiner«, antwortete sie.
»Und stand er schon an derselben Stelle auf der Wiese?«
»Ja. Wo denn sonst?«
»War da kein großer Baum in der Nähe?«
»Das weiß ich nicht. Aber es ist möglich, dass er allein dort stand«, antwortete die Mutter.
»Ich kann auch allein bleiben«, sagte der Junge. »Wie der Baum, als er noch klein war.«
Die Mutter trat wieder ans Fenster. »Was meinst du damit?«
»Ich meine, der blaue Teddy ist hier. Und Christian. Mit dem blauen Teddy und mit Christian kann ich wie mit den Kindern sprechen. Wir können turnen und basteln und unsere Schuhe schnüren. Und sogar duschen.«
»Das geht nicht, Basti«, entgegnete die Mutter. »Keiner kann allein bleiben. Nicht einmal der alte starke Baum kann es. Sogar er hat sich für die dunkle Nacht zu seinen Freunden in den Wald gestellt.«
»Hat er nicht«, widersprach er. »Als ein Auto vorbeigefahren ist, war er zu sehen.«
»Vielleicht hast du dich getäuscht. Es kann ein Koppelpfahl gewesen sein. Im Dunkeln sieht ein kahler Pfahl manchmal wie ein Baum mit Ästen und Blättern aus.«
Die Mutter legte den Arm um den Jungen und drückte ihn fest an sich. Sie hatte schon gespürt, dass ihn etwas betrübte. Er konnte so lustig lachen, dass alle mitlachen mussten. Aber seit sie in Klobenwalde wohnten, hatte sie sein gackerndes Lachen immer seltener gehört.
»Möchtest du wieder zu Oma Charlotte und Tanti Lene nach Magdeburg zurück?«, fragte sie.
Er antwortete nicht.
Bevor Sebastian nach Klobenwalde gezogen war, hatte er eine Zeit lang bei Oma Charlotte und Tanti Lene gewohnt. Sie waren Schwestern. Seit Oma Charlottes Mann gestorben war, lebten sie zusammen in einem Haushalt.
Es gab wenig, worin sich die beiden Frauen ähnelten. Charlotte war groß und wog beinahe hundert Kilogramm. Sie hatte eine laute Stimme und sang gern. Lene dagegen war klein und schmal.
Aus ihrem Gesicht schaute eine lange Nase heraus, die eine metallene Brille mit runden Gläsern trug. So ähnelte sie einem Vogel, der ängstlich über den Rand seines Nestes späht. Sie sprach mit leiser, etwas näselnder Stimme, und es klang, als ob sie sich stets über etwas beklagte.
Oma Charlotte und Tanti Lene stritten sich sehr oft. Trotzdem kamen sie nicht ohne einander aus. Wenn die eine verreist war, ging die andere beinahe zu jedem Zug, in der Hoffnung, die Schwester käme früher als vereinbart zurück. Aber schon auf dem Heimweg stritten sie sich wieder.
Nur in einem Punkt bildeten sie eine unbesiegbare Streitmacht. Das war Charlottes Enkelsohn Sebastian, der bei ihnen lebte, bis seine Eltern die neue Wohnung in Klobenwalde bekamen.
In den Kindergarten schickten sie den Jungen sehr unregelmäßig. Wenn sie ihn einmal hinbrachten, trieben sie sich die ganze Zeit in der Nähe herum. Vor Schaufensterscheiben oder hinter einer Litfaßsäule lauerten sie darauf, dass seine Gruppe einen Spaziergang machte.
»Mal sehen, wie er sich freut, wenn wir winken«, sagten sie.
In seinem neuen Kindergarten konnte sich Sebastian schwer eingewöhnen. Nur mit Hilda freundete er sich bald an. Während seine Gruppe nach dem Mittagessen zur Abhärtung auf den Hof ging, verdrückte er sich in die Küche und half dort.
»Bist du eine Oma, Hilda?«, fragte der Junge eines Tages, als er einen Tellerstapel zum Küchenschrank trug.
»Nein, Sebastian, ich habe keine Kinder.«
»Kinder?«, fragte er. »Ich wollte wissen, wer zu dir Oma sagt.«
»Du meinst Enkelkinder. Nein, die habe ich auch nicht.«
»Dann hast du auch keine Mutti?«
»Nein, ich bin ganz allein. Ich war immer für mich. Seit mein Vater gestorben ist.«
Sebastian trat an die Heizung und breitete sein Geschirrtuch zum Trocknen aus.
»Dann hast du also einen Vati?«
»Ja. Aber der ist gestorben.«
»Und der hat keine Kinder?«
»Doch, Sebastian. Das bin ich.«