Wolfgang Held
Die gläserne Fackel
Roman
ISBN 978-3-86394-943-3 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1989 im Mitteldeutschen Verlag Halle - Leipzig.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2013 EDITION digital®
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Jena ... Die freundliche Lage der Stadt, viel gerühmt, soll
selbst dem viel gereisten Kaiser Karl V. das Geständnis entlockt haben, dass er
außer Florenz kaum eine schönere Gegend gesehen habe. J. zählt 7233 Einwohner
und besitzt ein altes Schloss ... Ihren weltgeschichtlichen Namen verdankt die
Stadt der Universität und der Schlacht vom 14.Oct. 1806 ...
(Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände - Leipzig:
F. A. Brockhaus 1866)
Über das Gesicht des Ausreißers floss Schweiß. In seiner Brust stach es wie mit Nadeln. Brennnesseln klatschten blasig-rote Male auf die nackten Waden. Der rechte Fuß blutete. Der barfüßige Junge rannte, als ginge es um sein Leben. Keuchend flüchtete er hangaufwärts. Weit hinter ihm kläffte unter den Apfelbäumen einer großen Plantage die Dogge an der Seite des Feldhüters.
Nur wenige Meter trennten den Jungen vom oberen Rand des Hanges, wo schulterhoch gewachsener Mais angrenzte. Er rätselte, weshalb der Flurwächter nicht den immer noch dumpf und zornig bellenden Hund losmachte.
Ein Flintenschuss krachte!
Der Schreck brachte den Jungen ins Stolpern. Mit den Armen fing er den Sturz ab. Das Hemd klaffte. Gelbgrüne Sommeräpfel kullerten. Hastig griff er zu, raffte, was er schnappen konnte, hastete weiter.
Ein zweiter Schuss!
Die Schrotladung flog an dem Fliehenden vorbei. Bleiperlen prasselten in den Mais.
»Lumpenpack, elendiges!« Die Stimme des Schützen dröhnte hinter dem Jungen her, der im dichten Grün verschwand.
Das Gebell der Dogge rückte in die Ferne und verstummte schließlich.
Der Halbwüchsige rannte weiter, bis er auf der anderen Seite des Feldes endlich zur Landstraße kam. Eine kurze Strecke lief er noch, hin und wieder einen Blick über die Schulter werfend. Er wurde nicht verfolgt.
Doch erst eine knappe Meile vor Jena, wo der spärlich befestigte Fahrweg zwischen der Residenz des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach und der altehrwürdigen Universitätsstadt wieder in bewaldete Region gelangte und schlängelnd hinab ins Saaletal führte, gönnte sich der nun doch ziemlich erschöpfte Junge eine Rast.
Der Vierzehnjährige hieß Franz Steinhüter. Ohne jegliches Gepäck, ohne Wegzehrung, ohne einen einzigen Pfennig in der Tasche war er bereits den vierten Tag unterwegs. Sein ganzer Besitz bestand aus der knielangen, derbleinenen Hose, dem über den Hüften mit Strick zusammengehaltenen, arg verwaschenen Kittelhemd, einem scharfen Klappmesser und einem Tabakpfeifenkopf, von geübter Hand in Ruhla aus türkischem Meerschwamm geschnitten.
Auf der langen Wanderung aus dem Bergwald, vom Rennsteig herab, entlang der Ilm bis hierher ins Weimarische, hatte der Junge den Hunger notdürftig mit dem gestillt, was sich am Weg fand. Heidelbeeren oder frühe Kirschen, Möhren oder junge Erbsen, Feldgurken oder halb reife Sommeräpfel. Wer sein Streben ganz und gar auf ein einziges Ziel richtet, lässt sich nicht ohne äußerste Not aufhalten. Nachtlager in verwitterten Scheunen, unter freiem Himmel im Schutz eines Haselnussstrauches oder an einem feuchtkaltem Felsen nahe am Fluss hatten den mageren Jungen in keiner Stunde entmutigt. Vom Schnupfen belästigt, mehr als eine halbe Woche lang nicht gewaschen und nun ganz hingegeben dem Genuss herbsüßen, beim Kauen leicht schäumenden Apfelfleisches, so hockte er, an einen Buchenstamm gelehnt, unweit der im Mittagslicht wie stets einsamen Straße.
Obwohl Franz Steinhüter von klein auf durch alle vier Jahreszeiten vertraut war mit den unterschiedlichen Geräuschen und Gerüchen des Waldes, entgingen ihm jetzt Zeichen, die ihn hätten warnen müssen.
Nahezu von einer Minute zur nächsten breitete sich eine beklemmende Stille aus. Zuerst erlosch das Rauschen in den Baumwipfeln, gleich darauf verstummten die Vögel. Nirgendwo im Gras zirpte noch eine Grille. Nichts davon drang dem Jungen ins Bewusstsein. Er war mit seinen Gedanken in Regionen, die von diesen sicheren Signalen eines schnell heraufziehenden Unwetters nicht berührt werden konnten.
Das Kinn auf die Brust gesenkt, die Augen geschlossen und reglos, so erweckte der Rastende den Anschein, als habe ihn Schlaf übermannt. Der Eindruck täuschte. Aus der Meerschaumpfeife, die er in Nasennähe hielt, sog er den bissigen Rauchgeruch verbrannten, billigen Knasters ein. Er gab sich Erinnerungen hin, die bis tief in seine Seele schmerzten. Tränen liefen über sein schmutziges Gesicht.
Ferner Gewitterdonner, Peitschenknall und langsam näherkommender Hufschlag holten den Jungen am Straßenrand aus bitteren Vorwürfen gegen den Herrgott, der das Sterben über die Menschen so ungerecht ausgestreut hat. Er sprang auf, steckte den Pfeifenkopf hastig ein und suchte Deckung hinter der Buche. Gespannt sah er in die Richtung, aus der das Knarren und Klirren eines Fuhrwerkes kam.
Eine vierspännige Reisekutsche holperte über Rinnen und Wegelöcher. Die Pferde trotteten. Der livrierte Mann auf dem Kutschbock blickte immer wieder besorgt nach Südwesten, wo eine schwarze Wolkenfront, wetterleuchtend und grollend, den Himmel verdunkelte. Seinem wachen Gespür blieb nicht verborgen, dass sich dicht hinter dem Fuhrwerk ein Junge aus dem Wald löste und schnell in den lehmgelben Staubschweif eintauchte, der an dem Wagen hing. Er wusste sofort, was der kaum wahrnehmbare Ruck und das kurze, seitliche Wippen der Karosserie zu bedeuten hatte, aber er unternahm nichts gegen den blinden Passagier, der sich nun am Kutschenheck neben der regenfesten Gepäcktruhe festklammerte.
Freue dich nicht vor der Zeit, Freundchen, dachte der Kutscher. Er grinste vergnügt und warf mit viel Geschick die bereitliegende, knöchellange Kalmuck-Pelerine über seine Schultern. Deine Abreibung, die schickt dir gleich der Herr Petrus höchstpersönlich.
Fünf Fahrgäste hatten an diesem schwül-heißen Sommertag des Jahres 1866 in Weimar vor dem Thurn-und-Taxisschen Postamt am Karlsplatz die Kutsche nach Jena bestiegen. Ein hagerer, junger Mann, dazu ein älterer Herr mit Zwicker und grau meliertem, bis zum Gürtel herabfallendem Bart sowie zwei füllige Damen vorgerückten Alters. Sie alle waren mit der Eisenbahn in der Residenzstadt angekommen und dort zum Umsteigen in das weit weniger komfortable Gefährt gezwungen. Die Universitätsstadt drüben an der Saale besaß noch keinen Eisenbahnanschluss.
Ein fünfter Mitreisender stammte aus Weimar. Ihm gehörten hier Anteile einer großen Mühle. Er hatte gehört, dass in einer Jenaer Kammgarnspinnerei eine Dampfmaschine aufgestellt worden sei. Zwar zählte man zurzeit in den deutschen Staaten schon mehr als fünfzehntausend dieser Maschinen mit insgesamt fast zweihundertfünfzigtausend Pferdekräften, aber in der Residenzstadt gab es noch keines dieser technischen Wunderwerke, deren Verwendbarkeit im Mühlenbetrieb der Mann nun in Jena erkunden wollte. Man sah ihm an, dass er viel von gutem und reichlichem Essen hielt. Die Kutsche hatte kaum die Ilmbrücke passiert, als er schon seinen Proviantkorb öffnete. Nun stopfte er seit einer Stunde Hühnerfleisch, Knackwurst, Semmeln und Kuchen in sich hinein, spülte dauernd mit kräftigen Schlucken aus einer Weinflasche nach und würdigte die anderen Fahrgäste keines Blickes. Außer krachenden Rülpsern war von ihm während der ganzen Fahrt bisher nicht ein Laut zu vernehmen gewesen.
Das Zischen des Zündholzes, mit dem der junge, gerade in seiner Coupéecke sitzende Mann nun die dritte Zigarette innerhalb einer Stunde ansteckte, weckte den gegenüber schlummernden Herrn. Der Vollbärtige rückte seinen Zwicker zurecht und bekam offenbar Lust auf eine Unterhaltung mit dem Raucher.
Die zwei Damen rümpften hingegen zum wiederholten Male ihre Nasen. Sie schickten vorwurfsvolle Blicke zur Coupéecke, blieben aber weiter bei dem Gesprächsthema, das sie bereits eine ganze Weile beschäftigte.
»Es heißt ja überall, dass diese Eisenbahn eine Menge Krankheiten und noch anderes Unheil verbreitet«, räsonierte eine der beiden. Sie hob ihre Lorgnette und musterte den jungen Herrn mit der Zigarette. »Der Rauch, der Gestank ... Impertinent!«
»Und dazu der Lärm.« Ihre Begleiterin pflichtete ihr eifrig bei. »Aber glauben Sie mir, Gnädigste, alles, was Gottes herrliche Natur derart beleidigt und so zerstört wie diese grässlichen, Funken speienden Lokomotiven, diese eisernen Schienen kreuz und quer durch Wald und Flur, dieses teuflische, alle Kreatur schreckende Getöse ... das hat keine Zukunft, liebe Freundin, da bin ich ganz sicher!«
Der Raucher in seiner Ecke lächelte. Auf Sticheleien gegen das Rauchen reagierte er seit Jahren nicht.
»Nune griechen mir gleich was runder, Herrschaften«, sagte der dicke Weimarer plötzlich zwischen zwei Bissen. Er kaute weiter, während er hinaus zum Himmel deutete. Seine Worte glichen einem Kommando. Regen prasselte herab wie aus hundert Schläuchen.
Beim ersten blitzenden Krachen erbleichten die beiden Damen und wurden sehr schweigsam.
Die Herren in den gegenüberliegenden Coupénischen schenkten dem Geschehen draußen nur mäßige Aufmerksamkeit. Sie hatten sich soeben einander vorgestellt und fanden sichtlich Interesse an dieser Reisebekanntschaft.
Der bärtige Professor Doktor Helbach, von der Universität in Halle kommend, betrachtete den jüngeren Mitreisenden über den Zwickerrand hinweg. »Abbe, Abbe ... Doch nicht gar verwandt mit unserer hallischen Kaufmannsfamilie dieses Namens, Herr Doktor?« Er spielte mit dem über seinen Bauch wallenden Bart und ließ den Blick nicht von dem Raucher.
»Nein, ich bin Eisenacher, Herr Professor.«
»Ach ...!« Die Stimme Helbachs klang enttäuscht. »Sehr renommierte Leute, die Abbes bei uns in Halle an der Saale, müssen Sie wissen.«
»Die Abbes in Eisenach ganz und gar nicht, leider.« Der Doktor aus der Wartburgstadt lächelte erneut. »Mein Vater arbeitet in einer Fabrik ... Werden Sie bei uns in Jena Vorlesungen halten, Herr Professor?«
Der Professor aus Halle nickte, doch seine Gedanken bewegten sich noch um die Antwort Abbes, der erst Mitte Zwanzig war und ihm imponierte.
»Der Vater in einer Fabrik und der Sohn unterm Doktorhut, das verdient wahrlich Respekt! Auch Mediziner, wenn die Frage erlaubt ist?«
»Physik und Mathematik. Vorläufig schlage ich mich noch so recht und schlecht als einer von fünfzehn Privatdozenten an unserer Alma Mater durch ... Bleiben Sie länger in Jena?«
Wieder verschmolzen draußen Blitz und Donner in einem infernalischen Knall. Die Pferde scheuten. Der Wagen schaukelte und ächzte wie unter Hammerschlägen. Die beiden Damen krochen zueinander, verbargen ihre Gesichter und wünschten sich nun doch in ein stabiles Eisenbahnabteil.
»Ha'ch 's nich gesachd!«, brummte der Weimarer. »Nune drööscht's!«
Die beiden Akademiker unterbrachen ihre Unterhaltung bloß für Sekunden.
»Ich werde mich nur zwei, drei Tage aufhalten«, antwortete der Professor Helbach dann dem jungen Doktor. »Wir haben ein Konzilium an der Medizinischen Fakultät. Aber zuerst werde ich mal jemandem gehörig die Leviten lesen ... Kennen Sie den Meister Zeiss?«
Doktor Abbe horchte auf. Auch der kauende Dicke aus Weimar wandte jetzt den Blick von draußen ab und schaute neugierig zu dem bärtigen Wissenschaftler.
»Carl Zeiss?«, fragte Doktor Abbe. »Unseren Universitätsmechanikus vom Johannisplatz?«
»Eben den«, bestätigte Professor Helbach. »Hat mich sehr enttäuscht, dieser Mann!«
Doktor Abbe schüttelte erstaunt den Kopf.
»Das wundert mich. Ich darf hin und wieder in seiner Werkstatt ein wenig basteln ...«
»Hilfsbereit, das war er seit eh und je, der Meister Zeiss!« Sein voller Mund hinderte den Dicken nicht, sich einzumischen. »Tüchtich! Hochanständisch! Das sacht Sie jeder bei uns hier!«
»Ich glaube, an der Universität gibt es niemanden, der die Arbeit vom Meister Zeiss nicht schätzt, Herr Professor«, führte Doktor Abbe seinen Einwand weiter. »Vorzügliche Mikroskope ...«
Der Dicke hatte seinen Bissen heruntergeschluckt und drängte sich erneut in das Gespräch. »Über tausend Stück hatt'r schon gemacht, der Meister. Er stammt nämlich von uns aus d'r Residenz. Bis ins Zarenreich solln seine Dinger gegangen sein. Ärscht neulich stand wieder was bei uns im Bladde drüwer!«
Der Professor musterte den dicken Mitreisenden streng, setzte zu einer Entgegnung an, besann sich dann aber anders und beließ es bei einer wegwerfenden, von einem Kopfschütteln begleiteten Handbewegung.
Die Reisekutsche erreichte die Gärten am Stadtrand von Jena. Der Himmel über der Saale hellte wie zu freundlicher Begrüßung langsam auf und spannte einen hohen Regenbogen über den Fuchsturm. Es regnete nur noch wenig. Kleine Wellenringe kräuselten die Pfützen. Die Wagenräder schnitten tiefe Rinnen in den Schlamm. Schmutz spritzte.
Der Junge hinten neben der Gepäcktruhe hatte keine Hand frei, um sein Gesicht zu schützen. Hemd und Hose klebten am Körper. Fröstelnd wartete er, bis rechts und links die ersten Häuser auftauchten, dann sprang er ab. Wenig später erkundigte er sich bei einem Mädchen, das ihm mit einem vollen Bierkrug entgegen kam, nach dem Weg zum Johannisplatz.
»Weniger als tausend Schritte geradeaus«, sagte die Kleine und musterte ihn argwöhnisch. »Bist du ein Zigeuner?«
Franz Steinhüter stutzte, dann schaute er an sich herab und begriff die Frage. Er sah aus wie einer, der im Sumpf gebadet hat. Die Zigeuner, die manchmal für ein paar Tage neben der Hütte des Großvaters ein Lager aufgeschlagen hatten, wären nicht bereit gewesen, ihn so in ihren Wagen zu lassen.
»Nein«, sagte er. »Ich bin ein verzauberter Prinz!« Das Mädchen blickte ihm ungläubig nach. Vom Rathaus her schallten drei Glockenschläge über die Dächer der Stadt.
Das Haus Nummer 10 am Johannisplatz gehörte dem Mechaniker- und Optikermeister Carl Zeiss. Seit neun Jahren besaß er hier mit seiner Familie Wohnung, Werkstatt und einen kleinen Laden unter einem Dach.
Eigentlich hatte der Sohn des Weimarer Holzdrechslers Johann August Gottfried Zeiss die Absicht gehabt, nach harten und lehrreichen Wanderjahren eine Werkstatt in seiner Heimatstadt zu eröffnen. Die großherzogliche Behörde zerstörte diesen Plan mit einem Federstrich. Gesuch auf Niederlassungsgenehmigung abgelehnt. Zwei bereits vorhandene Mechanikerwerkstätten genügen dem Hofstaat und der Bürgerschaft.
Der Hofdrechsler Zeiss hatte in seinem Sohn zeitig und gründlich alle Keime eines despektierlichen Aufmuckertums erstickt, das jedes geordnete Staatswesen bedroht wie zerstörerisch-schleichender Hausschwamm die stärksten Mauern. Carl Zeiss hatte seine geringe Habe samt einem Schraubstock geschultert und war den Dreistundenweg ins benachbarte Jena gewandert, um dort sein Glück zu versuchen. Er kannte das Saalestädtchen bereits recht gut. Bei dem Hofmechaniker Dr. Johannis Christian Friedrich Körner hatte er hier von 1834 bis 1838 nicht nur das Handwerk erlernt, sondern sich auch in der Bearbeitung optischer Gläser und im Glasschmelzen geübt.
In seinem ehemaligen Lehrherrn sowie in dessen langjährigen Kunden, den Professoren Schleiden, Haeser und Schmid, fand der damals dreißigjährige Weimarer angesehene Fürsprecher seines Antrags auf Ortsbürgerrecht und Konzession zur Fertigung wie auch zum Verkauf mechanischer und optischer Instrumente. Die Entscheidung im Rathaus fiel zu seinen Gunsten. Gegen Zahlung von 24 Talern durfte er in der Neugasse 7 seine erste Werkstatt nebst Laden eröffnen. Die in jenem Haus vor der Stadt herrschende Enge veranlasste ihn schon nach einem Jahr zu einem Umzug. Für die größeren Räume musste er allerdings jährlich 42 Taler Miete zahlen, bis ihm seine Einkünfte den Kauf des Hauses am Johannisplatz ermöglicht hatten.
Schräg gegenüber dem Zeissschen Gebäude gab es eine Toreinfahrt. Von hier aus beobachtete Franz Steinhüter an diesem späten Nachmittag das Haus. Er wagte keinen Schritt dorthin. Der Mut hatte ihn plötzlich verlassen. Erst hier, wenige Meter vor seinem Ziel, war ihm bewusst geworden, wie schmutzig und verwahrlost er in seiner noch immer feuchten, lehmbespritzten Kleidung aussah. Sollte er in diesem heruntergekommenen Zustand dem einzigen, geliebten Menschen, der ihm geblieben war, entgegentreten?
Ein Polizist schritt auf seiner Nachmittagsrunde über den Johannisplatz.
Unwillkürlich drückte sich der Junge tiefer in den Torwinkel. Er wagte den Blick erst wieder hervor, als der Uniformierte verschwunden war.
Hinter den Fenstern der Werkstatt wurde gearbeitet. Im Hintergrund des Raumes, wo das Tageslicht nicht ausreichte, brannten Öllampen.
Franz Steinhüter konnte einige Männer und zwei Halbwüchsige erkennen, die bei ihren Tätigkeiten kaum einmal den Kopf hoben.
Vom Pulverturm her strebte ein älterer Herr geradewegs auf das Zeisshaus zu. Es war jener Professor Helbach, den die Kutsche aus Weimar erst vor knapp zwei Stunden nach Jena gebracht hatte. Er trug eine kleine Holzkiste bei sich und hielt einen Regenschirm unter dem Arm.
Franz Steinhüter beobachtete, wie der Professor seinen Fuß auf die Stufen zur Haustür setzte und im nächsten Augenblick mit einer jungen Frau zusammenstieß, die mit einem leeren Einkaufskorb gerade eilig im Begriff war, das Haus zu verlassen.
Die Frau stieß einen Schreckenslaut aus.
»Tausendmal Pardon.« Dem Professor war die Situation peinlich. »Wie ungeschickt von mir ... Die Frau Meisterin?«
Fast erschrocken wehrte die junge Frau ab. »Aber nein, aber nein, gnädiger Herr. Die Dienstmagd, nur die Dienstmagd!«
Von seinem versteckten Platz aus konnte Franz Steinhüter nicht verstehen, was drüben an der Tür gesprochen wurde, aber es interessierte ihn auch nicht. Er hatte in dieser Minute nur Augen für die Frau mit dem Korb. Wie gebannt verfolgte er jede ihrer Bewegungen. Er sah, wie sie die Tür offenhielt, und wartete, bis der Besucher im Haus war. Von diesem Moment an überlegte er nicht mehr. Er lief hinüber und stand vor ihr, als sie sich zum Gehen wandte.
Ein paar Herzschläge lang schauten sie einander stumm an, die Frau verwirrt und ihren Augen noch nicht trauend, der Junge erwartungsvoll und mit einer Spur trotziger Herausforderung im Blick.
»Franzi!« Karoline Steinhüter trat auf ihren Sohn zu. Sie umarmte ihn. »Mein Gott, Junge.«
»Großvater ist tot«, presste er leise hervor. Die Wärme ihres Körpers und der Geruch von Kräutern gaben ihm für Augenblicke das Gefühl von Geborgenheit, wie er es stets an der Seite des verstorbenen alten Köhlers empfunden hatte, bei dem er aufgewachsen war. »Sie haben ihn unten im Dorf begraben ...«
Sanft löste Karoline Steinhüter die Umarmung.
Franz fuhr mit der Hand über die nassen Augen.
»Dein Onkel hat mir alles geschrieben«, sagte sie leise. Sie strich ihrem Sohn die zottigen Strähnen aus der Stirn. »Im Brief stand auch, dass er dich zu sich auf den Hof genommen hat. Dafür will er das Geld für die Köhlerhütte oben im Wald ...« Sie stockte. In Jena wusste kein Mensch von ihrem unehelich geborenen Kind. Plötzlich wurde ihr bewusst, dass dieses streng gehütete Geheimnis jede Minute entdeckt werden konnte. Hastig griff sie nach dem Korb.
»Schlampenbankert hat er mich genannt, der Onkel«, Franz schluckte. Verletzter Stolz machte ihm die Kehle eng. »Und Kirmesbastard! Ich gehe da nicht wieder hin, Mama. Ich ... ich habe Hunger!«
Karoline Steinhüter schaute sich ängstlich um. Ein Bursche mit zwei gefüllten Wassereimern am Tragholz drehte im Vorübergehen nicht den Kopf. Auch die ältere Frau, die einen kleinen, mit Reisig beladenen Handwagen quer über den Johannisplatz stadteinwärts zog, sah nicht nach rechts oder links.
»Komm jetzt erst einmal schnell weg hier.« Sie schob ihren Sohn zur Haustür. »Und leise, hörst du! Drinnen im Haus keinen Laut, Franzi!« - Nur wenige Minuten vergingen, dann erschien die Dienstmagd der Familie Zeiss erneut und eilte zum Einkauf davon.
Aus der Werkstatt drang das helle, bohrende Sirren der mit Fußantrieb in Gang gehaltenen Drehbänke und das scharfe Knirschen der Schleif- und Poliermaschinen in den abgeteilten, engen Arbeitsraum des Meisters. Die Tür zum angrenzenden, kleinen Laden stand offen.
Professor Helbach saß vor dem Schreibtisch. Seine Rechte steckte unter dem Bart zwischen den Westenknöpfen, die Finger der Linken klopften einen langsamen Takt auf den Oberschenkel.
»Ich will ja gern zugeben, dass hundertfünfundachtzig Taler in diesen Zeiten nicht zu viel sind für ein System, das fünfhundertdreißig- oder neunhundertachtzig- oder gar tausendvierhundertvierzigfach vergrößert ...« Der Wissenschaftler ließ den Satz unbeendet, weil er nicht sicher war, ob der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches zuhörte.
Carl Zeiss, ein Mann Anfang Fünfzig mit grau meliertem Haar und gepflegtem Vollbart, die hohe Stirn jetzt gerunzelt, prüfte eines der Mikroskope, die in handwerklicher Einzelfertigung bei ihm hergestellt wurden. Durch dicke Brillengläser nahm er Teil für Teil genau in Augenschein, probierte Triebbewegungen, Tubusauszüge und Prismenführungen. Er kannte sich mit diesen Instrumenten aus wie kaum ein anderer Meister in Europa. Sein erstes, einfaches Mikroskop hatte er auf Vorschlag des Jenaer Professors Schleiden, noch ohne geeignete Maschinen, nur mit Feile, Blechschere und ein paar Hilfswerkzeugen, schon 1847 gebaut und in den folgenden fünf Jahren so viel Erfahrungen gesammelt, dass 1857 in seiner Werkstatt monatlich bereits bis zu vier Stück davon angefertigt werden konnten. Danach begann ihn der Bau komplizierterer und leistungsfähigerer Mikroskope zu interessieren.
Die beachtliche Qualität dieser Erzeugnisse verbreitete den guten Ruf von Carl Zeiss schnell weit über die Grenzen des Großherzogtums hinaus. 1860 hatte man ihn zum Jenaer Universitätsmechaniker ernannt, und die Goldmedaille für seine Mikroskope auf einer Thüringer Gewerbeausstellung brachte ihm den Titel eines Hofmechanikus ein. Man rühmte ihn überall als einen Meister und Unternehmer, dessen Name beste Handwerksarbeit garantierte. Um so mehr traf ihn nun die Beanstandung eines von ihm nach Halle gelieferten Mikroskopes.
Auch der neben Carl Zeiss am Schreibtisch stehende Altgehilfe und Vertraute August Löber, einst der erste Lehrling des Meisters, blickte ärgerlich auf das Instrument.
Die Stille wurde dem Professor aus Halle unbehaglich.
»Wir waren ja all die Jahre des Lobes voll, was Ihre Arbeiten betraf, Herr Meister, das kann ich nicht anders sagen«, meinte er vorsichtig. Es war ein Versuch, die unumgängliche Auseinandersetzung möglichst frei von feindseliger Schärfe zu halten. »Aber dieses eine Mal eben, so leid es mir tut - eine Enttäuschung, sit venia verbo.«
Carl Zeiss nickte. Es war nicht ganz klar erkennbar, ob er damit die Worte des unzufriedenen Kunden oder das Ergebnis seiner Untersuchung bestätigen wollte. Er reichte Löber das abgebaute Objektiv des bemängelten Instruments und wartete auf die Meinung seines bewährtesten Mitarbeiters. Der Altgehilfe hielt das Teil dicht an die Augen und verzog den Mund.
»Oswald«, sagte er knapp und bestimmt.
»Schick ihn zu mir«, befahl Carl Zeiss.
Löber deutete in Richtung des Professors aus Halle eine hölzerne Verbeugung an und verließ den Raum.
Langsam, wie von einer Anstrengung erschöpft, lehnte sich Carl Zeiss in seinem Schreibtischsessel zurück. Über die Brillengläser hinweg sah er dem Kunden gerade ins Gesicht.
»Das ist, bei Gott, sehr unangenehm. Aber zum Glück ist es auch eine Ausnahme. Sie bekommen selbstverständlich ein neues, einwandfreies Instrument. Das beste sogar, was ich zurzeit bieten kann ...« Er verstummte. Die Miene Helbachs ließ keinen Zweifel daran, dass dieses Angebot auf Ablehnung stieß. »Sie haben einen anderen Vorschlag?«
»Eigentlich dachte ich an die Rückerstattung des Kaufpreises.«
»Aber Sie schrieben damals doch, dass bei Ihnen ganz dringend ein gutes Mikroskop gebraucht wird?!«
»Zugegeben ...« Professor Helbach wich dem Blick des Meisters aus. Offensichtlich bewegte sich das Gespräch auf einen ihm unangenehmen Punkt zu.
»Sie werden nicht noch einmal enttäuscht sein, Herr Professor«, versicherte Carl Zeiss.
»Offen gestanden: Ich habe bereits, was nötig war, Herr Meister, und ich bin mit dem Instrument sehr zufrieden. Im höchsten Maße zufrieden sogar.«
Für eine Minute waren nur die Geräusche aus der Werkstatt zu hören.
»Ein Mikroskop aus Berlin, nehme ich an?«, fragte Carl Zeiss dann auffallend ruhig.
»Aus der Werkstatt Hartnack.« Professor Helbach war sichtlich erleichtert. »Die Berliner verbessern die Leistung der Mikroskope ganz beträchtlich mit Immersionssystemen, die ein Italiener eingeführt hat.«
»Amici«, sagte Carl Zeiss. Er wusste, dass man in der Berliner Werkstatt schon seit einiger Zeit die Erfindung des italienischen Astronomen und Mikroskopebauers benutzte, wonach zwischen Objektiv und Frontlinse eine Flüssigkeit gegeben und mittels eines vergrößerten Öffnungswinkels eine höhere Qualität erreicht wurde. Gemeinsam mit Löber hatte er bisher erfolglos versucht, diesen technischen Vorsprung aufzuholen. »Wenn Sie also darauf bestehen, Herr Professor Helbach ...«
Schüchternes Klopfen an der Tür unterbrach den Meister. Auf sein Wort hin trat der Gehilfe Oswald herein.
»Sie haben mich gerufen, Herr Prinzipal?« Der Blick des Mannes im grauen Arbeitskittel flog zwischen Meister, Besucher und dem Mikroskop auf dem Schreibtisch hin und her.
Carl Zeiss erhob sich. Der Wissenschaftler aus Halle stand ebenfalls auf.
»Ich denke, wir werden uns einig, Herr Professor«, erklärte der Meister und geleitete den Kunden zur Ladentür.
»Sie finden mich im Schwarzen Bären, Meister«, sagte Professor Helbach. »Vielleicht gegen sieben?«
»Besser morgen früh gleich vor acht, wenn es genehm ist?«, entgegnete Carl Zeiss. Der Besucher aus Halle war einverstanden.
Gleich darauf trug der Gehilfe Oswald das von ihm gefertigte und mit Mängeln behaftete Mikroskop hinter dem vorausgehenden Meister Zeiss durch die Werkstatt, vorbei an den Arbeitstischen der fünfundzwanzig Gehilfen und Lehrlinge. Sie gingen zur kleinen Schmiede. Von seinem Prinzipal hatte Oswald bis zu dieser Minute nur erfahren, dass es sich um ein von ihm hergestelltes und als einwandfrei abgeliefertes Instrument mit dem Zeichen der Zeissschen Werkstatt handelte. Kein einziges Wort mehr. Keine Andeutung, keine Rüge.
Nur, wer den Meister so genau kannte wie August Löber, las die zornige Erregung aus den von Energie und Selbstbewusstsein geprägten Zügen. Tatsächlich brannte der so gelassen wirkende Prinzipal innerlich vor Wut. Er hasste liederliche Arbeit. Für ihn war handwerkliche Pfuscherei gleichbedeutend mit Betrug. Ein kriminelles Delikt. Wer für eine schlampige Leistung das ehrlich verdiente Geld anderer Leute forderte und sie mit mangelhafter Ware betrog, der stand im Urteil von Carl Zeiss noch ein ganzes Stück unter den Spitzbuben, die auf Jahrmärkten die Hand in fremde Taschen steckten.
In der Schmiede bedeutete der Prinzipal dem Gehilfen schweigend, das beanstandete Mikroskop auf den Amboss zu stellen.
Die Gehilfen und Lehrlinge in der Werkstatt reckten die Köpfe. Löber kam bis zur offenen Tür der Schmiede.
Wortlos wählte Carl Zeiss den schwersten der vorhandenen Hämmer aus, schwang ihn hoch und schlug dreimal wuchtig zu. Die Hiebe verwandelten das Instrument in einen unansehnlichen Messingklumpen.
Schrott!
Oswald verharrte bleich, stumm und reglos.
Der Meister stellte den Hammer zur Seite und klopfte befriedigt die Handflächen gegeneinander. Dann erst wandte er sich an den Gehilfen.
»So, Oswald, nun sind wir beide miteinander fertig«, erklärte er ruhig. »Fristlos und ein für alle Mal!«
Ottilie Zeiss, die zweite Gattin von Carl Zeiss und wie dessen 1850 bei der Geburt des ersten Kindes Roderich gestorbene Frau Bertha ebenfalls Pfarrerstochter, achtete auf christliche Lebensführung, wobei sie Strenge und Enge nicht selten in Maßen walten ließ, welche den Gatten veranlassten, sein Weib eine geistliche Landpomeranze zu nennen. Der Vergleich zielte auf die stark bitterwürzige Schale und das sauere Fruchtfleisch jener nussgroßen, der Apfelsine und Pampelmuse verwandten Südfrucht. Das Bild entsprach ziemlich treffend der mürrischen Art und Weise, in der die Meisterin an diesem Abend die steile Stiege hinauf zu der unter dem Dach liegenden Gesindekammer ging. Sie wurde von dem Lehrling Heinz begleitet, der sie mit einer Entdeckung alarmiert hatte.
»Es sind Hirngespinste, Junge!« Ottilie Zeiss prustete leise. »Falsch Zeugnis ablegen verdient scharfe Strafe, weißt du das?!«
»Ich schwör's, Frau Meisterin.« Der Lehrling flüsterte. »Ich hab' es deutlich gesehen! Durchs Schlüsselloch! Splitternackt, so wahr mir Gott helfe!«
Vor der Kammertür blieb die Meisterin stehen. Einen Moment lang spielte sie wohl mit dem Gedanken, ebenfalls einen Blick durch das Schlüsselloch zu schicken. Als sie sah, dass der Lehrling ihr Verhalten belauerte, erinnerte sie sich ihrer Rechte als Dienstherrin und riss die Tür ohne vorheriges Anklopfen auf. Sie tat einen Schritt in die Kammer und erstarrte!
Aus dem Bett der Dienstmagd schreckte ein Halbwüchsiger hoch, starrte die Meisterin und den hinter ihr den Kopf hereinsteckenden Lehrling ängstlich an und zog die Decke bis ans Kinn.
»Das ... da soll doch ... Unglaublich!«, stammelte die Hausherrin, fasste sich aber sekundenschnell und wies zur Tür. »Raus! Ich sage nur: Raus hier und ganz schnell!«
Franz Steinhüter fand seine Sprache wieder.
»Ich ... Aber ...« Die Meisterin schnitt ihm das Wort ab.
»Kein Ich, kein Aber, das ist hier keine Herberge!«
Zaghaft schob Franz Steinhüter seine Beine aus dem Bett. »Meine Sa-sachen, sie hängen auf dem Trockenboden«, brachte er stockend hervor.
»Genau wie ich gesagt habe, Meisterin, das Ferkel ist nackig!«, triumphierte der Lehrling und grinste. Anstelle eines Lobes erhielt er von der Meisterin eine leichte Ohrfeige und den Befehl, zurück in die Werkstatt zu gehen.
Auf der Stiege kam dem Lehrling die Dienstmagd entgegen. Ihr Atem flog. Rote Flecken zeichneten ihr Gesicht. Gerade vom Einkauf zurückgekommen, hatte sie in der Küche von Hedwig, der zehnjährigen Tochter des Ehepaares Zeiss, erfahren, dass sich ein nackter Bursche in die Dachkammer eingeschlichen habe und die Meisterin im Begriff sei, den vorwitzigen Eindringling aus dem Haus zu werfen.
»Dir werde ich auf die Sprünge helfen.« Ottilie Zeiss schritt auf Franz Steinhüter zu. Sie packte ihn am Ohr und wollte ihn aus dem Bett zerren, als seine Mutter in die Kammer stürzte.
»Bitte, Frau Meisterin!«, rief sie und war mit zwei, drei Schritten an der Seite des Jungen. »Das ist Franzi ... Mein Sohn!«
Verblüfft gab die Hausherrin das Ohr frei.
»Sohn? Dein Sohn?« Sie starrte ihre Dienstmagd entgeistert an. »Und in der langen Zeit bei uns kein einziges Wort davon, keine Silbe? ... Weshalb, Karoline?«
»Weil alles mit einer Lüge angefangen hat, Frau Meisterin«, sagte die Mutter des Jungen leise. Sie legte den Arm um seine bloßen Schultern. »Wer nimmt eine Magd mit einem unehelichen Kind in den Dienst ... Ich glaube nicht, dass mir die schöne Stelle in Ihrem Haus vergönnt gewesen wäre.«
Ottilie Zeiss schwieg. Sie musste an einen Jahrmarkt denken, den sie als gerade erst konfirmierte Tochter des Pfarrers und Adjunktus Trinkler in ihrer Geburtsstadt Triptis miterlebt hatte. An einem hellen Nachmittag war damals die ledige, kaum siebzehnjährige Mutter eines erst wenige Monate alten Kindes von einigen angetrunkenen Burschen eingefangen worden. Die Kerle hatten der jungen Frau vor aller Augen gewaltsam die Röcke über dem Kopf zusammengebunden und sie dann, von den Füßen bis zur Taille völlig entblößt, auf dem Marktplatz umhergestoßen. Die Leute hatten zugeschaut, gespottet, gelacht, gespien oder ihre Bierneigen nach dem Opfer hin geschüttet. Erst Heinrich Trinkler, Ottilies Vater, hatte dem Treiben ein Ende gemacht. Die junge Frau war eine Woche später tot aus einem Teich gezogen worden.
»Und wie soll das weitergehen, Karoline?«, fragte die Gattin des Prinzipals endlich unsicher. »Hier kann er nicht bleiben, das weißt du.«
»Der Franzi hat nur noch mich, Frau Meisterin. Er ist ein braver, aufgeweckter Junge.« Karoline Steinhüters Blick war inniges Bitten.
»Ich kann arbeiten ... Alles!«, beteuerte Franz Steinhüter eifrig. Er spürte, dass in diesen Minuten alles vom Wohlwollen der Hausherrin abhängig war. »Und ich esse auch nur sehr wenig!«
Karoline Steinhüter legte dem Sohn sanft die Hand auf die Lippen. »Ich hab' mir gedacht ... Ich meine, wenn Sie vielleicht beim Meister ein gutes Won für meinen Franzi einlegen würden ...«
Ottilie Zeiss runzelte die Stirn. Sie begriff noch nicht, worauf die Dienstmagd mit ihrem Vorschlag hinaus wollte.
»Bei meinem Mann?«, fragte sie. »Was für ein gutes Wort?«
»Der Franzi würde gewiss ein fleißiger Lehrbub sein.«
»Hier, in unserer Werkstatt?« Die Meisterin schüttelte den Kopf. Ihre Stimme klang jetzt versöhnlicher und ein wenig mitleidig. »Aber Linchen, wie willst du das denn aufbringen: Hundert Taler Lehrgeld und noch einmal fünfzig Taler im Jahr für Kost und Logis ... Nein, Linchen, nein!«
»Ich würde auf alle freien Tage verzichten, den Garten draußen in Ordnung halten ...«
»Linchen! Du hast hier im Haus wirklich schon reichlich zu tun. Vielleicht bringen wir den Jungen auf dem Land unter. In der Nähe natürlich. Wenn ich mit dem Herrn Oberpfarrer rede ...«
»Bitte, Frau Meisterin! Ich lege auch meinen Lohn noch dazu. Sie sollen es nie bereuen, das schwöre ich bei Gott!«
Es war weniger Großherzigkeit als nüchternes Kalkül, was Ottilie Zeiss für die Bitte zugänglicher machte. In vier Lehrjahren würden die einer Dienstmagd jährlich zugestandenen zwölf freien Tage sowie dazu ihre paar Lohntaler das übliche Lehr- und Kostgeld längst nicht aufwiegen. Die Hausherrin bezog den erwiesenen Fleiß der Bediensteten sowie die von Mutter und Sohn gleichermaßen zu erwartenden, nutzbringenden Dankgefühle in die Überlegung ein. Sie wusste, dass ihr Mann kaum etwas gegen eine so vorteilhafte Übereinkunft haben würde, zumal diese über allen Gewinn hinaus billig im Zeichen gottgefälliger Wohltätigkeit stünde.
»Also gut, ich werde mit dem Prinzipal reden«, versprach sie endlich. »Richt dem Franzi drüben in der Lehrlingskammer eine Schlafstelle her. Ein ordentliches Hemd und eine saubere Hose für ihn finden wir zuvor sicher bei den Sachen von unserem Herrn Gymnasiasten.«
Sie meinte damit den aus erster Ehe des Meisters stammenden, inzwischen sechzehn Jahre alten Sohn Roderich. Als dessen Verhältnis zur Stiefmutter nach anfänglicher, gegenseitiger Zuneigung im Laufe der Jahre immer unfreundlicher geworden war, hatte ihn Carl Zeiss auf ein Gymnasium in Eisenach geschickt und nur die drei Kinder aus der zweiten Ehe, den jetzt zwölfjährigen Karl Otto, die zehnjährige Hedwig und die erst fünfjährige Sidonie im Haus behalten.
Karoline Steinhüter bekam vor Freude nasse Augen. Im Überschwang ihrer Gefühle wollte sie, was in all den vorangegangenen Dienstjahren niemals geschehen war, der Meisterin die Hand küssen, doch Ottilie Zeiss erlaubte das nicht.
»Du musst dich sputen, Linchen! Zuerst bereite das Abendbrot für den Prinzipal und den Löber. Ich bring' das dann selbst hinüber. Um den Franzi kannst du dich dann kümmern. Komm jetzt!« Sie drängte die Dienstmagd zur Tür. Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal zu dem Jungen im Bett um. »Du musst dem Herrgott sehr dankbar sein für so eine Mutter, Junge!«
Wer als Gehilfe bei Carl Zeiss zwischen vier und fünf Taler in der Dekade verdienen wollte, hatte einen langen Tag. Gearbeitet wurde von morgens 6 bis abends 19 Uhr. Dazwischen gab es am Vormittag eine Viertelstunde Frühstückspause und später für das Mittagessen noch einmal eine volle Stunde. Für den Meister war es ganz selbstverständlich, täglich in aller Frühe, noch vor seinen Mitarbeitern, in der Werkstatt zu sein, die er dann nach Feierabend stets als letzter verließ.
Wie oft zuvor, so brannten auch an diesem Tag noch zu später Stunde zwei Öllampen in der Werkstatt. An den verlassenen Arbeitsplätzen der Gehilfen und Lehrlinge lagen Werkzeuge und Halbfertigteile, wie mit Winkel und Lineal gerichtet, beieinander. Nirgendwo ein Stäubchen, nirgendwo ein Metallspan, ringsum vorbildliche Ordnung. Die Lehrlinge wussten, dass es Schläge setzte, wenn Meister oder Altgehilfe auch nur den kleinsten Grund zur Rüge entdeckten.
Carl Zeiss pröbelte, August Löber half ihm dabei.
Überall, wo in dieser Zeit Mikroskope gebaut wurden, ging man dabei ähnlich vor: Auf gut Glück, mit dem Einsatz langjähriger Erfahrungen und handwerklicher Übung, wurden Linsen aus mehr oder weniger geeignetem Glas geschliffen, zusammengestellt und in einen Tubus eingebaut. Danach folgte das oft stundenlange Pröbeln - Nerven zerreibendes Probieren und Korrigieren bis zu einem befriedigenden Ergebnis. Scheiterten alle Mühen, blieb am Ende nur der Wurf in die Schrottkiste. Eine zuverlässige Berechnungsgrundlage und feststehende Maße zur Herstellung gleichwertiger Mikroskope existierten nicht.
Der Gedanke, dass es Gesetzmäßigkeiten für den Bau von Mikroskopen geben müsse, beschäftigte Carl Zeiss seit Jahren. Er gehörte nicht zu den Leuten, die sich damit zufriedengaben, das eigene Dach dicht zu halten und die eigene Schüssel reichlich zu füllen. Ihn reizte das Unerforschte. Immer wieder faszinierte ihn die Vorstellung, ein hochleistungsfähiges Mikroskop so entstehen zu lassen wie der Architekt ein Bauwerk. Noch vor dem ersten handwerklichen Griff müsste das Instrument bereits in Strich und Zahl auf dem Papier fixiert sein, in seiner Verwendbarkeit völlig zuverlässig vorbestimmt.
Unzählige Stunden hatte Carl Zeiss seinem Traum schon geopfert - ergebnislos. Gegen ein für seine Verhältnisse beträchtlich hohes Entgelt hatte er zwei Jahre lang den Rechenmeister Barfuss für die Mitarbeit gewonnen. Er war damit keinen Schritt weiter gekommen. Trotzdem kam Aufgeben für ihn nicht infrage. Daran konnte selbst der Umstand nichts ändern, dass angesehene Experten inzwischen bezweifelten, dass ein wissenschaftlich entworfenes, also in allen Teilen vorausberechnetes Mikroskop überhaupt herstellbar sei.
Im Lampenschein prüfte Carl Zeiss eine weitere Kombination verschiedener Linsen. Löber arbeitete an der Schleifapparatur. Gesprochen wurde bisher wenig. Nun nahm der Meister die Brille ab und rieb sich die Augen.
Löber unterbrach das Nachmessen einer Linse, die nicht größer war als der Fingernagel eines Kindes. Er schaute herüber.
»Kann ich helfen, Meister?«
Carl Zeiss schüttelte den Kopf.
»Es ist Krümelzählerei, was wir hier tun«, sagte er leise, wie es stets seine Art war. Selbst in ärgerlichsten Situationen hatte ihn noch niemand schreien gehört. »Wir arbeiten mit verbundenen Augen, August. Ich habe sie satt, diese ewige Pröbelei, so satt!«
Wenn es auch recht selten passierte, so blieb der Universitätsmechaniker und Hofmechanikus doch nicht gänzlich verschont von jener Niedergeschlagenheit, die den schöpferisch Suchenden manchmal überkommt.
»Wir sind auf diese Weise immerhin an die Spitze gekommen«, wandte der Altgehilfe ein. »Wer außer uns vermag denn in den deutschen Staaten oder im Ausland aus eigener Herstellung dreißig verschiedene Mikroskope bester Qualität anzubieten? Wer kann einem knappbemittelten Studenten ein brauchbares Instrument schon um fünfzehn Taler und dem Höhergestellten Geräte bis zum gerechtfertigten Preis von zweihundert Taler verkaufen? Und nicht allein für unser Jenaisches Trichinen-Mikroskop gibt es mehr interessierte Käufer, als wir beliefern können. Nein Meister, besser als die Zeisswerkstatt ist keiner!«
Carl Zeiss lächelte. »Danke, August, aber da ist eben der Hartnack in Berlin, der mich heute hundertfünfundachtzig blanke Taler gekostet hat.«
»Bei Hartnack pröbeln sie auch!«
»Noch, August, noch!« Der Meister schaute zu Löbers Arbeitsplatz hinüber. »Dreh mal den Lampendocht herunter, Brennöl ist teuer!«
Sofort befolgte der Altgehilfe die Anweisung, dann ging er zu seinem Prinzipal, der die Unterhaltung offenbar fortsetzen wollte.
»Ich lasse mich nicht davon abbringen, dass es Gesetze geben muss, nach denen Mikroskope funktionieren.« Der Blick Carl Zeiss' verlor sich im düsteren Raum. Durch die von Löber geöffneten Fenster strömte klare Abendluft herein und nahm den stickigen Schmauch der Lampen fort. »Und wer diese Gesetze zuerst findet, als erster nutzt, hörst du, dem wird der Markt gehören, nicht nur in den deutschen Landen. Auf Jahre, August, auf Jahrzehnte sogar, denke ich.«
August Löber nickte. Zwar vermochte er dem Gedankenflug des Meisters nicht zu folgen, aber er wollte keinen Zweifel daran lassen, dass er jeden noch so beschwerlichen Weg an der Seite seines Prinzipals mitzugehen bereit war.