Das vorliegende Buch versucht anhand ausgewählter Beispiele den gewaltigen, vielfach gefächerten, farbig schillernden Kosmos der Liebe, wie er sich in arabischer und persischer Literatur des Jahrtausends von um 500 bis um 1500 spiegelt, zu schildern.1
Es beginnt lange vor dem Auftreten des Islam mit den rein sinnlichen Schilderungen erotischer Abenteuer zwischen Beduinen, wie sie traditionellerweise am Anfang der altarabischen Kasside, eines das Beduinenleben beschreibenden Langgedichts, standen. War hier der meist flüchtige, nur noch in der Erinnerung weiter lebende Flirt Teil des Selbstruhms und diente, wie es spätere Theoretiker unumwunden konstatierten, dazu, die Aufmerksamkeit der Hörer des meist öffentlich vorgetragenen Gedichtes zu wecken, so trat diese erotische Einleitung bald auch losgelöst auf und wurde so zum selbständigen Liebesgedicht. Immer noch in der Beduinenwelt angesiedelt, entwickelte sich im frühen Islam die sogenannte ‘udhritische Liebe, eine von den Liebenden ersehnte, von den Eltern vereitelte Verbindung, die dann aber, auch wenn die Frau einem anderen Mann verheiratet wurde, in den Herzen weiterlebte und von Liebesrausch über Liebesgram in Krankheit, manchmal auch Wahnsinn und frühen Tod mündete. Die Repräsentanten dieser dramatischen und emotionsgeladenen Liebe, die in ihrer streng monogamen Haltung auch ein Gegenbild zur von Muḥammad vorgelebten Polygamie darstellt, waren oft Dichter, und die ‘udhritische Dichtung gehört zu den schönsten Zeugnissen menschlicher Liebe, voller Leidenschaft, voller Zartheit, voller Hoffnung und voller Verzweiflung, dabei von einer an Vergöttlichung grenzenden Verehrung für die Frau. Es ist dieses Konzept der Liebe, das in der frühen Kalifenzeit eine höfische Verfeinerung erfuhr durch Dichter wie ‘Abbās ibn al-Aḥnaf, den „Minnesänger am Hof Hārūn al-Raschīds“, einen der begabtesten Barden, dessen Stil dann im arabischen Spanien aufgegriffen und zu höchster Raffinesse entwickelt wurde. Als neues sprachliches Gefäß dieser ziselierten Dichtung traten nun neben den traditionellen monorimatischen Formen (Kasside, Ghasel) komplexe Strophenformen, offensichtlich autochthonen iberischen Ursprungs, hinzu, die in ähnlicher Form und mit ähnlichem Inhalt bald auch im europäischen Minnesang erklangen.
Neben dem ‘udhritischen, auf Treue, Verzicht und Frauenverehrung gegründeten Konzept lebte, aber auch das in der altarabischen Dichtung wurzelnde Genusskonzept weiter. Allerdings kam nun in den Städten als neues Element die homoerotische Liebe hinzu, deren berühmtester Vertreter Abū Nuwās im frühen 9. Jh. diese Form der Liebe in ebenso frivolen wie genialen Versen beschrieben hat. In der höfischen Dichtung findet sich häufig ein Gemisch aus beiden Traditionen, der ‘udhritischen und der hedonistischen. Der entscheidende Unterschied zur echten ‘Udhriten-Dichtung besteht aber darin, dass die Besungenen nun in der Regel nicht mehr freie Frauen, sondern Sklavinnen sind; denn eine freie Frau zu besingen, konnte für den Dichter fatale Folgen haben. Es war das im Islam erlaubte Sklavenwesen, das mit seinem Menschenhandel unendliche Möglichkeiten für das Anknüpfen flüchtiger Flirts, aber ebenso auch für das Aufflammen verzehrender Liebesgefühle bot. So ist es denn auch kein Zufall, dass ein großer Teil der Liebesgeschichten in Tausendundeiner Nacht, wenn es nicht um die Liebe zu Prinzessinnen oder Feen geht, von Sklavinnen handelt.
Zu den Gedichten gehören die Geschichten, d.h. viele der überlieferten Gedichte sind situationsgebunden. Die Geschichten mit den zugehörigen Gedichten wurden gesammelt. Die umfangreichste dieser Sammlungen ist das im 10. Jh. verfasste, 24 Quartbände umfassende „Buch der Lieder“, das in hunderten von Beispielen die verschiedensten Formen der Liebe beleuchtet, von der zarten und keuschen Liebe der ‘Udhriten und ihrem meist tragischen Ende bis zu den turbulenten und nicht selten obszönen Ausschweifungen, wie sie sich bald an den Kalifenhöfen breitmachten. Der Autor sah und artikulierte ganz klar den Sittenverfall, den das Sklavenwesen und die Polygamie bewirkten. So wurde hier ein großartiges Buch über Dichtung und vor allem Liebesdichtung zu einer einmaligen Sittengeschichte der ersten vier Jahrhunderte des Islam. Im „Buch der Lieder“ wurde auch erstmals die rührende Geschichte des berühmtesten Liebespaares der islamischen Welt, Lailā und Madschnūn, erzählt, deren Liebe durch die versepische Gestaltung des persischen Dichters Nizāmi (s.u.) vollends zu einem der beliebtesten und weitestverbreiteten Sujets der islamischen Welt geworden ist.
Neben der Lyrik und der erzählenden Prosa gibt es als dritte von Liebe handelnde literarische Gattung in arabischer Sprache die Handbücher über Liebe. Darunter das bekannteste, von dem Andalusier Ibn Ḥazm im 11. Jh. verfasste, „Halsband der Taube“, das die einzelnen Phasen des Sich-Verliebens bis zur Heirat, zur Trennung oder zum Tod mit einer verblüffenden Einsicht in die menschliche Psyche beschreibt. Doch es gibt nicht nur dieses feinsinnige Meisterwerk, sondern auch saftig-sinnliche Darstellungen im Stil des Kamasutra – das berühmteste Werk dieser Art ist der „Duftgarten“ des Nafzāwī – und es gibt von Medizinern verfasste Traktate über den Koitus.
Eine radikal neue Tönung nahm das islamische Liebeskonzept mit seiner Hinwendung zur Mystik an; denn nun wurde die irdische Liebe zum Symbol für die Liebe der Seele zu Gott, was mit der Zeit eine Symbolisierung der gesamten Kulissen und Requisiten der Liebesdichtung – und übrigens auch der Weindichtung – nach sich zog.
Unser Buch soll aber nicht nur von arabischer Literatur handeln. Es bezieht vielmehr auch die persische und, wenn auch am Rande, die osmanisch-türkische Literatur mit ein. Auch hier gibt es die genannten Gattungen, die Lyrik, die erzählende Prosa und das Handbuch. Unter diesen drei Gattungen ist zweifellos für unser Interesse die wichtigste die Lyrik. Das persische Ghasel entwickelte sich nämlich zumindest bei seinen größten Vertretern, Sa‘dī, Ḥāfiz. und Dschāmi, zu einer bei den Arabern unbekannten Virtuosität und Subtilität, die höchste Artistik mit scheinbarer Leichtigkeit und natürlicher Anmut verband.
Zu diesen Gattungen trat eine weitere, in der arabischen Welt so gut wie unbekannte – das Versepos. In dieser literarischen Großform entstanden einige der schönsten Liebesdichtungen, echte Romanzen voller Gefühl, Seligkeit und Herzeleid, und es entstanden zwei der großartigsten Frauengestalten, voller Anmut und Leidenschaft, Stolz und Opferbereitschaft, echte Psychagoginnen der sie liebenden Männer: Wīs in Gurgānīs um 1050 verfasstem Epos „Wīs und Rāmīn“ und Schīrīn in Nizāmis um 1180 verfasstem Epos „Chosrou und Schīrīn“. Beides sind höfische Epen, mit Prinzen und Prinzessinnen als Protagonisten. Aber es durchweht sie ein humaner Geist. Sie stellen, wie so manche Erzählung in Tausendundeiner Nacht, eine Gegenwelt zur realen Situation der Frau in der damaligen Gesellschaft, die von Unterdrückung und aller Art Zwängen geprägt war, dar, so dass Ghazzālī, der größte Theologe des Islam, seine Ausführungen über die Stellung der Frau zusammenfasste mit den Worten: „Die Frau ist die Gefangene des Mannes“.
Ganz anders dann Dschāmī in seinem Epos „Joseph und Sulaika“, das die von ihm selber mystisch gedeutete Liebe des biblisch-koranischen Joseph und der Frau Potiphars, des „Mächtigen von Ägypten“, wie der Koran ihn nennt, behandelt. Joseph symbolisiert hier die Schönheit als eine göttliche Epiphanie, Sulaika die menschliche Seele.
Eine weitere Entpersonalisierung erfolgte schließlich mit den allegorisierenden Epen, deren Protagonisten nicht Personen, sondern – wie in Bunyans „Pilgrim’s Progress“, aber mit anderem Inhalt – personifizierte Abstrakta wie Schönheit, Liebe, Eifersucht etc. sind. Beispiele für diese neue Gattung finden sich seit dem 15. Jh. sowohl in persischer wie in osmanischer und hindustanischer (Urdu-) Literatur. Und mit einem Ausblick auf diese Werke soll unser Buch schließen.
Es ist also eine Art großer maurischer Bogen mit vielen Ein- und Ausbuchtungen, den wir abzuschreiten haben, wobei uns der Geist der Liebe leiten möge.
Das vorliegende Buch soll eine doppelte Funktion erfüllen: Einmal ist es eine Monographie über das im Titel genannte Thema, zum anderen ist es eine Anthologie, denn jeder Paragraph, jeder Aspekt, jeder Autor und jedes Werk soll durch Zitate signifikanter Texte (in eigener Übertragung) illustriert werden. Dass der Autor dabei weitgehend auf frühere Arbeiten zurückgreifen konnte, die er ungenutzt liegen hatte und nun in dieses Buch eingebracht hat, ist sicherlich kein Fehler.
1 Einen knappen Überblick über die Entwicklung de Liebesdichtung gebe ich in meinem Beiträgen „Love, Lust, and Longing – Eroticism in Early Islam as Reflected in Literary Sources“ in A. L. al-Sayyid-Marsot (ed.): Society and the Sexes (1979) – „The Romance“ in: E. Yarshater: Persian Literature (1988) und „Liebestheorien“ in: W. Heinrichs (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft Band 5 – Orientalisches Mittelalter (1990).
Jedes gute Buch beginnt mit einem Dank. Das soll auch hier nicht anders gehalten werden. Doch in Abweichung von dem, was üblich ist, möchte ich meinen Dank nicht nur an Personen und Institutionen richten, sondern auf einer höheren metaphysischen Ebene anheben lassen. Ich möchte, poetisch gesagt, den Sternen, meinem Stern, oder schlicht meinem Schicksal danken, dass es mir ermöglicht hat, noch in so fortgeschrittenem Alter (ich bin dieses Jahr 81 Jahre alt geworden) ein Buch zu machen. Ein Buch noch dazu, das von Liebe handelt.
Dieses Buch ist ein Torso. Es besteht aus mehreren liegen gebliebenen Arbeiten früherer Jahre, die ich auf diese Weise vor dem Computertod retten möchte. Verschiedene Dateien meines Computers waren gefüllt mit Texten, die von Liebe handeln, und darauf warteten, sinnvoll geleert zu werden. Das ist geschehen, wenn auch wegen des begrenzten Umfanges eines Buches manches zurück genommen werden musste, was eigentlich auch noch hineingepasst, ja dazugehört hätte. Dass dies machbar war, ist ein weiterer Anlass, mich zu bedanken, diesmal aber irdisch: Ich danke dem Kohlhammer Verlag in Gestalt von Herrn Jürgen Schneider und Frau Zubcic, sowie insbesondere der geduldigen Setzerin Frau Siebert.
Ich danke den Lesern, dass sie sich für mein Buch interessieren, den Kritikern, dass sie mir dessen Mängel, besonders die ursprungsbedingte, inkonsequent durchgeführte Transkription verzeihen.
Ich danke last but not least meiner lieben Frau Traudel Tissafi, dass sie mir, wie schon bei früheren Publikationen, bei der Erstellung des Manuskripts, namentlich in der Endphase, tatkräftig geholfen hat. Als ehemaliger Cheflektorin des Schweizer Bibliotheksdienstes entgeht ihrem Blick kein Fehler in den Fahnen. Und abgesehen von ihrer sachkundigen technischen Hilfe – ohne ihre liebevolle tägliche Versorgung könnte ich ohnehin kein Buch schreiben, kein Buch machen, kein Buch publizieren.
Schließlich möchte ich – und damit komme ich wieder auf die metaphysische Ebene des Anfangs zurück – all jenen Liebenden und Dichtern danken, die uns, die Nachwelt, immer neue Generationen, durch die Jahrhunderte mit Leben und Erleben, Reden und Singen von der Liebe, ermutigt haben, es, wenn auch vielleicht mit kleinerer Flamme, jeder auf seine Weise, ebenfalls mit der Liebe zu versuchen, Nizamis Rat folgend: „Und sei’s ein Kätzchen – hab was lieb auf Erden!“
Lörrach, im Oktober 2012 |
J. Christoph Bürgel |
Alles Nachdenken, nicht nur über Religion, sondern über die Entwicklung von Wissenschaft und Kunst, ja Kultur im Allgemeinen, muss, wenn es um die islamische Welt geht, mit dem Koran beginnen. Er wurde je länger je mehr zum Leitbild für alle menschlichen Aktivitäten, zum Fluchtpunkt für alle gedanklichen Projektionen. Und was man im Koran nicht fand, konnte man mittels Exegese in ihn hinein, bzw. aus ihm herauslesen. Der Koran galt als Gottes Wort; der Islam lehrte das, was auch im Christentum jahrhundertelang verbindliches Dogma war: die Verbalinspiration. Jedes Wort im Koran „kam herab“ zu Muḥammad, wurde ihm vom Engel Gabriel überbracht; und der Prophet diktierte dann das Gehörte seinen Schreibern. Diese Funktion ist es, die auch Muḥammads Leben übernatürliche Würde verlieh. Die Tradition stattete ihn schon bald mit kosmischen Dimensionen aus, und wie Christus nahm er die Züge eines Pantokrator, eines Weltenherrschers und einer kosmischen Lichtgestalt an. Was der Koran lehrt, hat er als erster aufs Vollkommenste erfüllt, sein Leben war daher wie das Leben Christi einer „imitatio“ würdig. „In ihm habt ihr ein leuchtendes Vorbild“ (Sure 33:21) sagt daher der Koran von Muḥammad. Aber nicht nur in Sachen Moral, auch in allem Übrigen galt bald der Koran als Maßstab, so etwa in Bezug auf die Wissenschaften.2 Der Koran spricht über die Frau, über alles was mit Heirat, Beischlaf, Scheidung zu tun hat, in einem geschäftlichen Ton, so als habe Liebe damit gar nichts zu tun. Bei näherem Hinsehen entdeckt man dann aber doch Stellen, die nicht nur von der Liebe zwischen Mann und Frau sprechen, sondern sogar auch den Zusammenhang von Liebe und Schönheit thematisieren, wie die folgenden Abschnitte zeigen sollen.
Der Prophet hat beide Formen der Ehe vorgelebt. Etwa zwanzig Jahre währte seine offenbar glückliche Ehe mit Chadīdscha, die ihm mehrere in zartestem Alter verstorbene Söhne und vier Töchter gebar. Erst nach Chadīdschas Tod begann Muḥammad sich einen Harem zuzulegen, der schließlich die den Gläubigen gestattete Vierzahl von Gattinnen um einiges überschritt, wofür der Offenbarungsengel dem Propheten einen Sonderdispens überbrachte:
O Prophet, wir haben dir deine Gattinnen erlaubt, denen du ihren Lohn entrichtet hast, und den Besitz deiner Rechten (d.h. deine Sklavinnen), und was Gott dir an Beute hat zukommen lassen, sowie die Töchter deiner Onkel und Tanten väterlicher- und mütterlicherseits, die mit dir ausgewandert sind, und jede gläubige Frau, die sich dem Propheten schenkt, wenn der Prophet sie heiraten möchte, – als Sonderrecht für dich, nicht für die übrigen gläubigen Männer – wir wissen ja, was wir ihnen an Pflichten hinsichtlich ihrer Gattinnen und des Besitzes ihrer Rechten (d.h. der Sklavinnen) auferlegt haben – damit es für dich keine Einschränkung gibt. Gott ist verzeihend, barmherzig! Du hältst von dir fern, wen du willst von ihnen und gibst Unterkunft, wem du willst von ihnen und von denen, die du begehrst und weggeschickt hattest. Das ist für dich keine Sünde und bewirkt am ehesten, dass du ihre Augen kühlst, sie nicht traurig, sondern zufrieden sind mit dem, was du ihnen entrichtest, – sie alle. Und Gott weiß, was in euren Herzen ist, Er ist wissend und milde.
Aber der Text fährt unerwartet mit einer deutlichen Beschneidung auch der Rechte des Propheten fort:
Es sind dir hinfort keine weiteren Frauen gestattet, auch darfst du keine von deinen Gattinnen gegen eine andere umtauschen, auch wenn dir ihre Schönheit gefällt, außer vom Besitz deiner Rechten (d.h. deinen Sklavinnen). Gott wacht über alles (Sure 33:50–52).
Die von Muḥammad praktizierte Mehrehe wird auch im Hadith empfohlen. „Der Beste meiner Gemeinde ist der mit den meisten Frauen“, soll der Prophet gesagt haben, und die Heiratsfreudigkeit seines Enkels Ḥasan, der an die 200 Frauen ehelichte, indem er manchmal vier Frauen auf einmal entließ und durch neue ersetzte, habe Muḥammad mit dem Diktum gebilligt: „Er gleicht mir an Charakter und Naturell!“. So berichtet es Ghazzālī im Kapitel über das Heiraten in seiner „Wiederbelebung der Wissenschaften von der (islamischen) Religion“.3
Diese Vorbilder und Empfehlungen blieben nicht ohne Folgen, wenn auch Polygamie keineswegs allgemein praktiziert wurde. Angesichts der offenkundigen „Mächtigkeit“ der Frau kann es aber jedenfalls keine Frage sein, dass zu den Motiven der Vielweiberei auch ein starker Aspekt von Mächtigkeit gehörte. Einen umfangreichen Harem konnte sich ohnehin nur leisten, wer die erforderlichen Mittel besaß – aber natürlich spielt auch das Bewusstsein männlicher Potenz hinein. Bezeichnend ist folgendes Hadith, das der im 15. Jahrhundert tätige Polyhistor as-Suyūṭī in seiner Prophetenmedizin überliefert: Der Prophet beklagte sich bei Gabriel, dass er den Akt nicht oft genug vollziehen könne. „Wie das?“ – erwiderte der Erzengel. „Warum isst du nicht Harisa? In diesem Brei (einem Reisfleischgericht) wohnt die Kraft von vierzig Männern!“
Die rechtlichen Aspekte der Stellung der Frau im Islam können hier übergangen werden, sie sind anderen Ortes behandelt.4 Wichtig – und oft übersehen – scheint mir die (durchaus positive) Rolle der Frau, wie sie sich in den heilsgeschichtlichen Berichten des Korans manifestiert. Beginnen wir mit der Menschheitsmutter und stellen fest, dass sie, im Unterschied zur jüdisch-christlichen Überlieferung, nicht als Verführerin Adams auftritt, vielmehr beide gleichermaßen als Verführte Satans erscheinen (Sure 2:35f.; 20:115f.) Des Weiteren sind vier Frauen der Heilsgeschichte zu nennen, die aufgrund ihrer Erwähnung im Koran einen Ehrenplatz in der islamischen Tradition erhalten haben, nämlich Āsiya, die Frau des Pharao (Fir‘aun), dem gegenüber Mose die Sache des jüdischen Volkes vertrat, Sulaika, die Frau des „Mächtigen von Ägypten“, Bilqīs, die Königin von Saba, die Salomo begegnet, und Maryam (Maria), die Mutter Jesu. Jede dieser vier Frauen, von denen übrigens nur Maria mit ihrem Namen genannt wird, während die übrigen Namen der frommen Tradition entstammen, ist auf ihre Weise „mächtig“.
Āsiya entspricht der Tochter des Pharao im Alten Testament. Sie ist es, die den im Korb ausgesetzten Knaben Mose aufnimmt und ihren Mann überredet, ihn zu schonen: „Ein Augentrost für dich und für mich! Tötet ihn nicht! Vielleicht wird er uns nützen, oder wir nehmen ihn als Kind an, ohne dass sie es merken“ (Sure 28:9). Am Schluss von Sure 66 wird sie zusammen mit Maria als fromme Frau den bösen, in die Hölle verdammten Frauen von Loth und Noah gegenübergestellt. Das ist umso erstaunlicher, als sie ja die Frau eines Gottesleugners und Tyrannen ist. Die muslimische Tradition schildert, welchen Foltern ihr Mann sie aussetzt und wie Gott ihr hilft, diese durchzustehen.
Sulaika ist die Frau, die Joseph zu verführen sucht. Sie ist das koranische Beipiel für die List (makr Sure 12:28) und Tücke (kaid Sure 12:33–34) der Weiber, die in diesem Fall nur deswegen versagt, weil Gott selber sie abwendet als der – wie an anderer Stelle betont wird – „beste aller Ränkeschmiede (khair al-mākirīn Sure 3:14; 8:30). Der Koran erzählt hier eine pikante Anekdote, die Thomas Mann in seinem Josephsroman breit und ironisch ausgemalt und auf die dekadente high society einer abendländischen Großstadt transferiert hat: „Der Mächtige von Ägypten“ hat Joseph auf dem Sklavenmarkt erworben und an Sohnes statt adoptiert.5 Seine Frau verliebt sich in ihn und sucht ihn zu verführen. Die Sache wird ruchbar und der Klatsch beginnt. Da ersinnt Sulaika eine List. Sie lädt die Damen der Gesellschaft zu einem Imbiss. Messer und Früchte liegen bereit. Doch als die Damen die Messer in der Hand halten, öffnet sich die Tür und Joseph tritt herein. Seine Schönheit blendet die Frauen derart, dass sie statt in die Früchte sich in die Hände schneiden und ausrufen: „Gott steh uns bei! Das ist kein Mensch – das ist ein erhabener Engel!“ (Sure 12:31) Dieser heitere Schnappschuss wurde zur koranischen Keimzelle der mystischen neuplatonisch angereicherten Spekulation über die Schönheit als Abglanz Gottes, das Leitmotiv von Dschāmīs Epos Joseph und Sulaika. In der frommen Tradition erfährt nämlich Sulaika eine Entwicklung zur frommen Frau und repräsentiert in diesem Epos die menschliche Seele, welche in die durch Joseph gespiegelte göttliche Schönheit verliebt ist.
Bilqīs, die Königin von Saba, ist die mächtigste und unabhängigste Frau, die der Koran kennt, freilich eine Heidin, da sie und ihr Volk die Sonne anbeten. Als aber Salomo, der nach koranischer Lehre ein Prophet war, ihr seine Macht vor Augen führt, nimmt sie den Islam an. In der frommen Tradition entwickelt sich aus dieser im Koran erzählten Begegnung eine Liebesbeziehung zwischen den beiden, ja sie heiraten sogar. Aber zu einem der großen romantischen Themen persischer Epik hat sich dieser Stoff merkwürdigerweise nicht entwickelt. Es gibt kein bekanntes Epos über Salomo und Bilqīs, lediglich ein, übrigens sehr bemerkenswertes modernes Drama von dem bekannten ägyptischen Dramatiker Taufīq al-Ḥakīm (1898–1987)6.
Eine sonst unbekannte Legende um das königliche Paar findet sich unerwartet bei dem persischen Dichter Nizāmi (1141–1209), auf den wir später ausführlich zu sprechen kommen. Nizāmi erzählt in der Sonntagsgeschichte seines Epos „Die sieben Gestalten“, ein rührendes Ereignis von dem Ehepaar Salomo und Bilqīs: Sie haben „ein einziges Kind mit Gliedern ohne Halt in den Gelenken“. Eines Tages richtet nun Bilqīs an ihren Gatten, den Propheten Salomo, die folgende Bitte: Er solle den Engel Gabriel um Rat fragen, mit dem er ja ständigen Umgang pflege. Salomo tut das und erhält die Auskunft:
Wenn du und deine Frau beisammensitzen,
dann müsst ihr beiden euch die Wahrheit sagen.
Wisse, dass nur kraft solcher Wahrheitsrede
das Leiden eures Kindes weichen kann.
Die Eheleute befolgen den Rat. Bilqīs gesteht, dass sie bei aller Liebe für Salomo doch manchmal begehrlich auf junge Männer blicke, Salomo, dass er trotz all seines Reichtums bei jedem Gast habgierig auf das Gastgeschenk erpicht sei. Die Wirkung folgt unmittelbar. Nach dem Geständnis der Mutter bewegt das Kind seine Arme und ruft: „Schau, Mama, meine Hand ist heil!“ – nach dem Geständnis des Vaters bewegt es die Beine und ruft: „Papa, meine Füße – sie können jetzt gehen!“7
Schließlich Maria. Sie ist die jungfräuliche, durch den Heiligen Geist empfangende Mutter jenes Propheten, der im Koran (wie in der außerbiblischen christlichen Tradition) schon als Säugling redet und einen aus Ton geformten Vogel mit seinem Odem lebendig macht, später dann Blinde und Aussätzige heilt und Tote auferweckt. In der mystischen Tradition wird Maria manchmal zum Bild des Menschen, der in sich Jesus, d.h. die Seele, gebären soll.8
Außer den Frauen der Heilsgeschichte spielen im Koran auch die Frauen des Propheten eine gewisse Rolle. Aber die Art, wie im heiligen Buch Auseinandersetzungen im Harem zum Anlass von Offenbarungen wurden, ist weder für die Liebeslyrik noch für die romantische Epik des islamischen Mittelalters von Bedeutung und kann daher hier außer Betracht bleiben.9
Nur eines sei hervorgehoben. So sehr der geschäftliche und vor allem politische Aspekt bei der Wahl der Frauen Muḥammads im Spiel gewesen sein mag – die Schönheit war keinesfalls ohne Bedeutung. Denn er wurde ermahnt: „Später sind dir keine Frauen mehr erlaubt, auch nicht, dass du sie gegen andre Frauen austauschst, selbst wenn dir ihre Schönheit gefällt“ (Sure 33:52).
Eines steht jedenfalls außer Zweifel: Wo im Koran von Muḥammads Frauen die Rede ist, erscheinen diese mit zwei Ausnahmen im Plural. Die Polygamie ist also fest verankert. Seine langjährige monogame Ehe mit Chadīdscha, die ihm, wie bereits erwähnt, vier Töchter und zwei im Kindesalter verstorbene Söhne gebar, hat im Koran keinen Widerhall gefunden, obwohl es ja gerade Chadīdscha war, die ihn beim Empfang der ersten Offenbarungen ermutigte, an seine Prophetenrolle zu glauben.
Polygamie ist aber natürlich nicht der übliche, nicht der geeignete Rahmen für Liebesrausch und Liebestod. Im Gegenteil, die durch das prophetische Vorbild geprägte Sitte tut alles, um solche Extravaganzen auszuschließen. Die Braut für den Sohn, der Bräutigam für die Tochter wird von den Eltern ausgesucht. Die Heiratskandidaten bekommen ihre Partner erst bei der Hochzeit zu sehen. Liebe ist nicht unbedingt ausgeschlossen. Aber sobald Liebe im Spiel ist, droht auch Eifersucht oder die Versuchung, sich einer Frau zu bemächtigen, die bereits verheiratet ist.
Das scheint eine allgemeine Feststellung. Tatsächlich trifft sie aber auf zwei konkrete Fälle im Leben des Propheten zu, die beide ihren Niederschlag im Koran gefunden haben.10 Die erzählende Literatur ist bis in unsere Tage voll von dramatischen und oft tragisch endenden Szenen, die aus den Spannungen, der Eifersucht zwischen den Frauen eines Harems erwachsen.11
In apologetischer Literatur muslimischer Autoren der Neuzeit wird oft behauptet, der Islam habe die Frauen befreit. Vorher seien sie rechtlos gewesen, hätten wie Sklavinnen dahinvegetiert etc. Doch die autochthonen arabischen Zeugnisse zeigen ein gegenteiliges Bild. Sie wurden auf Grund mündlicher Überlieferung Jahrhunderte nach Muḥammad niedergeschrieben. Es ist also nicht sicher, ob sie authentisch sind oder nur ein Gegenbild zur traurigen Realität der Gegenwart entwerfen wollen. Auf jeden Fall finden sich hier Erzählungen von stolzen, unabhängigen arabischen Frauen, die sich nicht mit einem Mann verheiraten lassen, der ihnen missfällt, die ihren Willen durchsetzen und den Mann verlassen, der sie zu demütigen sucht. Der der Frau aufgebürdete absolute Gehorsam ist eine der Maßnahmen des Islam, um der „Mächtigkeit“ der Frau Herr zu werden, genauso wie alle übrigen die Freiheit der Frau einschränkenden Vorschriften. Wenn einer der größten Theologen des Islam, al-Ghazzālī, in einer seiner Schriften sagte: „Die Frau ist die Gefangene des Mannes“, dann wusste er, was er sagte.
Interessanterweise sind es trotzdem gerade diese gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Erfahrungen von Liebesrausch und Liebestod förderten. Denn in einer Gesellschaft, wo die Frau stets verschleiert sein muss, ist der Moment der Entschleierung tatsächlich ein rauschhafter Augenblick. Und in einer Gesellschaft, wo die Frau, die man liebt, einem versagt bleibt, weil sie einem anderen Mann bestimmt ist, von einem anderen gekauft, an einen dritten verschenkt wird12, keimen Liebeskrankheit und Liebestod. Beide Themen sind daher in der arabischen und später der persischen, türkischen, hindustanischen Dichtung präsent, ja dominant. Trennung und Sehnsucht waren freilich auch Begleiterscheinungen des von Aufbruch zu Aufbruch bewegten Nomadenlebens.
Als Muḥammad den Koran Anfang des 7. Jahrhunderts verkündete, gab es schon seit mindestens einem Jahrhundert eine bedeutende, hochkarätige arabische Dichtung, die in den Zelten der Beduinen, unterwegs in der Wüste und bei eigens dafür organisierten Wettbewerbstreffen in der Nähe von Mekka vorgetragen und bewertet wurde. Es waren realistische Beschreibungen des Beduinenlebens, der Fauna und Flora der Wüste, langer Nächte, schwerer Gewitter und natürlich auch von Hauen und Stechen in den nie endenden Stammeskämpfen. Die Dichter waren in der Regel ja auch Sprecher eines Stammes, dessen Lob sie sangen und dessen Gegner sie mit Schimpf und Spott erniedrigten. Seltsam und unerwartet ist, dass diese meist langen, in einem bestimmten Metrum verfassten und durch Monoreim zusammengehaltenen, Kasside (qasīda) genannten Langgedichte mit einem nostalgisch-amourösen Auftakt, dem so genannten Nasīb, zu beginnen pflegten, dem als Hauptteil die Beschreibung einer Reise durch die Wüste, kurz der „Wüstenritt“ genannt, folgte, der seinerseits in den Schlussteil, das Lob des Stammes oder Stammesfürsten, mündete. Schon zur Zeit Muḥammads war diese Dreiteilung der Kasside, von der uns hier aber vor allem der erste Teil interessiert, kanonisch geworden. Wie es zu diesem Aufbau kam, darüber gibt es nur Spekulationen.
Ein Literat des 9. Jahrhunderts, Ibn Qutaiba, hat jedoch eine schlüssige und berühmte Begründung geliefert, die hier zitiert sei.
Ich hörte von einem Literaten folgendes sagen: Wer eine Kasside macht, beginnt mit der Erwähnung der Zeltplätze und der verwitterten Spuren und weint und klagt und redet den Rastplatz an und fordert den Reisegefährten auf anzuhalten, um über die Frauensänften zu reden. Denn die Nomadin verhält sich bei Ankunft und Aufbruch anders als die Städterin, weil die Nomaden von Wasser zu Wasser ziehen und die Weiden nutzen und dem Regenfall folgen, wo immer er stattfindet. Dann verbindet der Dichter das mit der erotischen Einleitung (nasīb). Er klagt über die Heftigkeit der Erregung und den Schmerz der Trennung und das Übermaß der Leidenschaft und der Sehnsucht, um sich die Herzen geneigt zu machen und die Blicke auf sich zu lenken und den Hörer zum Zuhören einzuladen. Denn das Frauenlob ist der Seele nahe und heftet sich an das Herz, weil Gott die Menschen so erschaffen hat, dass sie die Tändelei lieben und den Frauen gewogen sind. Es gibt kaum einen, der nicht irgendwie daran hängt und daran Anteil hat, sei’s auf erlaubte, sei’s auf verbotene Weise. Kann er dann sicher sein, dass sie ihm lauschen, so lässt er die Anmahnung13 seiner Belohnung folgen. Er reist in seinem Gedicht, klagt über die Schlaflosigkeit und das nächtliche Reisen, über die Glut der Mittagshitze und die Auszehrung des Kamels. Und wenn er merkt, dass er sich seinen Stammesherrn auf eine Weise verpflichtet, die auf Belohnung hoffen lässt, indem er ihm die Mühen seiner Reise bewusst gemacht hat, beginnt er mit dem Lob und spornt ihn an zu Entgelt und schürt seine Großzügigkeit, indem er ihn anderen vorzieht und Freigebige vor ihm gering erscheinen lässt.
Der gute Dichter ist, wer diesen Mustern folgt, indem er diese drei Teile gleichrangig behandelt, keinem von ihnen ein Übergewicht gibt, nicht zu sehr ausdehnt und so Langeweile bewirkt oder aber zu früh abbricht, wenn die Seelen noch nach mehr verlangen.14
So streng, wie Ibn Qutaiba es fordert, wurde allerdings das Muster keineswegs immer befolgt. Und gerade einer der größten und berühmtesten vorislamischen Dichter, Imru‘ al-Qais, hielt sich in seinem berühmtesten Gedicht, der Mu‘allaqa15 „Verweilt, lasst uns weinen“, nicht daran, ließ sich vielmehr dazu hinreißen, einen der längsten nostalgischen Prologe, den die arabische Dichtung kennt, zu verfassen, hinter dem der Rest der Kasside bei aller Schönheit fast bedeutungslos wirkt. Dieser Nasīb ist so lang, weil der Dichter sich darin nicht wie üblich nur an eine Schöne, sondern gleich an mehrere erinnert, die er, mit einer Ausnahme, alle mit Namen nennt und mit seinen erotischen Eroberungen ungeniert prahlt. Wir geben die Kasside in einer leicht rhythmisierten, an das Metrum (tawīl)16 des Originals angenäherten Übertragung wieder.
Früh begannen arabische Philologen – häufig waren es arabisch schreibende Perser – die alte Dichtung zu sammeln und zu kommentieren, später auch die Dichtung der großen Autoren islamischer Zeit. Häufig finden sich hier hübsche Geschichten, die dunkele Anspielungen in den Gedichten erhellen. Sie treten meistens mit Wahrheitsanspruch auf, indem die Überlieferer namentlich genannt werden. Dennoch, manches dürfte erfunden sein (wir kommen später darauf zurück). Und man kann dann nur sagen: se non è vero, è ben trovato. „Wenn es nicht wahr ist, so ist es doch gut erfunden.“ Im Kommentar zu Vers 9 der Mu‘allaqa von Imru’ al-Qais findet sich folgende hübsche Erzählung, als deren Überlieferer der bekannte satirische Dichter Farazdaq genannt wird.
Farazdaq berichtet von seinem Großvater: Imru’ al-Qais war verliebt in eine seiner Kusinen namens ‘Unaiza („Zicklein“). Er stellte ihr nach, traf sie aber nie, er wollte sie heiraten, doch es ergab sich nicht. Bis der „Tag des Weihers“ bzw. „der Tag des Glockengehöfts“ herbei kam. Der Stamm packte die Sachen und die Männer brachen auf, nur Frauen, Gesinde und die kranken Kamele (al-‘usafā’) im Lager lassend. Als Imru’ al-Qais das sah, blieb er hinter den Männern seines Stammes zurück und verbarg sich im Dickicht, bis die Mädchen, darunter ‘Unaiza, an ihm vorbeikamen. Und als sie zum Weiher gelangt waren, schickten sie die Sklaven weg, entkleideten sich und stiegen in den Weiher. Imru’ al-Qais aber spielte ihnen übel mit: er nahm ihre Kleider und trug sie fort. Und er schwor, er werde sie keinem Mädchen zurückgeben, wenn es nicht herauskäme und sie von ihm in Empfang nähme. Sie lehnten das ab, bis der Tag zur Neige ging. Da fürchteten sie, nicht rechtzeitig nach Haus zu kommen und so kam eine von ihnen heraus, und er legte ihr ihr Gewand hin. Die übrigen taten desgleichen, bis nur noch ‘Unaiza übrig war, die beschwor ihn, auch ihr ihr Gewand hinzuwerfen, doch er weigerte sich. Da kam sie heraus und er betrachtete sie von vorn und von hinten. Dann nahm sie ihr Gewand und zog es an. Die Mädchen aber wandten sich nun ihm zu und riefen. „Du hast uns gepeinigt und hungrig gemacht!“ Er sprach: „Wenn ich nun mein Kamel für euch schlachtete – würdet ihr davon essen?“ Sie riefen: „Gewiß doch!“ Da durchschnitt er ihm die Knieflechsen und schlachtete es. Die Diener entfachten ein Feuer, und er zerschnitt das Fleisch für sie und warf es auf die Glut, tränkte sie aus einem mitgebrachten Weinschlauch und sang ihnen Lieder vor, bis sie satt waren und in Stimmung gerieten. Da sagte eine von ihnen: „Ich werde seinen Teppich tragen!“ Eine andre: „Ich trage seinen Weinschlauch!“ Die dritte: „Ich trage sein Polster und seine Sattelriemen!“ So blieb nur ‘Unaiza übrig, ihr hatte man nichts zu tragen gelassen. Da sagte er zu ihr: „O Tochter der Edlen! Nun musst du mich tragen, denn ich kann ja nicht zu Fuß gehen.“ Und so ließ sie ihn auf dem Widerrist (ghārib) ihres Kamels Platz nehmen. Dort kam er an ihre Seite und steckte seinen Kopf in ihre Sänfte und küsste sie. Und wenn sie sich wehrte, neigte er die Sänfte, und sie rief: „O Imru’ al-Qais! Du mordest mir mein Kamel! Steig ab!“ So reiste er mit ihnen, bis sie in die Nähe des Stammes kamen. Dort stieg er ab und blieb, bis die Nacht ihn bedeckte, dann ging er bei Nacht zu seinen Leuten.26
Die Sinnlichkeit dieser Dichtung ist ungehemmt. Die Frau ist Objekt, aber sie ist nicht, wie später in der islamischen Gesellschaft, ins Haus verbannt und zum Schweigen verurteilt. Bezeichnend ist folgendes Hadith, das für viele ähnliche hier stehen mag. Es wirkt wie eine Kritik an Imru‘ al-Qais‘ Mu‘allaqa; aber nicht an seinen Erwartungen, sondern am Widerstand der Frau.
„Zu den Rechten des Mannes über seine Frau gehört es, dass, wenn er nach ihr begehrt und um sie wirbt, sie ihm sich nicht verweigern darf, und läge sie auf dem Rücken eines Kamels.“27 Die folgende Geschichte ist nur ein Beispiel für die stolze und freie Haltung der Frauen aus vor- und frühislamischer Zeit.
al-Fākīh ibn al-Mughīra vom Stamm der Machzūm war einer der edlen Jünglinge der Quraisch. Er hatte Hind, die Tochter ‘Utbas, geheiratet. Nun besaß er ein Gästehaus, in das jeder ohne Erlaubnis eintrat. Einst hatte er in diesem Hause mittags zusammen mit Hind geruht und war dann hinausgegangen, während sie schlief. Da kam jemand von denen, die im Hause ein- und ausgingen, und als er die Frau schlafend fand, ging er fort. Da aber kam al-Fākih ihm entgegen und begab sich zu Hind, weckte sie und fragte: „Wer ist da eben von dir herausgekommen?“ Sie sprach: „Bei Gott, ich bin erst aufgewacht, als du mich geweckt hast!“ Er sprach: „Geh zurück zu deinem Vater!“ Da mischten sich die Leute ein und ihr Vater sprach zu ihr: „O liebe Tochter! Tu mir kund, wie es um dich steht! Und wenn der Mann die Wahrheit sagt, so will ich jemand dingen, ihn zu töten, damit die Schande von dir abfällt; lügt er aber, so will ich ihn vor einen Seher im Jemen zum Schiedsgericht fordern.“
Sie sprach: „Bei Gott, er lügt!“ Da ging ‘Utba hinaus und sprach: „Du hast meine Tochter übel beschuldigt. Beweise daher entweder, was du behauptet hast, oder ich werde dich vor einem der jemenitischen Seher zum Schiedsgericht fordern!“ Er sprach: „Das sollst du haben!“
Da zog al-Fākīh in Begleitung einer Schar von Männern der Quraisch und Weibern der Banū Machzūm aus, und ‘Utba zog in Begleitung von Männern und Weibern der Banū ‘Abd Manāf ebenfalls aus. Und als sie sich dem Ort des Sehers näherten, da wechselte Hind die Farbe und ihr Zustand verdüsterte sich. Da sprach ihr Vater: „O liebe Tochter! Konnte das nicht geschehen, bevor unser Auszug vor aller Augen kund wurde?!“ Sie sprach: „O mein Vater! Bei Gott, es ist dies nicht wegen eines Fehltrittes von meiner Seite! Doch ihr begebt euch zu einem Menschen, der sich irren oder rechthaben kann.
Und vielleicht brandmarkt er mich mit einem Zeichen, das auf den Zungen der Araber haften bleibt.“ Da sprach ihr Vater: „Du hast Recht. Aber ich werde ihn für dich auf die Probe stellen.“
Dann pfiff er seinem Pferd und als es die Rute baumeln ließ, ergriff er ein Weizenkorn und schob es in seine Harnröhre und band sie darüber zu und reiste weiter.
Und als sie beim Seher abgestiegen waren, empfing er sie ehrenvoll und schlachtete für sie. ‘Utba sprach: „Wir sind zu dir gekommen um einer Angelegenheit willen, und wir haben dir etwas versteckt – was ist es?“ Er erwiderte: „Eine Frucht in einer Eichel.“ Er sprach: „Ich will es genauer wissen!“ Er sprach: „Ein Weizenkorn in eines Fohlens Eichel.“ Er sprach: „Du sprichst wahr! Prüfe nun die Angelegenheit dieser Frauen!“
Da strich er jeder Frau über den Kopf und sagte dann: „Steh auf und zieh deines Weges!“, bis er zu Hind gelangte. Auch ihr strich er mit seiner Hand über den Kopf und sprach: „Steh auf, du bist weder schändlich noch hurerisch. Und du wirst einen König gebären, dessen Name wird Mu‘āwiya sein.“ Und als sie hinausging, ergriff al-Fākīh ihre Hand, sie aber schüttelte sie ab und rief: „Bei Gott, ich möchte nicht, dass dieser Knabe von dir sei!“
Daraufhin vermählte ihr Vater sie mit Abū Sufyān, und sie gebar Mu‘āwiya.28
29303132A min āli Nu‘mMu‘allaqaMu‘allaqa