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Für Liis McKinstry. Ich danke Dir für alles,
was Du tust, und dafür, wie Du bist.
Und für Jessica Landers. Du bist ein Grund zu lächeln,
und ich schätze Deine Großmütigkeit.
Übersetzung aus dem Amerikanischen von Henriette Zeltner
Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag
erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2015
ISBN 978-3-492-96723-5
© 2014 Jamie McGuire
Published by Arrangement with Jamie McGuire
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
»A Beautiful Oblivion«, Simon and Schuster, New York 2014
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2015
Covergestaltung: Mona Kashani-Far
Covermotiv: alice-photo/Shutterstock (Schmetterlinge),
Marilyn Volan und ilolab/Shutterstock (Hintergrund)
Datenkonvertierung: Uhl + Massopust, Aalen
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I won’t break his heart to fix you.
EMILY KINNEY »TIMES SQUARE«
Erstes Kapitel
Seine Worte hingen in der Dunkelheit irgendwo zwischen unseren Stimmen. Manchmal hatte ich in diesem dunklen Raum Trost gefunden, aber seit drei Monaten gab es dort nur Unbehagen. Der Raum war irgendwie zu einem praktischen Ort geworden, um sich zu verstecken. Nicht für mich, sondern für ihn. Meine Finger schmerzten, ich ließ sie locker, nachdem ich vorher gar nicht bemerkt hatte, wie heftig ich mein Handy umklammert hatte.
Meine Zimmergenossin Raegan hockte im Schneidersitz neben meinem geöffneten Koffer auf dem Bett. Ich wusste nicht, was für ein Gesicht ich machte, aber es veranlasste sie jedenfalls, meine Hand zu nehmen. T. J.?, fragte sie lautlos.
Ich nickte.
»Würdest du bitte irgendetwas sagen?«, bat T. J. mich.
»Was möchtest du, dass ich sage? Ich habe gepackt. Habe mir Urlaub genommen. Hank hat meine Schichten schon Jorie zugeteilt.«
»Ich fühle mich wie ein Riesenarschloch. Ich wünschte, ich müsste da nicht hin, aber ich hatte dich gewarnt. Wenn ich ein Projekt laufen habe, kann ich jederzeit da hinbeordert werden. Wenn du Unterstützung wegen der Miete brauchst oder sonst was …«
»Ich will dein Geld nicht«, sagte ich und rieb mir über die Augen.
»Ich dachte, das würde ein schönes Wochenende werden. Ich schwör’s dir.«
»Und ich dachte, ich würde morgen früh in den Flieger steigen. Stattdessen rufst du mich jetzt an, um mir zu sagen, dass ich nicht kommen kann. Wieder mal.«
»Ich weiß, dass das wie ein gemeiner Schachzug aussieht. Und ich schwör dir, ich hab denen gesagt, dass ich eigentlich verplant bin. Aber wenn die Sachen anstehen, Cami … muss ich eben meinen Job machen.«
Ich wischte mir eine Träne von der Wange, aber ich wollte auf keinen Fall, dass er mich weinen hörte. Deshalb verbannte ich das Zittern aus meiner Stimme. »Kommst du dann zu Thanksgiving nach Hause?«
Er seufzte. »Das möchte ich. Aber ich weiß nicht, ob ich es schaffe. Es hängt davon ab, ob das hier abgeschlossen ist. Ich vermisse dich wirklich. Sehr. Mir gefällt das alles auch nicht.«
»Wird das mit deinen Terminen jemals besser werden?«, fragte ich.
Er brauchte länger für eine Antwort, als es eigentlich hätte dauern dürfen.
»Was, wenn ich sage, wahrscheinlich nicht?«
Ich zog die Augenbrauen hoch. Zwar hatte ich mit der Antwort gerechnet, aber ich hätte nicht erwartet, dass er so … aufrichtig sein würde.
»Tut mir leid«, sagte er. Ich stellte mir vor, wie er zusammenzuckte. »Ich fahre gerade aufs Flughafengelände. Ich muss Schluss machen.«
»Ja, okay. Dann sprechen wir später wieder.« Ich zwang mich zu einem gleichmütigen Ton. Ich wollte nicht verzweifelt klingen. Ich wollte nicht, dass er mich für schwach oder rührselig hielt. Er war tough, selbstbewusst und erledigte das, was zu tun war, ohne sich zu beklagen. Ich versuchte, für ihn genauso zu sein. Über irgendetwas zu jammern, auf das er keinen Einfluss hatte, würde sowieso nichts nützen.
Er seufzte wieder. »Ich weiß, du glaubst mir nicht, aber ich liebe dich wirklich.«
»Ich glaube dir«, sagte ich und meinte es auch so.
Dann drückte ich den roten Knopf auf meinem Display und ließ das Telefon aufs Bett fallen.
Raegan war bereits im Modus Schadenbewältigung. »Muss er zu einem Job?«
Ich nickte nur.
»Okay, also vielleicht müsst ihr schlicht spontaner werden. Vielleicht kreuzt du das nächste Mal einfach auf, und wenn er abgerufen wird, während du dort bist, wartest du eben auf ihn. Und sobald er zurück ist, macht ihr da weiter, wo ihr vorher aufgehört habt.«
»Vielleicht.«
Sie drückte meine Hand. »Oder vielleicht ist er einfach ein Hampelmann, der aufhören sollte, seinen Job dir vorzuziehen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Er hat wirklich hart gearbeitet, um diese Position zu bekommen.«
»Du weißt doch nicht mal, was für eine Position das ist.«
»Ich hab’s dir doch gesagt. Er kann da anwenden, was er im Studium gelernt hat. Er ist spezialisiert auf statistische Analysen und Datenrekonfiguration. Was auch immer das bedeutet.«
Raegan warf mir einen Blick voller Zweifel zu. »Klar, und du hast mir auch gesagt, wie geheim das alles bleiben muss. Was bei mir den Verdacht weckt, dass er nicht ganz ehrlich mit dir ist.«
Ich stand auf und lehrte meinen Koffer auf dem Bett aus, sodass der gesamte Inhalt auf der Bettdecke verstreut lag. Normalerweise mache ich mein Bett nur, wenn ich packe, deshalb konnte ich jetzt die dunkelblauen Tentakel des Oktopus darauf sehen. T. J. hasste diese Bettwäsche, aber ich mochte sie, weil ich mich darin beim Schlafen wie umarmt fühlte. Mein Zimmer war voll mit lauter seltsamen Sachen, aber so war ich nun mal.
Raegan wühlte in dem Kleiderhaufen und zog ein schwarzes Top hervor, das an den Schultern und am Dekolleté absichtlich eingerissen war. »Wir haben beide einen freien Abend, also sollten wir ausgehen. Uns ausnahmsweise mal Drinks servieren lassen.«
Ich nahm ihr das Top aus der Hand und betrachtete es, während ich über Raegans Vorschlag nachdachte. »Du hast recht. Das sollten wir. Nehmen wir deinen Wagen oder den Schlumpf?«
Raegan zuckte mit den Schultern. »Mein Tank ist fast leer, und Gehalt kriegen wir erst morgen.«
»Dann sieht’s wohl so aus, als ob wir den Schlumpf nehmen.«
Nach einem Ultrakurzprogramm im Bad sprangen Raegan und ich in meinen schlumpfblauen umgebauten CJ Jeep. Der war zwar nicht mehr der Schickste, aber immerhin hatte irgendjemand mal genug Weitblick und Liebe aufgebracht, ihn zu einem Hybridfahrzeug umzubauen. Der verwöhnte Collegeabbrecher, dem der Schlumpf zwischen diesem Vorbesitzer und mir gehört hatte, war allerdings nicht so liebevoll mit ihm umgegangen. An manchen Stellen, wo die schwarzen Ledersitze aufgerissen waren, quoll etwas von dem Füllstoff heraus. Im Teppich waren Brandlöcher von Zigaretten und einige Flecken. Auch das Hardtop hätte eigentlich erneuert werden müssen, aber nur weil er so vernachlässigt gewesen war, hatte ich ihn auch auf einmal bezahlen können. Und ein fahrbarer Untersatz, für den man keine Raten mehr abstottern musste, war doch das Beste, was einem passieren konnte.
Ich ließ meinen Sicherheitsgurt einrasten und steckte den Schlüssel ins Zündschloss.
»Soll ich beten?«, fragte Raegan.
Ich drehte den Schlüssel um, und der Schlumpf gab ein dürftiges Geräusch von sich. Dann stotterte der Motor ein paarmal, bis er gleichmäßig brummte. Wir klatschten beide. Meine Eltern zogen vier Kinder mit dem Lohn eines Fabrikarbeiters groß. Ich habe sie nie um Unterstützung gebeten, damit ich mir ein Auto kaufen konnte. Stattdessen jobbte ich im Eisladen bei uns im Ort, seit ich fünfzehn war, und sparte mir genau fünfhundertsiebenundfünfzig Dollar und elf Cent zusammen. Der Schlumpf war nicht gerade das Fahrzeug, von dem ich seit meiner Kindheit geträumt hatte, aber für fünfhundertfünfzig Flocken hatte ich mir damit Unabhängigkeit kaufen können, und das war unbezahlbar.
Zwanzig Minuten später waren Raegan und ich auf der anderen Seite der Stadt und stolzierten über den gekiesten Parkplatz des Red Door. Langsam und im Gleichschritt, als würden wir zu irgendeinem bescheuerten Soundtrack gefilmt.
Kody stand am Eingang. Seine massigen Oberarme waren wahrscheinlich genauso dick wie mein ganzer Kopf. Er musterte uns schon im Näherkommen. »Ausweise.«
»Leck mich!«, giftete Raegan. »Wir arbeiten hier. Du weißt, wie alt wir sind.«
Er zuckte mit den Schultern. »Brauch trotzdem die Ausweise.«
Ich warf Raegan einen finsteren Blick zu, und sie rollte mit den Augen, während sie die Hand in ihre hintere Hosentasche schob. »Wenn du immer noch nicht weißt, wie alt ich bin, haben wir ein Problem.«
»Komm schon, Raegan. Geh mir nicht auf den Sack und lass mich endlich das verdammte Ding sehen.«
»Als ich dich das letzte Mal was habe sehen lassen, da hast du mich drei Tage lang nicht angerufen.«
Er zuckte zusammen. »Darüber kommst du wohl nie hinweg, was?«
Sie warf Kody den Ausweis zu, und er fing ihn vor seiner Brust. Dann schaute er kurz drauf, gab ihn ihr zurück und sah mich erwartungsvoll an. Ich gab ihm meinen Führerschein.
»Dachte, du wolltest verreisen?«, fragte er und warf nur einen flüchtigen Blick auf die dünne Plastikkarte, bevor er sie mir wiedergab.
»Ist ’ne lange Geschichte«, murmelte ich und schob den Führerschein wieder in meine Tasche. Die Jeans war so knalleng, dass es mich wunderte, dass außer meinem Hintern überhaupt noch irgendetwas reinpasste.
Kody öffnete die überdimensionale rote Tür, und Raegan schenkte ihm ein süßes Lächeln. »Danke, Baby.«
»Hab dich lieb. Sei schön brav.«
»Ich bin immer brav«, antwortete sie augenzwinkernd.
»Sehen wir uns, wenn ich mit der Arbeit fertig bin?«
»Jepp.« Sie zog mich mit sich durch die Tür.
Die Tanzfläche war schon total voll mit verschwitzten, betrunkenen Collegekids. Das Herbstsemester war eben in vollem Gang. Raegan ging an die Bar und stellte sich an deren eines Ende. Jorie nickte ihr zu.
»Soll ich euch Sitzgelegenheiten besorgen?«, fragte sie.
Raegan schüttelte den Kopf. »Das Angebot machst du doch nur, weil du meine Trinkgelder von gestern Abend willst!«
Jorie lachte. Das lange platinblonde Haar fiel ihr in weichen Wellen auf die Schultern, dazwischen als Hingucker ein paar schwarze Strähnen. Sie trug ein schwarzes Minikleid und Springerstiefel, drückte Knöpfe an der Kasse und rief jemanden an, während sie sich mit uns unterhielt. Wir hatten hier alle Multitasking gelernt und legten uns ins Zeug, als sei jedes Trinkgeld ein Hundertdollarschein. War man schnell genug, bekam man die Chance, an der East Bar zu arbeiten, wo man an einem Wochenende so viel Trinkgeld machen konnte, um die Rechnungen eines ganzen Monats zu bezahlen.
Dort war ich seit einem Jahr Barkeeperin. Den Platz hatte ich schon drei Monate, nachdem ich im Red Door angefangen hatte, ergattert. Raegan arbeitete gleich neben mir, und gemeinsam lief unsere Maschine so geschmiert wie eine Stripperin, die sich in einem Planschbecken voller Babyöl rekelt. Jorie und Blia, die andere Barfrau, arbeiteten normalerweise an der South Bar gleich am Eingang. Aber das war eigentlich eher ein Kiosk, und die beiden waren ganz scharf drauf, dass Raegan oder ich freihatten.
»Und? Was wollt ihr trinken?«, fragte Jorie.
Raegan sah kurz mich an, dann wieder Jorie. »Whiskey sour.«
Ich verzog das Gesicht. »Meinen ohne sour, bitte.«
Nachdem Jorie uns die Drinks hingestellt hatte und Raegan und ich uns an einen freien Tisch gesetzt hatten, konnten wir unser Glück kaum fassen. An den Wochenenden war es immer gesteckt voll und ein freier Tisch um halb elf eine echte Seltenheit.
Ich hielt ein neues Päckchen Zigaretten in der Hand, riss die Plastikhülle ab und klappte die Schachtel auf. Obwohl das Red schon derart verqualmt war, dass ich das Gefühl hatte, allein beim Rumsitzen eine ganze Schachtel mitzurauchen, gefiel mir die Aussicht, entspannt hier am Tisch eine zu qualmen. Wenn ich arbeitete, blieb mir meist nur Zeit für einen Zug, der Rest brannte dann von allein im Aschenbecher runter. Raegan sah zu, wie ich mir eine ansteckte. »Ich will auch eine.«
»Nein, willst du nicht.«
»Doch, ich will!«
»Du hast jetzt zwei Monate nicht geraucht, Raegan. Morgen machst du mir Vorwürfe, weil ich deinen Entzug ruiniert hab.«
Sie deutete in den Raum. »Ich rauche doch schon! Jetzt gerade!«
Ich betrachtete sie mit halb zusammengekniffenen Augen. Raegan war eine exotische Schönheit mit langen, kastanienbraunen Haaren, bronzefarbener Haut und honiggelben Augen. Ihre Nase war perfekt: klein, aber nicht zu rund oder zu spitz. Und ihre Haut ließ sie aussehen, als käme sie direkt aus einem Werbespot für Neutrogena. Wir hatten uns in der Grundschule kennengelernt, und ihre brutale Ehrlichkeit hatte mich sofort angesprochen. Raegan konnte unglaublich einschüchternd auftreten, sogar Kody gegenüber, der sie mit seinen einsneunzig um mehr als einen Kopf überragte. Ihre Art bezauberte diejenigen, die sie mochte, und stieß alle anderen ab.
Ich war das Gegenteil von exotisch. Mein verstrubbelter brauner Bob mit dem dichten Pony war pflegeleicht, aber nicht viele Männer fanden ihn sexy. Ganz allgemein fanden mich nicht viele Männer sexy. Ich war das Mädchen von nebenan, die beste Freundin seiner Schwester. Nachdem ich mit drei Brüdern und unserem Cousin Colin aufgewachsen war, hätte ich als richtiger Junge durchgehen können, wenn meine dezenten, aber trotzdem vorhandenen Kurven mich nicht mit vierzehn aus dem Klubhaus – nur für Jungs! – getrieben hätten.
»Mach nicht so auf hilfloses Mädel«, sagte ich. »Wenn du eine willst, kauf dir selber welche.«
Sie verschränkte schmollend die Arme. »Darum hab ich ja aufgehört. Die Dinger sind so verdammt teuer.«
Ich schaute auf das brennende Papier und den glimmenden Tabak zwischen meinen Fingern. »Die Bemerkung macht meine Lieblingsschnorrerin ja regelmäßig.«
Die Musik wechselte von einem Stück, zu dem jeder tanzen wollte, zu einem, bei dem keiner tanzen wollte. Deshalb verließen Dutzende Leute die Tanzfläche. Zwei Mädchen kamen an unseren Tisch und tauschten Blicke.
»Das ist unser Tisch«, sagte die Blonde.
Raegan nahm kaum Notiz von ihr.
»Entschuldige mal, du Schlampe, sie redet mit dir«, sagte die Brünette und knallte ihre Bierflasche auf den Tisch.
»Raegan«, sagte ich warnend.
Raegan sah erst mich ausdruckslos an, dann zu dem Mädchen hoch. »Das war euer Tisch. Jetzt ist es unserer.«
»Wir waren zuerst hier«, fauchte die Blondine.
»Und jetzt seid ihr es nicht mehr«, sagte Raegan. Sie griff nach der unerwünschten Bierflasche und warf sie auf den Boden. Das Bier ergoss sich über den dunklen Teppichboden. »Hol’s.«
Die Brünette sah ihre Flasche über den Boden rollen und machte einen Schritt auf Raegan zu, doch da hatte ihre Freundin sie schon an beiden Armen gepackt. Raegan lachte unbeeindruckt und wandte ihren Blick der Tanzfläche zu. Schließlich trottete die Brünette hinter ihrer Freundin her Richtung Bar.
Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette. »Ich dachte, wir wollten uns einen schönen Abend machen.«
»Das war doch lustig, oder?«
Ich schüttelte den Kopf und lächelte gezwungen. Raegan war eine tolle Freundin, aber ich würde mich nie mit ihr anlegen. Nachdem ich mit so vielen Jungs im Haus aufgewachsen war, hatte ich von Handgreiflichkeiten für den Rest meines Lebens genug. Sie waren nicht zimperlich mit mir gewesen. Und wenn ich mich nicht wehrte, legten sie so lange nach, bis ich es tat. Und ich tat es immer.
Raegan hatte dagegen keine Entschuldigung vorzubringen. Sie war einfach nur ein rauflustiges Biest. »Oh, schau mal. Megan ist da«, sagte sie und zeigte auf eine blauäugige Schönheit mit dunkler Mähne auf der Tanzfläche. Ich schüttelte den Kopf. Sie tanzte mit Travis Maddox und ließ sich von ihm vor aller Augen praktisch vögeln.
»Ach, diese Maddox-Jungs«, sagte Raegan.
»Ja, ja«, sagte ich und leerte meinen Whiskey in einem Zug. »Das war eine schlechte Idee. Mir ist heute Abend nicht nach Clubbing zumute.«
»Ach, hör schon auf.« Raegan stürzte ihren Whiskey sour genauso runter und stand auf. »Die Jammertanten spechten immer noch auf diesen Tisch, deshalb hol ich uns die nächste Runde. Und du weißt doch, dass die Nacht immer erst langsam anläuft.«
Sie nahm die leeren Gläser mit zur Bar.
Ich drehte mich um und sah, dass die beiden Mädchen mich anstarrten. Sie hofften offensichtlich, dass ich auch ging, aber ich hatte keineswegs vor, aufzustehen. Raegan würde sich den Tisch zurückholen, falls sie versuchen sollten, ihn wieder zu besetzen, und das würde nur Ärger geben.
Als ich mich wieder zurückdrehte, saß ein Typ auf Raegans Platz. Zuerst dachte ich, Travis hätte sich irgendwie herüberbeeilt, aber als ich meinen Fehler bemerkte, musste ich lächeln. Trenton Maddox beugte sich zu mir vor, die tätowierten Arme hatte er verschränkt vor sich auf dem Tisch liegen. Dann rieb er sich mit den Fingern den Bartschatten auf seinem kantigen Kinn. Dabei wölbten sich die Schultermuskeln unter dem engen T-Shirt deutlich sichtbar. Er trug im Gesicht ungefähr die gleichen Stoppeln wie auf dem Kopf. Nur an seiner linken Schläfe war eine kleine Narbe zu sehen.
»Du kommst mir bekannt vor.«
Ich hob eine Augenbraue. »Ach wirklich? Da machst du den ganzen weiten Weg, setzt dich hierher, und was Besseres fällt dir nicht ein?«
Er musterte mich demonstrativ von oben bis unten. »Du hast keine Tattoos, die ich sehen kann. Also schätze ich, dass wir uns nicht vom Shop kennen.«
»Vom Shop?«
»Vom Ink Shop, wo ich arbeite.«
»Du tätowierst inzwischen?«
Er lächelte, und dabei bildete sich ein tiefes Grübchen in seiner linken Wange. »Ich wusste, dass wir uns von früher kennen.«
»Tun wir nicht.« Ich drehte mich wieder so, dass ich die Mädchen auf der Tanzfläche beobachten konnte, die lachend und grinsend Travis und Megan beim vertikalen Trockenbumsen zusahen. Aber dann war auch das zweite Stück vorbei, und er ließ sie stehen, um direkt auf die Blondine zuzugehen, die uns den Tisch hatte streitig machen wollen. Obwohl sie genau gesehen haben musste, wie Travis noch vor zwei Sekunden mit seinen Händen überall auf Megans verschwitzter Haut gewesen war, grinste sie wie eine Idiotin. Wahrscheinlich in der Hoffnung, als Nächste an der Reihe zu sein.
Trenton lachte kurz auf. »Das ist mein kleiner Bruder.«
»Das würde ich nicht laut zugeben«, sagte ich kopfschüttelnd.
»Sind wir zusammen zur Schule gegangen?«, fragte er.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber du weißt, ob du irgendwann zwischen Vorschule und zwölfter Klasse auf der Eakins warst, oder?«
»War ich.«
Wenn er grinste, vertiefte sich Trentons Grübchen links noch. »Dann kennen wir uns.«
»Nicht unbedingt.«
Trenton lachte wieder. »Willst du was trinken?«
»Ich krieg schon einen Drink gebracht.«
»Lust zu tanzen?«
»Nope.«
Eine Gruppe von Mädchen schlenderte vorbei, und Trenton musterte eine ganz besonders genau. »Ist das Shannon aus Wirtschaft? Meine Herren«, sagte er und drehte sich auf seinem Stuhl um einhundertachtzig Grad.
»Genau das ist sie. Du solltest ihr nachgehen und in Erinnerungen schwelgen.«
Trenton schüttelte den Kopf. »Haben wir an der Highschool schon gemacht.«
»Ich erinnere mich. Mit großer Wahrscheinlichkeit hasst sie dich immer noch.«
Trenton schüttelte den Kopf, lächelte und meinte, bevor er einen Schluck nahm: »Das tun sie immer.«
»Ist eben eine Kleinstadt. Du hättest einfach nicht alle Brücken hinter dir abbrennen sollen.«
Er senkte das Kinn und legte bei seinem berüchtigten Charme noch ein Schäufelchen drauf. »Es gibt noch ein paar, unter denen ich bis jetzt kein Feuer gelegt habe. Noch.«
Ich rollte mit den Augen, und er gluckste.
Raegan kam zurück und hatte ihre langen Finger um vier On-the-Rocks-Gläser und zwei Shotgläser gelegt. »Mein Whiskey sour, dein Whiskey pur und für jeden einen Buttery Nipple.«
»Was hast du bloß heute Abend mit dem ganzen Süßkram, Ray?«, sagte ich und rümpfte die Nase.
Trenton griff nach einem der Shotgläser, setzte es an die Lippen und legte den Kopf in den Nacken. Dann knallte er es wieder auf den Tisch und zwinkerte mir zu. »Keine Sorge, Babe. Ich kümmer mich drum.« Damit stand er auf und ging weg.
Ich merkte gar nicht, wie mir der Mund offen stand, bis mein Blick Raegans traf und ich ihn schnell zuklappte.
»Hat der jetzt gerade deinen Shot getrunken? Ist das echt grade passiert?«
»Wer bringt so was?«, sagte ich und drehte mich um, um zu sehen, wo er hinging. Aber er war schon in der Menge verschwunden.
»Einer von den Maddox-Jungs.«
Ich trank den doppelten Whiskey auf ex und zog noch einmal an meiner Zigarette. Jeder wusste, was von Trenton Maddox zu erwarten war, aber das schien keine von dem Versuch abzuhalten, ihn zu bändigen. Da ich ihn schon seit der Grundschule kannte, schwor ich mir, dass ich niemals eine Kerbe am Kopfende seines Bettes sein würde – sofern die Gerüchte stimmten und er solche Kerben schnitzte. Aber ich hatte auch nicht vor, das herauszufinden.
»Willst du ihm das etwa durchgehen lassen?«, fragte Raegan.
Verärgert blies ich den Rauch aus. Ich war nicht in der Verfassung, um Spaß zu haben oder mit nervigen Flirtangeboten umzugehen oder mich darüber zu beklagen, dass Trenton Maddox gerade den zuckrigen Shot geleert hatte, den ich sowieso nicht gewollt hätte. Aber bevor ich meiner Freundin antworten konnte, verschluckte ich mich fast an dem Whiskey.
»Oh nein.«
»Was?«, fragte Raegan und drehte sich auf ihrem Stuhl um. Sofort wandte sie sich wieder zu mir und duckte sich.
Alle meine drei Brüder plus unser Cousin Colin kamen auf unseren Tisch zu.
Colin, der Älteste und der Einzige mit einem gültigen Ausweis, ergriff zuerst das Wort. »Zum Teufel noch mal, Camille! Ich dachte, du wärst heute Abend schon weggeflogen.«
»Hab meine Pläne geändert«, giftete ich.
Chase meldete sich als Nächster zu Wort, wie ich es erwartet hatte. Er war der älteste meiner Brüder und tat gern so, als wäre er auch älter als ich. »Dad wird sich aber nicht freuen, dass du das gemeinsame Mittagessen der Familie ausgelassen hast, obwohl du da warst.«
»Er braucht sich nicht freuen, wenn er es gar nicht weiß«, sagte ich und kniff die Augen zusammen.
Er zuckte zurück. »Warum bist du denn so angepisst? Hast du gerade die monatliche Betriebsstörung?«
»Also wirklich!«, sagte Raegan und senkte das Kinn, während sie gleichzeitig die Augenbrauen hob. »Wir sind hier in einem öffentlichen Lokal. Werd mal langsam erwachsen!«
»Dann hat er dich versetzt?«, fragte Clark. Im Unterschied zu den anderen sah er wirklich besorgt aus.
Bevor ich darauf antworten konnte, hatte schon der jüngste der drei die Klappe offen. »Moment mal, dieses wertlose Stück Scheiße hat dich versetzt?«, fragte Coby. Die Jungs waren alle jeweils elf Monate auseinander; Coby war gerade mal achtzehn. Meine Kollegen wussten, dass meine Brüder sich alle gefälschte Ausweise beschafft hatten, und glaubten, mir einen Gefallen zu tun, wenn sie ein Auge zudrückten. Aber meistens wäre es mir lieber gewesen, sie hätten es nicht gemacht. Vor allem Coby benahm sich noch wie ein Zwölfjähriger, der nicht wusste, wohin mit seinem Testosteron. Jetzt plusterte er sich hinter den anderen auf, sodass sie ihn von einer Schlägerei abhielten, die gar nicht existierte.
»Was treibst du da, Coby?«, fragte ich. »Er ist noch nicht mal hier!«
»Da hast du verdammt recht, ist er nicht«, sagte Coby. Er entspannte sich und rieb seinen Nacken. »Meine große Schwester versetzen. Dem polier ich seine verdammte Fresse.« Ich stellte mir vor, wie Coby und T. J. aneinandergerieten, und bekam Herzklopfen. T. J. war schon als Jugendlicher bedrohlich gewesen, und jetzt, als Erwachsener, war er tödlich gefährlich. Keiner legte sich mit ihm an, und Coby wusste das.
Aus meiner Kehle kam ein missbilligendes Geräusch, und ich verdrehte die Augen. »Los … sucht euch einen anderen Tisch.«
Alle vier zogen sich Stühle neben mir und Raegan heran. Colin hatte hellbraunes Haar, aber meine Brüder waren allesamt Rotschöpfe. Colin und Chase mit blauen, Clark und Coby mit grünen Augen. Manche rothaarigen Jungs sehen ja nicht so besonders gut aus, aber meine Brüder waren große, markant aussehende und kontaktfreudige Typen. Clark hatte als Einziger Sommersprossen, aber an ihm sahen sogar die gut aus. Ich war die Außenseiterin – das einzige Kind mit mausbraunen Haaren und großen, runden, hellblauen Augen. Nicht nur einmal versuchten die Jungs mir einzureden, ich sei adoptiert worden. Wenn ich nicht die weibliche Ausgabe meines Vaters gewesen wäre, hätte ich ihnen das vielleicht sogar geglaubt.
Jetzt ließ ich meine Stirn auf die Tischplatte sinken und stöhnte. »Ich fasse es nicht, aber dieser Tag konnte wirklich noch schlimmer werden.«
»Ach komm, Camille. Du weißt doch, wie lieb du uns hast«, sagte Clark und stupste mich mit seiner Schulter an. Als ich nicht antwortete, beugte er sich vor, um mir ins Ohr zu flüstern: »Bist du wirklich okay?«
Ich hielt den Kopf weiter gesenkt, nickte aber. Clark tätschelte mir noch ein bisschen den Rücken, und dann wurde es am Tisch plötzlich still.
Ich hob den Kopf. Alle starrten auf etwas hinter mir, also drehte ich mich um. Da stand Trenton Maddox. In der Hand zwei Shotgläser und ein weiteres Glas mit irgendwas, das definitiv weniger süß aussah.
»Aus dieser Runde ist ganz schön schnell eine Party geworden«, sagte Trenton mit einem erstaunten, aber charmanten Lächeln.
Chase musterte ihn aus schmalen Augen. »Ist er das?«, fragte er und deutete mit dem Kinn.
»Was?«, fragte Trenton.
Cobys Knie begann zu hüpfen, und er beugte sich auf seinem Stuhl nach vorn. »Das ist er. Der hat sie verdammt noch mal versetzt, und jetzt kreuzt er hier auf.«
»Warte. Coby, nein«, sagte ich und hob die Hände.
Coby stand schon. »Spielst du Spielchen mit unserer Schwester?«
»Schwester?«, sagte Trenton, und sein Blick ging zwischen mir und den explosiven Feuerköpfen links und rechts von mir hin und her.
»Oh Gott«, stöhnte ich und schloss die Augen. »Colin, sag Coby, er soll das lassen. Das ist er nicht.«
»Wer bin ich nicht?«, fragte Trenton. »Haben wir hier ein Problem?«
Da tauchte Travis neben seinem Bruder auf. Er hatte die gleiche amüsierte Miene aufgesetzt wie Trenton, und beide ließen ihre identischen Grübchen sehen. Sie hätten das zweite Zwillingspaar ihrer Mutter sein können. Denn sie unterschieden sich nur geringfügig, abgesehen davon, dass Travis ein paar Zentimeter größer war.
Travis verschränkte die Arme vor der Brust, sodass seine ohnehin schon großen Bizepse noch stärker hervortraten. Das Einzige, was mich daran hinderte, von meinem Stuhl aufzuspringen, war, dass seine Schultern entspannt wirkten. Er war nicht in Kampfstellung. Noch nicht.
»N’Abend«, sagte Travis.
Die Maddox-Jungs hatten einen siebten Sinn für Zoff. Zumindest kam es einem so vor, weil sie, wann immer es eine Schlägerei gab, diese entweder angefangen oder beendet hatten. Meist beides.
»Coby, setz dich hin«, befahl ich mit zusammengebissenen Zähnen.
»Nein, ich setz mich nicht hin. Dieser Scheißkerl hat meine Schwester beleidigt, da setz ich mich verdammt noch mal nicht hin.«
Raegan lehnte sich zu Chase hinüber. »Das sind Trent und Travis Maddox.«
»Maddox?«, fragte Clark.
»Genau. Hast du noch mehr zu sagen?«, fragte Travis.
Coby schüttelte bedächtig den Kopf und grinste. »Ich kann die ganze Nacht lang reden, du Wichs-«
Jetzt stand ich doch. »Coby! Setz dich auf deinen Arsch!«, sagte ich und zeigte auf seinen Stuhl. Er setzte sich. »Ich habe gesagt, das ist er nicht, und ich habe es auch so gemeint! Und jetzt beruhigt sich hier verdammt noch mal jeder! Ich hatte einen Scheißtag, und jetzt bin ich hier, um was zu trinken, mich zu entspannen und eine verdammt noch mal gute Zeit zu haben! Und falls das ein Problem für dich ist, scher dich gefälligst von meinem Tisch weg!« Ich kniff die Augen zu und schrie die letzten Worte, sodass ich völlig durchgeknallt aussehen musste. Die Leute rundherum starrten uns an.
Heftig atmend schaute ich wieder zu Trenton, der mir einen Drink in die Hand drückte.
Er zog einen Mundwinkel hoch. »Ich glaube, ich bleibe.«
Zweites Kapitel
Mein Telefon zwitscherte zum dritten Mal. Ich nahm es von meinem Nachttisch, um einen Blick darauf zu werfen. Es war eine SMS von Trenton.
»Bist du komplett bescheuert? Mach dein Telefon aus! Einige von uns haben einen Kater!«, brüllte Raegan aus ihrem Zimmer.
Ich schaltete das Telefon auf stumm und legte es wieder zurück. Verdammt. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht, ihm meine Nummer zu geben?
Kody trottete über den Flur und spähte um die Ecke. Seine Augen waren noch halb geschlossen. »Wie spät ist es?«
»Noch keine acht.«
»Wer stört so früh?«
»Geht dich nichts an«, brummte ich und drehte ihm den Rücken zu. Kody gluckste und begann kurz darauf, in der Küche mit Töpfen und Pfannen zu klappern, wahrscheinlich brauchte der Riesenkerl dringend was zu futtern.
»Ich hasse euch alle!«, keifte Raegan schon wieder.
Ich setzte mich auf und ließ meine Beine über die Bettkante baumeln. Das ganze Wochenende frei – so was hatte ich lange nicht gehabt. Seit dem letzten Wochenende, als ich mir freigenommen hatte, um T. J. zu sehen – und er mich versetzt hatte. Damals hatte ich die Wohnung geputzt, bis meine Finger wund waren, und danach erst meine und dann Raegans komplette Wäsche gewaschen, getrocknet und zusammengelegt.
Diesmal würde ich jedoch nicht miesepetrig in der Wohnung rumhängen. Ich betrachtete die Fotos von meinen Brüdern und mir an der Wand, daneben eins meiner Eltern und ein paar Zeichnungen, die ich in der Highschool gemacht hatte. In der ganzen Wohnung hingen schwarze Bilderrahmen als Kontrast zu den weißen Wänden. Ich hatte mich bemüht, es ein bisschen wohnlicher zu gestalten – und von jedem Gehaltsscheck ein Paar Vorhänge gekauft. Raegans Eltern hatten ihr zu Weihnachten einen Gutschein von Pottery Barn geschenkt, sodass wir jetzt ein hübsches Geschirr und einen rustikalen, mahagonifarbenen Couchtisch besaßen. Trotzdem sah das Appartement immer noch aus, als wären wir gerade eingezogen, obwohl ich schon seit fast drei Jahren und Raegan seit über einem Jahr dort lebte. Es war nicht gerade das hübscheste Anwesen in der Stadt, aber immerhin gab es in der Nachbarschaft eher junge Familien und berufstätige Singles als laute, schnöselige Collegekids. Es war auch weit genug weg vom Campus, sodass wir nicht viel von den studentischen Völkerwanderungen mitbekamen.
Es war nicht besonders toll, aber immerhin ein Zuhause.
Mein Telefon brummte. Ich verdrehte die Augen, weil ich dachte, es wäre wieder Trenton, und beugte mich hinüber, um auf das Display zu schauen. Es war T. J.
Man konnte T. J. nicht lange böse sein, aber man kam ihm auch nicht richtig nahe. Klar, wir waren auch erst seit sechs Monaten zusammen. Davon waren die ersten drei großartig, und dann wurde T. J. mit der Leitung dieses Projekts beauftragt. Er warnte mich noch davor, als wir beschlossen, es mit einer Fernbeziehung zu versuchen. Es war das erste Mal, dass ihm die Verantwortung für ein ganzes Projekt übertragen wurde, und er war sowohl ein Perfektionist als auch ein Streber. Noch dazu war der Auftrag der größte, an dem er je mitgearbeitet hatte, und T. J. wollte sichergehen, nichts zu versäumen. Es – was immer es genau war – war jedenfalls wichtig. Denn wenn es gut ausging, würde er mit einer Riesenbeförderung belohnt. Einmal spätabends erwähnte er, dass er sich vielleicht eine größere Wohnung nehmen und wir eventuell überlegen könnten, nächstes Jahr dorthin zu ziehen.
Ich wäre überall lieber als hier. In einer kleinen Collegestadt zu leben, wenn man nicht mehr so richtig aufs College geht, das ist nicht besonders toll. Dabei gab es am College nichts auszusetzen. Die Eastern State University war idyllisch und hübsch. Solange ich denken konnte, hatte ich dorthin gewollt, aber nach nur einem Jahr im Wohnheim musste ich unbedingt in eine eigene Wohnung. Aber auch wenn es ein sicherer Hafen ohne die Albernheiten des Wohnheimalltags war, bereitete mir die Unabhängigkeit auch ihre Probleme. Ich besuchte pro Semester nur noch ein paar Kurse, und anstatt dieses Jahr meinen Abschluss zu machen, war ich nichts weiter als eine Studentin im zweiten Studienjahr.
All die Opfer, die ich brachte, um mir die für mich unerlässliche Unabhängigkeit erlauben zu können, waren der Grund, warum genau ich T. J. nicht die Opfer vorwerfen konnte, die er sich auferlegte – sogar wenn eines davon ich selbst war.
Hinter mir bog sich die Matratze durch, die Decke wurde zurückgeschlagen, und eine kleine, eiskalte Hand berührte mich. Ich machte einen erschrockenen Satz.
»Verdammt, Ray! Nimm deine eklig kalten Pfoten weg.«
Sie lachte und schmiegte sich an mich. »Morgens ist es jetzt immer schon so frisch! Kody haut sich gerade ungefähr ein Dutzend Eier in die Pfanne, und mein Bett ist wie ein Eisfach!«
»Mein Gott, er frisst so viel wie ein Pferd.«
»Er hat ja auch die Größe eines Pferdes. Und zwar überall.«
»Iih, igittigitt«, sagte ich und hielt mir die Ohren zu. »Das muss ich mir um diese Uhrzeit nicht unbedingt bildlich vorstellen. Oder eigentlich überhaupt nicht.«
»Also, wer macht bei dir Telefonterror? Trent?«
Ich drehte mich um, damit ich sah, was für ein Gesicht sie dazu machte. »Trent?«
»Ach, spiel mir doch nicht das Unschuldslamm vor, Camille Renee Camlin! Ich habe deinen Blick gesehen, als er dir den Drink gegeben hat.«
»Da war kein Blick.«
»Und ob da ein Blick war!«
Ich schob mich bis an den Rand des Bettes und schubste Raegan vor mir her, bevor sie realisierte, was ich da tat, und quietschend und mit einem lauten Rums auf dem Fußboden landete.
»Du bist ein gemeiner, schrecklicher Mensch!«
»Ich bin gemein?«, sagte ich und lehnte mich über die Bettkante. »Ich habe nicht das Bier eines Mädchens auf den Boden geworfen, nur weil sie ihren Tisch zurückwollte!«
Raegan hockte sich in den Schneidersitz und seufzte. »Du hast recht. Ich war ein gemeines Miststück. Beim nächsten Mal verspreche ich, erst einen Deckel auf die Flasche zu tun, bevor ich sie runterschmeiße.«
Ich fiel auf mein Kissen zurück und starrte an die Decke. »Du bist hoffnungslos.«
»Frühstück!«, rief Kody aus der Küche.
Wir stürzten beide los, um als Erste durch die Tür zu kommen.
Raegan saß vielleicht eine halbe Sekunde lang auf dem Hocker an der Frühstückstheke, bevor ich ihn umstieß. Sie landete auf den Füßen, aber vor Staunen blieb ihr der Mund offen.
»Du schreist heute direkt danach!«
Ich nahm den ersten Bissen von einem Bagel mit Zimt und Rosinen und Apfelkraut. Als die kalorienreiche Köstlichkeit in meinem Mund zerschmolz, summte ich vor Genuss. Kody hatte schon genug Nächte hier verbracht, um zu wissen, wie zuwider mir Eier waren. Aber seit er mir ein alternatives Frühstück zubereitete, verzieh ich ihm den ekligen Eiergeruch, der unser Appartement jedes Mal durchzog, wenn er hier übernachtete.
»Also«, sagte Kody kauend, »Trent Maddox.«
Ich schüttelte den Kopf. »Du brauchst gar nicht davon anzufangen.«
»Wie’s aussieht, hast du das bereits erledigt«, meinte Kody mit einem ironischen Lächeln.
»Ihr tut beide so, als wäre ich über ihn hergefallen. Wir haben nur geredet.«
»Er hat dir vier Drinks gekauft. Und du hast es zugelassen«, sagte Raegan.
»Und er hat dich zum Wagen begleitet«, sagte Kody.
»Und ihr habt Telefonnummern ausgetauscht«, sagte Raegan.
»Ich habe schon einen Freund«, sagte ich, vielleicht ein bisschen pampig und im Ton eines dieser dämlichen, verwöhnten Valley Girls. Wenn sich Leute gegen mich zusammentaten, bewirkte das ein seltsames Verhalten bei mir.
»Den du seit fast drei Monaten nicht gesehen hast und der dich zweimal versetzt hat«, sagte Raegan.
»Dann ist es also egozentrisch von ihm, dass er sich in seinem Job engagiert und weiterkommen will?«, fragte ich und wollte die Antwort eigentlich gar nicht hören. »Wir wussten alle, dass das so sein wird. T. J. hat von Anfang an offen gesagt, wie anspruchsvoll sein Job werden kann. Warum bin ich die Einzige, die davon nicht überrascht ist?«
Kody und Raegan tauschten einen Blick und aßen dann stumm ihre ekligen Hühnerföten.
»Und was macht ihr beiden heute so?«, fragte ich.
»Ich bin zum Mittagessen bei meinen Eltern«, sagte Raegan. »Und Kody auch.«
Ich hielt im Zubeißen inne und nahm den Bagel wieder aus dem Mund. »Echt? Das ist aber schon eine ziemlich große Sache«, sagte ich lächelnd.
Kody grinste. »Sie hat mich vor ihrem Dad gewarnt. Ich bin nicht nervös.«
»Bist du nicht?«, fragte ich ungläubig.
Er schüttelte den Kopf, wirkte aber ein bisschen weniger selbstbewusst. »Warum?«
»Er ist ein pensionierter Navy SEAL. Und Raegan ist nicht bloß seine Tochter. Sie ist sein einziges Kind. Das ist ein Mann, der sein ganzes Leben lang nach Perfektion gestrebt und sich selbst immer bis ans Limit gefordert hat. Glaubst du, du spazierst in sein Haus, drohst ihm, noch mehr Zeit und Aufmerksamkeit von Raegan zu klauen, und er wird dich einfach in seiner Familie willkommen heißen?«
Kody war sprachlos. Raegan funkelte mich aus halb zusammengekniffenen Augen an. »Danke, du bist eine echte Freundin.« Dann tätschelte sie Kodys Hand. »Er mag niemanden beim ersten Mal.«
»Außer mir«, sagte ich und hob die Hand.
»Außer Cami. Aber die zählt nicht. Sie stellt keine Bedrohung für die Jungfräulichkeit seiner Tochter dar.«
Kody schnitt eine Grimasse. »War das nicht Jason Brazil vor ungefähr vier Jahren?«
»Ja, aber davon weiß Daddy nichts«, sagte Raegan leicht verärgert, weil Kody den »Namen, den wir nicht benutzen sollen« genannt hatte.
Jason Brazil war kein schlechter Kerl, wir taten nur so, als wäre er einer. Wir hatten alle zusammen die Highschool besucht, aber Jason war ein Jahr jünger. Die beiden hatten beschlossen, den Handel zu besiegeln, bevor sie aufs College ging, in der Hoffnung, das würde ihre Beziehung stärken. Ich hatte damals gedacht, sie würde es bald leid sein, einen Freund zu haben, der noch zur Highschool ging, doch Raegan blieb dabei, und sie verbrachten die meiste Zeit zusammen. Nicht lange nachdem Jason sein erstes Jahr an der ESU begonnen hatte, sorgten die Wunder des Colleges, die Mitgliedschaft in einer Fraternity und die Rolle des Stars unter den Erstsemestern im Eastern State Footballteam für Ablenkung und allabendliche Streitereien. Er trennte sich auf anständige Weise von ihr und verlor kein böses Wort über sie. Aber er hatte Raegan ihre Jungfräulichkeit genommen und dann seinen Teil des Deals nicht eingehalten: nämlich den Rest seines Lebens mit ihr zu verbringen. Und daher galt er für immer als der Feind dieses Hauses.
Kody aß seine Eier auf und begann anschließend, das Geschirr einzuräumen.
»Du hast Frühstück gemacht, darum kümmere ich mich«, sagte ich und schob ihn von der Spülmaschine weg.
»Was wirst du denn heute machen?«, fragte Raegan.
»Lernen. Und diese Arbeit schreiben, die Montag fällig ist. Vielleicht dusche ich mich auch. Definitiv werde ich nicht bei Mom und Dad vorbeischauen, um zu erklären, warum ich nicht wie geplant weggefahren bin.«
»Verständlich«, sagte Raegan. Sie kannte den wahren Grund. Ich hatte meinen Eltern erzählt, dass ich T. J. besuchen wollte, und nun würden sie wissen wollen, warum er mich wieder versetzt hatte. Sie missbilligten die Beziehung sowieso, und ich hatte keine Lust darauf, den Teufelskreis aus Feindseligkeit zu erleben, wenn sich mehr als einer von uns im selben Raum befand. Dad würde wie immer übellaunig sein, und irgendjemand würde wie immer ein Wort zu viel sagen. Dann würde Dad rumschreien und Mom ihn anflehen, damit aufzuhören. Und irgendwie würde es am Ende wieder darauf hinauslaufen, dass ich an allem Schuld war.
Du bist so dumm, ihm zu vertrauen, Camille. Dabei spielt er nicht mit offenen Karten, hatte mein Vater gesagt. Ich traue ihm nicht. Er beobachtet alles mit diesem wertenden Blick.
Dabei war das einer der Gründe, warum ich mich in ihn verliebt hatte. Er gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Als würde er mich beschützen, egal, wohin es uns verschlug und was passierte.
»Weiß T. J., dass du gestern Abend aus warst?«
»Ja.«
»Weiß er auch von Trent?«
»Er hat nicht gefragt.«
»Er fragt nie, was du treibst, wenn du ausgehst. Wenn mit Trent nichts wäre, hättest du ihn erwähnt«, sagte Raegan schmunzelnd.
»Halt die Klappe. Geh du zu deinen Eltern und lass deinen Dad Kody quälen.«
Kody runzelte die Stirn, aber Raegan schüttelte den Kopf und tätschelte seine muskulöse Schulter, während sie in ihr Zimmer gingen. »Sie macht nur Spaß.«
Als Raegan und Kody ein paar Stunden später gingen, schlug ich meine Bücher auf, schaltete den Laptop ein und begann einen Aufsatz darüber, welche Auswirkungen es hat, mit einem PC aufzuwachsen. »Wer denkt sich bloß so einen Scheiß aus?«, stöhnte ich.
Nachdem der Aufsatz geschrieben und ausgedruckt war, begann ich, für den Test in Psychologie am Freitag zu lernen. Das war zwar erst in knapp einer Woche, aber aus Erfahrung wusste ich, wenn ich mit dem Lernen bis zur letzten Minute wartete, kam unvermeidlich irgendetwas dazwischen. Schließlich konnte ich ja schlecht während der Arbeit lernen, und diese Prüfung würde besonders schwierig sein.
Mein Handy rührte sich. Es war wieder Trenton.
Ich lachte, nahm das Telefon in beide Hände und tippte eine Antwort.
Ich stellte das Telefon auf stumm und schob es unter mein Kissen. Seine Hartnäckigkeit war ebenso bewundernswert wie ärgerlich. Natürlich wusste ich, wer Trenton war. Wir waren an der Eakins High in dieselbe Abschlussklasse gegangen. Ich hatte ihn von einem verdreckten Rotzjungen, der rote Bleistifte und Klebstoff aß, zu dem hochgewachsenen, tätowierten, überaus charmanten Mann werden sehen, der er heute war. Kaum hatte er seinen Führerschein, war er seinen Weg von einer Highschoolklassenkameradin und Kommilitonin der Eastern State zur nächsten gefahren. Ich hatte mir geschworen, nie eine von ihnen zu werden. Nicht, dass er das je versucht hätte. Bis jetzt. Ich wollte mich nicht geschmeichelt fühlen, aber das war gar nicht leicht, da ich inzwischen eines der wenigen weiblichen Wesen war, mit denen zu schlafen Trenton und Travis Maddox nie versucht hatten. Ich schätze, es bewies, dass ich nicht absolut bedauernswert aussah. T. J. sah so gut aus wie die Typen in irgendwelchen Zeitschriften, und jetzt schrieb Trenton mir SMS. Ich war mir nicht sicher, inwiefern ich mich zwischen Highschool und College verändert hatte, sodass ich jetzt Trentons Aufmerksamkeit weckte. Aber was bei ihm inzwischen anders war, wusste ich.
Es war keine zwei Jahre her, dass Trentons Leben sich verändert hatte. Er saß auf dem Beifahrersitz von Mackenzie Davis’ Jeep Liberty, als die beiden zu einer Spring Break Lagerfeuerparty aufbrachen. Als der Jeep am nächsten Tag auf einem Tieflader in die Stadt zurückgebracht wurde, war er als solcher kaum noch zu erkennen. Genau wie Trenton, als er an die Eastern zurückkehrte. Gepeinigt von den Schuldgefühlen über Mackenzies Tod konnte Trenton sich in den Vorlesungen nicht mehr konzentrieren. Mitte April beschloss er, wieder bei seinem Vater einzuziehen und das mit dem College ganz bleiben zu lassen. Travis hatte an ruhigen Abenden im Red das eine oder andere über seinen Bruder erwähnt, aber ich hatte danach nicht mehr viel über Trenton erfahren.
Nach einer weiteren halben Stunde des Lernens und Knabberns an meinen kaum noch vorhandenen Fingernägeln begann mein Magen zu knurren. Ich schlenderte in die Küche und schaute in den Kühlschrank. Ranch-Dressing. Koriander. Warum zum Teufel stand der Pfeffer im Kühlschrank? Eier – iih. Fettfreies Joghurt. Noch schlimmer. Ich machte auch das Gefrierfach auf. Bingo. Tiefkühl-Burritos.
Gerade als ich die Knöpfe an der Mikrowelle drücken wollte, klopfte es. »Raegan! Vergiss doch nicht dauernd deine verdammten Schlüssel!« Barfuß tappte ich rund um den Frühstückstresen und über den beigefarbenen Teppich. Ich öffnete den Sicherheitsriegel, riss die schwere Metalltür auf und verschränkte sofort die Arme vor der Brust, denn ich trug nur ein weißes Tanktop und Boxershorts, keinen BH. In der Tür stand Trenton Maddox mit zwei weißen Papiertüten.
»Mittagessen«, sagte er lächelnd.
Eine halbe Sekunde lang spiegelte mein Gesicht dieses Lächeln, aber dann verschwand es auch schon. »Woher wusstest du, wo ich wohne?«
DVDSpaceballs
»Spaceballs?«, sagte ich nur und hob eine Augenbraue. Das hatte ich mir mit T. J. schon eine Million Mal angeschaut. Das war quasi unser Film. Den würde ich mir nicht mit Trenton ansehen.
»Ist das ein Ja?«
»Nein. Es war wirklich nett vor dir, Essen vorbeizubringen, aber ich muss lernen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann dir helfen.«
»Ich habe einen Freund.«
Trenton wirkte unbeeindruckt. »Dann ist er aber nicht gerade präsent. Ich habe ihn noch nie gesehen.«
»Er wohnt nicht hier. Er ist … er studiert in Kalifornien.«
»Und er kommt nie nach Hause zu Besuch?«
»Noch nicht. Er ist sehr beschäftigt.«
»Ist er von hier?«
»Geht dich nichts an.«
»Wer ist es?«
»Geht dich auch nichts an.«
»Na schön«, sagte er, klaubte unseren Abfall zusammen und warf ihn in den Mülleimer in der Küche. Dann schnappte er sich beide Teller und spülte sie im Waschbecken ab. »Du hast also einen imaginären Freund. Ich verstehe.«
Ich machte den Mund auf, um zu widersprechen, da zeigte er schon auf die Spülmaschine. »Sind die Sache da drin schmutzig?«
Ich nickte.
»Arbeitest du heute Abend?«, fragte er, stellte die Teller in die Maschine und sah sich nach dem Reiniger um. Als er den entdeckt hatte, füllte er den kleinen Behälter in der Maschine, schloss die Tür und drückte den Startknopf. Ein leises Brummen war zu hören.
»Nein, ich habe dieses Wochenende frei.«
»Klasse, ich auch. Dann schau ich später vorbei, um dich abzuholen.«
»Was? Nein, ich –«
»Wir sehen uns um sieben!« Damit zog er die Tür zu, und in der Wohnung war es wieder still.
Was war da gerade passiert? Ich lief in mein Zimmer und schnappte mir das Telefon.
Mir blieb vor Staunen der Mund offen. Er schien ein Nein wirklich nicht zu akzeptieren. Was sollte ich bloß machen? Ihn vor meiner Tür stehen und klopfen lassen, bis er aufgab? Das wäre unhöflich. Aber so benahm er sich schließlich auch! Ich hatte doch Nein gesagt!
Aber kein Grund zur Aufregung. Raegan würde bis dahin zu Hause sein, wahrscheinlich mit Kody. Dann konnte sie ihm sagen, ich wäre ausgegangen. Mit jemand anderem. Das würde auch erklären, warum mein Auto noch auf dem Parkplatz stand.
Ich war verdammt schlau. Schlau genug, mich in all den Jahren von Trenton fernzuhalten. Seit wir Jugendliche waren, hatte ich ihn flirten, verführen und Schluss machen gesehen. Es gab absolut keinen Trick, den Trenton Maddox ausspielen mochte und auf den ich nicht vorbereitet wäre.