www.kremayr-scheriau.at
ISBN 978-3-218-00942-3
Copyright © 2007/2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Media & Grafik, Wien
unter Verwendung eines Fotos von Ullstein Bild
Layout und Satz: Media & Grafik, Wien
Lektorat: Nicole Geiger
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien
Vorwort
Die Schüsse von Sarajevo
Elterliches Erbe, Umwelt und Erziehung
Im Kampf gegen ein unerbittliches Schicksal
Die unstandesgemäße Verbindung
Persönliche Doppelmonarchie:
Der Kaiser und sein Thronfolger
Konservative Weltsicht:
Politik und Ideologie im Leben Franz Ferdinands
Kriegshetzer oder Friedensfreund?
Franz Ferdinand und die Armee
Das Persönlichkeitsbild Franz Ferdinands:
Versuch eines Psychogramms
Das Schicksal der Kinder
Stammtafeln
Erinnerungsorte und -stücke
Literatur
Quellen
Memoiren
Weiterführende Literatur
Zeitungen
Personenregister
Am 28. Juni 1914 fielen der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie von Hohenberg einem heimtückischen Mordanschlag zum Opfer. Der Mord von Sarajevo war einer der auslösenden Faktoren des Ersten Weltkrieges, einer von vielen.
In den beinahe einhundert Jahren, die seither verflossen sind, haben sich auf der Welt Ereignisse abgespielt, von denen sich die Zeitgenossen Franz Ferdinands kaum etwas haben träumen lassen. Reiche sind zugrunde gegangen, Herrscherdynastien wurden vom Thron gestürzt, Völker ausgerottet, Menschen wegen ihrer Rasse oder politischen Gesinnung verfolgt, gefoltert, gemordet, vergast.
Europa hat seit 1914 zahlreiche schmerzhafte Metamorphosen durchgemacht. Der Faschismus und der Zweite Weltkrieg haben den europäischen Kontinent in den tiefsten Abgrund seiner Geschichte gestürzt. Wirtschaftlich geschwächt und politisch in zwei ideologische Hälften gespalten (demokratischer West- und kommunistischer Ostblock), verlor Europa endgültig seine führende Rolle in der Welt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Zerfall des Sowjetimperiums mit seinen politischen Folgewirkungen in der Staatenwelt Mittelost- und Osteuropas ist der „alte“ Kontinent heute auf der Suche nach einer neuen europäischen Identität. Die EU steht vor der schwierigen Aufgabe, sich in einer globalisierten, terrorgeängstigten Welt gegen die USA als führende Wirtschafts- und Militärmacht und die aufstrebenden Staaten Asiens (Volksrepublik China, Indien) zu behaupten.
Alle diese weltpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umstürze und Umbrüche haben in der Geschichtsbetrachtung und -darstellung veränderte Sichtweisen ausgelöst. Wir sehen heute viele historische Ereignisse anders als in den Jahrzehnten zuvor, wir beurteilen Staatsmänner, Herrscher und bedeutende Persönlichkeiten nach anderen Gesichtspunkten und Kriterien.
Dies gilt auch für den Neffen Kaiser Franz Josephs, Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-Este. Seine Zeitgenossen beurteilten den Thronprätendenten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, vorwiegend negativ. Sein schwer zugängliches, von Misstrauen erfülltes Wesen stand einem objektiv-kritischen Urteil hindernd im Wege. Die Hofkamarilla fürchtete ihn, beim Volk war er unbeliebt. Es fehlte an der zeitlichen Distanz, um seiner komplexen Persönlichkeit, seinen Ab- und Ansichten, seinen Urteilen und Entschlüssen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Erinnerungen seiner engeren und engsten Mitarbeiter und anderer Autoren enthalten aufschlussreiches, jedoch persönlich gefärbtes Material.
Inzwischen hat die Geschichtsforschung in langer, mühsamer Arbeit die in den Archiven lagernden Akten aufgearbeitet und das Persönlichkeits- und Weltbild des Thronfolgers in manchen Details einer Retusche unterzogen.
Seine Lebensgeschichte war im Großen und Ganzen eine Geschichte der Bitternisse, der Enttäuschungen, Zurücksetzungen und harter Schicksalsschläge. Seine gescheiterten Hoffnungen und seine schwere Krankheit sind der Schlüssel zum Verständnis seiner widerspruchsvollen Persönlichkeit. Von diesem psychopathologischen Tatbestand her sind viele seiner Handlungen zu erklären, seine Vorurteile, seine Gehemmtheiten, seine Leidenschaften, sein Misstrauen, seine Ruhelosigkeit. Das Leben Franz Ferdinands unter diesen Bedingtheiten darzustellen, war das Anliegen meines 1983 erschienenen Buches, das vor allem die erblichen und erzieherischen Faktoren sowie die Umwelteinflüsse akzentuierte, die zur charakterlichen Entwicklung des Erzherzogs entscheidend beigetragen haben.
Die Tochter Franz Ferdinands, Gräfin Sophie Nostitz-Rieneck, hat meiner Arbeit seinerzeit großes Interesse entgegen- gebracht. Sie hat mir dankenswerterweise Unterlagen zur Verfügung gestellt und mir Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch gegeben. Das fertige Buch, das ich ihr sogleich nach der Publikation widmete, bezeichnete sie in einem Schreiben an mich als „Meisterwerk“. Das freut mich noch heute.
Auf Schloss Artstetten, der Grabstätte des Thronfolgers und seiner Gemahlin, wurde 1982 ein Franz-Ferdinand-Museum eingerichtet. Die wissenschaftliche Einrichtung und Betreuung erfolgte durch Dr. Wladimir Aichelburg. Anita Hohenberg, eine Urenkelin des Thronfolgers, und ihr Gemahl unterstützten das Projekt tatkräftig. Das Museum präsentiert in einer interessanten, mit zahlreichen sehenswerten Exponaten bestückten Dauerausstellung „Für Herz & Krone“ das Leben und Wirken des Erzherzogs und seiner Gemahlin. Die Ausstellung wird immer wieder durch eine Sonderschau ergänzt. 2006 war das Sonderthema den Kindern des Thronfolgerpaares gewidmet, die nach der Ermordung der Eltern in Sarajevo zu Vollwaisen wurden.
Meine Franz-Ferdinand-Biografie, die viele Leser fand, ist seit einiger Zeit vergriffen. Da unvermindert Nachfrage nach ihr besteht, habe ich mich dazu entschlossen, sie wieder herauszubringen. Die Neuausgabe hat ein neues Gesicht und ist neu bebildert. Der Text wurde gestrafft und um das Kapitel „Das Schicksal der Kinder“ erweitert, in dem ich das wechselhafte Schicksal der Kinder des Thronfolgerpaares ausführlich darstelle. Als Leserservice weise ich im Anhang auf einige Orte und Gegenstände hin, die an Franz Ferdinand erinnern.
Für das Erweiterungskapitel stellte mir Prof. Dr. Wladimir Aichelburg, der derzeit wohl beste Kenner Franz Ferdinands und seiner Nachkommen, seine umfangreichen Unterlagen zur Verfügung. Ihm gebührt mein spezieller Dank, den ich hiermit abstatte. Großen Dank schulde ich auch Sophie und Erwein Gudenus. Sie haben es mir durch zahlreiche persönliche Hinweise ermöglicht, das Schicksal der Gräfin Sophie Nostitz-Rieneck, ihrer Mutter beziehungsweise Großmutter, darzustellen und ihrer Persönlichkeit gerecht zu werden.
Mag. Christoph Hatschek (Heeresgeschichtliches Museum), Dipl. Ing. Gottfried Pausch (Schloss Eckartsau), Christian F. Feest (Museum für Völkerkunde), Mag. Bruno Kreutter (Hofmobiliendepot) und Dr. Nikolaus Dreihann-Holenia verdanke ich Informationen zu den Gedenkorten und -stücken Franz Ferdinands.
Wien, im September 2006
Dr. Friedrich Weissensteiner
Der Frühling des Jahres 1914 bescherte den Menschen in Mitteleuropa eine Reihe von schönen, warmen Tagen. Das freundliche, sonnige Wetter, das die Natur früher als sonst zu neuem Leben erweckte, war freilich trügerisch. Am politischen Horizont dräuten seit langem dunkle, Unheil verkündende Wolken, aus denen jeden Augenblick ein furchtbares Weltgewitter hervorbrechen konnte. Natur und Weltgeschehen standen in einem seltsamen, unerklärbaren Widerspruch. Wer konnte ahnen, dass dieses Jahr, das mit so viel Sonnenschein begann, Europa in die größte Katastrophe seiner bisherigen Geschichte stürzen würde? Wer sah die Flammenzeichen an der Wand, wer konnte wissen, dass diesem Frühling ein blutiger, todbringender Sommer folgen würde, der letzte Sommer einer brüchig gewordenen Staats- und Gesellschaftsordnung? Selbst die Mächtigen dieser Erde, die die Schicksale der Völker in ihren Händen hielten, gingen in diesem Sommer, in dem das Stahlgewitter losbrach, zunächst unbekümmert in die Ferien. Erst als es zu spät war, kehrten sie in ihre Residenzen zurück, kümmerten sie sich um ihre Amtsgeschäfte. Sie konnten den Frieden, der nicht allen von ihnen kostbar war, nicht mehr retten.
Der österreichische Thronfolger, Franz Ferdinand von Österreich- Este, dessen Ermordung den Weltenbrand auslösen sollte, verbrachte den Frühling des Jahres 1914 mit seiner Familie auf seinem Herrschaftssitz Konopischt in Böhmen. Er hatte das Schloss mit den dazugehörenden Liegenschaften im Ausmaß von fast 4.500 ha im Jahre 1887 vom Prinzen Franz Lobkowitz angekauft, den riesigen Gebäudekomplex nach seinem Geschmack umbauen und einrichten lassen und den 300 ha großen Park in ein Gartenparadies verwandelt. Geländestücke von der Ausdehnung des Wiener Stadtparks wurden mit exotischen Bäumen aller Art bepflanzt. Blumenbeete, Teiche, Sträucher, die malerisch in den Waldbestand überleiteten, vor allem aber der herrliche Rosengarten, gaben der riesigen Anlage einen idyllischen Charakter, der ganzen Landschaft einen malerischen Anstrich.
Konopischt war Franz Ferdinands Tusculum. Hier, inmitten seiner zahlreichen Sammlungen, seiner kostbaren Waffen und Münzen, seiner Gemälde und der in die Tausende gehenden Jagdtrophäen fühlte er sich wohl, hier war der Ruhelose zu Hause. Hier fand er wenigstens vorübergehend Entspannung, konnte sein vulkanisches, zu Zornausbrüchen neigendes Wesen Kraft sammeln. Seine Rastlosigkeit legte er freilich auch in Konopischt nie ganz ab. Franz Ferdinand hatte kein Sitzfleisch. Es litt ihn nicht lange an einem Ort. Er brauchte Bewegung, Abwechslung, Betriebsamkeit. Auch im Frühling des Jahres 1914 fuhr er von seinem böhmischen Landsitz mehrere Male nach Wien, inspizierte er seine Güter. In Konopischt vertrieb er sich die Zeit mit Ausfahrten im Landgefährt, bei denen er vom Kutschbock aus die Pferde selbst lenkte, mit Jagdvergnügungen und Zeitungslektüre, mit der Neuordnung der Wanddekorationen in einigen Zimmern seiner „Residenz“.
Mitte Juni erwartete der Thronfolger den Besuch Kaiser Wilhelms II., dem er mit hoffnungsvoller Freude entgegensah. Um seinem Gast die ganze Pracht seines herrlichen Landsitzes zu demonstrieren, hatte Hofgartendirektor Umlauft, wie Andreas Morsey, der Dienstkämmerer Franz Ferdinands, berichtet, „ganze Blumengruppen mit künstlicher Hilfe, wie Begießen mit warmem oder genau temperiertem Wasser, zum Blühen gebracht“.
Über den Besuch selbst schreibt Morsey: „Am 12. Juni fuhren wir mit dem Hausherrn auf den Bahnhof Beneschau. Die tschechisch-radikalen Kreise hatten empfohlen, den Kaiser mit eisigem Schweigen zu empfangen. Dies wurde auch größtenteils befolgt. Der Kaiser sollte um 9 Uhr vormittag ankommen. Der Erzherzog trug die Uniform des 10. preußischen Ulanenregiments … Einige Minuten vor Ankunft des Zuges bemerkte der Erzherzog, als er seine weißen Handschuhe anziehen wollte, daß er zwei linke von zu Haus mitgenommen hatte. Auf sein Ersuchen lieh ich ihm meine. Es waren dieselben, welche ich dann in Händen hatte, als ich ihm bei seinem Tode in Sarajevo beistehen half.
Punkt 9 Uhr traf Kaiser Wilhelm mit seinem Hofzug ein. Einige der Herren seines Gefolges waren mir bereits bekannt, diesmal kamen Reischach und ein sehr interessanter Gast, Tirpitz, mit. Der Kaiser begrüßte uns vom Gefolge mit den Worten: ,Na Kinder, da habt ihr uns wieder.‘ Nach den üblichen Formalitäten fuhr alles im Auto zum Schloß und dann ging man in den Park … Hernach war ein kleines Mittagessen im Schloß, das eine peinliche Verzögerung erfuhr, weil das Besteck des Kaisers, das er wegen seiner gelähmten Hand benützen mußte, im großen Gepäck geblieben war. Dann ging man in den berühmten Rosengarten … Nach Besichtigung des Rosengartens fuhr man spazieren … Die Rundfahrten im umliegenden Gelände außerhalb des Parkes gefielen dem Kaiser über alle Maßen. Selbst rein landschaftliche Grundstücke sahen wie ein Park aus; ganze Feldraine zwischen an und für sich prosaischen Feldern wurden alljährlich mit den Samen der verschiedensten Blumen besät, sodaß die ganze Umgebung aussah, als wäre sie mit färbigen Bändern durchzogen. Am Abend waren Erzherzog und Kaiser fast eine Stunde ganz allein. Es war das einzigemal während der beiden Tage …“
Wie wir aus anderen Quellen wissen, wurden bei diesen und anderen Gesprächen, etwa zwischen Wilhelm II. und Carl Bardolff, dem Vorstand der Militärkanzlei des Erzherzogs, außenpolitische Fragen sowie das Nationalitätenproblem in der Donaumonarchie erörtert. Militärische Gespräche wur- den nicht geführt. Die später von Ententekreisen kolportierte Nachricht, dass in Konopischt ein „Kriegsrat“ stattgefunden habe, entbehrt daher jeder Grundlage.
Wilhelm II. und sein Gefolge traten am 13. Juni abends die Heimreise an. Am nächsten Tag übermittelte der deutsche Kaiser seinem Gastgeber ein Danktelegramm: „Heimgekehrt möchte ich Dir und Deiner Gattin nochmals von ganzem Herzen Dank sagen für die köstlichen Stunden“, heißt es darin, „die ich bei Euch in ,Klingsors Zaubergärten‘ habe verleben dürfen. Ich bewundere Deine Meisterschaft im Organisieren und den feinen Farbensinn der in Deinen Anlagen zum Ausdruck kommt. Hier herrliches Wetter. Die Rosen in meinem Rosengarten zum größten Teil in Blüthe. Rhododendron blüht noch trotz 3 Wochen Regen. Waidmannsheil. Viele Grüße an Alle. Wilhelm.“
„Am 15. bis 17. Juni gab der Erzherzog zum erstenmal seine weltberühmten Gärten der öffentlichen Besichtigung frei“, schreibt Morsey weiter. „Der Andrang war ungeheuer; eine ganze Reihe Separatzüge kamen in Beneschau an … alles klappte.“
Am 20. Juni übersiedelte Franz Ferdinand mit seiner Familie und der Dienerschaft nach Chlumetz. Es blieben ihm noch drei Tage bis zu seiner Abreise nach Bosnien, auf die er sich keineswegs freute, der er aber ohne Argwohn entgegensah. Am 21. Juni 1914 schrieb er an Erzherzog Ludwig Salvator: „… Jetzt gehe ich mit Sophie für einige Zeit nach Bosnien, dann hat mein Sohn Max seine Prüfungen im Gymnasium der Schotten und dann bleiben wir den Monat July hier in Chlumetz um nach einer kurzen Reise durch Tyrol gegen 15ten August wieder nach Blühnbach zu kommen. Hier haben wir ein gemüthliches kleines Schloß und genießen die stille Ruhe der böhmischen Wälder …“
Die Inspektionsreise des Thronfolgers zu den Sommermanövern des XV. und XVI. Armeekorps in Bosnien und der Herzegowina stand seit langem fest. Franz Ferdinand hatte das Manöverterrain selbst vorgeschlagen und seine Teilnahme an den Gefechtsübungen zugesagt. Aber je näher der Termin rückte, desto lästiger empfand er die Verpflichtung. Er litt an Asthmaanfällen und befürchtete in der heißen Sommerluft Bosniens unangenehme Beschwerden. Auch seine Gattin, die adelsstolze Sophie von Hohenberg, äußerte zunächst Bedenken. Sie drängte ihren geliebten Mann, die Reise abzusagen. Erhielt er nicht seit einiger Zeit Drohbriefe mit Mordankündigungen? Der Balkan war seit langem ein politisches Krisengebiet, das Pulverfass Europas. Warum sollte sich der österreichische Thronfolger unnötigerweise einer Gefahr aussetzen? Franz Ferdinand wurde unsicher. Aber er wollte nicht als feige gelten. Er wollte die Reise nicht aus eigenem Entschluss absagen. Vielleicht konnte ihm ein kaiserliches Machtwort aus einer seelischen Verlegenheit helfen.
Franz Joseph hatte seinen Thronfolger auf dessen Wunsch am 4. Juni 1914 in Schönbrunn in Audienz empfangen. Verlegen und ein wenig hilflos, wie zumeist, wenn er dem alten Kaiser gegenüberstand, brachte der Thronfolger sein Anliegen vor. Er wisse nicht, sagte er, ob er die brütende Hitze, die es an den Manövertagen mit ziemlicher Sicherheit in Bosnien geben werde, werde ertragen können.
Der 84-jährige Monarch, noch nicht lange von einer schweren Lungenentzündung genesen, gab sich kurz angebunden: „Mach es, wie du willst“, gab er dem unbequemen Neffen, den er nicht sonderlich mochte, zur Antwort. Franz Ferdinands Entschluss zur Reise stand damit unwiderruflich fest. Die Würfel waren gefallen.
Ungefähr zur selben Zeit, als der Thronfolger den Kaiser in Schönbrunn aufsuchte, am 5. Juni 1914, sprach der serbische Gesandte Jovan Jovanović auf dem Ballhausplatz beim k. u. k. Finanzminister Leon von Bilinski vor, der für die Verwaltung Bosniens und der Herzegowina zuständig war. In dem Gespräch, das er mit dem Minister führte, brachte der ehrgeizige Diplomat seine Besorgnisse über den bevorstehenden Besuch des Thronfolgers zum Ausdruck und warnte vor eventuellen Unmutsäußerungen der nationalen bosnischen Jugend. Zehn Jahre später, am 28. Juni 1924, erinnerte sich Jovanović in einem Artikel im „Neuen Wiener Tagblatt“ an das Gespräch: „Ich erklärte dem Minister Bilinski ganz offen“, heißt es da, „was ich erfahren hätte, nämlich daß die Manöver an der Drina, also gerade gegenüber Serbien abgehalten werden sollen und der Erzherzog Franz Ferdinand sie selbst kommandieren werde. Ich sagte dem Minister Bilinski: ,Wenn das wahr ist, dann kann ich Euer Exzellenz versichern, daß dies größte Unzufriedenheit bei den Serben erregen wird, welche dies als einen Akt der Provokation betrachten müssen. Manöver unter solchen Umständen sind gefährlich. Unter der serbischen Jugend kann sich jemand finden, der in sein Gewehr oder seinen Revolver nicht ein blindes, sondern ein wirkliches Geschoß steckt und das dann abfeuert. Und diese Kugel könnte den Herausforderer treffen. Deswegen wäre es gut und vernünftig, daß Erzherzog Franz Ferdinand nicht nach Sarajevo geht und daß die Manöver nicht am Vidovdan und nicht in Bosnien abgehalten werden.‘“
Es ist sehr die Frage, ob Jovanović seine Warnung so wortreich und so deutlich ausgesprochen hat. Er hatte dazu von seiner Regierung keine amtliche Ermächtigung. Im Finanzministerium nahm man die Warnung des serbischen Diplomaten durchaus ernst. Minister Bilinski informierte den Außenminister brieflich über das Gespräch. Graf Berchtold reagierte nicht. Er war auf Bilinski nicht gut zu sprechen. Er empfand die Unterredung des Polen Bilinski mit dem Serben Jovanović als eine Einmischung in seine Ressortangelegenheiten. Es hätte allerdings gar nicht der Attentatswarnung durch den serbischen Gesandten bedurft, um zu erkennen, in welche Gefahr sich der Thronfolger durch seine Balkanreise begab. Schon am 3. Dezember 1913 hatte ein in Chicago erscheinendes südslawisches Emigrantenblatt offen zum Fürstenmord aufgerufen. „Der österreichische Thronfolger“, so hieß es da, „hat für das Frühjahr seinen Besuch in Sarajevo angekündigt … Serben, ergreift alles, was ihr könnt, Messer, Gewehre, Bomben und Dynamit.“ Mordpläne gegen Würdenträger der Monarchie und Angehörige des habsburgischen Hauses standen in Bosnien auf der Tagesordnung.
Anfang Juni 1914, als Franz Ferdinand beim Kaiser und der serbische Gesandte beim k. u. k. Finanzminister vorsprach, liefen die Vorbereitungen für das Attentat auf den Erzherzog- Thronfolger bereits auf vollen Touren. Der harte Kern der weitmaschigen Verschwörerorganisation waren der 20-jährige Gymnasiast Gavrilo Princip, Nedeljko Čabrinović , ein neunzehnjähriger Angestellter der serbischen Staatsdruckerei, und Trifko Grabež, ein achtzehnjähriger Gymnasiast und Sohn eines Popen. Sie hatten in Belgrad, im Topčider-Park, der Militärschießstätte der Belgrader Schützengesellschaft, Schießunterricht erhalten und waren, mit sechs Bomben, vier Browning- Pistolen, Geld und Zyankalipäckchen ausgestattet, auf Schleichwegen und unter Mithilfe von serbischen Offizieren, Zollbeamten und anderen Kontaktleuten über die bosnische Grenze gesickert. In Tuzla deponierten sie die Waffen und reisten mit der Bahn nach Sarajevo weiter, das sie am 4. Juni (sic!) erreichten. Im Zug erfuhren sie das genaue Datum des Thronfolgerbesuches.
Der hässliche, kleine Princip, der geschwätzige Čabrinović und der Popensohn Trifko Grabež waren Mitglieder der „Mlada Bosna“, einer vorwiegend aus jungen Leuten bestehenden nationalistischen Bewegung, die sich den Kampf gegen die Donaumonarchie und die Schaffung eines großserbischen Staates zum Ziel gesetzt hatte. Das Vorbild ihrer politischen Gedankenwelt war das Königreich Piemont-Sardinien, unter dessen Führung sich Italien gegen den Habsburgerstaat seine Einigung und seine Unabhängigkeit erkämpft hatte. Für die Wirrköpfe, die der „Mlada Bosna“ angehörten, war das Königreich Serbien das südslawische Piemont auf dem Balkan.
Die „Mlada Bosna“ war der verlängerte Arm der „Schwarzen Hand“, einer vom serbischen Generaloberst Dragutin Dimitrijević geleiteten Verschwörerorganisation. Dimitrijević nannte sich „Apis“, der Stier. Und wie ein Stier sah dieser Vollblutverschwörer mit seinem mächtigen Körper und seinem kantigen Schädel auch aus. Apis hatte schon 1903 bei der Ermordung König Alexanders und seiner Gemahlin Draga seine Hand im Spiel gehabt. Auch jetzt, im Jahre 1914, bei den Vorbereitungen für das Attentat auf den österreichischen Thronfolger, liefen alle Fäden in seiner Hand zusammen. Der Generalstabsoberst spann sie nicht nur in Bosnien, sondern auch zum russischen Gesandten in Belgrad, Nikolaj Hartwig, und dessen Verbindungsmann Oberst Artamanow, der in Serbien als Militärattaché fungierte. Der rücksichtslose, schlaue Dimitrijević deckte sich und seiner Offiziersclique den Rücken, ehe er die von einem rabiaten Nationalismus erfüllten Attentäter der „Mlada Bosna“ auf Franz Ferdinand losließ. Petersburg gewährte ihm diese Rückendeckung. Den Sturz der serbischen Regierung unter Ministerpräsident Pašić, den Apis gleichfalls im Schilde führte, unterstützte das Zarenreich allerdings nicht.
Pašić und ein paar seiner Minister wussten von den Plänen gegen Franz Ferdinand. Sie unternahmen jedoch keine ernsthaften Schritte, um das Attentat zu verhindern. Sie fürchteten sich vor Apis und seinen Umsturzplänen. Ihre Haut war ihnen näher als ihr Hemd. Und so konnten die Verschwörer in Sarajevo ihre Mordvorbereitungen munter und ungehindert fortsetzen. Während Kaiser Wilhelm am 14. Juni in Konopischt von „Franzi“, wie er ihn vertraulich nannte, Abschied nahm, reiste Danilo Ilić, 24 Jahre alt, gewesener Lehrer und „Organisationsleiter“ der gesamten Aktion, nach Tuzla, holte die dort bei einem Kontaktmann versteckten Waffen und brachte sie nach Sarajevo in das Haus seiner Mutter. Der Thronfolger konnte kommen. Man würde ihn nicht nur mit Salutschüssen empfangen.
Am 23. Juni 1914 verabschiedeten sich Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie auf ihrem Gut Chlumetz, wo sie ein paar unbeschwerte, sorglose Tage verbracht hatten, von ihren drei Kindern Sophie, Max und Ernst. Es war ein herzlicher Abschied, wie er in intakten Familien üblich ist. Und das Familienleben des Thronfolgerpaares war geradezu vorbildlich intakt. Das wusste man in der ganzen Monarchie. Dass es ein Abschied für immer war, dass die Eltern ihre Kinder, die Kinder ihre Eltern nicht mehr wiedersehen würden, konnte keiner von ihnen wissen. Vor der Abreise schenkte Franz Ferdinand seinem langjährigen treuen Kammerdiener und Haushofmeister Franz Janaczek eine goldene Uhr mit der Bitte, die Herzogin und die Kinder nicht zu verlassen, falls ihm etwas zustoßen sollte. Ahnte der Thronfolger, was ihm bevorstand? Ging er sehenden Auges dem Tod entgegen? Fast wäre man versucht, es nach dieser Episode anzunehmen. Von den Mordvorbereitungen in Sarajevo wusste Franz Ferdinand natürlich nichts. Aber die Gewissheit, dass er einer Gefahr entgegenging, brachte er mit dieser von so vielsagenden Worten begleiteten Geste ohne Zweifel zum Ausdruck.
Die Reise begann unter bösen Vorzeichen. Der an den Prager Schnellzug angekoppelte Waggon des Thronfolgerpaares kam rauchend in Chlumetz an, da seine Achsen heiß gelaufen waren. Franz Ferdinand und seine Gattin reisten im reservierten Abteil des Dienstkämmerers Dr. Andreas Freiherr von Morsey nach Wien. „Na, diese Reise fängt ja recht vielversprechend an“, orakelte Franz Ferdinand. Andreas Morsey hörte, wie der Thronfolger zu seiner Gemahlin scherzhaft bemerkte: „Siehst du, so fängt es an, zuerst heiß gelaufener Waggon, dann ein Attentat in Sarajevo und wenn das alles nichts hilft, eine Explosion auf dem Dampfer ,Viribus‘“.
In der kaiserlichen Residenz trennten sich für ein paar Tage die Wege des Paares. Der Thronfolger setzte nach einem kurzen Aufenthalt im Belvedere seine Fahrt mit der Südbahn nach Triest fort, die Herzogin nahm am nächsten Tag den Weg nach Bosnien durch Ungarn. Am Südbahnhof gingen die Widerwärtigkeiten weiter. Im Salonwagen des Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh versagte die elektrische Beleuchtungsanlage. Als hierauf Kerzen entzündet wurden, meinte der Erzherzog, der solche Scherze liebte, er komme sich wie in einer Gruft vor.
Der Zug dampfte um 21.30 Uhr aus dem Südbahnhof. Es war ein warmer, wolkenverhangener Sommerabend. An diesem Abend erließ im fernen Sarajevo der Bürgermeister Fehim Efendi Curčić einen Aufruf an die Bevölkerung, in dem er das „tief eingewurzelte Gefühl der Dankbarkeit, der Treue und der Loyalität der Bürger der Stadt“ gegenüber dem Kaiser und den Mitgliedern des Kaiserhauses zum Ausdruck brachte. Der Aufruf schloss mit der Aufforderung, die Häuser insbesondere jener Straßen festlich zu schmücken, durch die der österreichische Thronfolger kommen werde: die Bahnhof- und die Mastajbergstraße, den Appelkai, die Franz- Joseph-, Rudolf- und Franz-Ferdinand-Straße, den Konak und die Bistrikgasse. Die Verschwörer wussten nun ganz genau, wo sie sich postieren mussten.
Franz Ferdinand erreichte am 24. Juni 1914 um 9.15 Uhr Triest. Dort schiffte er sich auf dem Schlachtschiff „Viribus Unitis“ ein, das am späten Nachmittag an der Narentamündung vor Anker ging. Mit der Yacht „Dalmat“ setzte er seine Fahrt flussaufwärts nach Metković fort. Auf der Fahrt dorthin wurde der Thronfolger telegrafisch davon informiert, dass der serbische König die Regierungsgeschäfte an seinen zweitgeborenen Sohn Alexander abgegeben habe. Tags zuvor war die Skupština, der „serbische Landtag“, aufgelöst worden.
Von Metković ging es mit der Bahn nach Mostar, wo der Hofsonderzug am 25. Juni, um 8.23 Uhr, eintraf. Der Thronfolger wurde am festlich geschmückten Bahnhof von den Honoratioren der Stadt empfangen. Bürgermeister Komadina entbot dem hohen Gast in der felsigen Herzegowina einen herzlichen Willkommensgruß. Der Erzherzog dankte in seiner Antwortrede für die „unentwegte Loyalität und Treue zu seiner Majestät, die ihm entgegengeschlagen“ sei. Abschließend sagte er in kroatischer Sprache: „Ich bitte Sie, Herr Bürgermeister, den Bewohnern dieser schönen Stadt, deren Entwicklung ich das innigste Interesse entgegenbringe, meinen herzlichsten Gruß zu entbieten.“
Nach einer Rundfahrt durch die im reichsten orientalischen Flaggenschmuck prangende Stadt kehrte der Thronfolger mit seinem Gefolge zum Bahnhof zurück. Dann setzte er seine Fahrt zu dem 10 km westlich von Sarajevo gelegenen Badeort Ilidže fort, wo er um 15.00 Uhr desselben Tages programmgemäß eintraf. Er wurde mit militärischen Ehren empfangen. „Außerhalb der Wandelhalle des Bahnhofes“, berichtete eine Lokalzeitung, „hatte sich trotz des herrschenden Regenwetters zahlreiches Publikum angesammelt. Unter den Klängen der Volkshymne fuhr der Hofzug ein. Der Erzherzog schritt die Ehrenkompagnie ab … Sodann bestieg der Erzherzog mit seiner Gemahlin, die ebenfalls zur Begrüßung erschienen war, und dem Landeschef das bereitstehende Automobil und fuhr unter den Hochrufen des Publikums durch den Park zum Hotel ,Bosna‘, wo er Absteigquartier nahm …“ Die Gemächer des Hotels waren im türkischen Stil eingerichtet und festlich mit Blumen geschmückt.
Den Rest des Nachmittags benutzte das Thronfolgerpaar zu einem im Programm nicht vorgesehenen Besuch der Basare von Sarajevo, wo Franz Ferdinand für seine Kunstsammlung einige Kostbarkeiten erwarb. Die Herzogin sah sich auch an den beiden nächsten Tagen, an denen der Thronfolger den Manövern beiwohnte, in der Hauptstadt Bosniens und der Herzegowina um. Sie besichtigte die Kathedrale, einige Klöster, Moscheen, verschiedene Schulen und die berühmten Teppichwebereien. Andreas Morsey weiß darüber zu berichten: „Auf diesen Fahrten hatte man bereits öfter Gelegenheit zu beobachten, wie äußerst nachlässig die Straßenpolizei gehandhabt wurde. Wenn die hohe Frau gerade aus dem Tor irgendeines Gebäudes trat, nahm das Gedränge einen beängstigenden Eindruck an, bis dicht an die Wagen stand die Menge, keine Polizei schaffte Ordnung. Nur die Detektive in Zivil bemühten sich nach ihren besten Kräften Platz zu schaffen und auch mit ziemlich viel Erfolg. Tatsächlich gab auch einer der nachher in Untersuchung befindlichen Komplizen ziemlich genau an, wo die Herzogin gefahren, sie und ihr Gefolge zu den Besuchen aus dem Auto gestiegen seien. Er hätte dies bereits genau beobachtet. Čabrinović sagte mir bei der Konfrontierung im Militärgefängnis zwei Tage später, er habe mich an meinen gelben Aufschlägen, die er sich bei der Rundfahrt der Herzogin am Freitag und Samstag gemerkt hatte, sowohl bei seiner Verhaftung wie bei der Konfrontierung wieder erkannt.“
Die Manöver des XV. und XVI. Korps begannen am 25. Juni um 2 Uhr nachmittags. Sie fanden zwischen dem etwas mehr als 30 km westlich von Sarajevo gelegenen Tarčin und dem etwas mehr als eintausend Meter über dem Meeresspiegel liegenden Ivansattel statt. Das unwirtliche, wasserarme Gelände stellte an die Soldaten hohe physische Anforderungen, die durch wolkenbruchartige Regenfälle und empfindliche Kälte noch gesteigert wurden. Trotz der schlechten äußeren Bedingungen liefen die militärischen Übungen planmäßig ab. Die am Manöver beteiligten Truppen, deren Gesamtzahl einschließlich des Train und der Artillerie ungefähr 22.000 Mann betrug, befanden sich in ausgezeichneter Verfassung. Der Erzherzog, der am 26. und 27. Juni das Manöverfeld besuchte, stellte es mit Befriedigung fest und äußerte wiederholt seine Anerkennung. Am 27. Juni um 10 Uhr vormittags gab der Thronfolger den Befehl, die Manöver zu beenden. Noch am selben Tag erließ er einen Armeebefehl, der den Truppen, die aus allen Teilen der Monarchie stammten, in ihrer Muttersprache vorgelesen werden musste. „Überzeugt, in jeder Beziehung nur das Beste zu finden“, hieß es darin, „wurden meine Erwartungen durch die hervorragenden Leistungen aller Kommanden, Truppen und Anstalten voll bestätigt. Ich werde Seiner Majestät dem Kaiser, unserem geliebten Obersten Kriegsherrn, hievon Meldung erstatten und spreche Seiner Exzellenz, dem Herrn Armee-Inspektor, sowie allen Generalen, Offizieren und Mannschaften beider Korps, die sich auch in den bewegten Zeiten der jüngsten Vergangenheit glänzend bewährten, meinen herzlichen Dank und die vollste Anerkennung im Namen des Allerhöchsten Dienstes aus.“
Dem Kaiser, der sich nach Ischl begeben hatte, meldete der Thronfolger untertänigst, dass seine Reise trotz der Unbilden des Wetters vorzüglich verlaufen sei. Die Reise bis Mostar sei sehr heiß gewesen, der Empfang in Mostar sehr schön und patriotisch. „Der gestrige Manövertag war total verregnet und vernebelt“, berichtet Franz Ferdinand in seinem Telegramm weiter, „eine Colonne kam sogar in Schneegestöber. Am heutigen Manövertage besserte sich das Wetter und konnte ich nach dem Abblasen noch eine partielle Revue der Truppen vornehmen. Der Zustand der Truppen sowie ihre Leistungen waren ganz vorzüglich über alles Lob erhaben. Ein vorzüglicher Geist und ein hoher Grad der Ausbildung und Leistungsfähigkeit. Beinahe keine Maroden, alles frisch und munter. Morgen besuche ich Sarajevo und reise Abends ab. In tiefster Ergebenheit mich zu Füßen legend Euer Majestät untertänigster
Franz.“
Der österreichische Thronfolger hat den Abend des 28. Juni 1914, an dem er die Heimreise antreten wollte, nicht mehr erlebt. Das Schicksal hatte nur noch einen einzigen, letzten Abend für ihn aufgespart. Er verbringt ihn mit seiner Gemahlin und zahlreichen hochgestellten Persönlichkeiten, die er zu einem Abschiedsdiner eingeladen hat, im Hotel „Bosna“ in Ilidže. Die Stimmung ist aufgeräumt. Der Erzherzog ist mit dem bisherigen Verlauf seiner Reise sehr zufrieden, die Manöver sind glanzvoll vonstatten gegangen. Ein Telegramm mit der Nachricht, dass der älteste Sohn des Thronfolgerpaares eine Prüfung mit Erfolg abgelegt hat, steigert die gute Laune.
Als die Gäste, unter ihnen Feldmarschall Conrad von Hötzendorf, das Hotel verlassen, macht Obersthofmeister Freiherr von Rumerskirch den Vorschlag, aus Sicherheitsgründen den für den nächsten Tag vorgesehenen Besuch in Sarajevo abzusagen und die Heimreise anzutreten. Franz Ferdinand kann sich dazu nicht entschließen. Er will den Landeschef nicht kränken, er will nicht kneifen. Er gibt Auftrag, das Programm so abrollen zu lassen, wie es vorgesehen ist. Ohne es zu wissen, spricht er sich mit diesem Entschluss sein eigenes Todesurteil.
Der Tag, an dem der österreichische Thronfolger und seine Gemahlin Sophie der bosnischen Hauptstadt den seit langem geplanten Besuch abstatten, der 28. Juni 1914, ist ein Sonntag. Ein herrlicher Sommermorgen mit strahlend blauem Himmel zieht in das Land und verspricht für das zeremonielle Schauspiel in Sarajevo einen glänzenden Rahmen, eine prachtvolle Naturkulisse abzugeben. Trotz so mancher böser Vorahnungen in den vergangenen Monaten und Wochen denkt in der Umgebung des Thronfolgers niemand ernsthaft an ein Unheil. Man hat offenbar auch vergessen, dass der 28. Juni für einen Besuch in Sarajevo ein denkbar ungünstiger Termin ist. Es ist der Vidovdan, der St.-Veits-Tag, an dem die Serben vor mehr als fünfhundert Jahren in der Schlacht auf dem Amselfeld gegen die Türken ihre nationale Unabhängigkeit verloren haben. Seither ist der Vidovdan für jeden serbischen Patrioten ein nationaler Trauertag. Ob es Gedankenlosigkeit war, Uninformiertheit, Mangel an politischem Instinkt oder gar provokative Überheblichkeit, den Besuch des Thronfolgers ausgerechnet für diesen Tag vorzusehen, vermag heute niemand mehr zu sagen. Es ist letzten Endes auch nicht von Belang. Die Verschwörer hätten gewiss zu jedem anderen Zeitpunkt auch zugeschlagen. Eine Taktlosigkeit, eine Missachtung nationaler Gefühle war es zweifellos.
Am Morgen des 28. Juni 1914 nehmen Franz Ferdinand und seine Gemahlin im Hotel „Bosna“ das Frühstück ein. Dann diktiert der Erzherzog seinem Dienstkämmerer, dem Freiherrn Andreas Morsey, zwei Telegramme, die letzten seines Lebens. Eines ist an seinen Sekretär Horak, das andere an seine Tochter, Prinzessin Sophie, gerichtet. Das Telegramm an seine geliebte Tochter hatte folgenden Inhalt: „Prinzessin Sophie, Chlumetz. Befinden von mir und Mami sehr gut. Wetter warm und schön. Wir hatten gestern großes Diner und heute vormittags den großen Empfang in Sarajevo. Nachmittags wieder großes Diner und dann Abreise auf dem Viribus Unitis. Umarme Euch innigst. Dienstag. Papi.“ Der Thronfolger und seine Frau wohnen einer stillen Messe bei und treten dann die Fahrt nach Sarajevo an, wo sie ein paar Minuten nach zehn Uhr eintreffen.
In der bosnischen Hauptstadt herrscht ein emsiges Treiben. Halb Sarajevo ist auf den Beinen, aus der Umgebung sind viele Menschen in die Stadt geströmt, um das Thronfolgerpaar zu sehen. Ein dichtes Spalier säumt die Straßen, durch die der Erzherzog mit seinem Gefolge kommen wird.
Die Verschwörer sind darunter. Sie haben sich am Morgen mit den Mordwaffen versorgt und ihre Posten bezogen. Den Appelkai entlang, der das Ufer der Miljačka begleitet, haben sie auf einer etwa fünfhundert Meter langen Strecke Aufstellung genommen. An der Cumurjabrücke, welche die Wagenkolonne des Erzherzogs zuerst passieren muss, stehen Čubrilović und Čabrinović, auf der anderen Seite des Kais wartet Danilo Ilić auf sein Opfer. Gavrilo Princip, der spätere Mörder des Thronfolgerpaares, dessen Schüsse einen Weltenbrand auslösen werden, ist zunächst in der Nähe der Lateiner- Brücke postiert.
Die Sicherheitsvorkehrungen sind vollkommen unzulänglich. Die manövrierenden Truppen sind nicht in die Stadt befohlen worden, um die als loyal geltende Bevölkerung nicht unnötig zu verärgern. Nur ein dünnes Polizeiaufgebot, überwiegend serbischer Nationalität, hält die Fahrbahn frei. Bessere Vorbedingungen für die Durchführung ihrer Pläne hätten sich die Attentäter nicht wünschen können. Graf Sternberg wird später vermerken: „Als der Kaiser – Franz-Joseph, 1910 – nach Bosnien reiste, hat man die ganze Stadt abgesperrt, viele hunderte Personen in den Wohnungen zurückgehalten, hinter jedem Baum stand ein Soldat mit dem Rücken zur Straße. Jetzt stand bei jedem Baum ein Mörder mit einer Bombe.“
Nach der Besichtigung einer Kaserne am Westrand der Stadt besteigen der Thronfolger und sein Gefolge eine bereitstehende Autokolonne, um entlang der Miljačka über den Appelkai zum Rathaus zu fahren. Den ersten Wagen des Konvois stellt die Polizei, im zweiten sitzen der Bürgermeister Fehim Efendi Curčić und der Regierungskommissär Dr. Gerde, das dritte ist mit dem Thronfolgerpaar und dem bosnischen Landeschef, Feldzeugmeister Oskar Potiorek, besetzt. Neben dem Chauffeur hat der Besitzer des Wagens, Graf Franz Harrach, Platz genommen. Es ist ein offenes Personenauto der Marke Gräf & Stift. Franz Ferdinand trägt Generalsuniform, seine Gemahlin ein weißes Kleid und einen weißen Hut mit Reiherfeder. Es folgen drei Autos mit der Suite des Thronfolgers. Der siebente und letzte Wagen, in dem sich keine Fahrgäste befinden, ist als Reserveauto gedacht.
Die Fahrt geht zunächst ohne Zwischenfälle vor sich. Als der Konvoi langsam an der Österreichisch-Ungarischen Bank vorüberfährt und Feldzeugmeister Potiorek den ihm gegenübersitzenden Erzherzog auf ein am anderen Ufer der Miljačka gelegenes Objekt aufmersam macht, löst sich ein junger Mann aus dem Spalier – es ist der Schriftsetzer Nedeljko Čabrinović – und wirft einen büchsenförmigen Gegenstand gegen das Auto des Thronfolgers. Wie sich nachher herausstellte, war es eine serbische Handgranate mit Zeitzündung. Ein Splitter der Sprengkapsel ritzt den Hals der Herzogin. Der Sprengkörper selbst wird von Franz Ferdinand mit einer Armbewegung weggeschleudert und kollert über das zurückgeschlagene Dach des Autos auf die Fahrbahn, wo er vor dem in der Kolonne fahrenden nächsten Auto explodiert. Čabrinović sagte später über die Tat Folgendes aus: „Ich griff mit der rechten Hand unter die linke Achsel, wo meine Bombe verborgen war. Als sich das Thronfolgerauto näherte, zündete ich die Bombe, indem ich sie mit der Kapsel gegen den Tramway-Mast schlug. Ich warf sie und sah noch, wie sie abprallte. Ob es Verletzte gab, weiß ich nicht, denn ich sprang über die hohe Ufermauer in die Miljačka. Ich wollte mich vergiften, das mißlang, da ich in der Aufregung das weiße Pulver verstreute. Detektive jagten mir nach und schleppten mich zur Polizei …“
Der Thronfolger lässt nach dem Attentat seinen Wagen kurz anhalten und befiehlt seinem Flügeladjutanten, dem Grafen Harrach, nachzusehen, was passiert sei. Harrach: „Ich saß vorne neben dem Chauffeur, als plötzlich eine Detonation ertönte … Nach dem Knall hatte der Chauffeur das Auto vorschießen lassen … Seine kaiserliche Hoheit … bat mich nachzusehen, ob es Tote oder Verletzte gegeben hätte. Zurückgekehrt, meldete ich, Oberstleutnant Merizzi wäre schwer verletzt, Graf Boos-Waldeck leichter. Nach einer kleinen Pause fuhren wir zum Rathaus weiter.“
Im Rathaus wird das Thronfolgerpaar vom Bürgermeister, der im ersten Auto vorausgefahren ist und von dem ganzen Zwischenfall nichts bemerkt hat, feierlich begrüßt. Als er seine vorbereitete Rede zu verlesen beginnt, fällt ihm der Erzherzog unwirsch ins Wort: „Was hab’ ich von Ihren Reden?“, faucht er den verdutzten Muselmanen an. „Da kommt man zu Besuch in diese Stadt und wird mit Bomben empfangen. So, jetzt fahren Sie fort.“ Die schönen Worte des Bürgermeisters von der Anhänglichkeit, der Liebe und Ergebenheit der Bevölkerung zum Allerhöchsten Herrscherhaus klingen nach dem Vorfall auf dem Appelkai wie ein Hohn. Der Erzherzog und seine Gemahlin machen gute Miene zum bösen Spiel. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Den Bürgermeister können sie für ihre persönliche Sicherheit nicht verantwortlich machen. Dafür sind andere Organe zuständig. Und die haben erbärmlich versagt. Das ist offenkundig. Aber in dieser im buchstäblichen Sinn des Wortes verfahrenen Situation hat es keinen Sinn, mit dem Schicksal zu hadern. Die Honoratioren der Stadt stehen hilflos herum, machen ratlose Gesichter. Die Militärs halten Kriegsrat. Im Menschenspalier entlang der programmierten, allseits bekannten Fahrtroute warten wahrscheinlich noch weitere Attentäter. Wie soll man den Thronfolger unversehrt aus Sarajevo hinausbringen? In der allgemeinen Ratlosigkeit macht der Generalstabsmajor Paul Höger den vernünftigsten Vorschlag. Man solle die Straßen der Stadt durch das Militär räumen lassen, meint er. Aber der Großteil der Soldaten befindet sich noch auf dem Manöverfeld. Sie zurückzubeordern würde Stunden dauern. Potiorek weigert sich, den Befehl dazu zu erteilen, und Franz Ferdinand hat einfach nicht die Geduld, im Rathaus von Sarajevo stundenlang auf den Abschluss einer solchen Aktion zu warten. Er wollte jedoch unter allen Umständen seine Frau in Sicherheit wissen. Morsey: „Der Erzherzog rief mich zur Seite und beauftragte mich, mit der Herzogin und dem Leibjäger im Auto des Leutnants Grein und mit diesem nach Ilidže oder in den Konak zu fahren. Ich nahm den Mantel der Herzogin, ging in den ersten Stock und bat sie mit mir zu fahren, der Erzherzog bitte sie darum. In freundlicher, jedoch sehr dezidierter Weise antwortete sie mir: ,Solange der Erzherzog sich heute in der Öffentlichkeit zeigt, verlasse ich ihn nicht.‘ Ich verbeugte mich schweigend, es waren die letzten Worte, die ich von ihr vernommen. Den Entschluß der Herzogin meldete ich dem Erzherzog.“
Franz Ferdinand gibt Befehl, vor dem Mittagessen im Konak – dem Wohnsitz des Landeschefs – das Landesmuseum und den verletzten Merizzi im Garnisonsspital zu besuchen. Die Autokolonne mit dem Bürgermeister an der Spitze soll den Weg dorthin jedoch nicht über die Franz-Joseph-Straße, sondern über den Appelkai nehmen. Oberst Carl Bardolff, der Vorstand der Militärkanzlei des Erzherzogs, ersucht Dr. Gerde, das Notwendige zu veranlassen. Um den Erzherzog mit seinem Körper zu schützen, stellt sich Graf Harrach auf das linke Trittbrett des Autos. Die rechte Autoseite bleibt vollkommen ungesichert. Der österreichische Thronfolger hat keine Leibwächter bei sich. Was heute bei jedem Staatsbesuch eine Selbstverständlichkeit ist, war 1914 nicht einmal einen Gedanken wert.