Am Nachmittag machte sich Carl auf den Weg nach München, während ich den Zug nach Bielefeld bestieg, wo am Sonntag das letzte Meeting dieser Tour in einer kürzlich eröffneten Heileinrichtung stattfinden würde. Nach den »Großveranstaltungen« von München bis Hannover ging es jetzt wieder geradezu intim zu, die meisten Teilnehmer kannten einander.
Es wurde bei diesem Meeting keine Tonaufzeichnung gemacht, und ich erinnere mich meist nicht an viel von dem, was ich während einer Veranstaltung gesagt habe. Gleich zu Beginn habe ich scherzhaft zu den Leuten gesagt, sie mögen doch, sollte ich mit irgendetwas Interessantem oder Originellem daherkommen, Notizen machen und mich anschließend davon unterrichten. Wir hatten einen wirklich netten Tag mit schmackhaftem biologischem Mittagessen und etlichen Tassen Tee, aber Notizen gab es am Schluss keine.
Das Folgende ist mir noch in Erinnerung, und ich möchte es als Zusammenfassung an den Schluss dieses Buchs stellen.
Es liegt in der Natur des Verstandes, dass er die Suche so komplex wie möglich gestalten möchte. Es liegt zum einen daran, dass der Verstand das Komplexe liebt; zum anderen jedoch dient ihm das Komplexe dazu, die Suche in Gang zu halten. Wenn wir es im Fach Spiritualität zum Bachelor und dann zum Master gebracht und immer noch nicht »Erleuchtung erlangt« haben, können wir immer noch den Doktortitel anstreben, und die Suche geht weiter. In Amerika kürzen sie die beiden niederen Titel B.S. und M.S. ab und der Dr. phil. heißt Ph.D. Diese Kürzel, so wird gemunkelt, stehen für »Bull Shit«, »More Shit« und »Piled High and Deep«, was wohl eine ziemliche Menge sein muss.
Auch religiöse und spirituelle Gruppierungen sind oft ganz versessen auf Komplexes, und ihre Storys können immer extremer werden, weil sie ja miteinander um den Titel der reinsten, edelsten und asketischsten Bande auf dem gesamten Sektor der Spiritualität konkurrieren müssen. Wenn die eine Sekte Vegetarismus predigt, wird die andere für die reine Linsenernährung eintreten und die nächste den Obstismus verkünden, bis sie dann alle von den reinen Atemisten in die Tasche gesteckt werden. Wenn irgendwo acht Stunden Meditation am Tag vorgeschrieben werden, tun sie es nebenan nicht unter zehn Stunden pro Tag, und zwar in eisigen Bergeshöhen. Wer sich beim Mantrasingen unter Null ein paar Zehen abfriert, hat immer ein spirituelles Ehrenabzeichen vorzuweisen.
Bevor wir endlich den Guru finden, der uns sagt, wir müssten den Wunsch nach Erleuchtung gänzlich ablegen – versucht es mal; Zähne zusammenbeißen nicht vergessen –, sind wir vielleicht einem Guru gefolgt, der uns sagte, wir müssten Erleuchtung wichtiger als das Leben selbst nehmen – versucht es; Zähne zusammenbeißen auch hier nicht vergessen. In der yogischen Tradition wird zur Beflügelung unserer Ergebenheitsbemühungen folgende Geschichte erzählt:
Ein junger Mann begibt sich zum Aufenthaltsort eines Guru am Rande eines steilen Felsabsturzes und bittet ihn, sein Schüler werden zu dürfen. Der Guru weist ihn ab. Der junge Mann bettelt. Der Guru weist ihn immer noch ab. Der junge Mann bekniet ihn, weint, fleht und jammert. Der Guru weist ihn immer noch ab. Da sagt der junge Mann: »Wenn ich nicht dein Schüler sein darf, stürze ich mich in diesen Abgrund, dass ich unten auf den Felsen zerschmettert werde.« Der Guru zuckt die Schultern und sagt: »Tu, was du willst, ich nehme dich nicht als Schüler an.«
Der junge Mann läuft auf den Abgrund zu, stürzt sich in die Tiefe, schlägt unten auf und ist tot. Der Guru schickt vier seiner Chelas los mit den Worten: »Geht zum Fuß der Felswand und holt mir den Körper dieses jungen Mannes.« Die Chelas gehorchen und legen den Körper des jungen Mannes zu Füßen des Guru. Der Guru rezitiert Mantras und haucht auf den zerschmetterten Körper. Der junge Mann erwacht darauf wunderbarerweise wieder zum Leben. Der Guru sagt: »Jetzt kannst du mein Schüler sein. Da du Erleuchtung mehr begehrst als zu leben, hast du dich als würdig erwiesen.«
Buddhisten lassen sich in so etwas nicht gern übertrumpfen und erzählen folgende Story: Unter der Oberfläche eines gewaltigen Ozeans schwimmt eine Riesenschildkröte. Einmal, wirklich nur einmal alle hundert Jahre taucht die Schildkröte auf, um Luft zu holen. Irgendwo auf diesem Ozean schwimmt ein Ochsenkummet. Deine Chance, menschliche Geburt zu erlangen, die einzige Art der Verkörperung, in der Erleuchtung erlangt werden kann, ist so groß wie die Wahrscheinlichkeit, dass der Kopf der Schildkröte genau durch das Ochsenkummet auftaucht. So schwierig ist menschliche Geburt zu erlangen, und deshalb muss man mit aller Macht nach Erleuchtung streben, damit man diese unschätzbar wertvolle Gelegenheit nicht verspielt.
Solche Storys schlachten unser schlechtes Gewissen aus und leben von unseren Unzulänglichkeitsgefühlen. Wenn wir auf so etwas anbeißen, können wir uns als permanente Versager fühlen, wir brauchen uns nur immer wieder mit der Nase auf diese unerreichbaren Ideale zu stoßen.
Wir können natürlich auch, falls uns das mehr liegt, Tee trinken und Kuchen essen.