Franziska Steinhauer

Spreewaldmord

Peter Nachtigalls 12. Fall

Zum Buch

Verloren Zwei kopflose Leichen. Eine in Burg/Spreewald, die andere in Cottbus. Nackt. Die Obduktion bestätigt, was Kommissar Nachtigall längst wusste, beide Opfer wurden ermordet. Gab es eine Verbindung zwischen den beiden Toten, in ihrem Umfeld, ihrem Freundeskreis? Die Mordmethode legt nahe, dass die Tötungen eine Warnung für andere sein sollten. An Verräter? Und wenn dem so ist, welches Geheimnis muss unbedingt bewahrt werden? Da die erste Leiche in den Armen einer dementen alten Dame gefunden wurde, ermittelt Peter Nachtigall mit seinem Team in deren familiären Umfeld und stößt dabei auf einige sonderbare Aussagen von Schwester und Nichte. Unbekleidete Leichen im November, das führt die Ermittler auch zu einer neu gegründeten Gruppe fanatischer Nacktjogger. Erste Befragungen zeigen keinerlei Verbindung auf, doch das zweite Opfer führt auf eine neue Spur und Peter Nachtigall kann seinen Ermittlungen eine andere Richtung geben. Die Obduktion ergibt rätselhafte Ungereimtheiten. Suchen sie nach zwei Mördern?

Franziska Steinhauer lebt seit 25 Jahren in Cottbus. Bei ihrem Pädagogikstudium legte sie den Schwerpunkt auf Psychologie sowie Philosophie. Ihr breites Wissen im Bereich der Kriminaltechnik erwarb sie im Rahmen eines Master-Studiums in Forensic Sciences and Engineering. Diese Kenntnisse ermöglichen es der Autorin den Lesern tiefe Einblicke in pathologisches Denken und Agieren gewähren. Mit besonderem Geschick verknüpft Franziska Steinhauer dabei mörderisches Handeln, Lokalkolorit und Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Ihre Romane zeichnen sich vor allem durch gut recherchierte Details und eine besonders lebendige Darstellung der jeweiligen Figuren aus. »Spreewaldmord« ist ihr 25. Kriminalroman.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Spreewaldmord (2019)

Spreewald-Tiger (2018)

Der Werwolf von Hannover – Fritz Haarmann (2017)

Fluch über Rungholt (2017)

Todessehnsucht (2016)

Brandherz (2015)

Wer mordet schon in Cottbus und im Spreewald? (2014)

Die Stunde des Medicus (2014)

Kumpeltod (2013)

Zur Strecke gebracht,

zusammen mit Wolfgang Spyra (2012)

Sturm über Branitz (2011)

Spielwiese (2011)

Gurkensaat (2010)

Wortlos (2009)

Menschenfänger (2008)

Narrenspiel (2007)

Seelenqual (2006)

Racheakt (2006)

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dioxin / photocase.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6002-9

Prolog

Sie sind unsere Nachbarn, Arbeitskollegen.

Sitzen in der Straßenbahn mit leerem Blick.

Wenn sie sich unbeobachtet fühlen, brüten sie dumpf vor sich hin.

Fühlen nichts, fragen nicht nach morgen, ihnen gilt nur das Jetzt.

Haben gelernt, so zu reagieren wie wir. Es ist schwer, sie zu entlarven.

Und doch kennen sie nur ein Ziel:

Unseren Untergang!

Sei wachsam! 

Jederzeit!

1. Kapitel

»Habt ihr schon was?«

»Nein, leider nicht!«

»Wo genau bist du mit deinen Leuten? Der Hubschrauber zu eurer Unterstützung ist unterwegs. Müsste eigentlich jeden Moment bei euch eintreffen. Viel Erfolg!«

»Danke!«, beendete Peer Jürgsen das Gespräch floskellos. Schickte seine GPS Daten an den Anrufer.

»Suchmeldung! Hilflose, verwirrte Person im Ort oder der Umgebung! In witterungsunangepasster Bekleidung. Foto kommt.«

»Gibt es nähere Informationen? Alter?«

»Eine demente, ältere Person, weiblich, unterwegs in Nachthemd und Hausschuhen, möglicherweise hat sie einen rosafarbenen Wollschal dabei. Sie ist aus dem Wohnhaus der Familie ›entkommen‹, wohin sie aufgebrochen ist, weiß niemand. Möglicherweise hält sie sich im nahen Waldgebiet versteckt.« Diese Meldung hatte die Einsatzzentrale vor etwa drei Stunden verbreitet.

Jürgsen gab sich keinen Illusionen hin. Die Familie wohnte in Burg in der Nähe der Reha-Klinik nicht weit vom Rand des Waldes entfernt. Wenn die Frau von dort aufgebrochen und in das Waldgebiet hineingelaufen war, würde es schwierig. Im November, bei einsetzendem Regen und Temperaturen in der Nähe des Gefrierpunkts – in der unzureichenden Bekleidung hatte sie nur geringe Chancen, die Nacht zu überstehen.

»Alle Mann in eine Reihe. Arme ausstrecken! Diesen Abstand beim Vorrücken einhalten. Guckt hinter jeden Busch, hinter jeden Baum. Die alte Dame könnte sich auch vor uns versteckt halten, weil sie sich fürchtet.«

Die lange Kette uniformierter Polizisten setzte sich langsam in Bewegung.

Schritt für Schritt.

Der stämmige Jürgsen machte ein besorgtes Gesicht. »Wie lang genau ist die Frau inzwischen verschwunden?«, erkundigte er sich bei der Einsatzzentrale.

Die körperlose Stimme am anderen Ende der Leitung antwortete: »Seit ein paar Stunden. Sie wohnt mit ihrer Schwester und deren Tochter zusammen. Als die Schwester nach Hause kam, stand möglicherweise die Tür offen, sie kann sich nicht genau erinnern, war das Haus leer. Wann die Vermisste tatsächlich aufgebrochen ist, weiß sie also nicht. Sie selbst wartete auf ihre Tochter und die beiden starteten eine Suche in der direkten Umgebung der Siedlung. Als das zu nichts führte, benachrichtigten sie die Polizei. Es wurde nichts gestohlen, nichts durchwühlt. Die Kollegen meinen, die verwirrte Frau habe sich selbst die Tür geöffnet. Was allerdings nach Aussage der Nichte vollkommen unmöglich ist.«

Jürgsen seufzte mitfühlend. Seine wulstigen Lippen zitterten leicht, er fuhr mit den Fingern darüber, um sie zum Stillstand zu bringen. Die klobige Nase, über deren Wurzel die struppigen Augenbrauen zusammengewachsen waren, ruckte leicht auf und ab. Wenn er sprach, wurde diese Bewegung deutlicher sichtbar, ließ die Nase wie einen unförmigen Schnabel wirken, der ständig nach dem Gesprächspartner hackte. Seine grauen Augen starrten in finsterer Erwartung in die Ferne.

»Wissen wir denn inzwischen, welche Kleidung sie wirklich trug, als sie das Haus verließ? Es ist fast Winter.«

»Nun ja, die Nichte meint, der Mantel hänge an der Garderobe. Das bedeutet also, sie ist in Nachthemd und Hausschuhen unterwegs. Ein Schal fehlt, den hat sie möglicherweise mitgenommen – aber ob sie den tatsächlich trägt? Mag sein, sie erinnert sich gar nicht mehr daran, wozu man sowas benutzt.«

»Demnach hat sich an der Ausgangslage nichts verändert. Ich hatte ja gehofft, sie hätte wenigstens … naja, ist nicht zu ändern. Die Nachbarschaft wird abgesucht, ja? Meist kommen diese Leutchen nicht wirklich weit. Wir sind schon am äußersten Rand eines möglichen Bewegungsspektrums. Und das nur, weil die Nichte meinte, früher seien die Schwestern gern hierhergekommen.«

Nebel hing über der Lichtung.

Unter anderen Umständen hätte die Stimmung hier draußen einen Hauch von Mystik gehabt. Man erwartete Orks und Hobbits, sonderbare Fabelwesen, Spukgestalten wie aus »The Fog«. Aber so? Eine Phalanx von Beamten wurde im Dunst langsam konturlos. Die Dämmerung kündigte mit dunklen Wolken die Nacht an. Regen war angesagt, Schnee konnte bis zum Morgen daraus werden.

Temperaturen schon deutlich unter zehn Grad.

Und dazwischen eine verwirrte Frau im Nachthemd.

Viel Zeit blieb nicht.

Immerhin hatten die Kollegen über Radio Cottbus 94,7, Antenne Brandenburg und andere lokale Radiosender die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen. Aber wenn sich die Frau vor lauter Angst versteckte, konnte es in wenigen Stunden zu spät für eine Rettung sein, selbst wenn sie lebend entdeckt wurde.

»Moment! Ich hab da was!«

Die Menschenkette hielt an.

Ein junger Beamter reckte einen wollenen Schal hoch.

»Scheiße!«, fluchte Peer Jürgsen herzlich. »Der passt zu der Beschreibung, die man uns durchgegeben hat.«

Er nahm das Fundstück entgegen. Feucht. Nein, nass. Der liegt hier nicht erst seit wenigen Minuten, erkannte er.

»Wir sind auf dem richtigen Weg!«, rief er seinen Leuten zu, die sich sofort wieder in Bewegung setzten.

Aus dem angrenzenden Waldstück waren laute Stimmen zu hören.

»Hiltrud! Hiltrud Manecke! Wo bist du?«

»Hiltrud! Lass uns nach Hause gehen! Es ist kalt!«

Eine Frau mit besonders unangenehmem, durchdringendem Organ hob sich von dieser Kakophonie deutlich ab. »Hiltrud, Schätzelchen! Schätzelchen, wo sind Sie denn?«

»Diese Frage könnte sie dir sowieso nicht beantworten«, zischte Jürgsen vor sich hin. »Sie ist dement, schön und gut, aber wenn man nach mir so rufen würde, ich schwör’s, ich fände ein gutes Versteck, könnte den Erfrierungstod dem Gefunden-Werden durchaus vorziehen.« Zornig setzte er hinzu: »Ist ja so was von abschreckend! Hiltrud Schätzelchen! Nein!«

Minuten später setzte der angedrohte Platzregen ein.

Jürgsen sah vorwurfsvoll in den Himmel.

Beobachtete die Bewegungen des Hubschraubers, der nun schon seit fast einer Stunde über ihren Köpfen kreiste. Wärmebildkamera an Bord. Wenn überhaupt, dann war das noch eine der besseren Chancen, die Frau zu finden.

Er ging wenige Schritte hinter seinen Leuten, hielt Kontakt zu allen anderen Kräften, die an der Suche beteiligt waren.

Überall im Wald flackerten Lichtpunkte umher. Manche bewegten sich systematisch von links nach rechts, machten kehrt und gingen einen Schrittbreit neben der ursprünglichen Strecke wieder zurück. Andere huschten hektisch, geradezu hysterisch umher, tappten ziellos mal hierhin, mal dorthin.

Wo bleiben nur die Hunde?, überlegte Jürgsen und sah sich ungeduldig um. Das abzusuchende Gebiet war ziemlich groß, die einsetzende Dunkelheit machte die Suche für Menschenaugen nicht einfacher, die Spürnasen hätten sehr hilfreich sein können.

Plötzlich wurde es taghell.

Geblendet vom Licht des Helikopters rissen die Polizisten ihre Hände über den Augen an die Stirn.

»Der Hubschrauber hat was gefunden!«

Sie liefen los.

Hielten Kurs auf den schwankend ausgeleuchteten Bereich, über dem lärmend und stürmend der Hubschrauber stand. Das kam einem nächtlichen Hindernislauf gleich. Die Lichtkegel der Taschenlampen hüpften wild über den überraschungsreichen Grund, zielten kaum je wirklich auf die nächste Hürde. Atemlos und stolpernd erreichten die Beamten eine offene Fläche. Wiese.

Im Kegel des Suchscheinwerfers präsentierte sich ihnen ein Bild, das unwirklicher nicht hätte sein können.

Peer Jürgsen blieb im wahrsten Sinne des Wortes die Luft weg.

Langsam traten alle näher, auf ein Zeichen hin blieben die Beamten stehen und Jürgsen ging allein weiter.

Einer Pietà ähnlich hockte dort auf dem Boden eine alte Dame.

Viel zu leicht bekleidet.

Durch die Rotoren des Hubschraubers wurden die Nebelfetzen aufgescheucht, umkreisten wie körperlose Gestalten die Frau, als wollten sie sie vor den Blicken der Fremden schützen.

Über ihrem Schoß ruhte der ausgestreckte Körper eines nackten jungen Mannes, dessen Schultern sie mit dem rechten Arm stützte.

Wimmernd beugte sie sich über ihn.

»Was haben sie dir nur angetan, mein Kleiner? Warum nur?«, wiederholte sie dabei gebetsmühlenartig.

Sprachlos starrte Jürgsen auf das sonderbare Paar, das von ihnen und dem ganzen Aufruhr um sich herum nichts wahrzunehmen schien.

»Mein Gott! Wo ist sein Kopf?«, ächzte er schließlich.

2. Kapitel

Als Nachtigalls Handy brummte, verdrehte Conny still die Augen.

Eigentlich hatten sie gerade in den gemütlichen Teil des Abends wechseln wollen. Abendessens- und Couchmodus. Neben dem entspannten Tagesausklang gab es ihrer Meinung nach auch dringenden Gesprächsbedarf. Doch daraus würde nun wohl nichts werden, das konnte sie schon an der Miene des Gatten ablesen.

»Was? Ich glaube, Sie sollten etwas langsamer sprechen, ich verstehe nur Leiche.«

Conny zog die Füße auf die Couch, zwinkerte den Katzen zu, die nun sicher zu ihr übersiedeln würden.

Das sah nicht nur so aus, es klang auch nach einem Einsatz. Leiche als Stichwort bedeutete niemals einen ruhigen Abend!

»Aha! Und wo genau ist das?« Nachtigall schrieb mit. »In Burg? Okay. Dammweg, oh, gut dann eben Am Bahndamm, am Leineweber vorbei. Ja, ich weiß, wie man da hinkommt. Wo ist die alte Dame jetzt? Man hat sie doch hoffentlich nicht dort sitzen lassen? Ach so. Ich verstehe. Gut. Wir sind in einer halben Stunde vor Ort.«

Nach diesem Gespräch wählte er sofort neu. »Michael! Wir haben eine Leiche. Burg, hinter dem Leineweber im Wald. Ja – Mord ist nicht ausgeschlossen, sogar sehr wahrscheinlich. Wirklich eigenartige Geschichte. Die alte Dame, die den Toten offensichtlich gefunden hat, leidet an Demenz und war abgängig. Viel an brauchbaren Informationen werden wir wohl von ihr nicht bekommen.«

Er seufzte. Stemmte seine stattlichen fast zwei Meter und sein nicht unerhebliches Gewicht aus dem Polster hoch, wandte sich mit zerknirschtem Gesichtsausdruck an seine Frau. »Tja. Einsatz. Ich weiß, wir hatten eigentlich für heute Abend geplant … aber das muss eben warten. Nur verschoben. Und die Schmerzen sind ja besser geworden, vielleicht gibt es keinen Grund zur Sorge.«

Conny nickte.

Polizistengattinnen waren Weltmeister im Umplanen!

Wenig später hörte sie den Wagen von Michael Wiener vorfahren.

»Tschüss!«, rief ihr Angetrauter noch, dann war er endgültig verschwunden.

»Na, ihr zwei«, begrüßte Conny die beiden pelzigen Zuwanderer auf ihrer Couch, »dann wollen wir es uns mal gemütlich kuscheln«, und fuhr mit ihren Fingern durch das weiche Fell Dominos.

Casanova setzte sich aufrecht ans Fußende, legte den Schwanz über die Vorderpfoten, sah den beiden zu.

Hielt Abstand.

Heftete die grünen Blicke an die Tür.

Wartete stumm und anklagend auf die Rückkehr seines Hauptkommissars.

»Eine Leiche ohne Kopf? Habe ich das richtig verstanden?« Wiener sah den Freund irritiert an, als dieser sich in den Beifahrersitz warf. »Auf einem Feld? Bei der Kälte?«

»Mehr kann ich dir auch nicht sagen. Peer Jürgsen musste mit einer Suchmannschaft ausrücken, um eine alte Dame zu finden, die ›entlaufen‹ war. Bei dem Wetter ohne entsprechende Kleidung unterwegs, da schien Eile geboten, wollte er sie lebend aufspüren. Deshalb auch der Hubschrauber. Wärmebildkamera. Als man die Frau schließlich entdeckte, saß sie auf dieser Wiese, hielt einen unbekleideten, männlichen Körper im Arm. Tot. Ohne Kopf. Der wurde bisher auch nicht gefunden. Die alte Dame liegt inzwischen im Klinikum, sie ist unterkühlt. Und, wie gesagt, sie leidet an Alzheimer oder einer anderen Art von Demenz.«

»Hm. Dr. März wird das nicht gern hören. Wieder so ein Fall, der typisch für dieses Team ist, wird er sagen.« Wiener lachte leise. »Ich kann ihn schon verstehen. Die meisten anderen Fälle sind tödliche Ausgänge von Ehestreitigkeiten oder Nachbarschaftszwist. Neulich hat ein Rentner angerufen, den Mord an seiner Mutter gleich am Telefon gestanden und sich ohne viel Federlesens einsammeln lassen. So einen Fall zum Beispiel hatten wir beide noch nie.«

»Glaubst du ernsthaft, diese, also »unsere«, Art von Tätern bringt vorher in Erfahrung, dass wir Dienst haben und schlägt dann gezielt zu?«, fragte Nachtigall gereizt zurück.

»Nun, wir hatten schon welche, die uns gefolgt sind, um ihr nächstes Opfer zu finden.«

»Ja!« Knappe Antwort.

Damit war das Thema offensichtlich erschöpfend behandelt. Wiener unterdrückte einen weiteren Kommentar. Er wollte die Stimmung nicht tiefer sinken lassen, die Erinnerung an diesen speziellen Fall setzte Nachtigall noch immer kräftig zu, also wechselte er das Thema.

»Mit den Kollegen vom Erkennungsdienst habe ich schon gesprochen. Sie sind auf dem Weg, haben aber wenig Hoffnung, auswertbare Spuren zu finden. Der Regen, der Matsch, vielleicht ist die Tat schon Stunden her, viele Leute am Tatort … Du weißt schon.«

»Dr. Pankratz? Hoffentlich wird Thorsten eingebunden. Er kann uns sicher gut unterstützen. Altersbestimmung zum Beispiel. Bei einer Leiche ohne Kopf ist die Frage der Identität des Opfers häufig viel schwieriger zu beantworten«, orakelte der Hauptkommissar.

»Silke checkt scho die Meldunge über Abgängige. Die Kollege habe ja vo einem junge Mann ge’schproche. Eine grobe Vorauswahl kann sie damit scho treffe.«

3. Kapitel

Phil saß in seiner Lieblingsbar.

Hockte zusammengesunken am Tresen.

Starrte in seine zwei Fingerbreit Whisky pur ohne Eis.

Blies Trübsal.

Der Live-Musiker spielte eine nette Melodie, die von Glück, Liebe und Wehmut erzählte. Die Töne schwangen den dunklen schweren Mantel der Melancholie um Phils alias Jupps Schultern, drückten seine Stimmung ins Bodenlose, Tränen stiegen auf. Er kippte den Drink auf ex.

»Na, Jupp, darf et denn noch wat sein?«, erkundigte sich der Barkeeper mit der Sensibilität eines zu kross gebackenen Brotlaibs.

Jupp nickte. Schob sein Glas über die Theke. Jupp!, dachte er verächtlich, versuchte sich zu erinnern, wie er zu diesem albernen Spitznamen gekommen war. Jupp! Irgendjemand hatte mal gerufen: »Und dem Jupp da, dem machste mal gleich einen doppelten Whisky! Sieht aus, als hätte der mal einen richtigen Drink nötig!«, und so waren der Drink und der Name hängen geblieben.

Nicht so Matz.

Der hatte heute nach dem Frühstück seine Sachen gepackt.

»Tschüss, Jupp! Wir sehen uns!« Das waren seine letzten Worte gewesen. Deutlicher hätte er die Distanz nicht werden lassen können als durch die Verwendung des verhassten Spitznamens. Danach klapperte der Wohnungsschlüssel auf den Tisch, und Matz war weg.

Hastig wischte Phil sich die Tränen aus dem Gesicht. Scheiße! War ja nicht notwendig, dass nun alle gleich mitkriegten, wie schlecht es ihm ging.

Womöglich würde man es Matz weitererzählen. Und so tief war er nun auch wieder nicht gesunken, dass er mit Matz’ Rückkehr aus Mitleid hätte leben wollen. Oder auch nur können! Nein, nein! Neue Liebe – neues Glück, so lautete ab sofort die Devise, nahm Phil sich vor.

Und sollte Matz plötzlich voll Reue in der Tür stehen, würde er ihm einfach fröhlich »Besetzt!« zurufen. Genau so würde er es machen!

Wieder schrubbte der Handrücken über die stoppelige Wange.

Scheiße! Das lag an der Musik, analysierte er, zu sülzig, zu schwülstig, zu schwer.

Vielleicht war es besser zu gehen.

Sich ins Bett zu kuscheln, in dem noch der Duft von Matz’ Körper hing.

Er kippte den zweiten Drink hinunter, hustete leicht, warf lässig einen Geldschein auf den Tresen, hob zum Abschied die Hand.

»Bis morgen, Jupp!«, hörte Phil den Barkeeper rufen, während er die Jacke nahm und aufbrach.

Matz kommt nie mehr zurück, flüsterte seine innere Stimme in einer Mischung aus Trauer und Triumph. Der hat was Besseres gefunden. Du bist ein Langweiler, nicht der Richtige für einen wie Matz.

Phil hörte gar nicht hin.

4. Kapitel

Michael Wieners Navi fand problemlos die eingegebenen Daten. »Naja, das hätten wir auch ohne die Hilfe der GPS-Daten gefunden. Im letzten Jahr hatten wir Freunde in dem Hotel untergebracht, und die konnten von dort aus den Spreewald erkunden. Hatten viel Spaß, die beiden.«

Um diese Zeit waren die Straßen wie leergefegt. Wiener fädelte sich über mehrere Kreisverkehre auf die Bundesstraße nach Burg ein. Der heftige Regen erschwerte die Sicht, der Asphalt warf das Scheinwerferlicht grell zurück wie ein Spiegel. Der junge Kollege kniff die Augen zusammen.

»In Burg müssen wir nach rechts. Das kenn ich, ist ein schönes Spaziergängergebiet. Mit den Kindern immer ein Erlebnis.«

»Ich glaube, du kannst nicht wirklich nah an den Fundort ranfahren. Wenn ich mich richtig erinnere, stehen da Poller im Weg. Da müssen wir ein ziemliches Stück zu Fuß gehen.«

»Was macht eine alte Dame um diese Zeit im dunklen Wald? Bei dem Regen? Ein Rendevous wird sie nicht gehabt haben – oder sind die neuen Alten jetzt so jung geblieben, dass wir das nicht ausschließen können?«, feixte der junge Ermittler.

»Sie ist dement. Wir werden wohl alles selbst rausfinden müssen. Wahrscheinlich werden ihre Erklärungen schwer verständlich sein. Aber wer weiß, vielleicht ist es ja nur ein frühes Stadium.« Nachtigall seufzte schwer.

»Burg ist nicht gerade ein Hotspot des Verbrechens. Ich kann mir nicht vorstellen, dass hier jemand in der Nacht anderen auflauert, ihnen die Köpfe abtrennt und diese mitnimmt. Surreal.«

»Aber ist es nicht manchmal gerade der kleine Ort, das entlegene Dorf, in dem solche Verbrechen begangen werden?«, hakte Wiener ein.

»Oh, wie im Fernsehen. Dann werden sich die Menschen hier schweigend abwenden, wenn wir Fragen stellen, keinerlei Auskünfte geben. Laut granteln und den Wassermann als Täter anbieten?« Nachtigall lachte leise.

»Na, schau’n mer mal!« Wiener parkte den Wagen beim Hotel Leineweiber. »Dort hinten endet die Straße. Da stehen schon die Wagen der Kollegen. Besser wir parken etwas abseits. Kommen wir schneller wieder weg.«

Er stieg aus und beschwerte sich: »Mann! Es schüttet!«, schlug den Kragen des schwarzen Mantels bis zu den Ohren und zog die Schultern hoch. »Bloß gut, dass ich die knöchelhohen Schuhe anhabe. Der Schlamm würde sonst über den Rand suppen.«

»Mist! Das ist richtig ungünstig. Da finden die Kollegen nur noch aufgeweichtes Erdreich und keine verwertbaren Spuren mehr. Der Kopf muss geborgen werden, vielleicht liegt er in der Nähe des Tatorts.« Nachtigall schob die Hose in die Gummistiefel, zurrte den Schal fester und stapfte neben Wiener los. Zwei schwarze Gestalten im Nebel. Ein gewichtiger Riese, ein schmaler Großer.

»Wir hatten ja schon mal einen Trophäensammler, weißt du noch?«, fragte Wiener. »In unserem ersten gemeinsamen Fall.«

Nachtigall nickte.

Auch dieser Fall würde ihn für den, hoffentlich noch langen, Rest seines Lebens begleiten, zu sehr war er persönlich vom Täter in den Fortgang verstrickt worden.

»Damals handelte es sich allerdings um vergleichsweise kleine Beutestücke, die vom Körper abgetrennt und mitgenommen wurden. Ein Kopf ist ziemlich groß, den kannst du nicht im Weggehen mal kurz einstecken.« Wiener grübelte weiter über das Transportproblem. »Schon des Blutes wegen. Nur einfach eintüten geht nicht. Er muss schon einen besonders dichten, stabilen Plastiksack mitgebracht haben. Oder einen Eimer!«

»Wenn er die Tat so geplant hat. Aber möglicherweise war das nicht der Fall, sondern andere Umstände machten das Enthaupten notwendig. Wir wissen noch nichts, und du spekulierst schon!«, kritisierte Nachtigall maulig und schüttelte sich.

Ob wegen der blutigen Bilder, die seine Fantasie ihm ungebeten bereitstellte, oder des Regens, der ihm in den Nacken lief, blieb offen.

»Und wieso auf dieser Wiese? Eine zufällige Begegnung zweier verfeindeter Nachbarn? Hier?«

Ein junger Kollege in Uniform am Rand der baumfreien Fläche wies ihnen gestenreich den Weg.

»Als ob das nun zu übersehen wäre«, zischte Wiener.

»Ist vielleicht seine erste Leiche, sein erster Mordfall. Da ist er aufgeregt.« Nachtigall hielt auf das Zelt zu, das den toten Körper vor dem Novemberwetter schützen sollte.

Potente Scheinwerfer leuchteten die Szenerie aus, die wie ein Filmset wirkte. Man erwartete jeden Moment, jemanden »Cut« oder »Action« rufen zu hören. Schatten huschten vorbei, tauchten am Rand des Lichts in die Finsternis und waren verschwunden. Gestalten in Schutzanzügen bewegten sich langsam durchs Bild, waren geschäftig bei der Arbeit.

»Hallo, Herr Nachtigall!« Frau Linder, die Leiterin des Erkennungsdienst-Teams begrüßte den Ermittler hoch erfreut. »Wir mal wieder im Team!«

»Ja, das ist positiv für uns alle!«, freute sich auch der Cottbuser Hauptkommissar. »Sie waren lange weg.« »Fortbildung in Amerika. Texas. Body Farm. War lehrreich.«

Nachtigall nickte knapp. »Was haben wir?«

Frau Linder zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt: Nicht viel bisher. Männliche Leiche, unbekleidet, Todesursache noch unklar. Keine offensichtlichen Verletzungen. Aber der Arzt darf ja auch nur den Tod feststellen und muss alles andere der Rechtsmedizin überlassen. Der Kopf fehlt, damit ist die unnatürliche Todesursache anzunehmen – mit dem Leben nicht vereinbar, wie es so schön ausgedrückt wird.«

»Der Kopf wurde noch nicht gefunden?«

»Nein. In der direkten Umgebung haben die Kollegen schon erfolglos gesucht. Bei Tageslicht mag sich alles etwas anders darstellen. Bisher haben wir seine Kleidung nicht sicherstellen können. Vielleicht vergraben. Wie gesagt, bei Tageslicht …« Frau Linder schob die Mütze des Schutzanzugs ein Stück zurück, damit sie ihrem Gesprächspartner ins Gesicht sehen konnte, nahm die Brille ab und wischte die Regentropfen ab. »Vielleicht sollte ich doch über Kontaktlinsen nachdenken«, murmelte sie dabei. »Beschlagen nicht, und es bleiben keine Tropfen hängen.«

Sie zog ein Handy aus der Tasche. »Der Einsatzleiter hat natürlich sofort den Notarzt verständigt. Die alte Dame ist im Klinikum. Aber er hat Fotos von der Situation gemacht. Irgendwie spooky.«

Sie öffnete die Fotodatei.

»Himmel!« Nachtigall war schockiert. »Das gibt’s doch gar nicht!«

Auch Wiener starrte verblüfft auf die Bilder. »Wenn mir das einer erzählte, ich würd’s nicht glauben!«

»Ist ihr denn nicht aufgefallen, dass er keinen Kopf hatte? Dass er schon tot war?« Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. »So was merkt man doch.«

»Offensichtlich nicht unbedingt. Sie hat ja sogar mit ihm gesprochen. Sehr eigenartig. Mit Alzheimer oder Demenz kenne ich mich nicht so gut aus.« Katia Linder lächelte entschuldigend. »Und wenn ich den Arzt richtig verstanden habe, hat die Totenstarre noch nicht eingesetzt. Der Körper war also weder kalt noch steif.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wir haben den Namen der alten Dame?«

»Hiltrud Manecke. Sie wohnt in einem Häuschen auf der gegenüberliegenden Seite der Hauptstraße, kurz vor der Reha-Klinik. Mit ihrer Schwester Elvira Hänsel und deren Tochter Marion.«

»Von dort ist sie unbemerkt abgehauen?«, staunte Wiener. »Im Nachthemd?«

»Tja, sieht so aus. Zumindest ist nicht zu leugnen, dass sie hier war. Wie ihr das gelungen ist, weiß niemand so genau zu sagen. Vielleicht ist sie ja direkt über die Straße gekommen, oder durch das Wohngebiet hier ›Am Waldrand‹ gegangen, dann links abgebogen. Da waren es nur wenige Schritte nach links in den Wald. Oben durch den Nachtigallenweg wäre es eher noch schwieriger. Privatgrundstück.«

»Eine Frau ohne wintergerechte Kleidung, in Hausschuhen … Werden doch nicht alle schon vor dem Fernseher gesessen haben. Wir fahren gleich hin und sehen uns alles an. Normalerweise würde doch den Nachbarn … Ist ja nicht gerade eine einsame Ecke. Spaziergänger mit Hund sind um diese Zeit auch unterwegs. Naja. Bevor wir und das Wohnhaus anschauen, sollten wir schon noch einen Blick auf die Leiche werfen.«

Katia Linder winkte einem der Kollegen aus ihrem Team zu. »Kevin! Vielleicht solltet ihr dort drüben noch mit den Sonden suchen. Nach Plan abgehen, du weißt ja Bescheid!« Zu Nachtigall gewandt versprach sie: »Ich schicke so schnell wie möglich einen Bericht. Was ich jetzt schon sagen kann, ist, dass die alte Dame von dort«, sie wies in Richtung Wald, »gekommen sein muss. Sie ging ziemlich direkt auf die Stelle zu, an der der Körper des Opfers lag. Setzte sich, zog ihn zu sich hoch. Wir haben im Umkreis viele Schuheindruckspuren gesichert. Aber es wird schwierig werden, die des möglichen Täters zu erkennen. Obwohl wir Schleifspuren gefunden haben. Der Täter hat wohl versucht den Körper über diese freie Fläche zu ziehen. Wurde vielleicht gestört, ließ ihn liegen. Und nun spült dieser Regen ohnehin so gut wie alles weg. So eine Scheiße! Sorry.«

Die beiden Ermittler der Mordkommission bekamen Schutzanzüge zugereicht, schlüpften hinein, wichen den Kärtchen auf dem Boden aus, die Fundstellen markierten, traten ans Zelt.

Beugten sich hinunter zur Öffnung.

Nachtigall sah hinein. Brauchte einige Herzschläge, bis er zuordnen konnte, was seine Augen zwar wahrnahmen, sein Hirn aber offensichtlich nur zögernd bearbeiten wollte.

»Großer Gott!« Er drehte sich rasch um, gab den Blick für Michael Wiener frei.

»Ha!« Auch der Kollege atmete tief durch. »Ein Beil wurde da nicht benutzt, würde ich meinen«, kommentierte er dann. »Sieht ausgesprochen unappetitlich aus der Stumpf.«

Der Arzt vom Dienst, der neben dem Zelt unter einem Schirm kauerte, wiegte bedächtig den Kopf. Gab die Todesbescheinigung weiter.

»Nun, ich darf ja nicht Hand anlegen. Der Körper ist nun ein Fall für die Rechtsmedizin. Aber ich würde darauf tippen, dass der Kopf mit einem ganz normalen Messer abgetrennt wurde. Wüste Schnippelei. Die Wundränder sind stark ausgefranst. Keine Angelegenheit, die mit einem präzisen Schlag oder einer besonders scharfen Klinge ausgeführt wurde.«

»Hm.« Nachtigall runzelte die Stirn. »Taschenmesser?«

»Das kann ich nicht beurteilen.« Der Arzt griff nach seiner Tasche. »Da gibt es andere, die kompetenter Auskunft geben können.« Er rappelte sich mühsam aus der unbequemen Position auf. »Aber ich bin Angler. Es gibt Taschenmesser, an denen ist so eine kleine Säge. Wenn man mit der versucht, den Fisch auszunehmen, sieht das Ergebnis ähnlich aus. Oder er hat eine richtige Säge benutzt. Einen handlichen Fuchsschwanz zum Beispiel. Auf Wiedersehen!« Er wandte sich um, wollte offensichtlich zügig diesen grausigen Tatort verlassen.

Eine kleine Waffe, die der Täter ohne Schwierigkeiten bei sich tragen konnte, dachte Nachtigall, das hilft uns nicht wirklich weiter. Und wer geht schon mit einem Fuchsschwanz spazieren?

»Moment!« Wiener hatte sich umgedreht. »Wie lange dauert es, den Kopf so vom Rumpf zu trennen? Richtig schnell geht das doch sicher nicht.« Er ging in die Hocke, betrachtete mit Sicherheitsabstand interessiert die Wunde. »Sieht aus, als habe er mehrfach ansetzen müssen.«

Der Arzt sah zum Zelt zurück, zuckte mit den Schultern.

»Waren Sie schon hier, bevor man die alte Dame abtransportierte?«, wollte Nachtigall noch wissen.

»Nein.« Der Arzt streckte sich, bog probeweise den Rücken etwas durch, hielt sich die Lendenwirbelsäule und verzog das Gesicht. »Rücken. Haben ja viele. Schreibtischarbeit. Aber solche Orte sind auch nichts für mich. Naja. Die alte Dame war natürlich unterkühlt. Sie muss einen stark verwirrten Eindruck auf die Polizisten gemacht haben.« Damit beendete er resolut das Gespräch und stapfte in Richtung Straße davon, wo ein Taxi auf ihn wartete.

Nachtigall und Wiener duckten sich ins Zelt, starrten auf den Körper. »Macht einen sehr sportlichen Eindruck. Und beim oberflächlichen Blick kann ich keine Abwehrverletzungen erkennen. Siehst du? An den Armen keine Kratzer. Der Brustkorb sieht seltsam aus. Aber dazu wird man uns später alles erklären, mehr als uns lieb ist, wahrscheinlich.« Der Hauptkommissar gab dem Freund ein Zeichen und sie traten wieder in den Regen hinaus.

»Mein Name ist Peer Jürgsen. Hallo, Herr Nachtigall! Wir haben die alte Dame und den Toten gefunden. Bizarre Situation. Und tatsächlich wäre ›verwirrt‹ zur Beschreibung ihres Zustandes ein Euphemismus.«

»Das ist gut, dass Sie hier sind«, stellte der Cottbuser Hauptkommissar erleichtert fest. »Wir haben nämlich noch Fragen! Zum Beispiel zur Auffindesituation.« Damit schüttelten sie sich kurz die Hände.

Jürgsen tippte auf das Display seines Smartphones, startete ein Video.

Nach einer Pause, in der alle schweigend auf die Filmsequenz gestarrt hatten, räusperte sich Nachtigall. »Ich verstehe, was Sie meinen. Bizarr trifft es ziemlich genau.«

»Und dabei murmelte sie immer wieder ›Mein armer Kleiner, was haben sie nur mit dir gemacht‹ oder ›was haben sie dir nur angetan?‹ Es war schon unheimlich.« Jürgsen reichte Wiener einen Zettel. »Das ist die genaue Adresse. Die alte Dame ist vom Rettungswagen ins Thiem-Klinikum gebracht worden. Sie war derart durch den Wind, ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass sie wertvolle Informationen zu Ihrer Ermittlung beisteuern kann.«

»Warten wir ab. Manchmal, wenn die Aufregung sich gelegt hat, erinnern sie sich doch«, meinte Nachtigall mit gedämpfter Hoffnung.

5. Kapitel

»Frau Elvira Hänsel?«, sprach Nachtigall die nervöse, ältere Dame im Wartebereich sanft an.

Sie zuckte dennoch heftig zusammen und wich vor der riesenhaften, ganz in schwarz gekleideten Gestalt mehrere Schritte zurück.

»Wir haben Sie nicht gerufen! Noch ist kein Bestatter notwendig. Oder hat mich etwa nur niemand informiert?« Der Ton war kalt, aggressiv. Das Gesicht giftig verkniffen.

»Keine Sorge. Ich bin von der Polizei. Peter Nachtigall ist mein Name, und dies ist mein Kollege Michael Wiener«, bemühte sich der Hauptkommissar, die Aufregung zu dämpfen.

Frau Hänsel nahm die Ausweise, setzte ihre Brille auf, musterte die beiden Männer skeptisch. Seufzte. Gab die Ausweise zurück.

»Scheint ja alles seine Richtigkeit zu haben.«

Eine pensionierte Lehrerin, dachte Nachtigall vorurteilstreu, ganz bestimmt.

»Wir sind wegen Ihrer Schwester hier.«

»Ja, natürlich sind Sie ihretwegen hier. Meinetwegen eher nicht. Ich für meinen Teil finde keine kopflosen Leichen im Nebel!«

Nachtigall war über die Heftigkeit der Reaktion und den boshaften Ton mehr als überrascht. »Ihre Schwester leidet unter Demenz. Sie wohnt bei Ihnen. Ist das richtig?«

Elvira Hänsel lachte böse auf. »Ein Drei-Weiber-Haushalt. Wobei ich nicht weiß, ob meine Schwester sich noch als weiblich erkennt. Sie hat in letzter Zeit ziemlich abgebaut.«

»Aha? Ihr Zustand hat sich also deutlich verschlechtert.«

»Hiltrud hat schon immer sonderbare Dinge getan. Und gesagt! Das war und ist durchaus peinlich, wissen Sie? Ihr Blick auf die Dinge war das eine, andere aber damit zu behelligen, wie man über sie dachte, etwas völlig anderes! Hiltrud wollte das nicht begreifen. Jetzt ist es für alle Versuche einer Umerziehung ohnehin zu spät.« Ihre schneidende, energische Stimme bekam einen verbitterten Oberton.

»Sie hat andere beleidigt?«, hakte Nachtigall vorsichtig nach. »Freunde vor den Kopf gestoßen? Vergrault?«

»Anzeigen haben wir bekommen. Zum Beispiel wegen übler Nachrede! Sie beschwerte sich lautstark über unseren Nachbarn, behauptete, sein Verhalten sei typisch – typisch Alkoholiker. Er musste sich einer peinlichen Befragung unterziehen. Immerhin arbeitet er in einem sensiblen Bereich, ist Pilot!« Die alte Empörung hatte nichts von ihrer brennenden Hitze verloren und behauchte Elvira Hänsels Wangen mit einem rosigen Touch.

»Aber nun ist sie verwirrt«, führte Wiener das Gespräch unsanft zum Kern des Problems zurück.

»Ja. Kann man so sehen.« Das kam erneut ziemlich patzig. Frau Hänsel hätte offensichtlich gern weitererzählt. »Jetzt ist sie offiziell nicht mehr für Ihr Tun verantwortlich. Wie praktisch!«

Ihre faltigen Hände flatterten aufgeregt über die bläulichen Locken, griffen hinein, schoben Strähnen hin und her. Die blassgrauen Augen huschten den Gang entlang, kehrten dann beinahe unwillig zu den beiden Ermittlern zurück.

»Was wird denn nun mit ihr?«, fragte sie dann sachlich.

»Inwiefern?« Nachtigall war leicht irritiert.

»Nun, sie hat jemanden ermordet! Es wird wohl Konsequenzen haben. Oder darf man das jetzt so einfach?«, fragte sie mit gespielt erstauntem Gesichtsausdruck.

»Sie halten es für möglich, dass Ihre Schwester selbst den jungen Mann getötet hat?« Nun war es an Nachtigall verblüfft zu sein.

»Muss sie ja wohl! Freiwillig hat sich in ihrem ganzen Leben noch nie ein Mann in ihren Arm gekuschelt.«

Nachtigall spürte die eisige Kälte. Offensichtlich hatten die Schwestern kein liebevolles Verhältnis zueinander. Schicksalhaft aneinander gekettet, so schien es ihm. Die drei Frauen lebten sicherlich einen anstrengenden Alltag mit vielen Haken und Ösen.

»Hätte sie denn genug Kraft für eine solche Tat?«, bohrte Wiener nach.

»Wo ein Wille, da ein Weg. Hiltrud tut nur so schwächlich, wenn es ihr günstig erscheint.«

Als der diensthabende Arzt zu ihnen trat, waren die Ermittler erleichtert, Frau Hänsels Hass ausweichen zu können.

»So, Frau Hänsel. Ihre Schwester schläft nun. Am besten fahren Sie nach Hause und kommen nach dem Frühstück wieder. Wenn medizinische Entscheidungen Absprachen benötigen, werden wir selbstverständlich mit Ihnen Kontakt aufnehmen. Falls Sie ein Taxi benötigen, kann Ihnen die Schwester …«

»Nein! Ich fahre mit meiner Tochter. Sie wird gleich hier sein. Vielen Dank!« Mit hartem Schritt, um das energische Stampfen mit ihrem Stock erweitert, ging sie in Richtung Fahrstuhl zurück. Über die Schulter rief sie zurück: »Passen Sie gut auf, dass sie nicht verschwindet. Das tut sie gern. Und geben Sie den beiden Herren hier gern Antworten auf all ihre Fragen! Es geht schließlich um Mord.«

»Und Sie wünschen?«, erkundigte sich der untersetzte Mediziner der Nachtschicht etwas gereizt. »Ich verstehe gar nicht, was heute um diese Zeit los ist.«

Nachtigall übernahm die Vorstellung.

»Wir wüssten gern, wie weit die Hirnfunktion bei Frau Manecke eingeschränkt ist. Ist sie orientiert? War sie möglicherweise mit dem jungen Mann verabredet?«

Der Arzt reagierte konsterniert. »Kriminalpolizei, aha. Was hat man Ihnen denn erzählt? Wir reden doch über die Patientin, die den Leichnam gefunden hat? Oder gab es noch einen ähnlich gelagerten Fall?«

»Hoffentlich nicht. Frau Manecke wurde neben dem Opfer aufgefunden. Wir haben bisher nur die allgemeine Information bekommen, dass sie dement sei. Mehr nicht. Und als man sie fand, hat sie wohl wirr geredet.«

»Es gibt sehr unterschiedliche Formen von Demenz, verschiedene Schweregrade, unterschiedliche Ursachen. Durchblutungsstörungen im Hirn zum Beispiel können dafür verantwortlich sein, die Alzheimersche Krankheit, allgemeine Hirnabbauprozesse durch ungesunde Lebensweise. Manchmal ist auch Stress zumindest mitverantwortlich.«

»Und bei Frau Manecke?«

»Das weiß ich noch nicht! Als sie auf Station kam, war sie deutlich verstört, verstand nicht, was mit ihr gerade geschah. Stand völlig neben sich, wenn Sie es so ausdrücken wollen. Aber wäre das bei so einer Situation nicht normal? Sie hat einen Leichnam gefunden. Da wären viele von uns, die wir glauben, unser Hirn funktioniere prachtvoll bis zufriedenstellend, auch völlig durch den Wind. Und diese Schwester von ihr war nun auch nicht gerade hilfreich.«

»Frau Manecke stand neben sich, sagen Sie? Wie bei einem Durchgangssyndrom?«, fragte Wiener. »Ein Freund von mir hatte so was nach einem schweren Motorradunfall. War eine anstrengende Zeit für alle. Sie hält sich für jemand anderen und hat keine Ahnung, in welchem Jahrtausend sie lebt?« Er zückte sein schwarzes Notizbuch.

»Ähnlich. Sie weiß nicht, wer sie ist, wo sie ist, warum sie hier ist und was passiert ist. Frau Hänsel meinte, ihre Schwester sei schon manchmal nicht ganz bei sich, aber so schlimm sei es sonst nicht.«

»Wird ihr wieder einfallen, warum man sie ins Klinikum gebracht hat? Und was sie dort auf dem Feld wollte?«, fragte Nachtigall.

Der Arzt wand sich. Bewegte den ganzen gewichtigen Körper, während er über die Antwort nachdachte. Sein Gesicht durchlief alle Stadien von Skepsis, Hoffnung und Zuversicht, pegelte sich schließlich zwischen Skepsis und Hoffnungslosigkeit ein.

»Wahrscheinlich nicht«, entrang er sich endlich.

Peter Nachtigall sah auf den Mediziner hinunter, die rechte Augenbraue ruckte hart Richtung Haaransatz und verharrte dort.

Abwartend.

Unzufrieden.

Der feiste Arzt begann erneut, holte diesmal deutlich weiter aus. »Selbst wenn es ihr einfallen würde, könnte sie sich nicht daran erinnern wollen, es schlicht nicht zulassen. Es war beängstigend, bedrohlich – Gefühle, die sie wahrscheinlich nicht gut aushalten kann, weil die Demenz allein schon oft genug verwirrende Dinge im Denken produziert. Sie wird vielleicht nicht zulassen wollen, dass diese erschreckenden Bilder wieder konkrete Erinnerung werden. Ich hoffe, das klingt in Ihren Ohren nicht nach Ausflucht.«

»Aber eine Flucht ist es schon, nicht wahr? Sie verbietet den Bildern zu ihrer Vergangenheit zu gehören und belügt damit sich selbst.« Nachtigall war ungeduldig. »Selbstschutz.«

»Ja«, bestätigte der Arzt. »Es ist legitim, die eigene Psyche vor dem Schrecklichen zu bewahren.«