Gerhard Engelsberger
Wunderwege
Sinngeschichten
und Impulstexte
Gütersloher Verlagshaus
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
ISBN 978-3-641-11418-3
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geh staunen
nimm
ein Kind
an der Hand
lass dich
führen
Kinder
wissen
den Weg
nimm mit
einen Schirm
ein Täschchen
wenige Münzen
keinen Plan
dann geh
du wirst
dich
wundern
Inhalt
Vorwort
Adam, steh auf
Für Bibelkundige
Engel leuchten den Weg
Für Wegsucher
Die Schnecke
Für Geschwindigkeitsfans
Was ist ein Wunder?
Für Menschen, die sich noch wundern
Unterwegsmenschen
Für Menschen an Flüssen
Schutzengel
Für Menschen, die Geleitschutz brauchen
Rechtslastig
Für Menschen mit Gespür
Inselgedanken
Für Belastete
abschüssig
Für Menschen, die fliehen
Träfe ich einen (für Lukas)
Für Menschen mit Selbstzweifeln
Kraut oder Unkraut
Für Pflanzenfreunde
geh
Für Menschen mit Entdeckerlust
Keine Fragen mehr
Für Menschen mit vielen Fragen
Ein Teil des Wunders
Für Menschen, die staunen
Geh mit den Enkeln spielen, Noah (für Jona)
Für Großmütter und Großväter
ohne Absicht
Für Absichtslose
Kreuzwege
Für Menschen, die sich verloren wähnen
Kein leeres Blatt
Für Bescheidene
… dachte ich (für Paul)
Für Übelgelaunte
Platte mit 78 Umdrehungen
Für »schnelldrehende« Unsichere
Es war einmal
Für Menschen, die Alternativen lieben
Der Reißverschluss
Für Weglose
Über die Brücke gehen
Für die Forschen
In Lebenskrisen
Für Menschen, die begleitet werden
Ich bin
Für Querdenker
Nicht verirrt
Für Menschen, denen das Miteinander wichtig ist
Gebet
Für Menschen, die den Tag vor dem Abend loben
Sie hatte wenig, außer sich selbst
Für Menschen, die (fast) selbstverständlich lieben
Gefragt I
Für Menschen beim Suchen nach der Himmelsrichtung
Eines Tages
Für Menschen, die ihre Grenzen erkennen
Vater unser – Kurzfassung
Für Eilige
Suchet der Stadt Bestes
Für Hilfsbereite
Im Vorbeigehen lieben
Eine Warnung für »vorübergehend« Liebende
abseits
Für Touristen
Ich habe heilige Orte erlebt
Für Besuchende
Vom Wollen und Dürfen, vom Können und Bleiben
Für Menschen, die die Offenheit und Weite lieben
Schrumpfen und andere Heilmittel
Für Rechnerinnen und Rechner
Zur Heilung stolpern
Für Menschen ohne Uhren
… und in kürzeren Sätzen
Für Menschen mit Sitzfleisch
Gotteshaus
Für Menschen, unterwegs mit Wohnwagen
Sie stand an meiner Tür
Für Menschen, die in ihrer Krankheit vertrauen
Gefragt II
Für Wegweiser
Bruder Gott und die Demut
Für Ungeduldige
Nur ein Wort
Für Hörende
Der Tag, an dem die Fernseher Füße bekamen und das Laufen lernten
Für Fernbedienungen und ihre Bediener
Wes Geistes Kind
Für Menschen, die sich an alten Bekenntnissen orientieren
Schmetterling
Für Menschen in schlanker Schwebe
Ein Neuer ist gekommen
Für Zurückhaltende
Geleitflug ins Leben
Für Eltern
Es war an einem Mittwoch
Für Menschen über 70
Mensch Kain, warum?
Für Soldaten
Herz an Herz
Für Menschen, die Kirche (be)suchen
Gefragt III
Für Menschen – unterwegs zur »heiligen Stadt«
Die Leichtigkeit des »nebenbei«
Für Menschen unterwegs
Wir sind Bettler
Für Reisende
Mikrokosmos und Makrokosmos
Für Menschen, die am Himmel Wege suchen
Ich sah (für Amelie)
Für die Sehenden
Papierschiffchen auf dem Fluss
Für Menschen, die es nicht abwarten können
Sternstunden
Für Menschen mit Hemmungen
Jesus seilt sich ab und tankt auf
Für Menschen, die Stille suchen
Meine Liebe zu Lots Frau
Für Menschen, die widersprechen
Der Schlüsselbund
Für Menschen, die lieber Steine sammeln, als Steine zu werfen
Geheilt entlassen
Für Gekränkte
morgen
Für Sehnsüchtige
Mehr als ein flüchtiges Streicheln
Für Menschen, denen Segen zugesprochen wird
Segen
Für Menschen mit offenen Händen
Am Beispiel des Rizinus: Zwischen Ökologie und Kommunalpolitik
Für Loser
Kein Brotkönig
Für Menschen, für die Teilen Heilung bedeutet
Gleichnis
Für Hilfsbereite
Organischer Nachschub im Garten des Menschlichen
Für Naturverbundene
Ali, Anthony und andere
Für Menschen mit Freunden aus der einen Welt
Von Brunnen und Quellen
Für Menschen, die Quellwasser lieben
Ein vorsichtiges Ja
Für Menschen, die angekommen sind
Münze in kleiner Hand
Für Menschen, die teilen mit Sommerhänden
Wer uns segnet
Für Menschen, die gesegnet sind
Wie lernt man, was es heißt, Christ zu sein?
Für Menschen auf der Suche nach Wahrheit
mit Sommerhänden
Für Wintermenschen
Tisch ohne Grenzen
Für Menschen mit Heimat
Die Quelle des Lebens
Für Menschen, denen Gott ein Rätsel ist
Höre auf, dein Kind anzuhimmeln. Beginne, es zu lieben
Für Menschen, die Jesus Christus trauen
Wer steht für den anderen auf?
Für Menschen, die die Enge meiden
Agenda oder Acta
Für Menschen, die Jesu Acta vertrauen
Was am Ende bleibt
Für Zauderer
Anmerkungen
Vorwort
Wanderwege und Wanderführer gibt es millionenfach.
Wunderwege, gar Wunderführer sind äußerst selten.
Die Schriften der Religionen sind Kostbarkeiten.
Die Bibel ist mir der wichtigste Wunderführer.
Der Mann aus Nazareth, so die übereinstimmende Meinung seiner Zeitgenossen, ging Wunderwege. Ihnen zu folgen ist eines der Ziele dieses Buches.
Dabei bin ich mir gewiss, dass Wunderwege von Haus zu Haus führen, Mensch und Mitmenschen verbinden. Wunderwege sind kunterbunt, gehen kreuz und quer, vor und zurück, widerstehen gelegentlich dem »Fort-Schritt«. Natürlich gibt es darunter auch Umwege. Aber sie führen immer von Tür zu Tür.
Jesus war kein Heiler, den man bestellen konnte.
Seine Wege waren bekannte Wege. Wege, die von vielen gegangen wurden. Seine Schritte waren kurz. Er hat nicht »weit-ausgreifend« geheilt.
Jesus war ein Weg-Mensch. Ging zu den Menschen. War ein Unterwegs-Heiler.
Jesus war ein Jahr unterwegs. Eines der Evangelien erzählt von drei Jahren.
Siddharta Gautama (Buddha) blieb 45 Jahre am Ufer des Neranjara-Flusses bei Bodhgaya unter einer Pappelfeige sitzen.
Mohammeds Hidschra dauerte jahrelang.
Man kann daraus keine »religiöse Pflicht« ablesen: Bleiben und Gehen sind offensichtlich dem einen Gott zweitrangig.
Wunder, das werden wir in diesem Buch entdecken, darf man nicht verwechseln mit Zauberei. Wunder haben eine Tiefendimension, die die Seele erreicht. Wo beim Zaubern allenfalls das Rätsel hinter dem Trick offen bleibt, lässt das Wunder eine verwandelte Seele zurück. Als ob für einen kürzesten Augenblick das Innerste nach außen gekehrt gewesen wäre. Weil Wunder diese Tiefendimension haben, bleiben sie auch »innen« haften. Es bleibt so etwas wie ein »Nachleuchten«.
Mehr und mehr junge Eltern rechnen mit Schutzengeln für ihre Kinder. Sie scheinen die Wunderwege auszuleuchten. So möchte auch ich wieder klein beginnen: Ich darf das zusammen mit vier Enkeln, mit Lukas, Amelie, Jona und Paul, denen ich viele Wunderwege und die nicht nachlassende Fähigkeit, zu staunen, wünsche. Ihnen seien die »Wunderwege« gewidmet.
Gerhard Engelsberger, im Advent 2014
Da erschien der Engel des Herrn
dem Josef im Traum und sprach:
Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter
mit dir und flieh nach Ägypten …
Da stand er auf
und nahm das Kindlein
und seine Mutter mit sich
bei Nacht und entwich nach Ägypten.
Matthäus 2,14
Adam, steh auf
Adam
jetzt
endlich wirst du der Fesseln ledig
deine Füße stehen auf weitem Raum
der Engel vor dem Paradies hat sich zurückgezogen
deine Kinder opfern auf einem gemeinsamen Altar
Eva spielt mit ihren Enkeln am Nest der Natter
Menschen gehen ihre Wege ohne Kainsmal
niemand wird verfolgt wegen der Sünde der Väter
Mauern fallen
keiner bewacht Brücken
ein jeder gibt mit Sommerhänden
Adam
steh auf
Für Bibelkundige:
Und Gott der HERR machte Adam und seiner Frau Röcke von Fellen und zog sie ihnen an. … Und er trieb den Menschen hinaus und ließ lagern vor dem Garten Eden die Cherubim mit dem flammenden, blitzenden Schwert, zu bewachen den Weg zu dem Baum des Lebens. (1. Mose 3,21.24)
Engel leuchten den Weg
Er trägt im Matthäusevangelium keinen Namen.
Er ist (nur) »der Engel des Herrn«.
Er kennt die Gefahr.
Er kennt einen Fluchtweg.
Er sorgt dafür, dass das Wunder nicht gefährdet wird.
Zwischen Weihnachten und Epiphanias,
zwischen heute und morgen ein Engel.
Engel leuchten die Stille aus.
Sie schenken dem Wanderer leichte Wege.
Tragen Kostbarkeiten.
Säumen dem Gefährdeten den Weg.
Sie bergen den Träumer mit sanfter Hand
und leuchten dem Müden ein heiteres Dach.
Für Wegsucher:
Denn ich glaube, dass ein guter Engel Gottes ihn geleitet und alles zum Besten lenkt, was ihm begegnet, sodass er in Freuden wieder heimkehren wird. (Tobit 5,29)
Die Schnecke
Die Schnecke
trägt alles bei sich,
gleitet über Hindernisse,
sucht lichtes Grün,
streckt ihre Fühler aus,
hat einen weiten Horizont,
kennt keine Wegweiser,
bleibt bei sich,
duldet Umwege,
hat alle Zeit der Welt
und kommt an.
Es gibt Tiere
des Himmels, der Erde und unter der Erde,
die Grenzen schneller überwinden,
Höhen und Tiefen bezwingen und
dem Menschen gewachsen sind.
Die Schnecke kümmert das nicht.
Das Schneckenhaus gleicht dem Labyrinth,
dem träumerischen Suchweg der Gelassenen,
dem heiteren »Minitop« des Entschleunigten.
Für Geschwindigkeitsfans:
Ihr sollt wissen, meine lieben Brüder: Ein jeder Mensch sei schnell zum Hören, langsam zum Reden, langsam zum Zorn. (Jakobus 1,19)
Was ist ein Wunder?
Was ist ein Wunder?
Eine Mutter sagt mir: Schauen Sie sie sich doch an, drei Monate. Gesund, und wie sie lacht und wir uns mögen. Wie alles so gut geht.
Was ist ein Wunder?
Ein Mann, Jahrgang 28, am Kriegsende noch beim Volkssturm, Elternhaus zerbombt. Mutter tot. Vater in Gefangenschaft. Mit 17 schon mit dem Leben am Ende. Dass dann noch was kam, nach dem Krieg, dass da noch was Gutes kam! Dass aus mir jungem Gauner, der die Zonen passierte wie der Wind die Grenzen, der manchen Mist gebaut hat und noch mehr, dass aus mir ein Mensch wird, mit – mit Enkeln!
Was ist ein Wunder?
Im Dezember hitzefrei, sagen die Kindergottesdienstkinder. Oder wenn Käpt’n Blaubart mal keine Geschichte mehr einfällt. Oder wenn meine Oma erklären kann, was Abseits im Fußball ist.
Was ist ein Wunder?
Staunen. Kopfschütteln. Vor Freude weinen. Sich nach dem verflixten siebten Ehejahr immer noch lieben, oder gar noch mehr.
Irgendwie spüren wir alle: Wenn wir »Wunder« sagen, dann haben wir die Finger selbst nicht im Spiel. Das kommt von außen, das ist überraschend. Eher so etwas wie Geschenk und Gabe, wie hitzefrei im Dezember und Leben nach dem Tod.
Albert Schweitzer hat das »Staunen« so übersetzt: Ehrfurcht vor dem Leben, sagt er. Und Leben? Leben ist nicht nur meines!
Ich sammle kleine und große Ammoniten. Als diese Tiere in ihren meerestauglichen Riesenschneckenhäusern lebten, gab es noch keine Menschen. Erst seit einer Sekunde auf einer »Weltzeituhr« gibt es Menschen.
Angesichts dessen, was wir anrichten, und angesichts dessen, was wir Gutes tun könnten, frage ich mich: Was eigentlich ist der schnelllebige Mensch? Der in einer Sekunde zerstört, was ein anderer in 24 Stunden aufgebaut hat.
Was als erste Lektion bleibt, ist das Staunen über eine Ähre, einen Ammoniten, ein Kind, die Milchstraße und die Liebe unter den Menschen.
Für Menschen, die sich noch wundern:
Er tut große Dinge, die nicht zu erforschen, und Wunder, die nicht zu zählen sind. (Hiob 9,10)
Unterwegsmenschen
Nächtelang unterwegs.
In fließenden Gewässern
sind meine Zehen auf Kieseln zu Hause.
Haben meine unsicheren Füße endlich einen Stand.
Wir kennen uns.
Mitten im Fluss spricht er mich an:
Ausgeträumt?
Fragt er.
Geht noch!
Sage ich.
Oben oder unten,
Gehen oder Bleiben,
Zögern oder Hasten.
Erinnerungen sind Fragmente.
Ich erinnere mich an eine junge Frau
auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Eberbach.
Ein frohes Lachen auf ihrem Gesicht. Sie ging allein.
Und lachte fröhlich.
Begegnungen auf Zebrastreifen oder Bahnhöfen – Fragmente.
Halte sie ins Licht.
Fragmente im Licht leben im Widerspruch.
Lichter und Schatten, Kommen und Gehen.
Wird alles gebrochen.
Ohne Brechen kein Leuchten.
Alles stimmt und nichts bleibt.
Nichts geht, alles bleibt.
Nichts stimmt und alles geht.
Wie soll einer wissen?
Was für eine Hybris, wollte einer urteilen.
Einer, der sieht, bleibt stehen.
Bis das Sehen vorbei ist.
Es bleibt.
Es leuchtet dir schwächer.
Morgen noch.
Solang du stehen bleibst.
Bei abnehmendem Wunder bleibt ein Schein.
Morgen ist heute nur gestern.
Und gestern war heute nur morgen.
Und »jetzt« ist danach nur vorbei.
Mit Zeit gehen wir rücksichtslos um.
Am Horizont sehen wir nur Grenzen.
Wenn du – unterwegs – zurückschaust,
ist die Grenze immer ein Neubeginn.
Doch die Alten haben es schon verstanden: Alles fließt.
Deshalb: Zum fließenden Wasser gehen.
Dunkles vergessen.
Die Nacht vertagen.
Und dann: Die Füße in den Fluss halten.
Stromabwärts.
Nicht gleich wieder in die Stiefel.
Du brauchst Geduld für ein Zeichen.
Du brauchst Zeit für eine Offenbarung.
Für ein Wunder brauchst du ein Leben.
Und offene Hände.
Klare Augen.
Weite Arme.
Und ein geweitetes Herz.
Für Menschen an Flüssen:
Du gibst meiner Seele große Kraft. (Psalm 138,3)
Schutzengel
Bei Karl Rahner las ich: »Am ersten Septembersonntag feiert das katholische Volk den Schutzengelsonntag und weiht den Monat im September der besonderen Verehrung jener seligen Geister, die Gott uns zur Seite gestellt hat, damit sie uns dorthin geleiten, wo sie sind … Wenn der Mensch so seinen Weg durchs Leben zieht, dann gehen immer zwei dieselbe Straße: der Schutzengel und der Mensch, und beide schauen unverwandt aus nach Gott.«1
Sofort stellten sich Erfahrungen und Fragen ein.
Erfahrung: Gebe ich Taufeltern 100 Bibeltexte zur Auswahl für meinen Taufspruch ihres Kindes, dann wählen ca. 60 Prozent den »Schutzengeltext« aus Psalm 91,11: »Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.«
Fragen: Ist unsere durch und durch organisierte, digitalisierte, transparente und vernetzte Welt offen geworden für Wunder?
Müssen wir nach 200 Jahren Aufklärung vielleicht wieder klein beginnen, wir Kinder des Universums?
Ich gehe über unseren großen Friedhof. Meist sind auf den Friedhöfen Kindergräber an einem besonderen Ort versammelt. Dort allerdings finden sich auf den Gräbern auch viele kleine, meist putzige, gelegentlich wohlgenährte, in der Regel beflügelte Engel.
Haben die »Schutzengel« an diesen familiären Trauerorten besonders versagt?
Oder brauchen die jungen Eltern eine Hilfe, die wir mit unserer Wortlastigkeit nicht zu geben vermögen?
Warum bin ich so kritisch bei dem Engelboom auf Kindergräbern?
Weil meine Worte hilfloser sind als der Gipsengel?
Weil ich »gut reden« habe?
Für Menschen, die Geleitschutz brauchen:
Er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen. (Psalm 91,11)
Rechtslastig
Man erkennt ihn am Schritt, weil er etwas rechtslastig hinkt.
Das wird so mit den Jahren, sagt er fröhlich auf der Bank am Rhein, auf der er neben mir zum Sitzen kommt. Tragetasche, Mantel auf, Märzsonne ins Gesicht.
»Schau dir den Kahn an«, sagt er, »kommt alle vierzehn Tage. Amsterdam und retour«, sagt er. »Kohle.« – »Und dann leer wieder runter in einem Affenzahn.«
Und tatsächlich. Er winkt dem Mann auf der Brücke. Der winkt zurück. Und schickt noch ein kurzes Signalhorn zu uns.
»Fast war ich zu spät«, sagt er. »Wir kennen uns. Alter Kumpel von mir. Sechs Tage rauf, drei Tage runter. Und dann geht’s wieder neu los. Immer unterwegs.«
Wie er heißt, frage ich vorsichtig.
»Wie er heißt, weiß ich nicht. Sein Kahn ist die ›Aaltje‹.«
»Die Alte«, sage ich, »das ist aber ein komischer Name.«
»Nee«, sagt er, »›Aaltje‹. Das heißt so viel wie Edle. Sie können auch Adelheid sagen. Ist eh nicht mehr so, wie es war.«
»Ist eh nicht mehr so, wie es war?«
»Ja, was soll man sagen. Ist eine Nelina dazwischengekommen. In Dortmund oder was früher. Und dass Sie nicht mehr fragen müssen: Nelina ist auch aus Holland und heißt ›die Strahlende‹. Und so ist der Kerl mit der Nelina auf der ›Aaltje‹ Rhein rauf und Rhein runter getuckert. Kein Spaß. War echt so.«
Pause.
»Jetzt kocht die edle Adelheid bei Robin auf der Laura. Haste nicht gedacht! Hat nach Belgien geheiratet. Ist jetzt auf der Maas am Putzen.«
»Und woher wissen Sie das alles?«
»Was für eine Frage. Ich bin doch jeden Tag hier. Oben am Kiosk kennen die alle, die kommen und gehen.«
Dann zieht er aus seiner rechten Manteltasche (rechtslastiges Hinken) eine Flasche Barnetti Rosso.
»Zweifünfzig oben am Kiosk«, sagt er.
»Billig, aber gut. Nimm ’nen Schluck. Schadet nichts. Und ist vom Pfarrer.«
»Vom Pfarrer?«
»Also – wenn du einen Tipp brauchst unter Freunden: Über die Brücke, bei den Katholiken kriegst du nichts, in Christus erst recht nicht, Trinitatis ist tote Hose, bleib in der Nähe vom Bahnhof. Traitteurstraße, Friedenskirche. Nicht jammern. Eher einen auf Kumpel machen, dann gibt der dir auch mal Geld. Sonst nur Essensgutscheine. Kann man auch tauschen, aber bestenfalls eins zu zwei. Nun trink schon.«
»Ich muss jetzt«, sage ich.
»Dann lass dich nicht aufhalten«, sagt er.
»Man sieht sich«, sage ich.
»Sagst du«, sagt er.
Für Menschen mit Gespür:
Tragt keinen Geldbeutel bei euch, keine Tasche und keine Schuhe, und grüßt niemanden unterwegs. (Lukas 10,4)
Inselgedanken
Jeder Mensch braucht geschützte Orte
mitten im alltäglichen Geben und Nehmen,
Kommen und Gehen.
Jeder Mensch braucht Inseln im Alltag.
Wo ist deine Zuflucht?
Wo ist der Ort,
an dem du die Augen schließen,
die Hände in den Schoß legen
und deine Gedanken gehen lassen kannst
ohne Angst?
Es ist ein Geschenk,
wenn Menschen Orte finden,
an die sie sich zurückziehen können,
umfriedete Räume, Refugien,
die je eigene Insel,
Zuflucht für Körper und Seele.
Für Belastete:
Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde auch dort deine Hand mich führen und deine Rechte mich halten. (Psalm 139,9.10)
Und sie standen auf
und stießen ihn zur Stadt hinaus
und führten ihn an den Abhang des Berges,
auf dem ihre Stadt gebaut war,
um ihn hinabzustürzen.
Aber er ging mitten
durch sie hinweg.
Lukas 4,29.30
Und er verließ Nazareth,
kam und wohnte in Kapernaum,
das am See liegt
im Gebiet von Sebulon und Naftali.
Matthäus 4,13