Die Umbrüche der Weimarer Republik treffen Georg mit voller Wucht. Bald weiß er nicht mehr, woran er noch glauben soll. Mal wird er für seine Artikel im Morgenboten gefeiert, mal droht man ihm mit Kündigung. Auch Georgs Liebesleben ist äußerst turbulent. Soll er sich für den jungen Fred entscheiden? Oder doch für Beate?
Siegfried Kracauer, geboren 1889 in Frankfurt am Main, war Schriftsteller, Soziologe, Geschichtsphilosoph und Feuilletonist. Bis 1933 schrieb er für die Frankfurter Zeitung. Er emigrierte über Frankreich in die USA und starb 1966 in NewYork. Sein Werk erscheint im Suhr-kamp Verlag.
Siegfried Kracauer
Georg
Roman
Suhrkamp
Die vorliegende Ausgabe folgt Siegfried Kracauer, Werke, Band7: Romane und Erzählungen, hrsg. von Inka Mülder-Bach, unter Mitarbeit von Sabine Biebl. Frankfurt am Main 2004, Suhrkamp Verlag, S. 257-516, 633-639.
Umschlagfoto: Paul Wolff, Taxistand im nächtlichen Frankfurta m Main, 1930 © Dr.Paul Wolff & Tritschler, Historisches Bildarchiv, 77654 Offenburg
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Erste Auflage 2013
suhrkamp taschenbuch 4459
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1973
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2013
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Als Georg vor der Haustür stand, war es genau neun Uhr. »Um neun also«, hatte Frau Heinisch gestern am Telefon gesagt, »ich freue mich sehr.« Aus Angst, daß ein zu pünktliches Erscheinen als ungewandt gelten könnte, läutete Georg nicht, sondern machte kehrt und ging um den Häuserblock herum. Es fröstelte bereits, und überhaupt hätte er den Abend lieber mit Fred verbracht. Aber die Einladung abzulehnen, war nicht gut möglich gewesen, nachdem er einmal seine Empfehlung bei Frau Heinisch abgegeben hatte. Wie ihm jetzt einfiel, erklärte sich die Lautlosigkeit in den Straßen einfach daraus, daß die Trambahnen nicht fuhren. Am Vormittag sollte es einem Extrablatt zufolge zu blutigen Zusammenstößen zwischen den Streikenden und der Polizei gekommen sein. Obwohl auch im Sommer Streiks stattgefunden hatten, verband er doch unwillkürlich mit ihnen die Vorstellung von Kälte. Übrigens erfolgten Straßenkämpfe gewöhnlich in seiner Abwesenheit, ohne daß er sie je mit Vorbedacht mied.
»Das ist wundervoll, daß Sie mir endlich das Vergnügen machen«, empfing ihn Frau Heinisch. Trotz der Ausgedehntheit des Häuserblocks, den er umstrichen hatte, war noch niemand zugegen. Sie lächelte und Georg lächelte höflich zurück. Ihre Stimme war sanft. »Was sagen Sie zu dem Streik? Die Revolution ist in ein schwieriges Stadium getreten, und wir alle müssen unsere Kräfte aufs äußerste anspannen. Sie treffen es heute abend besonders gut. Wir erwarten nämlich einen Herrn Berg, der aber in Wirklichkeit nicht so heißt. Er wird uns interessante Dinge erzählen …« Georg erfuhr, daß es sich um eine bekannte, auf der Durchreise befindliche Persönlichkeit handelte, die wegen ihrer Teilnahme an der Münchener Räterevolution steckbrieflich verfolgt wurde. Frau Heinisch verschwieg ihm den Namen. Aus dem Hintergrund blitzte eine Glasvitrine, auf dem Tisch lag ein rotes Buch.
Die Besucher, die nach und nach den Salon füllten, gedachten alle bei ihrem Eintritt sofort des Streiks; als kämen sie aus einem Schneegestöber und müßten zunächst die Flocken abschütteln. Georg kannte niemanden von ihnen, während sie sämtlich mit einander verbunden waren. »Er wird bald hier sein«, begrüßte Frau Heinisch jeden neuen Gast. Er war Herr Berg. Manchmal nannte sie ihn nur Berg, woraus zu schließen war, daß es außer dem weiteren Kreis noch einen intimen Zirkel der Eingeweihten gab. Seinen Mittelpunkt bildete ersichtlich Frau Bonnet, eine üppige Dame in Schwarz, deren Anwesenheit Georg befangen machte, weil er sich erinnerte, ihren Namen schon öfter auf den Litfaßsäulen gelesen zu haben. Sie hielt Vortragszyklen über die Revolution und die neue Zeit. Ihre Schwärze rührte weniger von dem Kleid her, als von den Augenbrauen, die sich wie eine Urwaldzone ohne Lichtung über die Nase hinzogen. Als sie zu sprechen begann, schien der ganze Urwald zu flammen, eine solche Helligkeit strömte von ihr aus. Die schwarze Hülle war geschwunden, und ein strahlender Innenraum tat sich auf, dem schöne Melodien entstiegen. Dabei nahm sie eigentlich nur wie andere auch die Arbeiter in Schutz und verurteilte das Vorgehen der Polizei. Aber das waren keine gewöhnlichen Arbeiter mehr, sondern Menschen, deren Inneres gleich dem ihren strahlte, und sogar die Polizei bestand aus irregeleiteten Brüdern und Schwestern. Alle stimmten wie selbstverständlich zu, und Georg folgte äußerlich ihrem Beispiel. Er schämte sich, denn er war noch nie auf den Gedanken gekommen, daß die Menschen im Grunde gut sein könnten. So sehr er sich jetzt bemühte, an ihre Güte zu glauben, es wollte ihm nicht gelingen, und er wurde nur immer trauriger. Ein Mädchen neben ihm starrte fortwährend Frau Bonnet an, über der wieder der Urwald zusammengewachsen war. Das Mädchen trug ein buntes Gewand und machte große Augen, die vor Ergriffenheit glühten. Wahrscheinlich brannte es inwendig, sein Gesicht war so bleich. »Die Sache mit Tschudi ist nachgerade ein Skandal«, sagte ein Herr, der hinter einer Stuhllehne stand. Frau Heinisch befand sich auf einmal bei Georg und flüsterte ihm zu, daß der Herr der Mann von Frau Bonnet sei und seinen Künstlerberuf seit langem vernachlässige, um, wie seine Frau, für die Verwirklichung des Sozialismus zu kämpfen. »Die Menschen sind heute wundervoll aufgeschlossen.« Da Georg sich keine Blöße geben wollte, blieb er lieber zugeschlossen und vermied, sich bei ihr zu erkundigen, was es mit Tschudi für eine Bewandtnis habe. Sie erhob sich schon wieder. Daß Herr Bonnet sich über Tschudi entrüstete, war gar nicht so leicht zu erraten. Sein gelangweilter Tonfall erweckte vielmehr den Eindruck, als ob ihm Tschudi völlig gleichgültig sei, und wenn er Schweinerei sagte, klang es wie ein einziges Gähnen. »Danke sehr«, erwiderte Georg, froh, einmal sprechen zu dürfen, und erbat sich zwei Stück Zucker zum Tee. Durch das viele Gähnen war offenbar Herr Bonnet im Lauf der Jahre immer mehr ausgereckt worden; wie ein feiner Haarstrich wehte er hin und her, und seine Frau hätte ihn mühelos in schwarze Tücher wickeln und forttragen können. Leider wurden nur ein paar Keks gereicht, die von Tschudi nicht abzulenken vermochten. Die ganze Gesellschaft vernahm mit Genugtuung, daß er in einem Artikel des heutigen »Morgenboten« an den Pranger gestellt worden war. Referendar Dr. Wolff, der den Artikel erwähnte, kannte ihn fast auswendig, und Georg beschloß bei sich, die Zeitung gleich morgen früh nachzulesen. Frau Heinisch sah unruhig nach der Uhr. Sie sprachen vom »Morgenboten«, wann kam endlich Herr Berg. Die Zeitung hatte sich aus einem kleinen Lokalblatt entwickelt, das unmittelbar nach Kriegsende von linksradikaler bürgerlicher Seite angekauft worden war. In den seither verstrichenen knappen zwei Jahren habe sie einen außerordentlichen politischen Einfluß gewonnen. Ihre Haltung sei sozialistisch; nicht ganz sozialistisch – sie stritten sich über die Haltung. Einige der Anwesenden, die mit Dr. Petri, dem Besitzer des »Morgenboten«, anscheinend befreundet waren, rühmten seine Gesinnung. Bei dem Wort Gesinnung schlug eine lodernde Flamme aus Frau Bonnet. »Hoffentlich hat uns Berg nicht vergessen«, fuhr Fräulein Samuel los, »ich wollte ihn für unsere Protestversammlung morgen keilen. Wir werden eine kräftige Resolution abschließen, und Berg muß unbedingt reden.« Das Ansinnen brachte Frau Heinisch auf. »Unmöglich. Er hat mir in der Frühe erst erklärt, daß er sich vorläufig unter keinen Umständen in der Öffentlichkeit zeigen werde …« Sie gebärdete sich, als sei Berg ein geheimer Schatz, zu dessen persönlicher Hüterin sie bestellt war. Niemand durfte ihn sehen. Georg hatte das Gefühl, in einem Kahn zu fahren, der steuerlos hin und her getrieben wurde. Auf den Wellen vor ihm erschien zum Greifen nah Fräulein Samuel, eine abgewetzte Person mit schwach gekrümmtem Rücken und stahlharten Brillengläsern, die ihr auf der Nase saßen, wie Paragraphen vor einem Text. Wenn sie die Brille abnahm und wischte, kam der Text in seiner ganzen Nüchternheit nackt zum Vorschein. Ihr Organ, das sie geflissentlich dämpfte, war eigentlich dazu bestimmt, einen riesigen Versammlungsraum zu durchdringen, in dem nie Konzerte stattfinden. Längst hatte der Kahn Georg abgeschüttelt, und nun blieb er am Ufer zurück und beobachtete aus der Ferne, wie der Referendar sich das rote Buch vom Tisch holte, in ihm blätterte und es dann wieder zurücklegte. Hinter dem Nebel, der aus den Worten aufstieg und sie umwob, verschwamm das Gesicht des Referendars so völlig mit dem Salon, daß es sich nicht von ihm sondern ließ. Er war noch ein junger Mann, und seine Frau wirkte viel älter als er. Egon, nannte sie ihn einmal, aber er hörte nicht hin. Fraglich war nur, ob der Salon sich ursprünglich ihm angepaßt hatte, oder er dem Salon. Um nicht von Herrn Bonnet angesteckt zu werden, der wieder aus dem Schlaf sprach, hatte sich Georg erhoben und ging möglichst unauffällig hin und her. Er hätte nicht so vorsichtig zu sein brauchen, denn sie beachteten ihn nicht, sondern wallten alle davon. Auch die Vorhänge wallten, und gerade eben flog ein Rauchring an einem Gemälde vorbei. Langsam fing er zu zittern an und zerfloß. Es hingen mehrere Gemälde an der Wand, kleine und große, zu denen Georg aufsah, ohne sie zu betrachten, aber er wußte doch, daß sie kostbar waren. In ihrem Goldrahmen, deren Schnörkel aus der Fläche heraus in die Luft quollen, hatten sie den Krieg überdauert und warteten jetzt weiter. Vielleicht würde sie nie mehr jemand erblicken. Wie man ihm erzählt hatte, war Frau Heinisch geschieden. Zu der Hinterlassenschaft ihres ehemaligen Mannes, eines Fabrikanten, der im Nebenberuf ein bedeutender Kunstsammler sein sollte, mochten nicht nur die Bilder, sondern auch die übrigen Einrichtungsgegenstände gehören, die einen verwöhnten Geschmack bezeugten. Von dem komfortablen Hintergrund stach das geringe Gebäck, das noch dazu kaum herumgereicht wurde, auffällig ab. Die Gastgeberin schien durch die magere Bewirtung den Komfort gerade soweit vertuschen zu wollen, daß er der Gesellschaft Behagen verschaffte, ohne sie an der Entfaltung ihrer umstürzlerischen Ziele zu verhindern. Angenehm warm war es in dem Salon, anders als in dem Erdgeschoßzimmer, das Georg bewohnte. Aber er mußte bei der Wohnungsnot noch froh sein, den Raum zu haben, die Menschen überfüllten ja sämtliche Wohnungen. Der Raum, der seiner Höhe wegen eigentlich nur für die Sommerszeit taugte, lag nicht allein über dem Keller, sondern auch unmittelbar neben dem Treppenhaus, dem in einem fort Kälte entströmte. Das Mädchen der Leute schimpfte über den Ofen, und um die Plagerei los zu sein, begab sich Georg oft einfach ins Bett. Bisweilen tappte es dann mitten durch seine Müdigkeit die Treppe hinan, die kein Ende nahm, ein Tappen, das gleichförmig war wie der Weg zum Büro. Auf dem Opernhaus stand eine Bronzefrau hinter vier Rossen, die Morgen für Morgen so taten, als ob sie davonsausen wollten. Wenn Fred nicht wäre … Aber auch Fred half hier nichts. So geht es nicht weiter – der Satz raste um Georg, er selbst war der Satz. Wo bin ich denn die ganze Zeit über gewesen? Es ist Revolution, und ich habe in einem Winkel geträumt. Bücher, Stuben, gleichgültiger Kehricht, immer in mir. Könnte ich doch hervortreten wie alle diese Menschen, die öffentlich wirken. Der Referendar ist sicher kaum älter als ich und agitiert schon im Dienst der Gewerkschaften. Und Frau Bonnet, Fräulein Samuel, sie glauben wirklich und setzen sich dafür ein. Brüder und Schwestern: das fährt über mich hinweg, wenn ich nicht danach greife. Ich will an die Öffentlichkeit. – Er hatte der Gesellschaft den Rücken gekehrt und verlor sich in der Glasvitrine. Rechts von ihr schwangen die Falten einer Portiere, die den Durchblick in ein Zimmer freigab, das bedeutend größer war als der Salon. Ein wenig Licht drang wie auf Besuch in das Zimmer, die tiefen Falten liefen sämtlich zusammen. Unter der Vitrinenscheibe lebten Vasen, lauter Figürchen.
»Betrachten Sie diese Dinge? Auf Kunst kommt es in unseren Tagen nicht an.«
Erschrocken drehte sich Georg um, dicht hinter ihm stand Herr Bonnet. Der sollte doch Künstler sein und urteilte jetzt so über die Kunst. Die Geräusche näherten sich wieder.
»… Dostojewski«, sagte Frau Bonnet.
Das Mädchen mit dem bleichen Gesicht verschluckte den Namen. Frau Heinisch hob triumphierend das rote Buch in die Höhe:
»Der Idiot. – Ich finde ihn wundervoll menschlich …«
Sie brach so plötzlich ab, als sei sie auf eine Felswand geprallt, und versteinerte selbst zum Massiv. Ein Herr war eingetreten, der nur der erwartete Herr Berg sein konnte, aber er kam nicht allein, sondern mit einer Dame. »Entschuldigen Sie uns«, sagte die Dame, die als Frau Heydenreich begrüßt wurde, – »er hat sich leider bei mir verplaudert.« Ihr bedauernder Ton verbarg nicht ganz das Glück über die Niederlage, die sie mit der Plauderei Frau Heinisch zugefügt hatte. Die beiden Damen standen sich gegenüber, und Frau Heinisch gab der Siegerin ein Lächeln zurück, das an einen vergifteten Apfel erinnerte. Herr Berg verneigte sich stumm. Er brauchte auch nichts zu sagen, da Frau Heydenreich, die das Gift vorläufig nicht zu spüren schien, ihn unbefangen weiter erklärte. Sie rückten die Stühle und ordneten sich um. Nur Frau Bonnet verharrte auf ihrem Sessel, dem Abgeordneten einer Großmacht gleich, der vor niemandem zu weichen beabsichtigt. Um Herrn Berg Zeit zur Entwicklung zu lassen, richteten sie einstweilen geflissentlich nicht das Wort an ihn. Heimlich belauerte ihn Georg, wie er Tee trank und sein Profil zeigte. Das Gesicht bestand überhaupt nur aus dem Profil. Es war von der bewußten Einfachheit eines Holzschnittes, der zu Propagandazwecken unter den revolutionären Massen verbreitet wird. Neben Frau Heinisch saß der Referendar und sprach anhaltend leise auf sie ein. Sie barg sich in ihr Tuch und gab damit zu verstehen, daß sie aus einer Welt geflüchtet war, in der man sie kränkte. Georg fiel dieser Dr. Wolff immer mehr auf. Obwohl er sich weder durch seine Kleidung noch auch durch bedeutende Aussprüche hervortat, gelang es ihm doch stets, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Und zwar wanderte sie ihm zu, ohne daß er sich eigentlich um sie bemühte. Woran es lag, daß er, der sich eben erst noch kaum von dem Salon abgehoben hatte, die Gesellschaft so nachhaltig von seinem Vorhandensein zu überzeugen vermochte, war nicht zu ergründen. Vielleicht war er gar nicht vorhanden, sondern saugte, ein Vakuum, die Gegenstände in sich ein. Die Leere übte ihre Anziehungskraft vor allem auf weibliche Personen aus. Jedenfalls hatte er vorhin – Georg war selbst Zeuge gewesen – einer ihm fremden Zuhörerin von seinem Einfluß auf die Arbeiterschaft in einer Weise erzählt, die sie zu dem Glauben bringen mußte, er vertraue ihr unter dem Deckmantel des Tatsachenberichts ein allein für ihre Ohren bestimmtes Geheimnis an, das sie fortan mit ihm zu teilen hätte. Seine Frau blickte flüchtig zu ihm und Frau Heinisch hinüber, die sich jetzt wieder frei regte, und wandte sich dann ausdruckslos von dem Paar ab. Egon sagte sie dieses Mal nicht. Ihre Wangen waren ausgetrocknet und wollten nicht mehr recht blühen.
Eine Stille war plötzlich eingetreten, und in der Stille tönten die Worte: »Wir müssen unsere Jugend zum Abscheu vor Kriegen erziehen.«
Endlich. Der Bann war gelöst, Herr Berg hatte gesprochen. Hatte er wirklich gesprochen? Sein Profil blieb weiter so unbeweglich, als seien die der Kontur wegen zusammengepreßten Lippen niemals geöffnet worden, und nur durch ein Wunder konnte die Behauptung ihnen entsprungen sein. Gerade weil Georg sie keineswegs außergewöhnlich fand, begriff er um so weniger, daß sie wie eine monumentale Verkündigung wirkte, die unmittelbar aus dem Himmel gefallen war. Das Monument war schon aus der Ferne zu sehen. Ich will an die Öffentlichkeit, dachte Georg von neuem, und malte sich aus, wie schweigsam er sein werde, wenn er es einmal zu der Berühmtheit von Herrn Berg gebracht hätte. Um seine glanzvolle Laufbahn sofort zu beginnen, suchte er sich einen Platz in dem Tumult zu erobern, den der Ausspruch entfesselt hatte, aber Frau Heinisch kam ihm zuvor. Er hätte ihr nie die Wildheit zugetraut, mit der sie sich gegen die Bleisoldaten ereiferte, in denen sie den wahren Grund des Kriegsübels erblickte. »Ich habe meinem Jungen immer verwehrt, mit Bleisoldaten zu spielen.« Sie richtete diese Erklärung an Frau Bonnet, die ihr denn auch das ersehnte Lob spendete. Als sie die Abschaffung sämtlicher Bleisoldaten forderte, nickte das Profil zum Zeichen des Beifalls. Von so viel Anerkennung überschüttet, schickte Frau Heinisch wider Frau Heydenreich ein Lächeln aus, dem die Gewalt einer kriegsstarken Kompanie der soeben ausgerotteten Bleisoldaten innewohnte. Die Strafexpedition war von sichtbarem Erfolg gekrönt. Während die Gesellschaft noch erbarmungslos über die Bleisoldaten herzog – auch Frau Heydenreich mußte sich wohl oder übel zu ihrer Vernichtung bekennen –, empfand Georg selbst eher Mitleid mit den winzigen Truppen. Seine Großmutter hatte sie manchmal auf einer Glasplatte aufgestellt und dann von unten mit dem Finger gegen die Fläche geklopft, um die Reihen in Verwirrung zu bringen. Schließlich war er ein Kind gewesen wie die anderen und hatte doch die Lust an den frühen gläsernen Schlachtfeldern zu keiner Zeit auf den richtigen Krieg übertragen. Er wollte die Soldaten verteidigen, gelangte aber wieder nicht an die Front, sondern wurde bis zu dem bleichen Mädchen abgedrängt, in dem nachgerade eine Glut aufgespeichert war, die völlig hingereicht hätte, um alle Bleiheere der Welt einzuschmelzen. Wie ein Hochofen bewahrte das Mädchen die gewaltige Hitze in sich. Statt sich noch in Frau Bonnet zu versenken, richtete es jetzt seine Augen ohne Unterlaß auf Herrn Berg, dessen Profil den sengenden Strahlen unversehrt standhielt. Düster hing das Profil vor einem goldenen Rahmen und spornte rein durch seine Gegenwart die nach der Unterdrückung der Spielschachtelkriege etwas ermattete Gesellschaft zu neuen Taten an. »Die Klassiker«, rief Fräulein Samuel und flog krumm in die Höhe. Was der Ausdruck Friedenstaube sollte, begriff Georg nicht mehr. Das Schlachtbeil der Liebe war ausgegraben. Fräulein Samuel schwang es durch die Lüfte und versetzte mit ihm den Klassikern funkelnde Streiche. In ihren Dramen fänden sich Stellen, die das Völkermorden verherrlichten. Unsere Jugend wird durch die Klassiker schon im Keim verdorben. Die Schulausgaben müssen in Zukunft von Kriegen gründlich gereinigt werden. Ihr Organ gellte nicht eigentlich, sondern pfiff. Tausende von Menschen faßte das Lokal, zu dem sie die Salonwände auseinandergepfiffen hatte, eine Massenversammlung, so war es ihr recht. Georg merkte erst eben, daß der Salon oval war. Er wäre ja gern mit dabei gewesen, mußte sich aber eingestehen, daß ihm der Egmont und andere Stücke genauso wenig geschadet hatten wie die Bleisoldaten. Wurden denn überhaupt die Kriege durch solche Einflüsse verschuldet? Beinahe war ihm der richtige Krieg lieber als das Gemetzel, das die Menschen hier anrichteten. Die Glasvitrine blitzte ihm ins Gesicht. Schon die ganze Zeit über hatte er ein Unbehagen gespürt, das er sich nun daraus erklärte, daß diese Menschen alle Dinge, die ihm bisher unverbrüchlich fest gestanden hatten, im Handumdrehen abändern wollten. Man konnte doch nicht einfach die Welt in ein Paradies verwandeln. Außerdem mochte er gar nicht ins Paradies. Die Klassiker verstümmeln – nur freilich, er traute dem eigenen Widerstand nicht mehr ganz, denn vielleicht war er selbst in seinen Gewohnheiten verhärtet und sträubte sich zu Unrecht gegen eine bessere Wirklichkeit …
»Soll auch die Bibel abgeschafft werden – – ich meine, das Alte Testament enthält eine Menge von Kriegskämpfen, die unter Umständen nicht in die Schule passen? Wegen des Pazifismus – – –«
Georg war blitzschnell in die Frage gesprungen und hatte sich unmittelbar an Herrn Berg gewandt. Einmal mußte es sein. Eine Störung schien sich ereignet zu haben, das Nicken blieb aus. In der Pause schüttelte Frau Heinisch besonders innig den Kopf, als beklage sie den Zwischenfall, ermahne sich aber zugleich, Nachsicht gegen den Frager zu üben.
»Ja, auch die Bibel ist voller Barbarei«, donnerte Herr Berg die Gesellschaft an. »Fort mit den verbrecherischen Schriften!«
Durch den unerwarteten Bannspruch wurden sie mit elementarer Gewalt emporgeschleudert. Nie wieder Krieg. Sie jagten die kapitalistischen Unternehmer davon, sozialisierten die Bergwerke und vereinigten sich international. Seit sie sogar die Bibel weggestoßen hatten, war Georg von einer Unschlüssigkeit befallen, die ihn mehr und mehr peinigte. Wie oft waren ihm in Flugschriften und Zeitungen solche Wünsche, Träume, Projekte entgegengetreten. Er hatte sie stets für gedruckte Gaukeleien gehalten, und jetzt – sie atmeten jetzt rings um ihn und waren leibhaft zugegen. Immerhin empfand er eine kleine Genugtuung darüber, schon beim ersten öffentlichen Auftreten das Profil aus seinem Schweigen gelockt zu haben. Angesehen hatte es ihn allerdings nicht. Es stierte fortwährend durch die dunklen Portieren ins andere Zimmer, in dem sich niemand befand. Das elektrische Licht bebte und erlosch auf einmal. »Wenn nur nicht auch noch die Elektriker streiken« – Frau Heydenreichs Stimme klang nervös. »Aber, aber …«, meinte Frau Heinisch in einem überlegenen Ton, dessen Zuversicht sich auf die Gewißheit gründete, daß Frau Heydenreich mit ihren Sorgen der Größe des Augenblicks nicht entsprach. Wahrscheinlich war bereits vorhin die Beleuchtung trüber gewesen, sonst hätte die Glasvitrine nicht so laut geblitzt. Es wurde hell, viel heller als früher, eine merkwürdige unkörperliche Helligkeit breitete sich aus, die nicht von den Glühbirnen herrühren konnte. Sie drang aus Frau Bonnet. Ihr Innenraum hatte sich selbsttätig erschlossen. Sämtliche Flügeltüren waren aufgesprungen, und das Allerheiligste leuchtete vor aller Augen in überirdischem Glanz. »Ich finde die Abwechslung ganz nett«, hörte Georg den Referendar sagen. Während Dr. Wolff sprach, fiel ein blendender Schimmer auf ihn, und man sah ihn sich zu dem bleichen Mädchen vorbeugen, das kerzengrad saß. Das Licht, in dem er auftauchte, kam von den Birnen, die wieder in ihrer alten Stärke brannten. Er rückte mit dem Stuhl ab und fächelte sich so ungezwungen, als sei er durch einen Tunnel gefahren. Ohne die Stellung verändert zu haben, war das Profil dem Nachbarzimmer immer noch starr zugekehrt. Durch seine feierliche Miene erregt, blickte ihm die ganze Gesellschaft nach, und niemand wäre überrascht gewesen, wenn die gemeinsame Anstrengung aus der Finsternis nebenan eine wunderbare Erscheinung beschworen hätte. »Der Messias kann zu jeder Stunde unter uns weilen«, erhob sich ein Gesang, der hinter den Portieren angestimmt zu werden schien. Es war Frau Bonnet, die schwarz und träumerisch sang.
Sie brachen auf. Fräulein Samuel erinnerte an die morgige Protestversammlung. »Unmöglich«, erklärte Herr Berg, »ich reise.« Georg erreichte zwischen den Mänteln mit Mühe Frau Heinisch. »Ist er nicht wundervoll«, fragte sie ihn, »ich bin mittwochs immer zu Hause.« Sie begab sich mit Dr. Wolff abseits. Wenn Georg, der zufällig in ihre Gegend getrieben wurde, sich nicht täuschte, sagten sie Du zueinander. »Ich gehe, Egon«, rief es vom Flur. Er war als Diele ausgebaut, ein schönes bewohntes Quadrat. Ihren ganzen Pazifismus mußte Frau Heinisch aufbieten, um noch lächeln zu können, als sich Frau Heydenreich und Herr Berg zusammen von ihr verabschiedeten. »Berg hat sich heute bei mir einquartiert«, sagte Frau Heydenreich und lächelte den Referendar an, der neben Frau Heinisch stand, »es ist der Polizei wegen richtiger, wenn er seinen Aufenthalt häufig wechselt.«
Georg begleitete Herrn und Frau Bonnet noch ein Stück weit durch die aufgeräumten Straßen. Frau Bonnet war derart eingemummt, daß sie ihn vermutlich auch dann fern von sich wähnte, wenn er ihre äußerste Hülle einmal streifte.
»Der Kerl ist famos«, hauchte Herr Bonnet jenseits der Hüllen. Er hatte den Namen eines berühmten revolutionären Dichters genannt, und Georg wußte jetzt endlich, wer Herr Berg in Wirklichkeit war. Frau Bonnet wies ihren Mann zurecht: »Du sollst doch nicht, Dolf …« Gehorsam steckte er den Tadel ein. Georg kannte nichts von den Werken des Dichters. Ich will hinaus, wiederholte er sich zum hundertsten Mal an diesem Abend, und bedrängte, die günstige Gelegenheit nutzend, Frau Bonnet mit seinem Kummer, daß es ihm an ihrer Gläubigkeit gebräche; daß er die radikalen revolutionären Forderungen für undurchführbar halte; daß er selbst in der Öffentlichkeit mitzuwirken verlange. »Man muß das Unbedingte wollen«, erwiderte Frau Bonnet. Ganz erbärmlich kam er sich vor.
Herr Bonnet gähnte. Im Dunkel ließ sich nicht unterscheiden, ob das Gähnen der Müdigkeit entstammte oder ein Umsturzsignal war.
»Die Sache mit Tschudi ist unglaublich«, murmelte er vor sich hin.
Aus den Pflasterritzen unserer Großstädte wird dereinst Gras wachsen – der Ausspruch setzte sich nach der Trennung in Georg fest. Wo hatte er das gelesen, es klang so prophetisch. Gesenkten Kopfes begab er sich zu seinem Erdgeschoßzimmer.
Durch ein Zeitungsinserat hatte Georg, kaum daß der Krieg zu Ende gewesen, Fred kennengelernt. In dem Inserat war eine Kraft gesucht worden, die einem Jungen Nachhilfeunterricht erteilen könne. Näheres bei Frau Anders, Pension Isolde. Georg war damals gerade erst in der Stadt zugezogen. Er hatte Mathematik studiert und war sich klar darüber, daß er seine Kenntnisse eines Tages in irgendeiner Versicherungsgesellschaft werde verwerten müssen. Der Zwang zum Dauerberuf hatte sich bereits empfindlich bemerkbar gemacht, da die kleine, vom Vater ererbte Summe fast völlig zusammengeschmolzen war. Aus einer durch die Kriegsjahre noch gesteigerten Abneigung gegen jede geregelte Tätigkeit hatte er aber bisher verschmäht, sich um eine feste Anstellung zu bemühen, und lieber nach Privatstunden und anderer Gelegenheitsarbeit Ausschau gehalten.
Wenn er sich später seines ersten Empfangs in der Pension Isolde erinnerte, sah er ein großes Bett, einen geöffneten Koffer, aufgerissene Schubladen und Kleider im Schrank. Das ganze Pensionszimmer war mit Sachen überfüllt, die Frau Anders keine Ruhe ließen. Während sie mit Georg sprach, mußte sie sich aufs äußerste zusammennehmen, um nicht in die Höhe zu springen und etwas zu richten. Die Schranktür knarrte, es fehlte an einem guten Platz für den Koffer. »Wenn man nicht in seinen eigenen Räumen wohnt …«, seufzte Frau Anders und deutete auf eine Staubschicht, die Georg noch nicht beachtet hatte. Er wunderte sich über ihre Fähigkeit, die vielen Unvollkommenheiten zu entdecken und zugleich unaufhörlich zu sprechen. Im Lauf von höchstens einer halben Stunde teilte sie ihm mit, daß sie aus dem besetzten Rheinland komme, entfernter Verwandter wegen hierher übersiedle und vor zwei Jahren ihren Mann verloren habe. Hätte sie ihm nur ihre Lebensgeschichte erzählt! Aber wie die Sachen im Zimmer, so drängten sich immer andere Gedanken, Einwürfe und Wahrnehmungen dazwischen, denen sie nicht auszuweichen vermochte. Die Welt war für sie eine vollgestopfte Rumpelkammer, in deren Dunkel sie auf Schritt und Tritt anstieß. Gerade klingelte sie nach dem Mädchen, als Fred eintrat. Einen Augenblick lang zögerte Fred im Türrahmen, um die fremde Erscheinung zu prüfen. Ein schlanker, blonder Junge, in einer Art von Sportkostüm, der so leicht dastand, als habe ihn die Luft hergetragen. »Dein Gürtel ist verrutscht«, sagte Frau Anders. Fred schnallte den Gürtel fester und gab Georg die Hand. Er trug eine grüne Jacke aus Lodenstoff, die mit dem roten Schlips zusammen eine rauhe Hülle bildete, in der er wie ein verkleideter Prinzensohn aussah. An den Stuhl seiner Mutter gelehnt, beantwortete er die ihm gestellten Fragen in einem matten Ton, der den großen traurigen Augen widersprach, die unter den langen Wimpern hervorblickten. Ihr Ausdruck ließ auf ein Geheimnis schließen, das in dem Jungen so steckte wie er selbst in den groben Stoffen. »Sie müssen ihn zur Arbeit anhalten«, erklärte Frau Anders laut, »er träumt gerne und schweift immer ab.« Die Gewißheit, mit dem Knaben fortan häufig zusammen sein zu dürfen, versetzte Georg in einen freudigen Zustand. Es war ihm zumute, als geschähe eine Verwandlung mit ihm, nach der er sich, ohne ihre Möglichkeit auch nur zu ahnen, seit langem gesehnt hatte. Er war noch vom Krieg her erfroren gewesen, und nun strömte zu seiner eigenen Überraschung eine wunderbare Wärme in ihn ein, die Knabenfigur war eine Verlockung, in den Augen die Traurigkeit kam aus einem fernen Ort, der zu erreichen sein mußte. »Vierzehn Jahre«, erwiderte Frau Anders auf Georgs Frage. Also war er zehn Jahre älter als Fred, so alt schon, aber der Abstand war nur zahlenmäßig vorhanden, in Wirklichkeit gab es keinen Abstand und am allerwenigsten den der Jahre oder des Wissens. »Darf ich dich heute in die Stadt begleiten?« bat Fred die Mutter. Sie ermahnte ihn, sich gerade zu halten. Fred machte ein Schmollgesicht, das sich finster vom roten Schlips abhob. Ein Wort Georgs stimmte die Mutter um. Das Mädchen kam herein und sah nach der Schranktür. Georg hatte von Fred als Belohnung für sein Eingreifen einen dankbaren Blick erhalten, dessen Flüchtigkeit ihn beglückte. Sie hatten jetzt eine kleine stumme Gemeinsamkeit, sie waren gegen die Mutter miteinander verbündet gewesen. Fred ging hinaus. Die Gestalt des Jungen durchmaß den Raum, als sei sie selber Raum, grünroter Raum.
Lange Zeit hindurch hatte Georg im Speisesaal der Pension Isolde Fred Unterricht erteilt. Immer an den Vormittagen, nachdem das Frühstück bereits abgetragen war. Man kannte ihn dort. Wenn das Hausmädchen, das ihm öffnete, ihn ohne weitere Erklärung die paar Treppenstufen hinaufgehen ließ, hatte er das demütigende Gefühl, für einen Lieferanten gehalten zu werden. Mit Vorliebe brachte er seinen Mantel neben einem Pelzmantel unter, der Morgen für Morgen die Garderobe bewohnte. Nur einmal fehlte der Pelz. Er hing an jenem Vormittag um eine weißhaarige Dame, die ihren schwarzen Stock schwang, eine unsichtbare Person im Seitenkorridor anfuhr und wie eine Gebieterin durch Georg hindurch dem Ausgang zuschritt. Solche gewalttätigen Damen lebten wahrscheinlich in allen Pensionen. Unter Umständen war sie früher eine berühmte Sängerin gewesen, jedenfalls paßte zu ihrem Auftreten der Pensionsname Isolde, der über den anderen Gästen wie ein Laut aus einer versunkenen vornehmen Welt schwebte. Man hörte russisch sprechen, Männer wischten sich ihre Bärte und Frauen kamen öffentlich aus der Toilette. Auf die Herrlichkeit Isoldes deuteten sonst nur noch der etwas verblichene rote Läufer und eine Palme im Treppenhaus hin. Sie stand in einer Nische, die eigentlich von einer Statue hätte ausgefüllt werden sollen. Besonders schön waren die Tage, an denen Fred Georg bis zum Gittertor des Vorgartens entgegenkam, den Arm um ihn legte und ihn mit ins Haus zog. Oft zeigte er sich nicht gleich, sondern schoß blitzschnell am Treppengeländer herunter, um Georg zu überfallen. Die Zimmer betrat Georg vormittags nie. Im Speisesaal saß er neben Fred an einem riesigen Tischmassiv, das sich weithin erstreckte und im abgeräumten Zustand einem jener unerforschten Gebiete glich, die auf den Atlanten als weiße Flecken erscheinen. Obwohl Bücher und Hefte nur ein winziges Stück am Rand des Gebietes bedeckten, hatte Georg doch stets die Vorstellung, in ein unwirtliches Land verschlagen worden zu sein, in dem er und Fred ganz allein aufeinander angewiesen waren. Das Klima das Landes wurde durch die Eßgerüche zahlloser Generationen bestimmt. Aus der Ferne drang mitunter ein Schall, der von der zufallenden Saaltür herrühren mochte, und im Hintergrund zogen verschwommene Gestalten wie Wolken über den Horizont. Es waren die Mädchen, die das Geschirr hereintrugen und sich im Umkreis der leeren Tafelfläche zu schaffen machten. Georg sorgte dafür, daß sich Fred von ihnen nicht ablenken ließ. Er errichtete aus Algebraaufgaben Wälle, die ihm die Aussicht versperrten, und setzte ihn hinter Geschichtsdaten gefangen. Fred schrieb vorgebeugt, rechnete, dachte nach. Unauffällig betrachtete ihn Georg von der Seite. Ab und zu geschah es, daß Fred wie abwesend in die Luft starrte und keine Antwort gab. Seine Augen waren dann besonders traurig und groß. Vergeblich bemühte sich Georg zu ihm zu dringen, ein »Ach nichts« war alles, was er erfuhr. Nicht selten verwandelte sich Fred wie durch Hexerei in einen unreifen, zerstreuten Jungen, der mit dem entrückten Fred keine Ähnlichkeit hatte. Eines Tages – sie kannten sich noch nicht sehr lange – war er so von dem fremdartigen Knabendämon besessen, daß er jede Mahnung mißachtete. Da stets zu gewärtigen war, daß eines der Mädchen den Saal betrat, konnte Georg ihm nur im Flüsterton zürnen. Fred warf ihm einen Schmeichlerblick zu, von dem er sich offenbar eine beruhigende Wirkung versprach. Seine Hände steckten unter dem Tisch, der Kopf hing nach vorn über. Das Ding, mit dem er sich insgeheim beschäftigte, war ein kleines Taschenspielzeug, bei dem es darauf ankam, zwei weiße Kügelchen in die Augen eines Negerkopfes zu treiben. Ununterbrochen drehte und wendete er die Scheibe, obwohl er spüren mußte, daß Georg ihm zuschaute.
»Leg‘ endlich das Spiel weg.«
»Nur noch einen Augenblick …«, bat Fred und schüttelte das Ding gierig weiter.
»Jetzt ist es aber genug –«
– – –
»Ich werde mit deiner Mutter sprechen!«
»Bitte, versuchen Sie es doch auch einmal.«
Georg gab schweigend nach. Er fühlte, daß er einen Fehler beging, brachte es aber nicht über sich, die erforderliche Strenge zu zeigen. Beide schmiegten sich aneinander und ließen abwechselnd die Kügelchen über das schwarze Gesicht rollen. Von Zeit zu Zeit vergewisserten sie sich, ob niemand ihnen auflauerte. Ihre Unterlage waren die vier Hosenbeine, die sich rund und groß wölbten und eng vereint im Halbdunkel entschwanden. Mit ihren Buchten und Falten gemahnten sie an ein schattiges Waldplätzchen, das als Schlupfwinkel für Verfolgte diente. Fortan schien sich Fred seiner Macht über den Älteren bewußt zu sein.
Nach ungefähr dreiviertel Jahren hatte Frau Anders endlich eine Wohnung bekommen, und annähernd um die gleiche Zeit war auch Fred in der Schule aufgenommen worden. Man hatte ihn zur Obertertia zugelassen, seinem Alter nach hätte er in die Untersekunda gehört. Die Anders‘sche Wohnung war streng genommen keine Wohnung, sondern ein Wohnungsteil. Das Fragment war von einer Herrschaftswohnung abgetrennt worden und sollte nun selbständig fortleben wie ein halber Wurm. Es lag an einem Hinterhof, dessen hohe Wände trotz der Ausgedehntheit des Grundstücks fast den ganzen Himmel besetzten. Der Druck, mit dem die Rückfassaden auf sämtlichen Räumen lasteten, wurde noch durch die unnatürliche Ruhe verstärkt, die geräuschvoll durch den Hof strich. Zahllose Fenster schossen aufgeregt wie eine Kleinkinderschar zu einem Knäuel zusammen, und hinter allen Vorhängen saßen Bewohner. Eins, zwei, drei, vier, – die Zimmer der Anders‘schen Wohnung folgten einander im Gänsemarsch. Sie öffneten sich nach einem finsteren Gang zu, der die Wohnung von Anfang bis Ende durchmaß. Da die Zimmer nicht durch Türen verbunden waren, mußte man immer den Gang überschreiten, wenn man von einem ins andere wollte. Der Gang erweckte Lust zu einem Dauerlauf. Kam man zur Wohnungstür herein und sah ihn wie eine Pappelallee gradaus zum Fluchtpunkt rasen, so wurde man von einem Gefühl der Längsangst ergriffen. Das ungemilderte Nebeneinander der Räume paßte genau zu Frau Anders. Sie hatte sich aus der früheren Heimat ihr altes Mädchen nachkommen lassen, eine Person unbestimmten Alters, die schon vor dem Krieg bei ihr im Haus gewesen war. Marie galt als ein Familienmitglied, das heißt, Frau Anders bekümmerte sich um ihre Kleider, verschaffte ihr hie und da ein Theaterbillett, um sie bei guter Laune zu halten und klatschte mit ihr über die Neuigkeiten. Ein Vertrauensbeweis waren die Neuigkeiten nicht, denn sie stürzten von selbst aus Frau Anders heraus. Manchmal allerdings behandelte sie Marie wie ein feindliches Dienstmädchen, ging stumm an ihr vorbei und weinte sogar. Auch über Fred entluden sich plötzliche Katastrophen. »Er hat es mit Absicht getan«, sagte Frau Anders in kreischendem Ton zu Georg, »ich werde ihn aus der Schule nehmen, er braucht nicht die höhere Schule zu besuchen. Wie er mich quält …« Zwischen die Vorwürfe und Drohungen gegen Fred mengten sich in der Regel ausschweifende Klagen über ihr Los. Ihre Zukunft sei pekuniär nicht gesichert, Frau Eisemann habe schon einen Winterpelz, und überhaupt ergehe es allen anderen Leuten glänzend. Frau Eisemann zählte zu ihren Bekannten. Georg verharrte mäuschenstill, aus Angst, sie noch mehr aufzuregen, und wagte auch nicht, zu Fred hinzublicken. Nach kurzer Zeit sprang sie unvermittelt in den entgegengesetzten Zustand über. Es war, als sei sie aus dem einen Zimmer jäh in ein anderes geschleudert worden, ohne den finsteren Gang betreten zu haben. Sie verfiel jetzt in ein wahres Glücksgeschnatter und tröstete, beschenkte und rühmte sämtliche Menschen. Frau Eisemann gegenüber beteuerte sie, daß der neue Winterpelz wundervoll zu ihr und zum Winter passe. Als Georg einmal bei ihr in seinem dürftigen Überzieher erschienen war, hatte sie ihm den Mantel ihres verstorbenen Mannes geradezu aufgezwungen. Der Mantel war noch kaum getragen worden und brauchte fast nicht geändert zu werden. Ganz gerührt war sie darüber gewesen, daß der Tote so mit Georg übereinstimmte. Der hatte sich zuerst gegen den Mantel gesträubt, weil er unwillkürlich besorgte, daß das Kleidungsstück ihn mit seinem ehemaligen Herrn ansteckte. Seit Fred in die Schule ging, traf er ihn meistens während der Spätnachmittage, samstags und am Sonntag vormittag. Sonntag nachmittags mußte der Junge mit seiner Mutter spazieren gehen oder zu Hause Besuche absitzen. »Gar nichts hat man mehr von dir«, sagte Frau Anders. Georg selbst wußte nie, was er Sonntag nachmittags allein anfangen sollte. Am liebsten hätte er Fred immer bei sich gehabt, die Schule, der Sport und alle Leute, an die er ihn gelegentlich abgeben mußte, empfand er als seine persönlichen Widersacher. Um so zufriedener stellte es ihn, daß Fred immer wieder beteuerte, keinen einzigen Freund in der Klasse gefunden zu haben. Sein Zimmer enthielt einen Liegestuhl, in dem Georg wie in einer ausgehöhlten Kutsche versank. Er dehnte sich wagrecht und verschmolz mit Fred und der Zimmerdecke. Sie lasen Gedichte, die Stube war ihr Indianerzelt. Eine ihrer Hauptunterhaltungen bestand darin, die üblichen Ansichten und Redewendungen gemeinsamer Bekannter bis zum Überdruß auszuspinnen. Fred ahmte verschiedene Leute gut nach. Überhaupt besaß er einen Blick für gewisse Äußerlichkeiten und beurteilte rein praktische Dinge meistens richtiger als Georg. Wenn sie des langen Sitzens müde wurden, nahmen sie ein paar Kissen und legten sich auf den Boden. Einmal hatte sie Frau Anders zwischen den Tischbeinen und Bettpfosten überrascht. »Ihr seid närrisch«, hatte sie gerufen, »wozu habt ihr denn die bequemen Stühle.« – »Aber es ist doch viel hübscher so, Mutter.« Ab und zu knickte der Liegestuhl von selbst erschöpft ein. Georg wurde von Fred so beansprucht, daß er immer mehr die Lust verlor, ohne ihn etwas zu unternehmen. Die Menschen forderten jetzt überall Gemeinschaften und ahnten nicht, daß jede Gemeinschaft im Vergleich mit einer Beziehung wie der seinen zergehen mußte. Sie jammerten wegen der Nahrung, der Feinde, der Wohnungen und des Geldes – hätten sie gespürt, wie Gespräche beseligten, das bißchen Fressen und das Geld wäre ihnen ganz gleichgültig gewesen. Aufstände, Straßen, Eisenbahnen, Regen, Büros, das lag weit da draußen und ging Georg nichts an. Da Fred noch keinen eigentlichen Anteil an allen diesen Ereignissen nahm, war es nicht schwer, ihn ganz zu beschlagnahmen. Wie in einer Zelle hausten sie beieinander und belauerten sich gegenseitig. Durch das ständige Zusammensein steigerte sich ihre Empfindlichkeit. Jeder unmerkliche Wechsel des Gesichtsausdrucks erschien ihnen in vielfacher Vergrößerung, kleine Bewegungen durchfuhren als Riesenkratzer die Luft. Sie stritten sich aus Anlässen, die sie heraufbeschworen, damit sie sich streiten konnten. Eines Abends war das Gespräch plötzlich ausgegangen und ließ sich nicht wieder entfachen. Nun brüteten sie stumm, als ob sie vor leeren Tellern säßen und das nächste Gericht erwarteten. Aber niemand trug ihnen auf. Es war erst neun Uhr, Georg hätte noch gut eine Stunde bleiben können.
»Ich gehe jetzt«, sagte er leise, wie zu sich selbst, und stieg aus dem Liegestuhl.
»Warum willst du schon gehen …«
Fred steht weit entfernt am Fenster. Er hat die matte Stimme, die Georg reizt.
»Du bist müde«, sagt Georg, »vorhin hast du gegähnt.«
»Ach was, das Gähnen.«
Das Fenster ist offen. Die Schwüle, Dächer und Sterne. Fred hat Turnschuhe an und macht seine traurigen Augen. Georg beginnt wieder von vorne, um keinen Preis darf Fred in den Nachthimmel entfliehn.
»Was hast du heute nachmittag angefangen, daß du so müde bist. Du hast doch gewußt, daß wir am Abend zusammensein werden.«
»Gar nichts besonderes, ich bin auch nicht müde.«
»Aber du hast doch gegähnt. Also langweilst du dich.«
»Ich langweile mich nicht.«
»Und das Gähnen vorhin –«
Georg haßt sich seines Bohrens wegen. Er hat sich aufs Bett gesetzt, die Decke ist schon für die Nacht zurückgeschlagen. Ohne hinzusehen, merkt er, daß Fred vom Fenster auf ihn zukommt. Sie sehen sich an. Ihre Gesichter wachsen unaufhaltsam, sind groß wie der Himmel, verschwinden eins in dem andern.
»Sieh, Georg, ich weiß nicht, was es ist, ich bin ja noch so jung …«
»Nichts ist –«
»Ich möchte mein ganzes Leben mit dir zusammen bleiben, Georg.«
Immer wieder küssen sie sich. So komisch mit den rasierten Wangen. Sie reden in einem fort, ernst, dummes Zeug, durcheinander. »Ich gehe jetzt«, sagt Georg.
Daß es mit dem täglichen Zusammensein einmal ein Ende haben werde, war Georg durch eine beiläufige Bemerkung von Frau Anders bewußt geworden. »In ein paar Jahren«, hatte sie geäußert, »wenn Fred fort ist …« – »Wo soll er denn hin? –« Georg hatte nie an später gedacht, sondern immer nur bis zum nächsten Gespräch von einer kleinen Liebkosung gelebt. Seit jener Zeit war stets wieder das »Wenn Fred fort ist« an ihm vorbeigeraschelt, deutlich wie eine Maus in der Stube. Wenn Fred fort ist – manchmal hatte er Fred in Gedanken auszulöschen versucht und nur noch ein paar gleichgültige Bekannte um sich her vorgefunden. Viel verwaister als die Mutter blieb er später zurück, die durch eine dehnbare Schnur mit Fred verbunden zu sein schien. Sie brauchte seine Gegenwart nicht unbedingt, sie zupfte an ihrer Schnur. Vielleicht hatte er Unrecht daran getan, sich an den Jungen zu hängen. Man versank ja allein.
»Denken Sie sich nur, das Wasser ist abgestellt. Eben war ich in der Küche, um ein Glas Wasser zu holen, natürlich muß ich mir alles selber besorgen, denn Marie ist wieder einmal seit Stunden ohne meine Erlaubnis fort. Sie nimmt sich immer mehr gegen mich heraus. Vielleicht ist auch ein Rohr geplatzt, man kann ja heute nie wissen, die Leute faulenzen den ganzen Tag, wir brauchen doch Wasser …«
»Wo ist Fred«, fragte Georg.