Der Autor
Robert Brack, geboren 1959, lebt seit 1981 in Hamburg. Er arbeitet als Übersetzer und freier Schriftsteller. Für seine Kriminalromane wurde er mit mehreren Preisen ausgezeichnet. Unter dem Pseudonym Virginia Doyle hat er mehrere historische Kriminalromane verfasst.
Das Buch
Hamburg 1941: Seit Kriegsbeginn herrscht Verdunklungszwang, Swing tanzende Jugendliche bekommen Schwierigkeiten. Heinrich Hansen, Leiter der Polizeiwache Davidstraße in St. Pauli, soll einen aussichtslosen Mordfall bearbeiten: Ein Chinese wurde in Hamburgs Chinatown erstochen. Wenig später wird auch ein Deutscher tot aufgefunden, der wie der Chinese die Tätowierung einer schwarzen Schlange trägt. Heinrich Hansen ahnt, dass es sich nicht um gewöhnliche Mordfälle handelt. Und bald gerät auch sein Leben in Gefahr …
Nach »Die rote Katze« und »Der gestreifte Affe« der dritte Teil der St.-Pauli-Trilogie mit Heinrich Hansen.
Robert Brack schreibt als Virginia Doyle
Die schwarze Schlange
Kriminalroman
Midnight by Ullstein
midnight.ullstein.de
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Ungekürzte Ausgabe bei Midnight
Midnight ist ein Digitalverlag
der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin
März 2015 (1)
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015
Umschlaggestaltung:
ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © FinePic®
Autorenfoto: © Charlotte Gutberlet
ISBN 978-3-95819-025-2
Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzung wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Alle sind sie da,
bis auf die in Florida. O Joseph, o Joseph,
Steineklopfen, das ist wunderbar!
Lied der Hamburger Swingjugend, zu Ehren ihrer im KZ Fuhlsbüttel (»Florida«) inhaftierten Freunde
»Du lachst, Heinrich?«, fragte Oberwachtmeister Schenk.
Kriminalkommissar Hansen versuchte, ein Prusten zu unterdrücken. Er schaute aus seinem Dienstzimmer im zweiten Stock auf den Parkplatz vor der Davidwache und konnte sich kaum beherrschen. Hauptwachtmeister Kelling, wie immer in vorbildlich gebügelter grüner Uniform, hatte sich gerade nach vorn gebeugt, um die frisch angelieferten schwarzen Hauben über die Scheinwerfer des DKW-Dienstwagens zu stülpen. Dabei war ihm sein Tschako vom Kopf gerutscht, auf die Erde gefallen und unter das Auto gerollt. Nun kniete er auf dem Pflaster und fischte verzweifelt nach seiner Kopfbedeckung.
»Was gibt’s denn da zu lachen?«, brummte Schenk.
»Er hat ein fliehendes Kinn«, sagte Hansen grinsend, »und deshalb rollt ihm der Helm davon.«
»Deinen Humor möcht ich haben«, sagte Schenk, aber auch er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Es war bekannt, dass Kelling Probleme hatte, den Riemen seines Tschakos korrekt festzuzurren.
Die Männer von der Kripo machten sich gern mal über Hauptwachtmeister Kelling lustig, der vor fünf Jahren die Leitung der Ordnungspolizei übernommen hatte, als das Revier Nr. 13 in Revier Nr. 36 umbenannt worden war. Damit war er zu Hansens Stellvertreter aufgestiegen. Dem Kommissar wäre es lieber gewesen, die Herren im Stadthaus hätten den gemütlichen Schenk auf diesen Posten gesetzt. Der war aber erst 1933 in die Partei eingetreten und nicht so strebsam wie Kelling.
»Warum macht er das eigentlich selbst?«, fragte Schenk.
»Du kennst ihn doch«, sagte Hansen. »Er muss immer erst mal selbst Hand anlegen. Das hilft bei der anschließenden Besserwisserei.«
»Ist auch nur ein Mensch«, stellte Schenk fest.
Sie beobachteten, wie Kelling in die Wache eilte und mit einem Gummiknüppel zurückkam. Damit gelang es ihm endlich, den Helm unter dem Auto hervorzuholen. Er setzte ihn wieder auf und zupfte an den Stoffmützen mit den schmalen Schlitzen herum, bis sie seiner Ansicht nach richtig auf den Scheinwerfern saßen. Dann ging er zurück ins Polizeigebäude.
»Er könnte sich auch noch um die Dinger hier kümmern«, sagte Hansen und deutete auf das schwarze Rollo, das über dem Fenster angebracht worden war.
»Wieso? Das hängt doch schon.«
»Zieh mal runter.«
Schenk zog das Rollo nach unten. Nach zwei Dritteln der Strecke klemmte es. »Gottverdammt«, fluchte er.
»Im ersten Stock funktionieren die alle einwandfrei«, sagte Hansen. »Ich werde mal Kelling fragen, wie sie das hingekriegt haben. Muss sowieso los.«
Wachtmeister Schenk blickte nach draußen. Das goldene Licht der untergehenden Herbstsonne, das sich eben noch über den Spielbudenplatz ergossen hatte, war verblasst. Ein Mann im Overall mit einer großen Umhängetasche ging von Baum zu Baum, legte Folienstreifen um die Stämme und nagelte sie fest.
»Dann soll er aber gleich mal jemanden hochschicken, es wird nämlich Zeit«, sagte Schenk.
»Also, dann bis später.« Hansen wandte sich um und nahm den Trenchcoat vom Garderobenhaken.
»Nee, nee!«, rief Schenk ihm hinterher, als er durch die Tür ins Treppenhaus verschwand. »Ich mach mich gleich auf die Socken. Ich hab’ nämlich Feierabend.«
»Jawohl, Herr Kommissar. Werde mich darum kümmern. Heil Hitler!«, sagte Kelling zum Abschied, nachdem Hansen ihn im Eingang der Wache abgefangen hatte.
Na, dann wird ja bald alles in Ordnung sein, dachte Hansen befriedigt, als er die Davidstraße überquerte. Eine Straßenbahn rumpelte aufgeregt klingelnd über die Kreuzung, Automobile hupten kampflustig, Motorräder knatterten nörgelnd vorbei. Feierabend. Bald wird es auf der Straße ganz ruhig werden, dachte Hansen. Und wie wir heute Nacht zu Fuß hier klarkommen sollen, weiß der Himmel. Seine Hand schloss sich um die Taschenlampe, die er vorsorglich schon am Nachmittag in die Manteltasche gesteckt hatte. Wenn nur die Birne nicht durchbrannte oder die Batterie ihren Geist aufgab.
Er liebte es, am frühen Abend die Reeperbahn Richtung Nobistor zu schlendern und sich dabei Gedanken zu machen, ob er am Wilhelmsplatz nach links oder in der Talstraße nach rechts abzweigen sollte. Seit zwei Jahren dauerte seine liebste Runde länger, denn sein Revier umfasste nun auch einige Straßen des Vergnügungsviertels, die bis 1937 zu Altona gehört hatten.
Hansen schaute auf die Armbanduhr und entschied, diesmal direkt zur Großen Freiheit zu gehen.
Seit Beginn der Dreißigerjahre war dies die strahlendste, glänzendste und lebendigste Straße der Amüsiermeile. Bunte Leuchtbuchstaben wiesen auf Etablissements hin, deren Namen weit über die Grenzen von Groß-Hamburg Berühmtheit erlangt hatten, grelle Girlanden und Leuchtbögen mit hunderten von Glühbirnen überspannten die Straßen von einer Seite zur anderen. Hansen entdeckte den Polizeiposten, der die verkehrsreiche Gegend rund um das Nobistor kontrollierte. Als der Mann ihn bemerkte, kam er mit schweren Stiefelschritten auf ihn zu und legte grüßend die Hand an den Tschako. »Heil Hitler, Herr Kommissar.«
»Guten Abend.« Hansen tippte mit dem Zeigefinger an die Hutkrempe. »Polizeimeister Lüttge, richtig?«
»Jawohl, Herr Kommissar.«
»Gut.« Hansen war froh, dass er sich an den Namen des Beamten auf Anhieb erinnert hatte. Der Mann gehörte noch nicht lange zum Revier. »Und? Alles in Ordnung?«
»Keine besonderen Vorkommnisse«, sagte der Polizeimeister.
»Die wissen hoffentlich alle Bescheid?«, fragte Hansen. »Aber gewiss doch!«
Schweigend standen sie unter der Lichterkette mit den riesigen Leuchtbuchstaben, die vom Bierhaus Schmidt bis zur anderen Seite der Reeperbahn verlief und erahnen ließ, dass die Große Freiheit keine Seiten-, sondern eine Hauptstraße des Vergnügens war.
»Da«, sagte Lüttge.
Der leuchtende Halbkreis mit dem Schriftzug »Winterhuder Märzen« auf dem Dach des Bierhauses erlosch. Dann verschwand das Wort »Tanz« von der Fassade, als Nächstes gingen »Bierhaus« und »Schmidt« aus und schließlich die Lampe, die die Tafel mit den angepriesenen Bierspezialitäten beleuchtete.
Es folgten die Leuchtschriften der Nachbarlokale: Das Eldorado verschwand in der hereinbrechenden Dunkelheit, ebenso das Indra und das Honolulu, der Schriftzug des Café Nordstern war plötzlich unsichtbar, beim Ballhaus Rheingold flackerten die Lampen, bevor sie erstarben, dann folgten die Jungmühle und das Hippodrom; gleichzeitig gingen die Lampen in den Schaukästen aus, und die Fotos und Zeichnungen, die die Passanten hereinlocken sollten, waren nicht mehr zu sehen. Die Silhouetten der Türsteher in den schmucken Uniformen wurden immer grauer. Das bisschen Helligkeit, das der Himmel noch hergab, war wirklich jämmerlich im Vergleich zu den künstlichen Lichtquellen. Einige Türsteher zogen sich ins Innere der Lokale zurück, andere schalteten Taschenlampen ein und leuchteten einander an, nur zum Scherz, denn so dunkel, dass die Lämpchen Sinn machten, war es noch nicht. Schließlich wurden die strahlenden Buchstaben vom Tanz-Café Neu-China und dem Restaurant-Varieté Cheong Shing abgeschaltet. Nur die Reklame des China-Restaurants Fong Leng blieb bestehen.
»Was ist denn da los?«, murmelte der Polizeimeister.
»Sind wohl doch nicht alle unterrichtet«, stellte Hansen fest.
»Na ja, die Chinesen«, sagte Lüttge. »Die lesen ja keine Zeitung und verstehen nur Tsching Tschang Tsingtau.«
»Dann geh’n Sie mal rüber und verklickern ihm, dass er seine Lizenz verliert, wenn er nicht augenblicklich die Lichter ausdreht.«
»Jawohl, Herr Kommissar.« Der Beamte salutierte und machte sich auf den Weg.
Hansen blickte die Reeperbahn entlang. Die Leuchtstreifen an den Bäumen und anderen Hindernissen glimmten grünlich. Auch andere Passanten waren stehen geblieben und schauten sich um. Einige holten ihre Leuchtplaketten heraus und hefteten sie an die Kleidung. Nur wenige schienen überrascht. Ausländer wahrscheinlich, sonst wussten ja alle Bescheid. Eben noch ein fröhlicher erster September, jetzt meint man, es sei November, dachte Hansen. Nur dass es noch wärmer ist. Aber was ist mein St. Pauli ohne Licht? Und wie soll das erst nachts werden, wenn wir jemanden verfolgen müssen? Die Verdunklung spielt den Dunkelmännern in die Hände, das steht fest.
Er hob den Kopf und starrte in den dunklen Himmel. Weiße Wolkenfetzen trieben am Himmel. Hatten die Polen überhaupt eine Luftwaffe?
Zu guter Letzt erlosch auch die Leuchttafel über dem Restaurant Fong Leng. Kurz darauf wurden die Verdunklungsrollos in den Fenstern heruntergezogen. Na bitte, dachte Hansen, etwas mehr Deutsch, als der Kollege dachte, kann der Chinamann also doch.
Die Tür des Lokals ging auf, und die Umrisse des Polizisten zeichneten sich ab. »Licht aus!«, brüllte ein die Straße entlanglaufender Luftschutzwart. Die Tür schloss sich. Hansen blieb gespannt stehen. Der Uniformierte schob eine Gestalt vor sich her, die ihm gerade mal bis zum Kinn reichte. Als die beiden näher kamen, erkannte Hansen, dass es der kleine Heinicke war. Ulrich Heinicke, vierzehn Jahre alt, Sohn eines Gastronomen und selbst schon unternehmerisch tätig als Stromkassierer.
Als sie bei Hansen angekommen waren, hob der Junge brav den Arm zum deutschen Gruß.
»Na, Ulrich, was hast du denn ausgefressen?«
Der Junge ließ den Kopf hängen. Er trug eine kleine Umhängetasche aus Leder bei sich.
»Kriegsgewinnler«, sagte Lüttge.
»Wie bitte?« Hansen war überrascht.
Der Polizeimeister deutete auf die Umhängetasche. »Er hat eine ganze Münzsammlung da drin.«
»Um was geht’s denn eigentlich?«, fragte Hansen.
»Ich bin betrogen worden«, sagte Ulrich Heinicke und betonte das ›Ich‹.
»Von wem?«, fragte Hansen. »Und wie?«
»Unsinn«, sagte Lüttge. »Er muss die Tasche da abgeben.« Er versuchte, danach zu greifen, aber der Junge schob sie sich auf den Rücken und trat einen Schritt zurück.
»Na warte, Bürschchen«, sagte der Polizist und packte den Jungen am Unterarm, um ihn zu sich zu zerren.
»Moment mal, immer mit der Ruhe!«, rief Hansen. Er zog seine Lampe aus der Tasche, knipste sie an und leuchtete damit auf die Tasche.
»Sieht nicht sehr voll aus«, stellte er fest.
»Ja, eben«, sagte der Junge störrisch.
»Also?« Hansen sah ihn fragend an, auch wenn der Junge seinen Ausdruck in der Dunkelheit wohl kaum mehr wahrnehmen konnte.
»Von wegen nicht voll«, mischte sich der Uniformierte wieder ein. »Das sind alles Heiermänner da drin.«
»Das ist doch normal«, sagte Hansen zu seinem Untergebenen.
»Wie lange sind Sie eigentlich schon bei uns, Lüttge?«
»Seit zwei Wochen, Herr Kommissar.«
»Aha, heute erster Nachtdienst in der Freiheit?«
»Zweites Mal.«
»Aber mit Ulrich Heinicke noch nicht bekannt.«
»Nein, aber ist doch wohl klar, dass der Bengel nach Hause muss.«
Hansen richtete den Lichtkegel der Taschenlampe auf die Brust des Jungen. »Nach getaner Arbeit geht’s ab nach Hause wie jeden Tag, stimmt’s, Ulrich?«
»Ja klar. Darf ich dann also gehen?«
»Gleich, Ulrich.«
Polizeimeister Lüttge starrte Hansen erstaunt an. »Aber er hat den Chinesen dazu gebracht, gegen das Verdunklungsverbot zu verstoßen, und dann wollte er ihn erpressen.«
»Nein!«, rief der Junge. »Das ist doch gar nicht wahr. Der schuldete mir noch was! Und überhaupt kann ich meine Arbeit vergessen, wenn’s jetzt immer dunkel sein muss.« Er zog den Riemen seiner Tasche über den Kopf und schmiss sie auf den Boden.
»Na, na, Ulrich«, sagte Hansen. »Ist doch dein Geld da drin, oder?«
»Ach was, das muss ich jetzt eh zurückgeben. Es lohnt sich nicht mehr, wenn ich jeden Tag nur noch für zwanzig Pfennig pro Kneipe Münzen in den Zähler schmeiße.«
»Was macht er?«, fragte Lüttge verwirrt.
»Er kassiert von den Wirten der Großen Freiheit das Geld für die gemeinsamen Lichterketten. Irgendjemand muss sich ja darum kümmern, dass der Stromzähler immer rechtzeitig mit Münzen gefüllt wird, sonst wird’s dunkel.«
»Ist es ja jetzt«, klagte Ulrich Heinicke. »Wird doch gar nicht mehr richtig angemacht. Tagsüber bringt es sowieso nichts. Und jetzt wollen sie alle ihr Geld zurückhaben. Und ich geb’s ihnen ja auch, aber der Chinese da hatte noch Schulden bei mir. Weil er nicht rechnen kann, hat er sich bockig gestellt und meinte, dann lässt er das Licht eben an, er zahlt nicht fürs Ausmachen, sagt er.«
Hansen sah Lüttge an. »Stimmt das so?«
Der Polizeimeister hob die Schultern. »Ich hab’ doch kaum was verstanden von diesem Kauderwelsch. Der Chinese war wütend, weil der Junge Geld haben wollte, und ich sagte, er müsse trotzdem das Licht ausmachen.«
»Ein Missverständnis also.«
»Wenn Sie meinen, Herr Kommissar.«
»Ja.« Hansen hob die Geldtasche auf. »Und das Geld hier drin wolltest du zurückgeben?« Er hielt die Tasche hoch.
»Klar, ist doch Ehrensache«, sagte Ulrich Heinicke. »Aber die, die zu wenig gegeben haben, muss ich trotzdem abkassieren, sonst zahl ich drauf.«
»Das stimmt.« Hansen gab ihm die Tasche. »Dennoch solltest du besser morgen Nachmittag weitermachen, wenn es hell ist. Die Zeiten haben sich geändert, mein Junge.«
»Jawohl, Herr Kommissar. Soll ich dann gehen?«
»Schnurstracks nach Hause.«
»In Ordnung, also tschüss dann!«
Ulrich Heinicke rannte los und verschwand im Dunkel der Großen Freiheit.
»Den sollten Sie mal lieber in die HJ stecken, damit er anständig zu grüßen lernt.«
»Nun machen Sie mal weiter, Lüttge. Und halten Sie die Augen offen.« Hansen knipste die Lampe aus und ging.
»Heil Hitler, Herr Kommissar«, sagte Lüttge hinter ihm. Hansen ging die Reeperbahn hinauf. Aus den Vergnügungslokalen drang Musik und Gelächter, aber kein Lichtschein. Die Straßenbahnen und Autos fuhren langsamer als sonst und beleuchteten die Fahrbahn vor ihnen nur mit einem schmalen Lichtstrahl, der durch den Schlitz der Verdunklungskappen drang. Ab und zu blitzte es an den Hochspannungsleitungen der Straßenbahnen. Im Innern der Waggons konnte man kaum die Schatten der Passagiere erkennen.
Über diese Blitze, die man sonst kaum sieht, freut man sich jetzt, dachte Hansen. Ebenso wie über jedes Aufflackern eines Streichholzes oder den Lichtstrahl eines Feuerzeugs, die Leuchtplaketten an den Klamotten oder das Glimmen einer Zigarette. Und dieses Liebespaar da drüben scheint sich einen Spaß daraus zu machen, sich mit der Taschenlampe ins Gesicht zu leuchten, bevor es sich küsst.
Er betrat eine Bierhalle, um etwas Licht zu tanken. Drinnen war alles so wie immer: Vor einer Bühne mit künstlichem Alpenpanorama spielte eine Blaskapelle bayerische Stimmungsmusik, und Männer in Lederhosen jodelten dazu. Die langen, rohen Tische waren gut besetzt, und muskulöse Kellnerinnen trugen mächtige Bierkrüge durch den Saal. Später gibt’s dann wieder die obligatorische Schlägerei, und alles ist wie im Frieden, dachte Hansen.
Er klapperte noch einige Lokale ab, um herauszufinden, ob die Verdunklung das Nachtleben trübte, aber auf St. Pauli lebte der Leichtsinn fort wie eh und je.
Auf seltsame Art erleichtert, kehrte Hansen zur Davidwache zurück. Im Hochparterre war es dunkel, ebenso im ersten Stock und im zweiten. Nur im dritten, wo sich seine Dienstwohnung befand, bemerkte man, wenn man genau hinschaute, dass die Rollos noch nicht herabgelassen waren. Aber das war kein Problem, so lange dort kein Licht anging.
Darauf musst du achten, dachte Hansen, geh als gutes Beispiel voran, das tust du schließlich schon seit zwanzig Jahren. Solltest nicht nachlässig werden, auf deine alten Tage.
Im Wachraum wurde er vom diensthabenden Beamten begrüßt, der seltsamerweise aufstand, Haltung annahm und sagte: »Sie werden erwartet, Herr Kommissar, in … Ihrem Büro.«
»Was gibt’s denn?«
»Kelling, Herr Kommissar, er ist zum Kommissar befördert worden.«
»Kelling? Befördert? Wieso weiß ich nichts davon?«
»Gerade erst passiert, Herr Kommissar.«
»Mitten in der Nacht?«
»Jawohl, so verhält es sich offenbar.«
»Na ja … Und dann sucht er sich mein Büro aus, um zu feiern?«
»Er feiert nicht, Herr Kommissar. Kriminalrat Stallmann ist bei ihm.«
»Stallmann aus dem Stadthaus?«
»Ja …«
Hansen stutzte. »Was will der denn hier so spät am Tag?«
»Sie sind gleich nach oben gegangen. Kelling hat ihn wohl schon erwartet. Ich dachte, Sie wüssten …«
»Nee, da hat wohl mal wieder jemand in der Zentrale vergessen durchzurufen. Die machen uns immer die Hölle heiß, aber selber sind sie auch nicht besser.«
»Ich soll Ihnen bloß ausrichten, dass Sie gleich hochkommen sollen«, sagte der Beamte, setzte sich wieder und wandte sich der Kladde mit den Diensteinträgen zu.
Hansen seufzte. Laut Dienstplan hatte er jetzt eigentlich Feierabend. Nach fünf Tagen Frühdienst und zwei nächtlichen Einsätzen war er müde. Ihm stand jetzt nur noch der Sinn danach, in den eigenen vier Wänden einen steifen Grog zu trinken, im Sessel zu sitzen, die Beine hochzulegen. Und vielleicht gab es ja noch ein bisschen Radiomusik; die brachten jetzt zwar immer mehr Volksmusik, aber hier in Hamburg wurden auch oft Seemannslieder gespielt. Die hörte er gern, die alten Lieder, manchmal sang er leise ein bisschen mit, war ja lange her, dass er draußen auf See gewesen war. Seit er abgemustert hatte, war er bestenfalls mal mit einem Dampfer nach Helgoland geschippert. Bootsmann Hansen war eine Landratte geworden. Aber wenn die alten Lieder aus dem Radioapparat tönten und der Grog ihn wärmte und sein abscheuliches Rheuma mit kribbeligem Wohlgefühl überdeckte, dann sah er sich wieder an Bord des Panzerkreuzers stehen und nach fliegenden Fischen Ausschau halten. Manchmal passierte es, dass er im Sessel einschlief und am nächsten Morgen mit bleischweren Gliedern und steifen Gelenken aufwachte, und das Kribbeln, das er dann im Rücken spürte, war alles andere als Wohlbehagen. So wurde man alt, aber die Lieder, die wurden es nicht.
Hansen stieg die Treppe hinauf in den zweiten Stock. Die Tür zu seinem Büro war einen Spaltbreit offen. Da drinnen saßen jetzt also Kelling und Stallmann, die hätten sich auch einen anderen Platz zum Warten aussuchen können …
Hansen schob die Tür auf, trat ein und sagte: »Guten Abend.« Kelling sprang von Hansens Platz hinter dem Schreibtisch auf und hob den Arm zum »Deutschen Gruß«. Stallmann, der gerade die große Hamburg-Karte an der Wand studiert hatte, drehte sich um. Er trug einen schwarzen Ledermantel und überragte den nicht gerade klein gewachsenen Hansen um einiges. Kantiges Gesicht, schütteres Haar, krumm gewachsen, aber ein scharfer Hund, der Karriere in der SS gemacht hatte, bevor sie ihm einen leitenden Posten bei der Hamburger Polizei gegeben hatten.
»Na, Kelling, saßen Sie bequem?«, fragte Hansen.
»Man gewöhnt sich dran.«
Hansen wandte sich an Kriminalrat Stallmann: »Ich hoffe, Sie haben nicht allzu lange auf mich warten müssen. Aber ich wollte mich persönlich davon überzeugen, dass die Verdunklungsvorschriften im Revier eingehalten werden.«
»Und?«, fragte Stallmann.
»Alles bestens.«
»Na schön.«
Kelling hinter dem Schreibtisch schien wie angewurzelt.
»Darf ich dann mal?«, fragte Hansen und ging drei Schritte um den Tisch herum.
Kelling schaute zu Stallmann.
»Lassen Sie mal, Hansen«, sagte der Kriminalrat. »Kommissar Kelling macht sich doch ganz gut auf dem Platz da.«
»Na, herzlichen Glückwunsch zur Beförderung, aber er will ja wohl nicht heute Abend noch die Revierleitung übernehmen«, sagte Hansen scherzhaft.
»Doch, das will er«, sagte Stallmann. Kelling setzte sich wieder.
Hansen schüttelte den Kopf. »Lass man, Kelling, der Stuhl da passt mir immer noch ganz gut.«
»Mit sofortiger Wirkung sind Sie nur noch stellvertretender Revierleiter«, sagte Stallmann.
Hansen schaute verwirrt auf und merkte, dass sich sein Brustkorb zusammenzog.
Kelling hüstelte. Dieser aalglatte, übereifrige, strebsame, kriecherische Kelling, der hier vor knapp zwanzig Jahren schon hackenschlagend reingekommen war, der nur darauf gewartet hatte, bis seine Stunde schlägt, der auf der Lauer gelegen hatte, wie ein Aasgeier in gebügelter Uniform und immer so tat, als wäre er glücklich mit den Häppchen, die man ihm zuwarf – jetzt hatte er sein Ziel erreicht. Und ich hab’s immer schon gewusst, dass er das will, dachte Hansen, und da hüstelt er, der Widerling, weil’s ihm peinlich ist, diesem Streber, und ich steh da wie ein Ölgötze und lass mich abkanzeln und weiß auch genau, wieso, die haben mich doch schon die ganze Zeit auf dem Kieker, und du Trottel bist selber schuld, hättest dich ein bisschen mehr anpassen müssen an die neue Zeit, aber dazu bist du wohl zu alt, Kommissar Hansen, was?
Diese Gedankenflut schoss ihm in Windeseile durch den Kopf, aber heraus bekam er nur die Frage: »Warum denn?«
Stallmann ging zwei Schritte auf ihn zu. »Sie hätten sich mehr den Idealen der nationalsozialistischen Verbrechensbekämpfung widmen sollen, Hansen. Das Herumdoktern an den Symptomen dieser Volksseuche ist nicht genug. Nirgendwo, schon gar nicht hier, wo die sittliche Gefährdung des Volkskörpers stets aufs Neue an der Tagesordnung ist. Wir vermissen rigoroses Durchgreifen, Hansen. Vielleicht sind Sie ja nur zu alt und deshalb verweichlicht, könnte sein. Aber in die Partei sind Sie auch nicht eingetreten. Wir verlangen ja kein großes Opfer von Ihnen, nur eine deutliche Antwort auf die Frage, wo Sie stehen, und da haben wir keine Antwort von Ihnen erhalten, Kommissar Hansen, jedenfalls keine befriedigende. Sie sind oft genug aufgefordert worden, sich einzufügen. Sechs Jahre lang hatten Sie Zeit dazu. Jetzt müssen Sie die Konsequenzen tragen. Im Übrigen …«, Stallmann senkte die Stimme und lächelte scheinbar freundlich, »… ist es in Ihrem Alter vielleicht sogar besser, zurück ins Glied zu treten, um jüngeren Kräften Platz zu machen.«
Stallmann faltete einen Brief auseinander und hielt ihn ihm hin. »Hier ist die Anordnung, gültig ab sofort.«
Hansen nahm den Zettel entgegen und schaute darauf. Die Buchstaben verschwammen ihm vor den Augen. Seine Lesebrille musste auf dem Schreibtisch liegen, auf seinem Schreibtisch, auf Kellings Schreibtisch …
»Kelling«, kommandierte Stallmann, »Sie übernehmen ab sofort die Leitung der Wache!«
Kelling sprang auf, schlug die Hacken zusammen und rief:
»Jawohl, Herr Kriminalrat.«
Hansen seufzte. Jahrelang hatte er versucht, diesem Idioten das militärische Getue abzugewöhnen. Erfolglos offensichtlich. Und wie man sah, kam er doch weiter damit.
»Kommissar Hansen, Sie arbeiten ihren Nachfolger zügig ein.«
»Mach’ ich, mach’ ich.«
»Gut, dann ist also alles klar. Heil Hitler, meine Herren.« Kelling hob den Arm, und als Stallmann nach draußen verschwand, setzte er sich wieder.
Hansen schaute ihn an. »Sie wollen das Büro hier, hm?«
Kelling nickte. »Natürlich. Sie werden nebenan zu Schenk ziehen.«
»In die Veteranen-Abstellkammer.« Hansen lachte auf.
»Ich möchte Sie bitten, auch weiterhin gewissenhaft Ihrem Dienst nachzugehen«, sagte Kelling eisig. »Ihr neuer Dienstplan liegt nebenan. Sie dürfen übrigens bis auf Weiteres in Ihrer Dienstwohnung bleiben.«
»So? Sehr freundlich. Na, dann gute Nacht, Herr Kommissar.«
Hansen machte kehrt und war kurz versucht, die Tür hinter sich zuzuknallen, aber dann ließ er sie einfach offen stehen.
An einem heißen Augusttag des Jahres 1941 stand Ulrich Heinicke nachmittags am Eisengeländer der U-Bahn-Station am Millerntor und starrte nach unten. Er war völlig durchgeschwitzt, selbst in den kurzen Hosen der HJ-Uniform konnte einem an diesem Tag ziemlich warm werden, zumal dann, wenn man eine schwere Segeltuchtasche bei sich trug.
Ich könnte ja runtergehen, dachte er, dort ist es kühl. Kannst dir glatt einen Schnupfen holen da unten, wenn du aufgeheizt und verschwitzt rumhockst und wartest. Verschnupft bin ich aber schon. Ulrich lächelte verträumt vor sich hin. Er hatte sich ein Geheimvokabular zurechtgelegt, das verschlüsselt seinen Gemütszustand beschrieb. Wenn er so weitermachte, würde er bald ein kleines Lexikon mit seinen Privatvokabeln verfassen können.
»Mir ist heiß« bedeutete zum Beispiel, dass er es kaum noch aushielt; »ich bin ausgedörrt« hieß, dass er kurz davor stand, sich in die Elbe zu stürzen; »im Schatten sitzen« sollte ausdrücken, dass er einen guten Platz gefunden hatte, um »Sonnenstrahlen aufzufangen«, die merkwürdigerweise von einer »Wolke« ausgingen; diese »Wolke« war die Ursache seiner eigenartigen Gemütsverfassung: Zuerst hatte er sie »Windhauch« genannt, dann »Elbbrise« und einmal auch »Schmetterling«, woran er aber keine gute Erinnerung hatte, denn er hatte irgendwann herausgefunden, warum der Schmetterling so fröhlich umhergeflattert war.
Tatsächlich handelte es sich um »Fräulein Schmetterling«, »Fräulein Elbbrise«, »Fräulein Windhauch« oder »meine Wolke«.
In allen Fällen handelte es sich um dieselbe Person, eine vermutlich siebzehnjährige Blondine mit hübschen Löckchen, die mit Vornamen Vera hieß. Diesen Namen würde Ulrich aber erst dann für sich zur Benutzung freigeben, wenn er einmal ein Wort mit ihr gewechselt hatte. Vorher war es tabu, den Namen auch nur zu denken – als Strafe für seine Trägheit als Eroberer und als Anreiz, es doch endlich zu versuchen. Bis es so weit war, würde sehr wahrscheinlich noch viel Wasser die Elbe hinunterfließen, und es würden wohl noch eine ganze Menge englischer Bomben auf die Hansestadt fallen.
Aber es ist gut, wenn man ein Ziel hat, dachte Ulrich. Und der Sommer ist lang, und die Tage haben viele Stunden, vor allem die Nachmittage dehnen sich ins Endlose, und der einzige Trost ist, dass es zwei Tage in der Woche gibt, wo sich das Warten wirklich lohnt.
Ulrich sah auf die Uhr. Kurz nach vier. Gleich musste sie auftauchen. Sie kam nie einen Zug zu früh, nur selten einen zu spät. Bloß einmal war sie mit der Straßenbahn zum Millerntor gefahren. Er hatte sie nur durch Zufall bemerkt. Aber seitdem wartete er hier oben und behielt die Tram-Haltestelle im Blick. Da! Er hörte das Rattern der einfahrenden U-Bahn, das Geräusch der sich öffnenden Türen, das Getrappel der Passagiere, die sich dem Ausgang zubewegten.
Die Wolke schwebte die Treppe herauf ans Sonnenlicht. Sie trug einen roten Faltenrock und eine karierte Bluse, in der Hand hielt sie eine Ledertasche, aus der ein paar Notenhefte herausragten. Ulrich vermutete, dass sie an den beiden Tagen, an denen er ihr auflauerte, zum Musikunterricht in die Stadt fuhr. Klavier wahrscheinlich, denn sie trug keinen Instrumentenkoffer bei sich. Sicher kam sie aus der Innenstadt, sonst würde sie nicht die Hochbahn nehmen, die den Hafen entlangfuhr. Und da sie später in die Straßenbahn Linie 4 nach Klein-Flottbek einstieg, lag die Vermutung nahe, dass sie über Altona in einen der Elbvororte zurückkehrte, wo sie in Verhältnissen lebte, die Ulrich sich lieber nicht vorstellen wollte, weil er dann mit Sicherheit zu dem Ergebnis kommen würde, dass er im Vergleich zu seiner Wolke bestenfalls ein Staubkörnchen in der Schmuddelecke der Stadt darstellte.
Das Gute an dieser HJ-Uniform war, dass man darin nicht auffiel. Man wurde auch nicht so schnell kontrolliert, denn man gehörte ja zu denen, die kontrollierten. Viel eher würde jemand die Wolke fragen, was sie denn da für Bücher in ihrer Tasche durch die Gegend trage, als ihn nach diesen verdammt schweren Schellackplatten, die bewirkten, dass ihm der Tragriemen seiner Tasche in die Schulter schnitt.
Selbst schuld, er hätte ja nicht den Umweg übers Millerntor machen müssen. Aber er litt gern ein wenig, um ihr hinterherlaufen zu dürfen. Nur musste er vermeiden, ins Schwitzen zu kommen. Schweißflecken auf der Uniform würden ihr gar nicht gefallen, wenn sie ihn mal ansehen würde, was sie aber nie tat, weil er in seiner Uniform ja praktisch unsichtbar war. Bald würde auch er sich so einen flotten Anzug besorgen wie ihre Freunde. Er sparte dafür. Jeden Pfennig legte er beiseite. Er musste nur noch herausfinden, wo man diese zweireihigen Karo-Jacketts gebraucht bekommen konnte. Vielleicht frage ich heute einen von den Heinis danach, wenn sie gut gelaunt sind, dachte er … aber einen Sonderpreis mache ich denen nicht, sonst wird nie was aus meinen Plänen.
Die Wolke überquerte die Straße und ging mit wippendem Rock auf die Schaukästen vor dem Café Heinze zu. Wie immer. Sie blieb dann eine Weile dort stehen und betrachtete die Plakate und Fotos der auftretenden Künstler und Musiker. Obwohl seit langem überall das Tanzen verboten war, traten auf St. Pauli weiterhin Tanzkapellen aus aller Welt auf, na ja, aus befreundeten Ländern: Englische und amerikanische Musiker waren geächtet, aber italienische, spanische, schwedische, holländische und deutsche Orchester begeisterten das vergnügungssüchtige Hamburger Publikum. Ulrich kannte inzwischen die Namen der berühmtesten unter ihnen und konnte einschätzen, ob die Freunde der Wolke abends vor dem Heinze herumlungern würden oder nicht.
Nächste Woche würden sie ganz sicher ständig hier aufkreuzen, denn der elegante schwedische Kapellmeister Arne Hülphers war angekündigt, zusammen mit dieser Sängerin, die beinahe eine zweite Wolke für Ulrich hätte werden können, wenn sie nicht in viel zu weit entfernten Sphären schweben würde – Greta Wassberg!
Die Wolke stand ein bisschen länger als sonst vor den Schaukästen. Ulrich hatte sie einmal dabei beobachtet, wie sie versucht hatte, die Hand durch eine Ritze zu quetschen, um an ein Foto zu kommen. Es war ihr nicht gelungen.
Nun überquerte sie die Reeperbahn. Auch das tat sie immer, denn drüben auf der anderen Seite gab es weitere Lokale, die für musikbegeisterte Menschen interessant waren, der Trichter und das Café Rheinterrassen beispielsweise, und sogar in der Wilhelmshalle neben dem Panoptikum traten Tango-Orchester auf.
Wenn sie dann weiter über den Spielbudenplatz ging, lief sie stets ein bisschen schneller, vielleicht fürchtete sie, zu spät zu kommen. Es war ja noch ein gutes Stück bis zur S-Bahn-Station, und nach Blankenese hinaus, das dauerte ja auch … doch darüber wollte Ulrich sich ja keine Gedanken machen.
Aber was war denn jetzt mit ihr los? Wieso bog sie auf einmal in die Taubenstraße ein? Da will ich doch hin!, schoss es ihm durch den Kopf. Da hat doch die Wolke nichts zu suchen. Das ist doch meine Geschäftsstraße!
Zu allem Überfluss steuerte sie dann mit wippendem, rotem Faltenrock zielstrebig auf das Antiquitätengeschäft von Arndt Jäger zu, hüpfte die drei Stufen hoch und verschwand darin.
Ulrich Heinicke blieb stehen. Da konnte er jetzt nicht rein, unmöglich. Heimlich hinterherzulaufen war eine Sache, aber ihr so direkt nachzugehen, im selben Raum mit ihr zu stehen und sich direkt anzusehen eine andere. Und womöglich wäre man auch noch gezwungen, miteinander zu reden … »Entschuldigung, dürfte ich da mal vorbei, Verzeihung, es ist sehr eng, würden Sie mir mal die Platte dort geben? Nein, nicht die von Teddy Stauffer, Bernard Etté, meine ich, ja, danke, mögen Sie Etté? Mir ist ja Heinz Wehner lieber, aber der spielt ja nicht mehr hier. Wie bitte? Nein, Widmann mag ich lieber als Glahé …« So redeten die doch. Manche Namen waren Ulrich inzwischen ein Begriff, man hörte in den einschlägigen Läden ja manchmal eine Schellackplatte, hatte ja nicht jeder ein Grammofon, und im Radio brachten sie diese Art von Musik nicht.
Aber jetzt da drin, und ich mir ihr, dachte er, und dann fragt sie mich womöglich, ob ich den Tiger Rag lieber von Francesco Scarpa oder Fud Candrix mag, und ich kenn’ doch bloß die Namen von den Plattenetiketten, aber die Musik so gut wie gar nicht, ich würde mich blamieren.
Es zog ihn dennoch unbarmherzig bis vor das Schaufenster von »Jägers Rumpelkiste«. Er lugte zwischen dem ganzen Krempel im Schaufenster durch ins Innere, und da war ja auch Kurt mit ein paar Freunden, und der redete mit der Wolke. Kennen die sich, oder haben die sich eben zum ersten Mal getroffen?, fragte er sich. Ach, Mensch, so sollte die mich mal anlächeln. Es wird wirklich Zeit, dass ich meine verfluchte Tarnuniform loswerde. Ich brauch so ein Jackett oder … guck dir mal den Anzug an, den er trägt, bei dem Wetter mit ’nem Binder! Oh, jetzt hat er mich entdeckt.
Kurt Singer, von seinen Freunden auch respektvoll »der Swinger« genannt, schaute nach draußen, nachdem er der Wolke kopfschüttelnd irgendwas erklärt hatte, wobei er ständig auf einer Karstadt-Plattenhülle herumtippte, die ihm wohl nicht zusagte. Jetzt legte er dem Mädchen kurz die Hand auf die Schulter, sagte offenbar ein paar entschuldigende Worte und schob sich an ihr vorbei zur Tür.
Die Tür öffnete sich, und Kurt nickte Ulrich zu, der gerade noch bewundernd darüber nachsann, wie einfach es dem Swinger fiel, der Wolke eine Hand auf die sanft geschwungene Schulter zu legen, ohne sich zu verbrennen, im Erdboden zu versinken oder zur Salzsäule zu erstarren. Donnerwetter.
»He, Ulrich«, sagte Kurt und setzte sich den Scötch auf, was bei dieser Hitze wirklich idiotisch war, aber der Swinger achtete nicht aufs Wetter, sondern auf Stil. »Bist ja spät dran heute.«
»Wie?«, fragte Ulrich. »Ist nicht meine Schuld. Hab’ mich beeilt.« Und er schien tatsächlich außer Atem zu sein.
»Macht ja nichts, Hauptsache, du hast was dabei.«
Ulrich warf noch einen kurzen verstohlenen Blick durchs Schaufenster und blinzelte, als würde ihn die Sonne blenden. Die Wolke beugte sich mit sanft herabfallenden Locken über eine Plattenkiste.
Kurt packte ihn am Arm. »Na, komm mal ein Stück mit. Der alte Arndt muss ja nicht mitkriegen, dass er einen Konkurrenten hat.«
»Wen denn?«, fragte Ulrich verdattert.
Kurt lachte. »Na, dich, wen denn sonst? Du kannst bald ’nen eigenen Laden aufmachen, Mensch. Der hat doch nur noch Tempo-Platten und Brillant-Spezial.«
Sie gingen die Taubenstraße entlang bis zur Hopfenstraße und setzten sich auf ein Mäuerchen gegenüber der Brauerei.
»Na, dann zeig mal, was du diesmal auf der Pfanne hast.«
Ulrich zog seine Schätze aus der Tasche. »Heute wird’s aber ein bisschen teurer, sagt mein Bruder.«
»Wieso das denn?«
Ulrich schaute sich verschwörerisch um und senkte die Stimme. »Das sind englische.« Er reichte Kurt den Stapel Schellackplatten. Der sah ihn hastig durch und stieß einen leisen Pfiff aus.
»Cab Kaye, Harry Roy, die Dersey Brothers, Benny Goodman und – Donnerwetter! – Duke Ellington!«
»Er will doppelt so viel. Er sagt, es ist jetzt auch nicht mehr so einfach in Dänemark. Das mit den Platten haben inzwischen einige spitzgekriegt, die Dinger werden knapp, und knapp heißt teuer.«
»Bist ja ein schlaues Kerlchen«, sagte Kurt nachdenklich. »Aber wie machen wir’s? So viel Geld kann ich nicht auf einmal lockermachen.«
»Dann nimmst du zwei, und ich heb dir den Rest auf.«
»Und dann verscherbelst du die an jemand anderen. Ich weiß doch, wie scharf die alle darauf sind.«
»Mach ich nicht, Kurt, ehrlich.«
»Ist dir klar, dass du solche Geschäfte nur machen kannst, weil dein Bruder zufällig in Dänemark stationiert ist? So ein Privileg solltest du nicht ausnutzen.«
»Wieso nicht?«
»Hast du denn keine Moral? Einem alten Freund das Hemd über den Kopf zu ziehen, Mensch, Ulrich!«
»Wir sind befreundet?«
»Na, was dachtest du denn?«
»Weiß nicht.«
»Also pass auf, ich zahl dir fünfzig Prozent mehr, das ist fast doppelt so viel, und zwar in zwei Raten; übermorgen kommst du wieder her, dann kriegst du die zweite. Die Platten kannst du mir ja schon mal überlassen.«
»Nee, das geht nicht.«
»Mensch, Junge! Wir planen einen anständigen Budenzauber morgen Abend. Da kann ich mit den Scheiben ganz schön reüssieren.«
»Du kannst was?«
»Eindruck schinden.«
»Ach so.«
Kurt stand auf und hielt Ulrich die Hand hin. »Schlag ein!« Ulrich stand zögernd auf. »Ich geb dir doch lieber erst mal die Hälfte. Sind ja nicht meine. Das geht wirklich nicht, dass ich die einfach hergebe, wo ich noch nicht mal weiß, wo du wohnst.«
Kurt kniff die Augen zusammen. »Willste jetzt irgendwas aus mir raushorchen?«
»Quatsch, du weißt ganz genau, dass ich dich nicht verpfeife, bin ja sonst selbst dran, und mein Bruder erst recht.«
Kurt gab ihm einen Klaps. »Schwamm drüber. Also meinetwegen, hier.« Er zog eine Handvoll Münzen und einen Schein aus der Tasche. »Mehr hab’ ich nicht. Goodman, Ellington und Cab Kaye, in Ordnung?«
Ulrich nickte, nahm das Geld und übergab die Platten. Gemeinsam trotteten sie die Taubenstraße zurück. Als sie vor Jägers Rumpelkiste ankamen, ging die Ladentür auf, und die Wolke schwebte heraus. Sie lächelte Kurt zu und sagte: »Tschüss, bis morgen!«
Kurt hob lässig die Hand. »Swing heil, Baby.« Die Wolke eilte davon.
Kurt legte die Hand auf die Stirn und deutete einen Ohnmachtsanfall an. »Man, man, an«, sagte er, »jetzt schau dir das an. Wenn ich nicht wüsste, dass es die Kleine da wirklich gibt, würde ich sagen, sie ist eine, äh …«
»Wolke«, sagte Ulrich.
Kurt lachte. »Und was für eine Wolke!«
Der rote Faltenrock verschwand um die nächste Straßenecke. Ulrich hatte eine Eingebung. »Und das ist morgen eine Privatfeier?«
»Was?«
»Der Budenzauber.«
»Ja, ja.«
»Ich schenk dir die drei restlichen Platten, wenn ich kommen darf.«
»Was?« Kurt glotzte ihn verständnislos an. Dann grinste er: »In den kurzen Hosen?«
»Eben nicht, mein Vorschlag gilt unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
»Du hilfst mir, so einen Anzug und so einen Hut zu besorgen.« Kurt hielt ihm die Hand hin. »Überläufer sind immer willkommen. Schlag ein! Der Handel gilt!«
Und so kam es, dass Ulrich Heinicke durch eine vorbeiziehende Wolke dazu verleitet wurde, die kurzen Hosen der Hitlerjugend gegen einen Zweireiher aus englischem Tuch einzutauschen.
»Ein paar von den Damen könnten mir schon gefallen«, sagte Jens Lange und nahm den Zahnstocher aus dem Mund.
»Damen? Sagtest du Damen? Und was meinst du eigentlich mit gefallen?«, fragte Kurt Singer.
Jens kicherte.
Sie lehnten beide an einer Laterne vor dem Zillertal am Spielbudenplatz und betrachteten mit unverhohlen spöttischem Gesichtsausdruck eine Gruppe von »Kraft-durch-Freude«-Urlaubern, die, angeführt von einem älteren Herrn im Trachtenjanker, auf das Vergnügungslokal neben dem Hallenbad zusteuerte. Es waren brave Arbeiter und Angestellte aus Niedersachsen, die ihr Leistungssoll an der Heimatfront übererfüllt hatten und als Prämie eine verbilligte Reise mit einem Dampfschiff über Nord- und Ostsee unternehmen durften. Endstation und Höhepunkt solcher Kreuzfahrten war Hamburg mit seiner Reeperbahn.
Bei den Damen, die Kurt und Jens ins Auge gefasst hatten, handelte es sich um zwei Mollige, die eine brünett, die andere schwarzhaarig, beide Typ Sekretärin und bestimmt noch ledig, also das ideale Freiwild für die beiden groß gewachsenen Achtzehnjährigen. In ihren Anzügen, Kurt mit Staubmantel und Homburger, Jens mit Macintosh und Panama-Hut, konnten die beiden durchaus als Zweiundzwanzigjährige durchgehen. Wenn sie es sich fest vornahmen, gelang es ihnen sogar, sich wie Kavaliere zu benehmen. Auf diese Weise gewannen sie ab und zu in Cafés oder harmloseren Vergnügungsstätten das Vertrauen ahnungsloser Provinzlerinnen. Bevorzugt besuchten sie zu diesem Zweck eines jener Lokale, in denen die Kellner Botendienste für die Gäste erledigten: Man schrieb kleine Botschaften auf bereitliegende Kärtchen, steckte sie in einen Umschlag und legte diesen, versehen mit der Tischnummer, auf ein Tablett. Der Kellner überbrachte die Botschaft und stellte dafür weniger Gebühr in Rechnung als die Reichspost. Kam eine Botschaft zurück, konnte man unter Umständen Blickkontakt aufnehmen und, wenn sich beiden Seiten sympathisch waren, einen Tischwechsel in Betracht ziehen.
Da das Tanzverbot erst zu später Stunde und nur gelegentlich missachtet werden konnte, blieb einem nichts weiter übrig, als zu reden und zu trinken. Beides konnten die jungen Herren sehr gut, die auserwählten Damen wurden meist schon nach der zweiten Flasche Sekt unaufmerksam und bemerkten den Verlust ihrer Geldbörse nur in den seltensten Fällen an Ort und Stelle. Kurt und Jens richteten es immer so ein, dass der eine mit dem Geld aus dem fremden Portemonnaie bezahlte, während sich der andere Richtung Toilette entschuldigte. Dort trafen sich die beiden dann und verschwanden diskret durch eine Hintertür oder ein Fenster.
Im Zillertal war das alles nicht so einfach. Da musste man Bier trinken und zu Blasmusik schunkeln. Man saß mit vielen anderen auf langen Holzbänken und war viel mehr Blicken ausgeliefert als in den diskreten Nischen eines Kaffeehauses. Schunkeln und gleichzeitig eine Geldbörse aus der Damenhandtasche zu fischen, das war ein Kunststück, zumal man ja ständig damit rechnen musste, dass eine Kellnerin mit Nachschub hinter einem auftauchte. Ein neues Bier bekam man schon, bevor man sein altes ausgetrunken hatte.
»Na, was ist«, sagte Jens, nachdem er den Zahnstocher in hohem Bogen auf die Straße geschnippt hatte. »Geh’n wir auf die Pirsch?«
Kurt schüttelte den Kopf. »Nee, Humptahumpta is heut nicht. Bin in Swinglaune, old boy.«
»Wir können ja später immer noch zu Kap Korte gehen. Mit Kleingeld in der Tasche lässt sich sowieso besser abhotten.«
»Nix! Ich muss noch einen Textilgutschein einlösen.«
»Bist doch wie aus dem Ei gepellt heute, Alter. Wo hapert’s denn?«
»Hab’ da noch was nachzulegen, wegen Ellington und Konsorten. Sachwerte, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Nee.«
»Außerdem ist mir mein Anthony gestern verbogen, als wir durchs Klofenster geklettert sind.« Kurt hob seinen Schirm hoch. Er war leicht schief und für einen jungen Herrn, der Wert auf sein Äußeres legte, daher indiskutabel.
»Wenn ich gewusst hätte, dass das heute Abend schon wieder auf Beschaffungsmaßnahmen hinausläuft, hätt’ ich mich ins Bett verkrochen. Ich dachte, wir entspannen uns ein bisschen. Wir hatten heute Inventur in der Firma, da wirst du doch rammdösig. Den ganzen Tag Zangen, Nägel, Hämmer und Schrauben zählen …«
»Es heißt Hammer, Hämmer ist Englisch, old boy. Und Englisch ist …«
»… verboten!« Das letzte Wort sprachen sie gemeinsam aus. Dazu hoben sie die rechte Hand, klatschten sie gegeneinander, spreizten dann Zeige- und Mittelfinger zum Victory-Zeichen, um sie schließlich ineinander zu verhaken und scherzhaft hin und her zu zerren.
Kurt ließ los, deutete mit dem Kopf auf einen dicken Mann, der aus dem St.-Pauli-Theater trat und seine eben erstandenen Eintrittskarten in die Manteltasche versenkte. Den Schirm am Unterarm baumelnd, schaute er auf die Uhr und drehte sich suchend um.
»Moment mal, der Herr dort scheint orientierungslos«, sagte Kurt und ging freudestrahlend auf ihn zu. »Onkel Egon!«, rief er laut.
Der Angesprochene schaute ihn verwirrt an.
»Aber Onkel, erkennst du mich denn nicht? Oskar aus der Bismarckstraße, der Sohn von Fiete aus Eimsbüttel … nein?«
Der Angesprochene schaute Kurt finster an. »Entschuldigen Sie, junger Mann, ich kenne Sie nicht.«
»Nein, hat man Töne, erkennt den kleinen Oskar nicht mehr … aber ist das nicht, aber ja doch …«, Kurt umfasste den Unterarm des Mannes und hob ihn an, »… der Schirm von Opa Heinrich, also Onkelchen, sieh doch nur, genau so einen hat Opa mir auch geschenkt.«
Kurt nahm den Schirm seines Opfers an sich und hielt ihn neben seinen eigenen.
»Lassen Sie das! Sie reden Unsinn!« Der Mann versuchte, seinen Schirm wieder zurückzubekommen. Kurt trat einen Schritt zurück und jonglierte mit beiden Schirmen. Er warf sie hoch, fing sie auf, versuchte, sie auf der Handfläche zu balancieren, ließ sie fallen, bückte sich und reichte den einen dem Mann, der sich ebenfalls hinabgebeugt hatte.
Eine Dame tauchte hinter dem Mann auf. »Franz, was machst du denn da?«
Kurt richtete sich auf und spielte den Verblüfften. »Nanu, Onkel, wer ist denn diese Dame? Du gehst fremd? Wo ist Tante Cora? Also, wenn sie das erfährt … tagaus, tagein trainiert sie mit dem BDM, und du vergnügst dich mit dieser Hutschachtel … schandbar, schandbar …«
Kurt drehte sich empört um und ging zu Jens zurück, der sich am Laternenpfahl festhielt und sich ausschüttete vor Lachen.
»Komm, Toni, wir müssen sofort die BDM-Leitung verständigen, Tante Cora muss die Scheidung einreichen, wenn das der Führer erfährt …«
Kurt zerrte seinen Freund vom Laternenpfahl weg, und mit weit ausholenden Schritten eilten sie davon.
Am Wilhelmsplatz angekommen, hielt Kurt die Hand in die Luft und sagte: »Ich glaube, es wird gleich Regen geben.« Er spannte den Schirm auf.
»Nanu«, stellte er fest, »wo ist denn die formschöne Krümmung geblieben, die diesen tapferen Anthony so unverwechselbar machte?« Er drehte sich um. »Ich glaub, wir müssen noch mal zurück.«
»Was? Jetzt spinnst du aber.« Jens hielt ihn an der Schulter fest.
»Na, hör mal, es mag ja verwerflich sein, dass Onkel Egon fremdgeht, aber er sollte dies nicht mit einem verbogenen Schirm tun. Die werden ihn verhaften.«
»Es regnet nicht mehr heute«, versuchte Jens, seinen Freund zu beruhigen. »Lass mal gut sein, dein Auftritt ist beendet.«
»Du hast recht«, sagte Kurt nachdenklich. »Den Gang zum BDM können wir uns auch sparen, ich glaube, Tante Cora wird sowieso Lunte riechen, wenn sie den krummen Schirm sieht. Das weiß doch jede Ehefrau, was krumme Schirme bedeuten …« Er starrte zu Boden.
»Lass uns mal aus der Schusslinie gehen.« Jens deutete auf einen Polizisten, der sich näherte.
Sie überquerten die Reeperbahn und betraten das Café Menke. Im Erdgeschoss des mehrstöckigen Kaffeehauses hängten sie ihre Mäntel und Hüte an die Garderobe und setzten sich so, dass sie sie im Blick hatten. Dann bestellten sie zwei Kaffee.
Draußen brach die Dämmerung herein.
»Es ist wirklich eine Unsitte, dass der deutsche Mann es verschmäht, einen Staubmantel zu tragen«, sagte Kurt. »Und dass ein deutscher Kopf von einem deutschen Hut gekrönt werden muss, scheint sich auch nicht herumgesprochen zu haben.«
»Es ist doch Sommer.«
»Na und? Tragen wir etwa keine anständigen Klamotten?«
»Wir schon.«
»Na, siehst du.«
Die Lichter der Lokale an der Reeperbahn gingen aus, und das Personal des Kaffeehauses machte sich daran, die schwarzen Rollos herabzuziehen.