Der Mann auf dem Stuhl hatte weder langes Haar noch eine Augenklappe. Er hatte keinen Bart und wollte sich auch gar keinen Bart wachsen lassen, obwohl er sich seit einigen Tagen nicht mehr rasiert hatte.
Er stöhnte.
»Ah, Herr Gilt«, sagte Lord Vetinari und blickte von seinem Spielbrett auf. »Du bist wach, wie ich sehe. Ich bedauere die Art und Weise, wie man dich hierher gebracht hat, aber einige sehr teure Leute wollen dich tot sehen, und ich hielt es für eine gute Idee, dieses kleine Treffen zu organisieren, bevor ihr Wunsch in Erfüllung geht.«
»Ich weiß nicht, von wem du redest«, sagte der Mann. »Ich bin Rudolph Stippler und habe Papiere, die meine Identität beweisen ...«
»Und es sind wundervolle Papiere, Herr Gilt. Aber genug davon. Ich möchte mit dir über Engel reden.«
Reacher Gilt hörte sich mit wachsender Verwunderung Lord Vetinaris Engeltheorien an. Gelegentlich verzog er das Gesicht, wenn ihn schmerzende Körperteile daran erinnerten, dass er drei Tage lang von einem Golem getragen worden war.
»... was mich zu dem Punkt bringt, um den es mir geht, Herr Gilt. Das Königliche Münzamt muss neu organisiert werden. Um ganz ehrlich zu sein: Es steht kurz vor dem Ende und ist ganz und gar nicht das, was wir im Jahrhundert der Sardelle brauchen. Aber es gibt eine Lösung des Problems. In den letzten Monaten sind Herrn Lipwigs berühmte Briefmarken zu einer zweiten Währung in der Stadt geworden. Sie wiegen kaum etwas, sind leicht zu transportieren, und man kann sie sogar mit der Post schicken! Faszinierend, Herr Gilt. Endlich lösen sich die Leute von der Vorstellung, dass Geld glänzen sollte. Hast du gewusst, dass die durchschnittliche Ein-Cent-Marke bis zu zwölf Mal den Besitzer wechselt, bevor sie ihren Zweck erfüllt und auf einen Briefumschlag geklebt wird? Das Münzamt braucht einen Mann, der den Traum von Währung versteht. Es gibt ein Gehalt und auch eine Mütze, glaube ich.«
»Du bietest mir eine Arbeit an?«
»Ja, Herr Stippler«, sagte Vetinari. »Und um die Aufrichtigkeit meines Angebots zu betonen, möchte ich dich auf die Tür hinter dir hinweisen. Wenn du im Verlauf dieses Gesprächs irgendwann gehen möchtest, brauchst du nur durch die Tür dort zu treten, und dann wirst du nie wieder etwas von mir hören ...«
Ein wenig später kam der Sekretär Drumknott herein. Lord Vetinari las einen Bericht über das geheime Treffen des inneren inneren Rats der Diebesgilde, das in der vergangenen Nacht stattgefunden hatte.
Fast geräuschlos kümmerte er sich um die Ablagekörbe und näherte sich dann Vetinari.
»In der Nacht sind zehn Nachrichten über die Klacker gekommen, Euer Lordschaft«, sagte er. »Es ist gut, dass sie wieder in Betrieb sind.«
»In der Tat«, erwiderte Vetinari, ohne aufzusehen. »Wie sonst könnten die Leute herausfinden, was sie unserer Meinung nach denken sollen? Irgendwelche Post aus dem Ausland?«
»Die üblichen Pakete, Euer Lordschaft. An dem aus Überwald hat man sich sehr geschickt zu schaffen gemacht.«
»Ah, die liebe Lady Margolotta«, sagte Vetinari und lächelte.
»Ich habe mir erlaubt, die Briefmarken für meinen Neffen abzulösen, Euer Lordschaft«, fuhr Drumknott fort.
»Natürlich«, sagte Vetinari und winkte mit einer Hand.
Drumknott sah sich im Büro um, und sein Blick blieb an der Platte hängen, wo zwei kleine steinerne Heere endlos kämpften. »Ah, wie ich sehe, hast du gewonnen, Euer Lordschaft.«
»Ja. Ich sollte mir die Eröffnung notieren.«
»Aber ich stelle fest, dass Herr Gilt nicht da ist ...«
Vetinari seufzte. »Man muss einen Mann bewundern, der wirklich an die Freiheit der Wahl glaubt«, sagte er und blickte zur offenen Tür. »Leider glaubte er nicht an Engel.«
Unser Held erfährt Hoffnung, das größte Geschenk – Das Schinkenbrötchen des Bedauerns – Ernste Reflexionen eines Henkers über die Todesstrafe – Berühmte letzte Worte – Unser Held stirbt – Gespräch über Engel – Die Unratsamkeit unangebrachter Angebote in Hinsicht auf Besenstiele – Ein unerwarteter Ritt – Eine Welt frei von ehrlichen Leuten – Ein humpelnder Mann – Man hat immer eine Wahl
Es heißt, die Aussicht, am Morgen gehängt zu werden, hilft dem Geist eines Mannes, sich zu konzentrieren. Leider konzentriert er sich unweigerlich darauf, dass er in einem Körper steckt, der am Morgen gehängt werden soll.
Liebevolle, aber unkluge Eltern hatten dem Mann, der gehängt werden sollte, den Namen Feucht von Lipwig gegeben, doch er wollte seinem Namen keine Schande bereiten – falls das noch möglich war –, indem er damit starb. Für die Welt im Allgemeinen und die des Todesurteils im Besonderen war er Albert Spangler.
Er ging positiv an die Situation heran und hatte sich auf die Vorstellung konzentriert, am Morgen nicht gehängt zu werden, besonders darauf, mit einem Löffel all den Mörtel um einen Stein in der Wand seiner Zelle zu entfernen. Seit fünf Wochen arbeitete er daran, und der Löffel war inzwischen so abgenutzt, dass er einer Nagelfeile ähnelte. Glücklicherweise kam an diesen Ort niemand, um die Bettwäsche zu wechseln, sonst wäre die schwerste Matratze der Welt entdeckt worden.
Der große und schwere Stein beanspruchte derzeit all seine Aufmerksamkeit. Ein großer Eisenring war darin eingelassen, um Handschellen daran zu befestigen.
Feucht nahm vor der Wand Platz, griff mit beiden Händen nach dem Ring, stemmte die Beine gegen die Steine zu beiden Seiten und zog.
Seine Schultern fingen Feuer, und roter Dunst bildete sich vor seinen Augen, aber der Steinblock glitt aus der Wand, begleitet von einem leisen und unpassenden Klimpern. Feucht schaffte es, ihn beiseite zu ziehen, und blickte dann in das Loch.
Am anderen Ende sah er einen weiteren Steinblock, und der Mörtel darum herum wirkte verdächtig stark und frisch.
Direkt davor lag ein neuer Löffel. Er glänzte.
Während Feucht ihn noch betrachtete, klatschte es hinter ihm. Er drehte den Kopf, wobei die Sehnen ein kleines Riff der Agonie zupften, und sah mehrere Wärter auf der anderen Seite des Gitters.
»Bravo, Herr Spangler!«, sagte einer von ihnen. »Ron hier schuldet mir fünf Dollar. Ich habe ihm gesagt, dass du ein zäher Bursche bist! Er ist ein zäher Bursche, habe ich ihm gesagt!«
»Du hast dies alles arrangiert, Herr Wilkinson?«, fragte Feucht schwach und beobachtete, wie der Löffel das Licht reflektierte.
»Nicht wir. Lord Vetinari hat es angeordnet. Er besteht darauf, allen verurteilten Gefangenen die Aussicht auf Freiheit zu bieten.«
»Freiheit? Aber da steckt ein großer Stein drin!«
»Ja, das stimmt, in der Tat«, bestätigte der Wärter. »Es geht nur um die Aussicht, verstehst du? Nicht um die Freiheit als solche. Das wäre ein wenig dumm, nicht wahr?«
»Ich denke schon«, sagte Feucht. Er sagte nicht »ihr Mistkerle«. Während der vergangenen sechs Wochen hatten ihn die Wärter recht gut behandelt, und er legte Wert darauf, mit Leuten auszukommen. Darauf verstand er sich sehr gut. Menschenkenntnis gehörte zu seinem Handwerkszeug; darauf lief praktisch alles hinaus.
Außerdem hatten die Wärter große Knüppel. Deshalb wählte Feucht seine Worte sorgfältig, als er hinzufügte: »Manche Leute könnten dies für grausam halten, Herr Wilkinson.«
»Ja, darauf haben wir ihn hingewiesen, aber er meinte, von Grausamkeit könne keine Rede sein. Er sprach von ...« Er runzelte die Stirn. »... Be-schäff-tigungs-thera-pieh und gesunder Bewegung. Außerdem meinte er, es würde dem Trübsalblasen vorbeugen und dir den größten aller Schätze geben, nämlich Hoffnung.«
»Hoffnung«, brummte Feucht bedrückt.
»Du bist doch nicht verärgert?«
»Warum sollte ich verärgert sein, Herr Wilkinson?«
»Der letzte Bursche, den wir in dieser Zelle hatten, ist durch den Abfluss entkommen. Sehr kleiner Mann. Sehr agil.«
Feucht blickte auf das kleine Gitter im Boden. Er hatte es sofort von der Liste der Möglichkeiten gestrichen.
»Führt es zum Fluss?«, fragte er.
Der Wärter lächelte. »Das sollte man glauben. Er war sehr verärgert, als wir ihn herausfischten. Es freut mich, dass du mit der richtigen Einstellung dabei warst. Du hast uns allen ein gutes Beispiel gegeben, so wie du weitergemacht hast. Den Mörtelstaub in der Matratze zu verstecken ... sehr clever, sehr sauber. Gut überlegt. Es war uns wirklich eine Freude, dich hier gehabt zu haben. Übrigens, Frau Wilkinson dankt dir für den Obstkorb. Sehr feudal. Sogar mit Kumquats drin.«
»Nicht der Rede wert, Herr Wilkinson.«
»Der Direktor war ein bisschen enttäuscht wegen der Kumquats, denn er hatte nur Datteln in seinem Korb, aber ich habe ihm gesagt, mit Obstkörben ist das wie mit dem Leben: Solange man nicht die Ananas ganz oben weggenommen hat, weiß man nicht, was darunter ist. Er bedankt sich ebenfalls.«
»Freut mich, dass ihm der Korb gefallen hat, Herr Wilkinson«, sagte Feucht geistesabwesend. Mehrere seiner früheren Pensionswirtinnen hatten Geschenke für den »armen verwirrten Jungen« gekauft, und Feucht investierte immer in Großzügigkeit. Eine Karriere wie die seine verlangte Stil.
»Da es nun so weit ist«, sagte Herr Wilkinson, »die Jungs und ich, wir haben uns gefragt, ob du vielleicht dein Gewissen erleichtern und den Ort mit der Stelle des Platzes nennen möchtest, wo du, um nicht lange um die Sache herumzureden, all das gestohlene Geld versteckt hast ...«
Es wurde still im Gefängnis. Selbst die Kakerlaken lauschten.
»Nein, das kann ich nicht, Herr Wilkinson«, sagte Feucht laut nach einer dramatischen Pause. Er klopfte auf seine Jackentasche, hob den Finger und zwinkerte.
Die Wärter lächelten.
»Das verstehen wir natürlich. Nun, du solltest dich jetzt ein wenig ausruhen, denn in einer halben Stunde hängen die dich«, sagte Herr Wilkinson.
»He, bekomme ich kein Frühstück?«
»Frühstück gibt’s erst um sieben«, erwiderte der Wärter vorwurfsvoll. »Aber weißt du was? Ich besorge dir ein Schinkenbrötchen. Weil du es bist, Herr Spangler.«
Und jetzt war es einige Minuten vor Morgengrauen, und er wurde durch den kurzen Flur und in den kleinen Raum unter dem Gerüst gebracht. Feucht stellte fest, dass er sich selbst aus einer gewissen Entfernung sah, als schwebte ein Teil von ihm wie der Luftballon eines Kindes außerhalb des Körpers und wartete darauf, dass er die Schnur losließ.
Das Licht in dem Raum kam durch Ritzen im Gerüstboden weiter oben, vor allem von den Rändern der großen Falltür. Ein Mann mit Kapuze ölte die Angeln der besagten Tür.
Der Mann unterbrach seine Tätigkeit, als die Gruppe eintraf. »Guten Morgen, Herr Spangler«, sagte er und hob die Kapuze. »Ich bin’s, Daniel >Ein Fall< Truper. Ich bin heute dein Henker. Sei unbesorgt. Ich habe Duzende von Leuten gehängt. Wir schaffen dich schnell aus dieser Welt.«
»Stimmt es, dass ein Mann nach drei vergeblichen Hinrichtungsversuchen begnadigt wird, Dan?«, fragte Feucht, als sich der Mann die Hände sorgfältig an einem Lappen abputzte.
»Davon habe ich gehört. Aber man nennt mich nicht ohne Grund >Ein Fall‹. Möchtest du mit dem schwarzen Beutel von uns gehen?«
»Wird es dadurch leichter?«
»Manche Leute glauben, dass sie damit schneidiger aussehen. Und dann sieht niemand die Augen aus den Höhlen treten. Eigentlich ist der Beutel vor allem für die Zuschauer da. Da draußen haben sich heute Morgen ziemlich viele eingefunden. Gestern hat die Times einen netten Artikel über dich gebracht. Die Leute reden darüber, was du doch für ein netter junger Mann warst und so. Äh ... wärst du so freundlich, das Seil vorher zu signieren? Ich meine, es hat ja wenig Sinn, dich nachher darum zu bitten?«
»Du möchtest, dass ich das Seil signiere?«, fragte Feucht.
»Ja«, bestätigte der Henker. »Es ist so eine Art Tradition. Dort draußen gibt es viele Leute, die alte Seile kaufen. Spezielle Sammler, könnte man sagen. Ein bisschen seltsam, aber es gibt eben solche und solche. Signiert ist das Seil natürlich mehr wert.« Er holte ein dickes Seil hervor. »Ich habe hier einen Stift, mit dem man darauf schreiben kann. Eine Unterschrift alle fünf Zentimeter? Eine einfache Unterschrift, ohne Widmung. Ist echtes Geld für mich. Ich wäre dir sehr dankbar.«
»So dankbar, dass du mich nicht hängst?«, fragte Feucht und nahm den Stift.
Das brachte ihm ein anerkennendes Lachen ein. Herr Truper beobachtete, wie er das Seil signierte, und er nickte zufrieden.
»Ausgezeichnet, du signierst da meine Altersversorgung. Und nun ... Sind alle bereit?«
»Ich nicht!«, sagte Feucht schnell, was ihm eine weitere Runde amüsierten Gelächters einbrachte.
»Du bist vielleicht ein Spaßvogel, Herr Spangler«, sagte Herr Wilkinson. »Ohne dich wird es hier nicht mehr so sein wie früher, im Ernst.«
»Zumindest nicht für mich«, sagte Feucht. Auch diese Worte wurden wie das Maximum an Scharfsinn und Witz aufgenommen. »Glaubst du wirklich, dass dies abschreckend wirkt und Verbrechen vorbeugt, Herr Truper?«, fragte er.
»Ich schätze, im Allgemeinen lässt sich das kaum feststellen, denn es dürfte schwer sein, Hinweise auf nicht verübte Verbrechen zu finden«, antwortete der Henker und überprüfte die Falltür ein letztes Mal. »Aber im Besonderen denke ich, dass es gut funktioniert, ja.«
»Wie meinst du das?«, fragte Feucht.
»Ich meine damit, dass ich hier oben nie jemanden mehr als einmal gesehen habe. Sollen wir gehen?«
Unruhe entstand, als sie in die kühle Morgenluft emporstiegen, gefolgt von einigen Buhrufen und sogar ein wenig Applaus. Die Leute waren seltsam. Wer fünf Dollar stahl, war ein Dieb. Wer tausende von Dollar stahl, war entweder eine Regierung oder ein Held.
Feucht blickte nach vorn, während man die Liste seiner Verbrechen verlas. Irgendwie fand er alles unfair. Er hatte niemandem auch nur an den Kopf getippt. Er hatte nie eine Tür aufgebrochen. Er hatte das eine oder andere Schloss geknackt, es aber nie versäumt, hinter sich wieder abzuschließen. Abgesehen von den Enteignungen, Bankrotten und plötzlichen Insolvenzen – was hatte er Schlechtes getan? Er hatte nur Zahlen bewegt.
»Ein gutes Publikum«, sagte Herr Truper, warf das Ende des Seils über den Balken und knüpfte den Knoten. »Es sind auch viele Leute von der Presse da. Wer baumelt? erstattet natürlich immer Bericht, und Reporter von der Times und vom Pseudo-polis-Boten, vermutlich wegen des dortigen Bankenkrachs, und ich habe gehört, dass auch jemand vom Sto-Ebene-Anzeiger gekommen ist. Hat einen guten Wirtschaftsteil – ich achte immer auf die Preise für gebrauchte Stricke. Es scheint viele Leute zu geben, die dich tot sehen wollen.«
Feucht bemerkte eine schwarze Kutsche, die hinter der Menge hielt. Auf der Tür war kein Wappen, es sei denn, man kannte das Geheimnis: Lord Vetinaris Wappen bestand aus einem schwarzen Schild. Schwarz auf Schwarz. Man musste zugeben, der Mistkerl hatte Stil ...
»Wie? Was?«, fragte Feucht, als er angestoßen wurde.
»Ich habe gefragt, ob du noch einige letzte Worte sprechen möchtest, Herr Spangler?«, fragte der Henker. »Das ist so üblich. Hast du dir welche überlegt?«
»Ich habe gar nicht damit gerechnet zu sterben«, erwiderte Feucht. Und das stimmte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er die Möglichkeit des Todes nicht in Erwägung gezogen. Er war sicher gewesen, dass irgendetwas geschehen würde.
»Nicht schlecht«, kommentierte Herr Wilkinson. »Du wirst also damit von uns scheiden.«
Feucht kniff die Augen zusammen. Die Gardine am Kutschenfenster zitterte – die Tür der Kutsche hatte sich geöffnet. Hoffnung, der größte aller Schätze, wagte ein kleines Funkeln.
»Nein, das sind nicht meine richtigen letzten Worte«, sagte er. »Lass mich nachdenken ...«
Eine schmächtige Gestalt, die nach einem Sekretär aussah, verließ die Kutsche.
»Äh ... mal sehen, geeignete letzte Worte ... äh ...« Es ergab durchaus einen Sinn. Vetinari wollte ihm einen Schrecken einjagen, so sah’s aus. Typisch für ihn, nach dem, was Feucht über ihn gehört hatte. Es wird eine Begnadigung geben!
»Ich ... äh ... ich ...«
Unten fiel es dem Sekretär schwer, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen.
»Könntest du dich vielleicht beeilen, Herr Spangler?«, fragte der Henker. »Gerechtigkeit muss sein.«
»Ich möchte es richtig hinbekommen«, erwiderte Feucht hochmütig und beobachtete, wie der Sekretär einem großen Troll auswich.
»Ja, aber alles hat seine Grenzen«, sagte der Henker, verärgert über diesen Verstoß gegen die Etikette. »Sonst könntest du ja, äh, Tage hier stehen. Kurz und bündig, so gehört es sich.«
»Na schön, na schön«, sagte Spangler. »Äh ... oh, sieh nur, der Mann dort! Er winkt dir zu!«
Der Henker blickte auf den Sekretär hinab, der nach vorn drängte.
»Ich bringe eine Nachricht von Lord Vetinari!«, rief der Mann.
»Na bitte!«, entfuhr es Feucht.
»Er sagt, der Tag hat längst begonnen und ihr sollt es endlich hinter euch bringen!«, rief der Sekretär.
»Oh«, sagte Feucht und blickte zu der schwarzen Kutsche. Der verdammte Vetinari hatte auch den Humor eines Wärters.
»Na los, Herr Spangler, du möchtest mich doch nicht in Schwierigkeiten bringen, oder?«, sagte der Henker und klopfte ihm auf die Schulter. »Nur einige Worte, und dann können wir alle unser Leben fortsetzen. Du natürlich ausgeschlossen.«
Dies war es also. Auf sonderbare Weise fühlte es sich befreiend an. Man brauchte nicht mehr zu befürchten, dass das Schlimmste geschah, denn es geschah bereits, und es war fast vorbei. Der Wärter hatte Recht. Man musste in diesem Leben an der Ananas vorbeikommen, dachte Feucht. Sie war groß und schwer und knubbelig, aber vielleicht lagen Pfirsiche darunter. Es war ein Mythos, nach dem man leben konnte, und jetzt nützte er überhaupt nichts mehr.
»Wenn das so ist ...«, sagte Feucht von Lipwig. »Ich übergebe meine Seele dem Gott, der sie finden kann.«
»Nett«, sagte der Henker und zog den Hebel.
Albert Spangler starb.
Man war allgemein der Ansicht, dass er gute letzte Worte gesprochen hatte.
»Ah, Herr Lipwig«, erklang eine Stimme in der Ferne und kam dann näher. »Wie ich sehe, bist du wach. Und noch am Leben, derzeit.«
Die besondere Betonung des letzten Wortes wies Feucht darauf hin, dass die Länge des derzeit ganz vom Sprecher abhing.
Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er auf einem bequemen Stuhl saß. Am Schreibtisch ihm gegenüber, die Fingerspitzen nachdenklich aneinander gepresst, saß Havelock, Lord Vetinari, unter dessen despotischer Herrschaft Ankh-Morpork zu einer Stadt geworden war, in der aus irgendeinem rätselhaften Grund alle leben wollten.
Ein animalisches Gespür teilte Feucht mit, dass andere Leute hinter dem bequemen Stuhl standen, der sehr unbequem werden konnte, wenn er sich plötzlich bewegte. Aber sie waren gewiss nicht so schrecklich wie der dünne, in Schwarz gekleidete Mann mit dem sorgfältig gestutzten Bart und den Händen eines Pianisten, der ihn beobachtete.
»Soll ich dir von Engeln erzählen, Herr Lipwig?«, fragte der Patrizier freundlich. »Ich kenne zwei interessante Fakten über sie.«
Feucht ächzte. Vorne sah er keine möglichen Fluchtwege, und er wollte nicht versuchen, sich umzudrehen. Sein Hals tat schrecklich weh.
»Oh, ja. Du bist gehängt worden«, sagte Lord Vetinari. »Eine sehr präzise Wissenschaft, das Hängen. Herr Truper ist ein Meister. Schlupf und Dicke des Seils, ob der Knoten hier und nicht dort sitzt, das Verhältnis von Gewicht und Entfernung ... Ich bin sicher, der Mann könnte ein Buch darüber schreiben. Ein halber Zoll hat dich vom Tod getrennt, wie ich hörte. Nur ein direkt neben dir stehender Fachmann hätte das bemerkt, und in diesem Fall war der Fachmann unser Freund Herr Truper. Nein, Albert Spangler ist tot, Herr Lipwig. Dreihundert Personen können schwören, dass sie gesehen haben, wie er starb.« Er beugte sich vor. »Und deshalb ist es nur angemessen, dass ich dir von Engeln erzähle.«
Feucht brachte ein weiteres Stöhnen hervor.
»Der erste interessante Aspekt von Engeln ist dieser, Herr Lipwig: Wenn es jemandem gelungen ist, sein Leben so sehr durcheinander zu bringen und zu ruinieren, dass der Tod der einzige Ausweg zu sein scheint, kommt es manchmal – sehr selten – vor, dass ihm ein Engel erscheint und ihm anbietet, an die Stelle zurückzukehren, bevor alles schief ging, und es diesmal richtig zu machen. Herr Lipwig, ich möchte, dass du eine Art ... Engel in mir siehst.«
Feucht starrte. Er hatte den Ruck des Seils gespürt, die Schlinge, die sich um seinen Hals zuzog! Er hatte gesehen, wie es um ihn herum dunkel geworden war! Er war gestorben!
»Ich biete dir eine Arbeit an, Herr Lipwig. Albert Spangler ist begraben, aber Herr Lipwig hat eine Zukunft. Sie könnte natürlich sehr kurz sein, wenn er dumm ist. Eine Arbeit, Herr Lipwig. Die es dir ermöglicht, auf ehrliche Weise Geld zu verdienen. Ein Konzept, mit dem du nicht vertraut bist, wie ich sehr wohl weiß.«
Ich kenne so was nur als eine Art Hölle, dachte Feucht.
»Ich biete dir an, Postminister des Postamts von Ankh-Morpork zu werden.«
Feucht starrte weiter.
»Ich möchte hinzufügen, Herr Lipwig, dass sich hinter dir eine Tür befindet. Wenn du irgendwann während dieses Gesprächs den Wunsch verspürst zu gehen, brauchst du sie nur zu durchschreiten und wirst nie wieder etwas von mir hören.«
Feucht legte diese Worte unter »sehr verdächtig« ab.
»Zu deinen Aufgaben als Postminister gehört die Renovierung des Postamts, der Postzustelldienst, die Vorbereitung internationaler Pakete, die Instandhaltung aller Dinge, die dem Postamt gehören, und so weiter und so fort ...«
»Wenn du mir einen Besen in den Hintern schiebst, könnte ich vielleicht auch den Boden fegen«, sagte eine Stimme. Feucht begriff, dass es seine eigene war. In seinem Kopf herrschte Chaos. Es war ein Schock zu erfahren, dass das Leben nach dem Tod so beschaffen war.
Lord Vetinari bedachte ihn mit einem nachdenklichen Blick.
»Wenn du möchtest ...«, sagte er und wandte sich an den in der Nähe wartenden Sekretär. »Drumknott, gibt es in diesem Stock einen Besenschrank?«
»O ja, Euer Lordschaft«, erwiderte der Sekretär. »Soll ich ...«
»Es war ein Scherz!«, platzte es aus Feucht heraus.
»Oh, entschuldige, das habe ich nicht bemerkt«, sagte Lord Vetinari und wandte sich wieder an Feucht. »Bitte gib mir Bescheid, wenn du erneut scherzen möchtest.«
»Ich weiß nicht, was hier geschieht«, sagte Feucht, »aber ich habe nicht die geringste Ahnung vom Postdienst!«
»Lieber Herr Lipwig, heute Morgen hattest du auch noch keine Ahnung davon, tot zu sein, und trotzdem wärst du ohne mein Eingreifen sehr gut darin«, entgegnete Lord Vetinari scharf. »Was zeigt: Man weiß es nie, bevor man es nicht ausprobiert hat.«
»Aber als du mich verurteilt hast ...«
Vetinari hob eine blasse Hand. »Ah?«
Feuchts Gehirn erkannte, dass hier ein wenig Arbeit geleistet werden musste, woraufhin es aktiv wurde. »Äh ... als du ... Albert Spangler verurteilt hast ...«
»Bravo. Ich bin ganz Ohr.«
»... hast du ihn als geborenen Kriminellen, Betrüger durch innere Berufung, gewohnheitsmäßigen Lügner, perverses Genie und absolut nicht vertrauenswürdig bezeichnet!«
»Nimmst du mein Angebot an, Herr Lipwig?«, fragte Vetinari scharf.
Feucht sah ihn an. »Entschuldigung«, sagte er und stand auf. »Ich möchte nur etwas überprüfen.«
Zwei ebenfalls in Schwarz gekleidete Männer standen hinter dem Stuhl. Es war kein besonders sauberes Schwarz, eher das Schwarz von Leuten, die nichts von sich zeigen wollen. Sie sahen wie Sekretäre aus, bis man in ihre Augen blickte.
Sie traten beiseite, als Feucht zur Tür ging, die tatsächlich existierte. Er öffnete sie vorsichtig. Dahinter gab es nichts, auch keinen Boden. In der Art eines Mannes, der alle Möglichkeiten ausprobiert, zog er den Rest des Löffels aus der Tasche und ließ ihn fallen. Es dauerte eine Weile, bis er das Klirren hörte.
Er kehrte zum Stuhl zurück und nahm wieder Platz.
»Die Aussicht von Freiheit?«, fragte er.
»Genau«, bestätigte Vetinari. »Man hat immer eine Wahl.«
»Du meinst ... ich hätte den sicheren Tod wählen können?«
»Es ist eine Wahl«, sagte Vetinari. »Oder vielleicht eine Alternative. Weißt du, ich glaube an Freiheit, Herr Lipwig. Nicht viele Leute glauben daran, obwohl sie etwas anderes behaupten. Und keine praktische Definition der Freiheit wäre komplett ohne die Freiheit, die Konsequenzen zu tragen. Es ist die Freiheit, auf der alle anderen Freiheiten basieren. Und nun ... Übernimmst du die Arbeit? Niemand wird dich erkennen, da bin ich sicher. Mir scheint, du wirst nie erkannt.«
Feucht zuckte mit den Schultern. »Na schön. Ich akzeptiere dein Angebot als geborener Krimineller, Betrüger durch innere Berufung, gewohnheitsmäßiger Lügner, perverses Genie und jemand, der absolut nicht vertrauenswürdig ist.«
»Großartig! Willkommen im Dienst der Regierung!«, sagte Lord Vetinari und streckte die Hand aus. »Ich bin stolz auf meine Fähigkeit, den richtigen Mann auszuwählen. Der Lohn beträgt zwanzig Dollar die Woche, und ich glaube, dem Postminister steht eine kleine Wohnung im Hauptgebäude zur Verfügung. Soweit ich weiß, bekommt er auch einen Hut. Ich erwarte regelmäßige Berichte. Guten Tag.«
Er sah auf seine Unterlagen hinab. Und blickte wieder auf.
»Offenbar bist du noch da, Postminister?«
»Das ist alles?«, fragte Feucht verdutzt. »Im einen Augenblick werde ich gehängt, und im nächsten stellst du mich ein?«
»Mal sehen ... Ja, ich denke schon. Das heißt, da fällt mir ein ... Drumknott, gib Herrn Lipwig seine Schlüssel.«
Der Sekretär trat vor und reichte Feucht einen großen, rostigen Schlüsselring voller Schlüssel. Dann hob er ein Klemmbrett. »Bitte unterschreib hier, Postminister.«
Einen Moment, dachte Feucht. Dies ist nur eine Stadt. Sie hat Tore. Sie ist vollständig von unterschiedlichen Richtungen umgeben, in die man laufen kann. Spielt es eine Rolle, was ich unterschreibe?
»Natürlich«, sagte er und kritzelte seinen Namen.
»Bitte mit deinem richtigen Namen«, sagte Lord Vetinari, ohne vom Schreibtisch aufzusehen. »Mit welchem Namen hat er unterschrieben, Drumknott?«
Der Sekretär reckte den Hals. »Äh ... Ethel Schlange, wenn ich das richtig lese.«
»Bitte versuch, dich zu konzentrieren, Herr Lipwig«, sagte Lord Vetinari müde und schien noch immer in seinen Unterlagen zu lesen.
Feucht unterschrieb erneut. Was spielte es letztendlich für eine Rolle? Er hatte ohnehin die Absicht, eine möglichst große Entfernung zwischen sich und den Namen auf dem Papier zu bringen.
»Dann wäre da nur noch die Sache mit deinem Bewährungshelfer«, sagte Lord Vetinari, der weiter den Eindruck erweckte, in die Dokumente auf dem Schreibtisch vertieft zu sein.
»Bewährungshelfer?«
»Ja. Ich bin nicht dumm, Herr Lipwig. Er erwartet dich in zehn Minuten vor dem Postamt. Guten Tag.«
Als Feucht gegangen war, hüstelte Drumknott höflich und fragte: »Glaubst du, er wird im Postamt erscheinen, Euer Lordschaft?«
»Man muss immer an die Psychologie des Individuums denken«, sagte Vetinari und korrigierte die Orthographie eines offiziellen Berichts. »Das mache ich die ganze Zeit über und du leider nicht immer, Drumknott. Deshalb hat er deinen Stift mitgenommen.«
Immer schnell sein. Man weiß nie, was einen einzuholen versucht.
Zehn Minuten später befand sich Feucht von Lipwig bereits ein ganzes Stück außerhalb der Stadt. Er hatte ein Pferd gekauft, was ihm ein wenig peinlich war, aber es kam vor allem auf Schnelligkeit an, und er hatte nur Zeit gefunden, eins der Notfallpäckchen aus dem Versteck zu holen und den dürren alten Klepper in der Gelegenheitsbox von Hobsons Mietstall zu kaufen. Wenigstens bedeutete es, dass kein zorniger Bürger zur Wache laufen würde.
Niemand hatte versucht, ihn aufzuhalten. Niemand hatte ihm mehr als nur beiläufige Beachtung geschenkt, wie üblich. Die weite Ebene erstreckte sich vor ihm, voller Möglichkeiten. Und er verstand sich darauf, aus nichts Gewinn zu schlagen. Im ersten kleinen Ort, den er erreichte, wollte er den Wert dieses alten Gauls mit einigen kleinen Methoden und Ingredienzien verdoppeln, für mindestens zwanzig Minuten, oder bis es regnete. Zwanzig Minuten würden genügen, um ihn zu verkaufen und mit ein wenig Glück ein anderes Pferd zu kaufen, das ein wenig mehr wert war als der Angebotspreis. Im nächsten Ort würde er das Ganze wiederholen und auf diese Weise in drei oder vier Tagen zu einem anständigen Pferd kommen.
Aber das war nur eine Nebentätigkeit, die allein dazu diente, nicht aus der Übung zu kommen. Das Futter seines Mantels enthielt drei fast echte Diamantringe. Ein echter steckte in einer geheimen Ärmeltasche, und in den Kragen eingenäht war ein fast echter Golddollar. Für ihn hatten diese Dinge die gleiche Bedeutung wie Säge und Hammer für einen Tischler. Es waren primitive Werkzeuge, aber sie würden ihn wieder ins Geschäft bringen.
Es heißt: »Einen ehrlichen Mann kann man nicht betrügen«, und das wird oft von Leuten behauptet, die viel Geld damit verdienen, ehrliche Leute zu betrügen. Das hatte Feucht nie versucht. Wenn man einen ehrlichen Mann betrog, neigte der Betreffende dazu, sich bei der örtlichen Wache zu beklagen, und heutzutage ließen sich die Wächter schwerer bestechen. Es war viel sicherer, unehrliche Leute zu betrügen, und auch sportlicher. Außerdem gab es viel mehr von ihnen. Man brauchte sie kaum zu suchen.
Eine halbe Stunde nach der Ankunft in Happlich, von wo aus Ankh-Morpork als ein Turm aus Rauch am Horizont zu sehen war, saß Feucht niedergeschlagen vor einer Taverne, mit nichts in der Hand als einem echten Diamanten im Wert von hundert Dollar und der dringenden Notwendigkeit, nach Gennua heimzukehren, wo seine arme alte Mutter an Kribbelitis starb. Elf Minuten später stand er geduldig vor einem Juwelierladen, in dem der Juwelier einem mitfühlenden Bürger mitteilte, dass der Ring, den der Fremde für zwanzig Dollar verkaufen wollte, fünfundsiebzig wert war (auch Juweliere mussten von etwas leben). Fünfunddreißig Minuten danach ritt Feucht mit einem besseren Pferd los, hatte fünf Dollar in der Tasche und ließ einen hämischen mitfühlenden Bürger zurück, der zwar klug genug gewesen war, Feuchts Hände zu beobachten, aber versuchen würde, dem Juwelier für fünfundsiebzig Dollar einen glänzenden Messingring mit einem Stein aus Glas zu verkaufen, der höchstens fünfzig Cent wert war.
Die Welt war herrlich frei von ehrlichen Leuten und wundervoll voll von Leuten, die glaubten, zwischen einem ehrlichen Mann und einem Gauner unterscheiden zu können.
Feucht klopfte auf seine Jackentasche. Die Wärter hatten ihm natürlich die Karte abgenommen, vermutlich als er damit beschäftigt gewesen war, tot zu sein. Es war eine gute Karte, und ihr Studium würde Herrn Wilkinson und seinen Kollegen viel über Dechiffrierung, Geographie und unaufrichtige Kartographie lehren. Sie würden mit ihrer Hilfe keinen Betrag von 150.000 Ankh-Morpork-Dollar in verschiedenen Währungen finden, weil die sehr komplex gezeichnete Karte frei erfunden war. Feucht fühlte Wärme bei der Vorstellung, dass Wilkinson und die anderen für einige Zeit den größten aller Schätze besaßen, nämlich Hoffnung.
Wer sich nicht daran erinnern konnte, wo er viel Geld versteckt hatte, der verdiente es Feuchts Meinung nach, sein Vermögen zu verlieren. Doch derzeit musste er sich davon fern halten, konnte sich aber wenigstens darauf freuen ...
Den Namen des nächsten Ortes merkte er sich nicht einmal. Er hatte ein Gasthaus, und das genügte. Feucht nahm ein Zimmer mit Blick in eine leere Gasse, vergewisserte sich, dass das Fenster leicht aufschwang, aß eine ordentliche Mahlzeit und ging früh zu Bett.
Gar nicht schlecht, dachte er. Am Morgen hatte er unter einem Galgen gestanden, mit einer Schlinge um den Hals, und am Abend war er wieder im Geschäft. Jetzt brauchte er sich nur noch einen Bart wachsen zu lassen und Ankh-Morpork sechs Monate zu meiden. Oder vielleicht nur drei.
Feucht hatte ein Talent. Außerdem hatte er sich gewisse Fähigkeiten so gründlich angeeignet, dass sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen waren. Er hatte gelernt, sympathisch zu sein, doch etwas in seinen Genen bewirkte, dass man sich nicht an ihn erinnerte. Er verfügte über das Talent, nicht aufzufallen, nur ein Gesicht in der Menge zu sein. Anderen Leuten fiel es schwer, ihn zu beschreiben. Er war ... »ungefähr«. Er war ungefähr zwanzig oder ungefähr dreißig. In Berichten der Wache überall auf dem Kontinent war er zwischen ungefähr eins siebzig bis ungefähr eins achtzig groß, und der Farbton seiner Haare reichte von mittelbraun bis blond, und der Mangel an besonderen Merkmalen betraf sein ganzes Gesicht. Er war ungefähr ... Durchschnitt. An was sich die Leute erinnerten, war die Ausstattung, Dinge wie Brille und Bart, deshalb trug er immer einiges davon bei sich. Sie erinnerten sich an Namen und Manieriertheiten, und davon hatte er hunderte.
Und sie erinnerten sich daran, dass sie vor der Begegnung mit ihm reicher gewesen waren.
Um drei Uhr morgens platzte die Tür auf. Sie platzte wirklich – Holzteile rasselten von der Wand. Aber Feucht war bereits aus dem Bett und sprang zum Fenster, noch bevor der erste Holzsplitter auf den Boden fiel. Es war eine automatische Reaktion, die keine Gedanken erforderte. Außerdem hatte er nachgesehen, bevor er zu Bett gegangen war: Draußen stand ein großes Wasserfass, das eine weiche Landung ermöglichen würde.
Jetzt war es nicht mehr da.
Wer auch immer es gestohlen hatte: Den Boden hatte er zurückgelassen, und die Landung war nicht weich, sondern so hart, dass sich Feucht den Fuß verstauchte.
Er stöhnte leise, als er wieder auf die Beine kam, durch die Gasse humpelte und sich dabei an der Wand abstützte. Der Stall lag hinter dem Gasthaus. Er brauchte sich nur auf ein Pferd zu ziehen, irgendein Pferd ...
»Herr Lipwig?«, donnerte eine große Stimme.
Bei den Göttern, es war ein Troll, es hörte sich nach einem Troll an, und nach einem ziemlich großen noch dazu, er hatte nicht gewusst, dass es sie auch außerhalb der Städte gab ...
»Du Kannst Nicht Weglaufen, Und Du Kannst Dich Nicht Verstecken, Herr Lipwig!«
Moment mal, in diesem Ort hatte er niemandem seinen wahren Namen genannt. Doch diese Überlegungen regten sich im Hintergrund. Jemand war hinter ihm her, und deshalb lief er. Oder humpelte.
Als er das Stalltor erreichte, riskierte er einen Blick zurück. Ein rotes Glühen zeigte sich in seinem Zimmer. Sie würden doch nicht alles niederbrennen, nur wegen ein paar Dollar? Wie dumm! Wenn man auf eine Fälschung hereingefallen war, drehte man sie bei nächster Gelegenheit einem anderen Trottel an, das wusste jeder. Einigen Leuten konnte man wirklich nicht helfen.
Sein Pferd stand allein im Stall und schien unbeeindruckt davon zu sein, ihn wiederzusehen. Er legte ihm das Zaumzeug an und hüpfte dabei auf einem Bein. Auf den Sattel verzichtete er. Er wusste, wie man ohne Sattel ritt. Einmal war er sogar ohne Hose geritten, aber all der Teer und die Federn hatten ihn glücklicherweise am Pferd festgeklebt. Er war der Weltmeister des schnellen Verlassens von Orten.
Feucht wollte das Pferd aus dem Stall führen, als er ein Klirren hörte.
Er blickte nach unten und trat etwas Stroh beiseite.
Sein Blick fiel auf eine gelbe Stange, mit kurzen Ketten an beiden Enden, jede davon mit einer gelben Schelle für einen Vorderlauf ausgestattet. Sein Pferd konnte den Stall nur hüpfend verlassen, wie er selbst.
Sie hatten dem Pferden Schellen angelegt. Dem Pferd ...
»Oh, Herr Lipppppwig!« Die Stimme donnerte über den Stallhof. »Möchtest Du Die Regeln Kennen Lernen, Herr Lipwig?«
Feucht sah sich verzweifelt um. Der Stall enthielt nichts, das sich als Waffe verwenden ließ, außerdem machten ihn Waffen nervös, weshalb er nie eine bei sich trug. Waffen trieben den Einsatz zu sehr in die Höhe. Viel besser war es, seiner Fähigkeit zu vertrauen, sich herauszureden und Verwirrung zu stiften, oder, wenn das nicht funktionierte, sich auf Schuhe mit guten Sohlen und den Ruf »He, was ist das dort?« zu verlassen.
Diesmal hatte er jedoch das Gefühl, dass er so viel reden konnte, wie er wollte – niemand würde ihm zuhören. Und was schnelles Laufen betraf ... Mehr als Hoppeln kam nicht infrage.
In einer Ecke entdeckte er einen Besen und einen hölzernen Futtereimer. Er schob sich das borstige Ende des Besens unter den Arm, um ihn als Krücke zu benutzen, und schloss die Hand um den Henkel des Eimers, während sich schwere Schritte der Stalltür näherten. Als sie sich öffnete, holte er mit dem Eimer aus, schlug mit aller Kraft zu und hörte, wie er zerbrach. Splitter flogen durch die Luft, und einen Moment später prallte ein massiger Körper auf den Boden.
Feucht sprang darüber hinweg und wankte durch die Dunkelheit.
Etwas Hartes und Festes wie eine Schelle schloss sich um die Knöchel seines unverletzten Fußes. Feucht hing eine Sekunde lang am Besen und brach dann zusammen.
»Ich Hege Keinen Groll Gegen Dich, Herr Lipwig!«, donnerte die Stimme munter.
Feucht ächzte. Der Besen schien allein zur Zierde da zu sein, denn eins stand fest: Man hatte ihn nicht oft benutzt, um das wegzufegen, was sich auf dem Stallhof angesammelt hatte. Wenn man die Sache von der positiven Seite sah, war er in etwas Weiches gefallen. Und wenn man es von der negativen betrachtete, war er in etwas Weiches gefallen.
Jemand nahm eine Hand voll von seinem Mantel und zog ihn aus dem Dung.
»Auf Die Beine, Herr Lipwig!«
»Es wird >Lipwig< ausgesprochen, du Idiot«, stöhnte Feucht. »Nicht >Lipwich<!«
»Auf Die Beine, Herr Lipwick!«, wiederholte die donnernde Stimme, und die Besenkrücke wurde Feucht unter den Arm geschoben.
»Was zum Teufel bist du?«, brachte Lipwig hervor.
»Ich Bin Dein Bewährungshelfer, Herr Lipwick!«
Feucht drehte sich mühsam um, sah nach oben, und noch weiter nach oben, in das Gesicht einer Lebkuchenfigur mit zwei rot glühenden Augen. Als die Gestalt sprach, stand in ihrem Mund das Leuchten der Hölle.
»Ein Golem? Du bist ein verdammter Golem?«
Das Ding hob Feucht mit einer Hand hoch und legte ihn sich über die Schulter. Es duckte sich in den Stall, und Feucht, mit dem Kopf nach unten und die Nase an den Terrakottakörper gepresst, begriff, dass der Golem mit der anderen Hand nach seinem Pferd griff. Er hörte ein kurzes Wiehern.
»Wir Müssen Uns Beeilen, Herr Lipwick! Um Acht Uhr Erwartet Dich Lord Vetinari! Und Um Neun Sollst Du Mit Der Arbeit Beginnen!«
Feucht stöhnte.
»Ah, Herr Lipwig«, sagte Lord Vetinari. »Bedauerlicherweise sehen wir uns erneut.«
Es war acht Uhr morgens. Feucht schwankte. Dem verstauchten Fuß ging es besser, was die anderen Teile von ihm nicht behaupten konnten.
»Es ist die ganze Nacht marschiert«, sagte er. »Die ganze verdammte Nacht! Und es hat auch ein Pferd getragen!«
»Setz dich, Herr Lipwig«, sagte Vetinari, sah vom Schreibtisch auf und deutete auf den Stuhl. »Übrigens ist es kein Es, sondern ein Er. In diesem Fall handelt es sich natürlich um einen Ehrentitel, aber ich setze große Hoffnungen in Herrn Pumpe.«
Feucht sah den Widerschein an den Wänden, als der Golem hinter ihm lächelte.
Vetinari senkte den Blick und schien für einen Moment das Interesse an Feucht zu verlieren. Eine Steinplatte beanspruchte den größten Teil des Platzes auf dem Schreibtisch. Darauf standen die kleinen, geschnitzten Figuren von Zwergen und Trollen. Es sah wie ein Spiel aus.
»Herr Pumpe?«, fragte Feucht.
»Hmm?« Vetinari neigte den Kopf und sah aus einem leicht veränderten Blickwinkel auf die Platte.
Feucht beugte sich zum Patrizier vor und deutete mit dem Daumen in Richtung des Golems.
»Das dort ist Herr Pumpe?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte Lord Vetinari. Er beugte sich ebenfalls vor, konzentrierte ganz plötzlich und auf beunruhigende Weise seine ganze Aufmerksamkeit auf Feucht. »Er ... ist Herr Pumpe. Herr Pumpe ist ein Regierungsbeamter. Herr Pumpe schläft nicht. Herr Pumpe isst nicht. Und Herr Pumpe ruht nicht, Postminister.«
»Und was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet: Wenn du zum Beispiel daran denkst, an Bord eines Schiffes zu gehen und nach Viericks zu reisen, unter der Annahme, dass Herr Pumpe groß und schwer ist und nur langsam vorankommt, so kannst du davon ausgehen, dass dir Herr Pumpe folgen wird. Du musst schlafen. Herr Pumpe nicht. Herr Pumpe braucht nicht zu atmen. Die tiefen Ebenen des Meeres sind kein Hindernis für Herrn Pumpe. Vier Meilen in der Stunde, das sind sechshundertzweiundsiebzig Meilen in der Woche. Es summiert sich. Und wenn Herr Pumpe dich erreicht ...«
»Wenn ich dich an dieser Stelle unterbrechen darf ...« Feucht hob den Finger. »Ich weiß, dass Golems Menschen nicht verletzen dürfen!«
Lord Vetinari hob die Brauen. »Meine Güte, wo hast du das denn gehört?«
»Es steht ... auf etwas geschrieben, in ihren Köpfen! Auf einer Schriftrolle oder so. Das stimmt doch, oder?«, fragte Feucht, der immer unsicherer wurde.
»Na so was.« Der Patrizier seufzte. »Herr Pumpe, bitte sei so gut und brich einen von Herr Lipwigs Fingern. Ein glatter Bruch.«
»Ja, Euer Lordschaft.« Der Golem wankte nach vorn.
»He! Nein! Was?« Feucht winkte hastig und stieß dabei einige Figuren um. »Warte! Warte! Es gibt da eine vorschrift! Ein Golem darf einen Menschen nicht verletzen oder zulassen, dass ein Mensch verletzt wird!«
Lord Vetinari hob den Zeigefinger. »Bitte warte einen Moment, Herr Pumpe. Nun, Herr Lipwig, kennst du auch den nächsten Teil?«
»Den nächsten Teil?«, wiederholte Feucht. »Welchen nächsten Teil? Es gibt keinen nächsten Teil!«
Lord Vetinari wölbte eine Braue. »Herr Pumpe?«, fragte er.
»>... Es sei denn, verfassungsgemäße Behörden erteilen ihm entsprechende Anweisungen‹«, sagte der Golem.
»Das habe ich noch nie gehört!«, entfuhr es Feucht.
»Tatsächlich nicht?«, fragte Lord Vetinari wie überrascht. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass jemand vergessen hat, diesen Teil hinzuzufügen. Ein Hammer darf sich doch nicht weigern, den Nagel auf den Kopf zu treffen, und eine Säge sich moralische Urteile über die Art des Holzes erlauben. Wie dem auch sei ... Gelegentlich greife ich auf die Dienste bestimmter Personen zurück, so zum Beispiel auf die des Henkers Herrn Truper, den du ja kennst, der Stadtwache, der Regimenter und ... anderer Spezialisten, die befugt sind, aus Notwehr oder zur Verteidigung der Stadt und ihrer Interessen zu töten.« Vetinari griff nach den umgefallenen Figuren und stellte sie wieder auf die Platte. »Warum sollte es bei Herrn Pumpe anders sein, nur weil er aus Ton besteht? Letztendlich sind wir alle daraus gemacht. Herr Pumpe wird dich zu deinem Arbeitsplatz begleiten. Angeblich ist er dein Leibwächter, wie es einem hohen Regierungsbeamten gebührt. Nur wir beide wissen, dass er ... weitere Befehle hat. Golems sind von Natur aus sehr moralische Geschöpfe, Herr Lipwig, aber du findest ihre Moral vielleicht ein wenig... altmodisch?«
»Weitere Befehle?«, fragte Feucht. »Und hättest du etwas dagegen, mir zu sagen, was es mit diesen weiteren Befehlen auf sich hat?«
»Ja.« Der Patrizier pustete ein Staubkorn von einem kleinen steinernen Troll und setzte ihn auf sein Feld.
»Und?«, fragte Feucht nach einer kurzen Pause.
Vetinari seufzte. »Ja, ich habe etwas dagegen, dir zu sagen, was es damit auf sich hat. Du hast in dieser Sache keine Rechte. Übrigens haben wir dein Pferd beschlagnahmt, da es bei einem Verbrechen verwendet wurde.«
»Dies ist eine grausame und sehr ungewöhnliche Strafe!«, sagte Feucht.
»Glaubst du?«, erwiderte Vetinari. »Ich biete dir einen leichten Schreibtischjob, vergleichsweise große Bewegungsfreiheit, Arbeit an der frischen Luft ... Mein Angebot mag ungewöhnlich sein, aber grausam? Ich glaube nicht. Aber unten im Keller gibt es einige alte Strafmethoden, die sehr grausam und in vielen Fällen auch recht ungewöhnlich sind. Vielleicht möchtest du sie ausprobieren, um zu vergleichen. Und natürlich gibt es immer die Möglichkeit, den Sisal-Twostepp zu tanzen.«
»Den was?«, fragte Feucht.
Drumknott beugte sich zum Schreibtisch und flüsterte dem Patrizier etwas ins Ohr.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Vetinari. »Ich meine natürlich den Hanf-Fandango oder, anders ausgedrückt, den Galgenstricktanz. Man hat immer eine Wahl, Herr Lipwig. Oh, und da fällt mir ein ... Kennst du den zweiten interessanten Aspekt von Engeln?«
»Von welchen Engeln?«, fragte Feucht verärgert und verwundert.
»Meine Güte, manche Leute passen einfach nicht auf«, sagte Vetinari. »Weißt du nicht mehr? Die erste interessante Sache über Engel? Von der ich dir gestern erzählt habe? Vielleicht hast du an etwas anderes gedacht. Die zweite interessante Sache über Engel Herr Lipwig, ist, dass man immer nur einen bekommt.«