Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

Vorwort

Prolog

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Epilog

Die Autorin

Die Romane von Lora Leigh bei LYX

Impressum

LORA LEIGH

Breeds

NAVARROS VERSPRECHEN

Roman

Ins Deutsche übertragen
von Silvia Gleißner

Zu diesem Buch

Gegen ihren Willen wird Mica Toler in die Welt der Breeds gezogen, als der charmante Wolf-Breed Navarro Blaine ihr das Versprechen gibt, sie vor allem Schaden zu bewahren. Mica kann ihre Faszination für den großen, gut aussehenden Breed nicht leugnen, doch sie kann ihrem Verlangen unmöglich nachgeben, denn Mica verfolgt ihre eigenen Träume, ihre eigenen Wünsche, und von einem Wolf-Breed verführt zu werden war nie Teil des Plans. Doch dann gerät ihr Leben in Gefahr …

Für meinen Sohn Bret, der mir jeden Tag aufs Neue das Herz bricht, allein durch die reine, unausweichliche Tatsache, dass er erwachsen wird, zu einem Mann heranwächst und mich erkennen lässt, was für eine unglaubliche Leistung er mit seiner Heranreifung vollbringt. Ich kann mir nicht als Verdienst anrechnen, dass er ein so wundervoller junger Mann wird; dieser Erfolg ist allein ihm selbst zuzuschreiben. Und es ist einer, den er mit jedem Tag noch übertrifft.

Und für Roo Roo. Ja, du weißt, dass du gemeint bist. Ich könnte nicht sein, wer ich bin, nicht tun, was ich tue, oder so leben, wie ich lebe, ohne diese ersten Jahre, in denen wir Freunde wurden. Es gibt keine Worte, zu beschreiben, keine Möglichkeit, auszudrücken, was du mir gegeben hast … Nur so viel: Du hast mich gerettet durch das Geschenk, das du mir gemacht hast, an Vertrauen, an Glauben und an Liebe.

Ihr seid mein Segen, alle beide, und das jeden Tag.

Vorwort

Durch alle Zeitalter hat Mensch gegen Mensch gekämpft, mit gnadenloser Macht, aus Vorurteilen, Ignoranz oder Angst.

Die Menschheit, bei all ihren häufig mutigen, intuitiven und mitfühlenden Akten, ist noch immer fähig, sich gegenseitig Schreckliches anzutun.

Blut wurde vergossen.

Macht wurde erstrebt, und im Streben nach ihr wurde gekämpft, wurde betrogen, wurden Seelen zerstört.

Und jene, die das Blut vergossen; die die Kriege begannen; die ihre Länder, ihre Freunde und ihre Kinder verrieten, um Macht zu erlangen; die ihre Seelen dafür verkauften – hatten dennoch ihre Momente der Freundlichkeit, ihre Momente des Mitgefühls.

Aber haben wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt?

Haben wir uns die Fehler unserer Ahnen zu Herzen genommen und streben nun danach, sicherzustellen, dass sie nie wieder gemacht werden?

Das ist das »Was wäre, wenn …« hinter den Breeds.

Haben wir aus unserer Vergangenheit gelernt?

Haben wir gelernt aus den Vorurteilen, den Akten der Gnadenlosigkeit und dem gedankenlosen Streben nach Macht unserer Ahnen?

Oder wartet der Mensch in all seiner Menschlichkeit nur auf die Chance …

Prolog

Er faszinierte sie.

Groß gewachsen. Seine beeindruckende männliche Kraft war ein Teil seiner perfekt proportionierten Gestalt, die den Reiz seiner Körpergröße, seiner Muskeln und seiner schlanken, tödlichen Anmut nur betonte. Er würde perfekt auf das Cover der GQ passen, in eine Vorstandsetage, oder mit gezogener Waffe und gefletschten Zähnen ins Angesicht eines jeden Feindes.

Oder noch besser, nackt, erregt und mehr als bereit, eine Geliebte zu erobern und zu besitzen, die zu unerfahren war, um unter die Oberfläche zu blicken, auf das männliche Tier, das dort wartete.

Er machte ihr nur zu bewusst, dass sie eine Frau war. Er weckte Fantasien in ihr, diese Geliebte zu sein und in seinen Armen die Erfahrung zu machen, einen Mann zu erregen und zu befriedigen.

Mica Toler bewegte sich auf dünnem Eis, das war ihr klar, aber sosehr sie es auch versuchte, konnte sie anscheinend der intensiven Anziehung nicht widerstehen, die der Wolf-Breed Navarro Blaine auf sie ausübte.

Ihr Vater bekäme einen Herzinfarkt, wenn er es wüsste. Und ihre Mutter würde wahrscheinlich versuchen, sie zu Hause einzusperren. Es war Jahre her, seit Serena Toler versucht hatte, ihrer Tochter mit irgendetwas zu drohen, geschweige denn mit Hausarrest. Aber in diesem Fall konnte Mica sich das gut vorstellen. Ihre Mutter wäre definitiv nicht erfreut, zu erfahren, dass ihre Tochter einen der gefährlichsten, und gefährdetsten, Männer erwählt hatte, den sie sich nur aussuchen konnte.

Die Wahrheit war: Selbst wenn ihre Mutter über solche Macht verfügt hätte, hätte es keine Rolle gespielt, gestand Mica sich ein. Anscheinend konnte sie ihre Gedanken, oder ihre Hormone, nicht von dem eleganten und überheblichen Wolf-Breed fernhalten, auch wenn sie es noch so sehr versuchte.

Und sie wusste genau, wie gefährlich das sein konnte.

Mica war nicht umsonst Cassandra Sinclairs beste Freundin. Es gab nur wenige Personen, Menschen wie Breeds, denen ihre jüngere Freundin vertraute, und Mica gehörte zu denen, die Cassies Vertrauen besaßen. Und Cassie redete mit ihr. Mica wusste, dass sie dadurch über Informationen verfügte, die als höchst vertraulich galten. Informationen, die Cassie und ihre Eltern in größte Schwierigkeiten bringen konnten, sowohl beim Regierungsrat der Breeds als auch dem eigenen Regierungsrat der Wölfe und Kojoten.

Mica war eine der sehr wenigen Personen, Menschen wie Breeds, denen Cassie sich anvertraute. Wie Mica fiel es auch ihr schwer, anderen zu vertrauen, und diese Schwierigkeit sorgte dafür, dass sie isolierter war, als man es normalerweise als Teil der Gemeinschaft der Breeds wäre.

Wichtiger noch: Nun, da Styx, der einzige andere Freund, den Cassie sich gestattet hatte, in Storme Montague seine Gefährtin gefunden hatte, hatte Cassie seitdem niemand anderen außer Mica, der sie sich noch anvertrauen konnte.

Mica wusste Bescheid über die Paarung. Es war ein Geheimnis, das nicht annähernd so sorgsam gehütet war, wie es die Breeds gern hätten. Sie wusste, es war ein Geheimnis, von dem sie fürchteten, dass es die Gemeinschaften der Breeds zerstören könne.

Der Gedanke war fast amüsant. Die Welt war derart fasziniert von den Breeds, dass es schon verrückt war. Diejenigen, die sie liebten, verteidigten und schützten sie fanatisch. Diejenigen, die sie hassten, hassten sie mit einer Leidenschaft, die normalerweise dem allergrößten Bösen vorbehalten war. Anscheinend gab es keinen Mittelweg, wenn es entweder um die Hingabe oder den Hass ging, die den Breeds galten.

Die Wahrheit über den Paarungsrausch würde nur dazu führen, dass jene, die sie liebten, sie noch mehr liebten. Und dass jene, die sie hassten, sie noch mehr hassten, war im Grunde gar nicht möglich, aber es würde eindeutig die Angst dieser Gruppe stärken, und ebenso deren Gewalt.

Es konnte den Breeds Probleme bereiten, das gestand Mica sich ein, aber sie glaubte nicht, dass es die Macht hatte, sie zu vernichten.

»Sind die Dateien von der EU schon da?« Cassie Sinclairs leicht abgelenkter Tonfall holte Mica aus ihrer Prüfung des fraglichen Breeds, und sie drehte sich vom Fenster des Büros für Public Relations in Haven weg.

»Noch nicht, aber meine Quellen versichern mir, dass nichts darin steht, das den Breeds schaden könnte.« Mica zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die elektronische Nachrichtenanzeige zu richten, die über das holografische Display an der Wand gegenüber scrollte.

Von überall auf der Welt wurden Berichte, die Breeds betrafen, auf die Holo-Anzeige gestreamt, viele davon lange vor den Papierausgaben der Zeitungen und den Website-Uploads, auf denen sie später erscheinen würden.

Die United World Internet Laws verschafften der Zentralen Organisation zur Nachrichtenüberwachung Zeit, die potenziell aufwieglerischsten Posts zu überprüfen, bevor sie hochgeladen wurden. Diese Gesetze gestatteten es den Breeds, alle aufhetzenden und/oder potenziell gefährlichen Artikel zu überwachen, die möglicherweise zu Gewalt gegen Haven oder Sanctuary führen konnten. Aber sie hatten nur wenig Vorbereitungszeit zwischen den eingehenden Artikeln und den echten Live-Feeds, die ins Internet gepostet wurden. In manchen Fällen weniger als zwölf Stunden.

»Wie ich sehe, begeistert Tanner mal wieder die Menge«, meinte Mica, als der Tiger-Breed kurz auf dem Schirm auftauchte und mit seinem berüchtigten Lächeln die Welt bezauberte.

Und verdammt, er sah gut aus. Mit seinem vollen tiefschwarzen Haar und den winzigen Goldakzenten sowie der tief sonnengebräunten Haut. Ein Körper, bei dem man schon kurzatmig werden konnte. Er sah fast so gut aus wie Navarro.

»Tanner ist gut darin«, murmelte Cassie und klickte mehrere Nachrichtenmeldungen durch. »Er ist das Gesicht der Breeds.«

Das hatte Cassie immer gesagt, schon als Kind.

»Die Artikel aus Deutschland sind spät dran.« Einmal mehr wurde Cassies Tonfall sorgenvoll.

»Wartest du auf etwas Bestimmtes, Cassie?«, fragte Mica schließlich, verwirrt vom Verhalten ihrer Freundin.

Cassie wirkte unerklärlich besorgt, als sie ein »Nein« murmelte und kurz den Kopf schüttelte.

Cassies tiefblaue Augen waren wieder zu schmalen Schlitzen geworden und auf das epad gerichtet, als sie die eintreffenden Informationen durchsah, bevor ihr Blick sich wieder auf die Holo-Bildschirme richtete.

»Deutschland ist immer spät dran, Cassie«, erinnerte Mica sie mit einem Blick auf die Uhr. »Wir haben immer noch eine Stunde oder so, bis wir sie als wirklich zu spät betrachten können.«

Cassies Lippen wurden schmal, bevor sie sich wieder einer Datei zuwandte, die sie zur Bearbeitung aufgerufen hatte.

»Es würde helfen, wenn sie pünktlich wären.« Sie seufzte und rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her, worauf die Masse ihrer schwarz-blauen Locken, die ihr über Schultern und Rücken fielen, sich wie eine Woge aus Mitternacht bewegte.

Wie in aller Welt sie es schaffte, mit so viel Haar den Kopf oben zu behalten, wusste Mica nicht.

»Wieso erzählst du mir nicht, was dich so nervös macht?«, schlug Mica vor. »Du weißt, es hilft nicht, solche Dinge für sich zu behalten, Cassie, sie machen dich nur verrückt.«

Das war nicht weniger als die Wahrheit. Cassie war in mehr als einer Hinsicht einzigartig. Sie war vollkommen ungewöhnlich und, manchmal, verdammt Angst einflößend.

Es gab »Gaben«, die sie besaß, Freunde in ihrem Leben, die andere nicht sehen konnten. Doch es gab vor allem eine Freundin, zu der Cassie den Kontakt zu verlieren schien, und Mica wusste, dass ihr das Sorgen bereitete.

»Hast du sie gesehen?«, fragte Mica sachlich, nachdem sie Cassie mehrere Sekunden lang zugesehen hatte, während diese stirnrunzelnd auf die Holo-Anzeige blickte.

Cassie erstarrte. Ihre plötzliche Steifheit war verräterisch – und besorgniserregend.

Cassie hatte »Freunde«, von denen andere nur träumen konnten. Aber ihre imaginären Freunde waren gar nicht so imaginär. Für Cassie waren sie sehr real, und Mica hatte mit den Jahren gelernt, dass, egal woher Cassie wusste, was sie wusste, dieses Wissen sie quälte, und sie hatte mehr als einmal gesagt, sie wünschte, sie hätte dieses Wissen nicht.

Nach einem Moment schüttelte Cassie langsam den Kopf. »Nein.« Ihre Stimme klang leise und sanft. »Ich habe sie nicht gesehen.«

Diese »Sie« war diejenige, die Cassie als Kind eine Fee genannt hatte. Die junge Frau war wunderschön, so hatte Cassie Mica einmal erzählt. Zerbrechlich und zart, mit einer solchen Aura der Weisheit, Wärme und Anmut, dass sie die Macht besessen hatte, Cassie zu beruhigen, selbst in den schrecklichsten Ereignissen ihres jungen Lebens.

Doch in letzter Zeit hatte die »Fee« begonnen, langsam zu entschwinden. Zuerst nur für wenige Tage, dann immer länger, und in letzter Zeit schien es so, dass die Frau, die nur Cassie sehen konnte, überhaupt nicht wieder erschienen war.

»Ich verstehe es nicht«, sagte Cassie schließlich, und die Angst in ihrer Stimme erschütterte Mica zutiefst. »Sie hat mich vor der Zukunft gewarnt, Mica, und dann ist sie einfach verschwunden. Als sei es zu schrecklich für sie, hierbleiben und zusehen zu müssen.«

Micas Freundin drehte sich von den Bildschirmen weg. Tiefblaue feuchte Augen und dichte schwarze Wimpern, in denen Tränen hingen, gegen die sie offensichtlich ankämpfte. Ihre Lippen zitterten fast unmerklich, bevor sie es unterdrücken konnte.

Offensichtlich wurde Cassie mit jedem Tag betrübter wegen des Verschwindens der Frau, die seit ihrer frühesten Kindheit ein Teil ihres Lebens gewesen war.

»Sie hat das schon früher gemacht, Cassie«, erinnerte Mica sie.

»Aber nicht so lange«, flüsterte Cassie, und die kühle Ruhe, die sie als junge Erwachsene angenommen hatte, verschwand und offenbarte eine verängstigte junge Frau. »Und nicht nach so einer Warnung.«

Was konnte Mica darauf sagen? Sie fühlte sich nie wohl dabei, über die »Fee« zu sprechen, über die Geister, die später gekommen waren, oder die anderen Visionen, die Cassie manchmal besuchten.

»Lass dem Ganzen Zeit, Cassie, sie wird kommen. Sie ist immer zurückgekommen, wenn du schon dachtest, dass sie es nicht tun würde.«

»Ich verstehe es nicht.« Cassie stand schnell von ihrem Stuhl auf, und das Wogen ihrer langen Locken machte Mica fast schon eifersüchtig. »Sie war noch nie so lange weg, Mica.«

Mica hatte Mühe, sich etwas einfallen zu lassen, das Cassie trösten würde. Das war Teil ihres Jobs als Cassies persönliche Assistentin in Teilzeit. Ein verdammt gut bezahlter Job, wie sie wusste. Wann immer Dash Sinclair bemerkte, dass seine Tochter zunehmend sorgenvoll oder überarbeitet war, wurde Mica in ihrem Job als Buchhalterin in einer größeren Nachrichtenfirma entschuldigt und nach Sanctuary eingeflogen, für so lange, wie Cassie sie brauchte. Mica half Cassie im PR-Büro, erledigte manchmal kleinere Aufgaben in der Buchhaltung für das Büro und tat ganz allgemein alles, was sie konnte, um Cassie so viel Druck wie möglich von den Schultern zu nehmen.

Falls Mica sich unwohl fühlte, weil sie dafür bezahlt wurde, ihrer Freundin zu helfen, dann versuchte sie das hinter sich zu lassen. Sie zwang sich, sich daran zu erinnern, dass sie es sich nie hätte leisten können, Cassie so zu helfen, wie sie es tat, ohne die Bereitwilligkeit der Breeds, sie zu bezahlen. Und die Tatsache, dass Cassie jemanden brauchte, um zu reden und sich anzuvertrauen, war nie deutlicher gewesen als jetzt.

»Und wie du schon sagtest«, erinnerte Mica sie, »tut sie manchmal etwas, damit du von selbst darauf kommst. Vielleicht ist sie deshalb diesmal länger weg. Ungefähr wie eine Mutter, die ihr Kind bei einem Babysitter lässt, damit ihr Baby sich nicht zu sehr auf sie fixiert. Verstehst du?«

»Vielleicht.« Cassie zuckte mit den Schultern und schob die Hände in die hinteren Hosentaschen ihrer Designerjeans.

Das war eine klassische Geste von Cassie. Sie machte sich Sorgen und kämpfte darum, einen Sinn in dem zu finden, worüber sie sich Sorgen machte.

Sie drehte sich wieder zu Mica um, und in ihren hübschen Zügen stand Verwirrung. »Hast du je das Gefühl, als geriete die Welt immer mehr aus deiner Kontrolle?«

Nun lag ein Anflug von Furcht in der Stimme ihrer Freundin, und ihr Blick war so gehetzt, dass Mica sich Sorgen machte. Aber trotz der Sorge konnte Mica nicht anders, als die Ironie in der Frage ihrer Freundin zu sehen.

Mica zog eine Augenbraue hoch. »Cassie, du bist meine beste Freundin«, betonte sie. »Ich bin üblicherweise gänzlich umgeben von Breeds und ihrem hektischen und gefährlichen Leben. Ich stehe jederzeit auf Abruf, wann immer du mich brauchst, und wenn ich in der Öffentlichkeit bin, werde ich oft von Reportern belästigt. Denkst du, meine Welt fühlt sich je so an, als sei sie schon durcheinander, abgestürzt, in Flammen aufgegangen und in die fernen Ecken der Erde abgedriftet?«

Das war die Wahrheit, obwohl Mica es häufig vor allem amüsant fand. Sie hatte früh gelernt, die Breeds, deren Überheblichkeit und ihre häufig berechnende, manipulative Persönlichkeit mit Vorsicht zu genießen. Sie hatte sie am Hals, also konnte sie auch das Beste daraus machen.

Mit den Journalisten umzugehen war schwieriger, und sie dankte Gott jeden Tag dafür, dass sie einen Job beim National Journal gefunden hatte, Eigentum der Familie von Merinus Tyler Lyons, der Gefährtin des Rudelführers der Raubkatzen, Callan Lyons.

Das National Journal war eine der wenigen Zeitungen, die noch auf Papier erschienen, und dazu als E-Feed und Satellitenupload. Und es war eine der wenigen, die nicht versuchten, irgendwelchen Klatsch über die Breeds als Wahrheit zu »enthüllen.« Stattdessen berichtete das Blatt über die Hölle, die die Breeds erlitten hatten, und erinnerte die Welt immer wieder daran.

Schließlich zuckte Cassies Lippe, als Mica sie weiterhin schelmisch anstarrte.

Dann räusperte sie sich leise. »Vielleicht frage ich ja die falsche Person?« Zum Glück schimmerte in ihren ungewöhnlichen Augen ein Hauch von Belustigung.

»Würde ich meinen.« Mica verdrehte die Augen und war im Stillen dankbar dafür, dass in Cassies Augen keine Tränen mehr standen.

Sie konnte es nicht ertragen, ihre Freundin weinen zu sehen. Es kam nur selten vor, aber wenn doch, machte es diejenigen, die sie liebten, fertig. Und Mica liebte sie wirklich. Cassie war ihre beste Freundin, ihre Schwester, ihre Vertraute und – manchmal – ihre Komplizin. Doch Komplizin war sie dieser Tage nur sehr selten.

Sie waren gemeinsam zu Frauen herangewachsen, und Mica konnte sich keine vorstellen, die sie lieber als Freundin hätte. Außerdem fiel ihr niemand ein, von dem sie sich lieber den Rücken freihalten ließe als von Cassie. Sie war klein und zart, aber die Breeds hatten ihr, ebenso wie Mica, einige der fortgeschrittensten Formen der Kampfkunst beigebracht.

Sie waren sich begegnet, als Cassies Stiefvater, Dash Sinclair, aus dem Krieg nach Hause zurückgekehrt war, um nach dem kleinen Mädchen zu suchen, das seine Brieffreundin gewesen war, und deren Mutter, die beide angeblich bei der Explosion eines Apartments umgekommen waren.

Doch Cassie und ihre Mutter Elizabeth waren nicht tot gewesen. Sie waren geflohen, hatten um ihr Leben gekämpft und darum, dem Drogenbaron zu entkommen, der Cassie von ihrem Vater gekauft hatte. Dem Vater, der sich für Geld mit einem Wissenschaftler des Councils verschworen und zugelassen hatte, dass die Eizellen seiner Frau benutzt wurden, um einen einzigartigen, hochspezialisierten Breed zu erschaffen. Eine Mischung aus Wolf und Kojote. Der Wissenschaftler hatte gehofft, dass die hybride Genetik den Killer schaffen würde, den das Genetics Council suchte, aber bisher nicht hatte produzieren können. Und er hatte das Experiment vorantreiben wollen, indem dieses Kind nicht gedrillt, sondern normal aufgezogen wurde, um zu sehen, wie zuverlässig diese Killergene sein würden.

Stattdessen war Cassie geboren worden.

Ein wissbegieriges, altkluges Kind, das liebte, nicht tötete.

Und eines, dessen Vater fürchtete, dass es ihn als das Monster preisgeben könnte, das er war, wenn es zum ersten Mal zu einem Arzt musste, nachdem der Wissenschaftler, der sie erschaffen hatte, verschwunden war.

Er hatte gewusst, dass er auffliegen würde, und ohne das Geld, mit dem der Wissenschaftler ihn versorgt hatte, waren seine Spielschulden immer höher geworden.

Also hatte er sie an den Kriminellen verschachert, dem er das Geld schuldete. Glücklicherweise war Elizabeth klug genug gewesen, ihrem Mann nicht zu trauen, nachdem sie sich getrennt hatten. Sie hatte ihre Tochter gerettet und das Weite mit ihr gesucht, bis Dash die beiden gefunden und zur Ranch der Tolers gebracht hatte, bis er Kontakt zu Sanctuary, der damals einzigen Basis der Breeds, aufnehmen und arrangieren konnte, dass sie den Status geschützter Personen erhielten.

Während der Zeit, die Cassie auf der Ranch verbracht hatte, hatte Mica Zuneigung zu ihr entwickelt, obwohl der Altersunterschied zwischen ihnen ein paar Jahre betrug. Cassie hatte eine Schwester gebraucht, und Mica hatte in dem kleinen Mädchen das verzweifelte Bedürfnis erkannt, geliebt zu werden, trotz allem, was auch immer sie verfolgte.

Noch immer mit den Händen in den Taschen ging Cassie zu Micas Schreibtisch, holte sie seufzend aus ihren Gedanken und richtete den Blick auf die Berichte, die über das epad scrollten.

»Da sind die Berichte aus Deutschland«, murmelte sie.

Mica warf einen Blick aufs Display. Tatsächlich, da waren sie.

»Spiele Datei Nummer sieben Komma sechs drei ab«, befahl Mica dem Computer.

»Datei sieben Komma sechs drei«, bestätigte die Computerstimme, eine Sekunde bevor die Datei auf dem Holo-Display an der Wand gegenüber auftauchte: »Datei sieben Komma sechs drei, Berlin, Deutschland. Breeds vermutet als Retter der Tochter des Premierministers, die aus ihrem Zuhause entführt worden war; Rudelführer der Raubkatzen, Callan Lyons, besucht Luxemburg; mutmaßliches Labor des Genetics Councils von Teenagern beim Wandern entdeckt.« Keine Erwähnung von Paarung, Hormonen, Phänomenen oder Blutanomalien. Jede Artikelüberschrift wurde vorgelesen und ein Bericht geliefert, während Mica und Cassie aufmerksam die Worte lasen, die über das Holo-Display scrollten.

Dutzende Artikel liefen durch das automatisierte Programm, das darauf eingestellt war, nach spezifischen Wörtern, Ausdrücken und Informationen zu suchen. Bei jedem verlief die Suche negativ.

Mica beobachtete aufmerksam den Bildschirm und erfasste viele der Überschriften, die sich mit Haven und Sanctuary befassten, den Basen der Wolf-Breeds und der Raubkatzen-Breeds. Die Quartiere wurden wie Mysterien behandelt. Reporter rissen sich um eine Besuchserlaubnis, kampierten vor den äußeren Toren und hatten versucht, so nahe wie möglich heranzufliegen, um Fotos zu bekommen, bis beide Gebiete zu Flugverbotszonen deklariert wurden.

»Sieht so aus, als wäre alles sauber«, stellte Mica fest, als die letzte Datei durchgelaufen war. »Neuer Tag, neue Galgenfrist.«

»Neue Galgenfrist«, wiederholte Cassie leise. »Fühlt es sich manchmal nicht genau so an?«

Mica musste zugeben, dass es sich häufig genau so anfühlte. Jedes Mal, wenn sie hierhergeholt wurde, um Cassie im PR-Büro zu helfen, wurde sie wieder daran erinnert, wie weit die Wachsamkeit der Breeds gehen musste. Sie mussten jeden neuen Artikel im Auge behalten, jeden Reporter und Möchtegern-Reporter, und dazu jene, die einfach Geschichten erfinden und die Flammen schüren wollten, die den Breeds häufig an den Fersen hingen.

Es war lästig und unangenehm, aber Mica wusste, dass es auch Momente gab, in denen Cassie ihre Arbeit genoss.

Mica richtete den Blick wieder auf das Fenster und wurde erneut belohnt mit dem Anblick des Breeds, von dem sie wusste, dass er am Ende ihr Leben völlig auf den Kopf stellen würde.

Oh ja, diese Faszination war viel zu stark, und egal was die Wissenschaftlerin der Wolf-Breeds, Nikki Armani, sagte, wusste Mica, dass das Potenzial für einen Paarungsrausch vorhanden sein musste.

Mit den Jahren waren die Tests auf das Paarungshormon im Blut immer besser geworden. Inzwischen waren die Wissenschaftler der Breeds in der Lage, die kleinsten Auffälligkeiten zu bestimmen, die eine menschliche Frau zur möglichen Kandidatin als Gefährtin eines männlichen Breeds machte. Und Nikki hatte Mica mehr als einmal versichert, nach mehreren Tests, dass Navarro auf keinen Fall ihr Gefährte sein konnte oder das Potenzial hatte, sich mit ihr zu paaren.

Tatsache war, dass Micas Tests eine Paarungsfähigkeit gezeigt hatten, doch es gab noch immer keine Möglichkeit, genau zu sagen, wer dieser Gefährte sein konnte. Zu diesem Zeitpunkt konnte man nur sagen, wer nicht ihr Gefährte war, und angeblich kam Navarro als ihr Gefährte nicht infrage.

Es war schwer zu glauben, dass die Möglichkeit nicht existierte.

Als Mica ihn nun beobachtete, als er auf dem Gemeindeplatz stand, in der Mitte der großen Hütten und kleinen Häuser, und mit einem anderen Wolf-Breed, Stygian, und dem stellvertretenden Anführer der Kojoten, Brimstone, sprach, fürchtete sie, dass die Ärztin sich irren musste. Sie konnte das Prickeln ihrer Haut spüren, ein Gefühl von Erregung und Vorfreude, das in ihr aufloderte, und eine überwältigende Neugier, gegen die sie anscheinend nicht ankämpfen konnte.

Navarro stand selbstsicher da, die Arme verschränkt, mit nachdenklicher Miene, an den Stamm einer mächtigen Eiche gelehnt, und nickte den beiden anderen Männern zu.

Er trug eine Anzughose aus Seide und ein Hemd aus Makobaumwolle, das perfekt frisierte Haar in moderater Länge aus dem Gesicht gekämmt – die Verkörperung eines erfolgreichen, starken Mannes. Ein menschlicher Mann war seine Tarnung. Seine rezessiven Gene gestatteten es ihm, sich überall auf der Welt zu bewegen als Erbe des Blaine Medienimperiums, statt als der Breed-Enforcer, der erschaffen und ausgebildet worden war, um zu betrügen und zu täuschen.

Sie wusste, dass die scharfen Reißzähne, die die meisten Breeds so stolz zur Schau stellten, in Navarros Fall aufgrund seiner rezessiven Gene nicht vorhanden waren. Sie wusste nicht, ob er Körperbehaarung hatte, oder ob die bei ihm, wie bei anderen Breeds, ebenfalls nicht vorhanden war, aber sie hätte es liebend gern herausgefunden.

Was sie aber wusste, war, dass trotz der Tatsache, dass er in der Tat ein Breed war, kein Test auf Erden existierte, der das beweisen konnte. Er war das, was man »rezessiv« nannte. Seine Breed-Gene waren so tief auf zellularer Ebene verborgen, dass sie fast unmöglich festzustellen waren.

Doch das machte ihn nicht weniger zu einem Breed. Sie wusste, dass er ebenso brutal knurren und ebenso gnadenlos kämpfen konnte wie jeder andere Breed.

»Er ist heiß, nicht wahr?« Cassies lässige Frage ließ Mica herumfahren, und als sie den wissenden Blick ihrer Freundin sah, blitzten Schuldgefühle in ihr auf.

Doch die wurden schnell zu Belustigung. »Oh ja, ist er«, stimmte sie zu und blickte noch einmal verstohlen hinaus, als Navarro sich vom Baum löste und sein Blick von den beiden Männern weg wanderte, zu dem Fenster, vor dem Mica und Cassie saßen.

Mica zuckte beinahe zusammen, als Cassie begeistert winkte.

Navarro kniff die Augen zusammen und antwortete mit einem leichten wachsamen Nicken.

Cassies leises Lachen war liebevoll und viel zu interessiert. »Er ist so zurückhaltend. Da fragt man sich, wie er wohl bei einer Geliebten ist.«

Mica biss die Zähne zusammen. Zur Hölle nein, sie fragte sich nicht, wie er wohl bei einer Geliebten wäre. Es sei denn, diese Geliebte wäre sie.

»Wow, Mica …« Cassies Tonfall war schockiert und erstaunt, und Mica unterdrückte mit Mühe ein Schimpfwort.

Verdammt, sie wusste doch, wie sie ihre Reaktionen unter Kontrolle hielt, um sicherzustellen, dass sie keine starken Gefühle zuließ oder mit mehr als nur mildem Interesse reagierte. Sie kannte die Gefahren besser, als jeder andere wissen konnte.

Doch jetzt hatte sie es gerade auf die schlimmstmögliche Art vermasselt, in Gegenwart der einen Person, bei der Mica es besser wusste, als zu versagen.

»Du bist eifersüchtig«, sagte Cassie, atmete aus und bekam vor Erstaunen große Augen. »Was hältst du vor mir verborgen, Mica?«

»Nichts.« Eine Lüge, oh Gott, eine Lüge. Sie musste sich besser wappnen. Sie wusste es besser, als Cassie rundheraus anzulügen.

Cassie trat langsam einen Schritt zurück, und das reine Erstaunen in ihrem Gesicht wurde stärker, als sie Mica anstarrte und ihr Erstaunen nur einen Augenblick später zu Schock wurde.

»Mica, du hast mich gerade angelogen«, stellte sie erschrocken fest, als hätte sie soeben ein Geschenk erhalten, mit dem sie nie gerechnet hatte.

»Cassie, hör auf damit«, warnte Mica sie, und jetzt fühlte sie Panik in sich aufsteigen. »Lass es bleiben.«

Von hier an ging es bergab, und anscheinend konnte sie nicht verhindern, dass das daraus resultierende Durcheinander sie überrollte. Es gab ein paar Dinge, die Cassie einfach nicht wissen musste. Falls diese verdammte »Fee«, die so gern jedermanns Geheimnisse ausplauderte, es ihr nicht erzählt hatte, dann hatte Mica das Gefühl, dass es das Beste war, wenn ihre Freundin sich darum keine Gedanken machen musste.

»Du hast Geheimnisse vor mir?« Cassies Stimme wurde leiser, und ein Anflug von Schmerz trat in ihren Tonfall.

Nein. Nein. »Cassie, tu mir das nicht an«, stöhnte Mica. »Es ist nichts passiert. Es gibt keine Geheimnisse.«

Diese lästige Sache mit der Lüge. Mica konnte schwören, dass es Momente gab, in denen sie selbst fast eine Lüge riechen konnte, so oft hatte Cassie ihr erzählt, wie das roch. Und sie schwor, dass sie diesen beißenden Anflug von Schwefel jetzt riechen konnte, so als würde die Hölle über einen Besuch nachdenken.

Mica wollte resigniert aufstöhnen, aber sie wusste es besser, als Cassie zu gestatten, eine solche Schwäche auch nur zu argwöhnen.

Cassie kam näher, bückte sich, und ihre Nasenflügel bebten, als sie tief einatmete, und Mica konnte nichts tun, als ihre Freundin resigniert anzustarren.

Cassie blinzelte und wich ruckartig zurück. Eine Sekunde, nur eine Sekunde lang, huschte ein Ausdruck der Neugier über ihr Gesicht, bevor ihr Blick verschlossen wurde und ihre Miene diesen ruhigen, heiteren Ausdruck annahm, der jeden Gedanken und jede Emotion verbarg.

Mica hasste diesen Gesichtsausdruck. Wenn sie den aufsetzte, gab es schlicht keine Chance, ihre Freundin zu überzeugen, ihr irgendetwas zu erzählen.

»Na, das ist ja interessant«, stellte Cassie fest, und ihr Tonfall war ebenso ausdruckslos wie ihre Miene.

Damit hatte Mica nicht gerechnet. Sie kniff die Augen zusammen. »Was ist interessant?« Da war es wieder, dieses Panikding. Es ließ ihr Herz rasen und dieses Gefühl drohenden Unheils in ihr aufsteigen. »Da gibt es nichts Interessantes, Cassie. Hörst du? Nichts Interessantes, nichts, basta. Sag mir, dass da nichts ist.«

Was sah Cassie, oder was hatte sie gesehen, als sie sich vorgebeugt und irgendeinen Duft inhaliert hatte, den Mica nicht selbst wahrnehmen konnte?

Das war das Schlimmste an Breeds. Manchmal konnten sie mehr an einer Person wahrnehmen, als die Person selbst über sich wusste.

»Natürlich ist da nichts.« Cassie räusperte sich und blinzelte.

Mica stand langsam auf. »Bring mich nicht dazu, dich zu erwürgen, Cassie«, warnte sie ihre Freundin leise. »Und ich kann das. Du weißt, dass ich das kann.«

Cassie verzog das Gesicht, und ihre vollen Lippen formten einen Schmollmund, während Belustigung in ihrem Blick aufblitzte. »Dad hat einen Fehler gemacht, als er dich zusammen mit mir trainieren ließ. Er hätte all diese Drohungen vorhersehen müssen, die du gegen mich ausstößt.«

»Versuch nicht abzulenken, Cassie.« Mica atmete hörbar aus. »Was hast du gesehen?«

Das geheimnisvolle kleine Lächeln, das um Cassies Lippen zuckte, war furchterregend. Es war erschreckend. Mica wusste, sie hätte wochenlang Albträume, wenn Cassie ihr nicht sagte, was los war, nur wegen dieses Lächelns. Viel zu wissend, aber mit einem Anflug von Sorge und Unsicherheit.

»Gesehen habe ich gar nichts.« Cassie winkte ab, als sei es nichts, worum man sich Sorgen machen musste.

Wann immer Cassie eine Vision, eine Heimsuchung oder was zur Hölle auch immer es war, hatte, war es nie, niemals etwas, worum man sich keine Sorgen machen musste.

»Cassie, treib keine Spielchen mit mir.«

»Es war ein Duft.« Cassie zuckte mit den Schultern. »Ein Gefühl.« Sie runzelte die Stirn und warf einen Blick zum Fenster, dann wieder zu Mica. »Mica, ich glaube nicht, dass ich weiß, was ich gewittert habe.«

Das bezweifelte Mica. Langsam stand sie auf. »Ich habe vielleicht nicht deine Nase, aber ich kenne dich«, warnte sie ihre Freundin. »Lüg mich nicht an, Cassie.«

»Ich würde dich nie anlügen, Mica.« Cassie machte große unschuldige Augen. Doch Mica wusste es besser. Sie kannte diesen Ausdruck. Das war alles andere als Unschuld.

»Cassie«, stieß sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, und langsam stieg Gereiztheit in ihr auf. »Mach das nicht mit mir.«

Cassie zog eine Augenbraue hoch. »Was soll ich nicht mit dir machen, Mica? Was mache ich denn?«

»Du verheimlichst mir die Wahrheit«, warf Mica ihr vor. »Sag mir, was du gesehen hast.«

Cassie runzelte die Stirn. »Ich habe es nicht gesehen, sondern gewittert«, wiederholte sie. »Aber es ist kein Duft, den du jetzt an dir hast, Mica. Sondern einer, den du später mal an dir haben könntest.«

Da war die Panik wieder. Sie machte sie krank, und ihr Magen fühlte sich schwach und unsicher an.

»Und was für einen?« Zusammengebissene Zähne und Frust. Sie hasste es, wenn Cassie derart mit ihr spielte.

»Zufriedenheit«, antwortete Cassie endlich. »Weißt du, Mica, sosehr du den Gedanken daran vielleicht auch hasst, ich habe Zufriedenheit gewittert.«

Cassie beobachtete ihre Freundin und gab sich alle Mühe, weiter keine Miene zu verziehen, Mica zu überzeugen, dass alles gut war, und die Sorge und Unruhe zu verdrängen. Sie belog Mica nicht, der »künftige« Duft war einer aus Zufriedenheit, aber es war eine mögliche Zufriedenheit. Ein Vielleicht. Einer von den vielen Wegen, die Mica einschlagen konnte. Und neben diesem Weg gab es Täuschung und Wut, und auf der anderen Seite lagen Todesqual und Herzschmerz.

Der Weg würde von zu vielen Dingen abhängen.

Er würde abhängen von Mica und einem Breed …

Und der Breed, von dem alles abhing, war nicht Navarro Blaine.

Und das war der beängstigende Teil. Denn der andere Duft, den sie wahrnahm, war so schwach, so dezent, dass Cassie bezweifelte, dass er sich bei Tests überhaupt zeigen würde. Dieser andere Duft war der von Navarro, und ein Anflug von Paarungsrausch.

Mica war Navarros Gefährtin, aber das Glück ihrer Freundin läge in den Händen eines anderen Breeds. Eines Breeds, der nicht ihr Gefährte war.

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Donner krachte, Blitze zuckten über den Himmel, und es goss in Strömen, als habe der Zorn selbst eine physische Präsenz erhalten. Er peitschte durch die windumtosten Straßen und Seitengassen, während die meisten Bewohner der Stadt von drinnen zusahen. Es gab ein paar Mutige, die sich auf die Straßen hinauswagten und sich dem Zorn des Sturms stellten, der wütend vor ihren Fenstern tobte, aber das waren nur ganz wenige.

Um vier Uhr früh waren die Straßen so gut wie verlassen. New York mochte ja die Stadt sein, die niemals schlief, aber ganz offensichtlich ruhte sie eine Weile, vor allem während der rasenden, peitschenden Regenfälle, die in jener Nacht über die Stadt herniedergingen.

Micas Haar und Kleidung waren vollkommen durchnässt vom strömenden Wasser, das ihr in die Augen lief, sich dort mit den Tränen mischte und das Blut abwusch, das aus ihrer Kopfwunde rann, nach dem ersten Angriff, der sie zuvor getroffen hatte. Ein Angriff, mit dem sie nicht hatte rechnen können und der sie ohne Vorwarnung traf.

Sie stolperte durch die Gasse, atmete schaudernd und zitterte am ganzen Körper vor Kälte, während sie verzweifelt versuchte, eine Zuflucht zu finden, ein Geschäft, eine offene Tür, einen Taxifahrer.

Irgendwas. Irgendwen.

Doch da war nichts. Niemand. Sie war allein in einer Stadt, die schlief, wenn sie doch gar nicht sollte, mitten in einem Sturm, vor dem sie hätte sicher sein sollen, gemütlich und warm in ihrem eigenen Bett.

Sie wünschte sich in ihr Bett.

Sie wollte sich die Decken über den Kopf ziehen und weiter diese heißen, erotischen Träume träumen, die sie in letzter Zeit von einem Breed hatte, von dem sie nicht träumen sollte.

Sie wollte nicht hier sein.

Ein Schluchzen drang aus ihrer Kehle, entrang sich qualvoll schmerzend ihren Rippen, während die Tränen ihrer Angst sich mit den kalten Rinnsalen aus Regen mischten, die ihr übers Gesicht liefen.

Sie wünschte sich nach Hause.

Sie hätte nie ihr Apartment verlassen und nie diesem Bastard von einem Kellner trauen sollen, der behauptet hatte, dass er in Schwierigkeiten stecke. Sie hätte nach dem Verlassen ihres Büros einfach nach Hause gehen und die Nachricht auf ihrem Handy ignorieren sollen, dass er wichtige Informationen für sie habe.

Sie war nur eine Buchhalterin, keine Reporterin. Aber sie aß häufig in dem kleinen Café, in dem er arbeitete, und er hatte sie angerufen, weil er, wie er behauptet hatte, nicht wusste, wen er sonst anrufen solle.

Blödsinn.

Er hatte sie direkt von der Bar des Restaurants in die Fänge eines verdammten Kojoten gelockt.

Der Hundesohn hatte versucht, sie niederzuschlagen.

Sie tastete ihren Kopf an der Seite ab und biss sich auf die Lippe, als sie die schmerzempfindliche Stelle fühlte.

Mit dem Arm um die Rippen lehnte sie sich an die Ziegelmauer eines geschlossenen Restaurants und rang um Atem.

Sie war in einen Van gestoßen und dann getreten worden. Sie erinnerte sich an einen Stiefel mit Stahlspitze, der ihre Rippen traf, bevor sie sie schützen konnte.

Mistkerle. Sie hasste Kojoten.

Abgesehen von Brimstone. Und Del-Rey.

Ja gut, Ashley, Emma oder Sharone hasste sie auch nicht.

Sie hasste die Kojoten des Councils. Jeden verdammten einzelnen von denen, und jetzt versuchte sie ihnen zu entkommen, indem sie sich in einer schmutzigen Gasse versteckte.

Sie wagte sich nicht hinaus auf die Straße, um hoffnungsvoll einem der wenigen Taxis zu winken, die auf der Suche nach den paar Fahrgästen, die sich finden ließen, unterwegs waren. Taxis waren nicht das Einzige da draußen.

Da gab es mehr als einen schwarzen SUV. Da waren Männer mit Headsets, und da war ein Breed. Mit scharfen Zähnen und schwarzen Augen, der Bösartigkeit versprühte, als er sich vorgebeugt hatte, mit einem fiesen Grinsen, das seine narbigen Züge verzerrte, direkt bevor sie ihre schweren Wanderstiefel in das hässliche, höhnische Gesicht von Marx Whitman gedonnert hatte, dem Kojoten, der die Breeds schon einmal verraten hatte.

Es war ein Anblick, aus dem Albträume gemacht waren.

Schaudernd, zitternd, zwang sie sich von der Mauer weg und näherte sich dem im Schatten liegenden Eingang zu der Gasse, in der sie sich verborgen hatte. Tief gebückt und immer in der Nähe der dunklen, nassen Mauern der Gebäude eilte sie den Gehweg entlang, steuerte hastig durch die Straßen und gab sich alle Mühe, die Fahrzeuge im Auge zu behalten, die sich langsam hinter ihr bewegten.

Es gab keine Möglichkeit, sich vor einem Breed zu verstecken. Keine Chance, sie nicht misstrauisch zu machen, falls die Männer in den SUVs eine einsame Gestalt auf dem Gehweg entdeckten.

Sie duckte sich in die nächste Gasse, bewegte sich hastig durch die unheilvollen Schatten, und als über ihrem Kopf ein Blitz zuckte und Donner förmlich die Luft um sie herum erschütterte, drehte die Angst ihr den Magen um.

Ein Schrei drang aus ihrer Kehle, als sie gegen eine Mülltonne stolperte, die daraufhin krachend umfiel, und ein Schatten neben ihr in die Höhe sprang.

Wie eine aufsteigende Rachebestie kam das Etwas auf sie zu. Ein Laut wie ein irres Knurren, ein Windstoß kalter Luft, ausgestreckte Arme … Mica schrie erneut auf und fiel rücklings hin, als der Schatten ihr folgte, gegen sie prallte und sie zu Boden stieß, trotz ihres Versuchs, aufrecht zu bleiben.

»Verdammt, Mica!« Schroff und animalisch. Diese Stimme sollte sie kennen, aber Hysterie durchfuhr sie, und der Schmerz war brennende Qual in ihren Rippen, als sie kämpfte, um sich zu befreien.

Der Gestank nach Urin, das Gefühl vom Dreck der Gasse unter ihren Handflächen und ein Albtraum aus Empfindungen, die sie nicht verarbeiten konnte. Instinktiv rollte sie sich herum, kam wieder auf die Füße, rutschte aus und erlangte dann endlich genug Bodenhaftung, um sich zur Flucht zu zwingen.

Der Laut hinter ihr ähnelte viel zu sehr einem Fluch. Er war dämonisch und jagte ihr ein Aufblitzen von Entsetzen durch den Leib, während ihr ein Schluchzen aus der Kehle drang, und sie rannte um die Ecke in eine Seitenstraße.

»Mica.« Rau, ein grimmiges Vibrieren, und es klang nicht im Mindesten freundlich.

Als sie sich vor einer Mauer wiederfand, erleuchtete ein Blitz den Himmel und enthüllte eine hochgewachsene, breite Gestalt mit Augen wie aus gehämmertem Gold und mit brutalen Zügen, zu grimmig und unbekannt.

Im nächsten Atemzug drehte Mica sich um und rannte in die entgegengesetzte Richtung – nur um sich einem weiteren Schatten gegenüberzusehen, noch größer und finsterer. Sie warf sich geduckt zur Seite, schlitterte beinahe über die Straße und rutschte unter einer ausgestreckten Hand durch – nur um mit dem Rücken an eine Ziegelmauer gedrückt zu werden, als harte Männerarme sie umschlossen.

»Verdammt, Mica, hör auf, dich zu wehren, bevor ich dich ausknocken muss!«

Ihr Blick ging ruckartig hoch, ihr stockte der Atem, und Erleichterung und Schwäche zugleich jagten ihr durch den Leib.

Er war das Tier, dessen Stimme sie einmal mehr zur Flucht getrieben hatte. Schwarze Augen glitzerten voller Zorn, als der Blitz die Welt um sie herum erleuchtete.

Die Szene wirkte surreal. Der Blitz, der strömende Regen. Seine exotischen, grimmigen Züge, umrahmt von schwerem glatten seidig-schwarzen Haar, das ihm ums Gesicht fiel, nass vom Regen.

Zitternd und mit weit aufgerissenen Augen konnte sie ihn nur anstarren, als er die Hand hob und ihre Wange umfasste. Die intensive Wärme seiner Berührung rauschte durch ihren Leib, als sein Daumen sanft über ihre Lippen strich.

»Amaya.« Er sagte es so leise, dass sie es kaum hörte, und die dunkle asiatische Note in seinem Tonfall schockierte sie, als er den Spitznamen flüsterte, den er ihr vor Jahren gegeben hatte. »Bist du jetzt bereit, aus dem Regen zu kommen?«

»Navarro.« Sein Name war ein schroffes Aufkeuchen, und Erleichterung durchströmte sie, schwächte sie, als die Wärme seines harten Körpers langsam durch die durchnässte Kleidung zwischen ihnen durchsickerte.

»Navarro, wir müssen los«, grollte ein männlicher Raubkatzen-Breed schroff.

Mica wollte herumwirbeln, und ihr rutschte das Herz in die Hose, als die Angst plötzlich wieder in ihr aufstieg.

»Kannst du rennen?« Die schroffe Frage war ein knirschendes, wütendes Geräusch, das unvermittelt in Navarros kräftigem Brustkorb zu vibrieren schien.

Für einen Breed, von dem es hieß, dass er nicht knurrte wie die anderen, kam das einem Knurren schrecklich nahe.

Ein knappes Nicken, und er nahm ihre Hand, drehte sich um und lief mit ihr durch die regennasse Nacht.

Schatten streckten sich von den Gebäuden um sie herum aus, sich windende Finger aus Dunkelheit, die mit dem vom Regen getrübten Schimmer der rar gesäten Straßenlampen kollidierten, die sich hier und da in die Schatten der Gassen einfügten.

Mica war sich der Gestalt hinter ihnen bewusst, auch wenn sie nur einen kurzen Blick auf eine dunkle Silhouette erhaschen konnte. Durch den strömenden Regen war es unmöglich, Gesichtszüge zu sehen oder zu erkennen.

Sie konnte die Präsenz hinter sich spüren, eine prickelnde Wachsamkeit, die ihre Nerven reizte.

»Wir sind fast da«, versicherte ihr Navarro, als könne er die Angst, die immer größer in ihr wurde, ahnen, irgendwie fühlen.

Nasses Wetter beeinträchtigte angeblich den Geruchssinn eines Breeds. Wenn er ihre Angst immer noch wittern konnte, bestand die Möglichkeit, dass der Kojote, der sie angegriffen hatte, oder jemand, der mit ihm zusammenarbeitete, ebenfalls ihren Duft auffing.

Sie zwang sich, das Gefühl zu verdrängen und in derselben dunklen, verborgenen Ecke ihres Gedächtnisses zu begraben, wo sie Dinge vor Cassie zu verbergen versuchte, aber das war nicht einfach. Der Schrecken war wie ein schmieriges, bösartiges Gespenst, das über ihr schwebte und sich zu weigern schien, sie entfliehen zu lassen.

Aber jetzt war Navarro bei ihr. Sie war nicht allein. Das war der Rettungsanker, an dem sie sich festhielt, das zerbrechliche Band aus Wachsamkeit, das ihre Konzentration wahrte, als sie die Angst langsam an diesen abgeschlossenen Ort drängte, wo man sie nicht wahrnehmen konnte.

Er war der eine Breed, vor dem sie sich persönlich in Acht nehmen sollte, aber vom ersten Tag an, als ihre Blicke sich trafen, hatte sie immer gewusst, dass er nie zulassen würde, dass irgendwer sie verletzte.

Ich werde dich schützen, Mica. Ich schwöre, solange ich lebe, werde ich dich vor Schaden bewahren.

Dieses Versprechen, gegeben, als Explosionen den zentralen Platz von Haven erschütterten, an einem Abend, an dem gefeiert werden sollte, hallte in ihrem Kopf wider.

Er hatte geschworen, sie zu schützen. Indem er sie mit seinem Körper schützte, hatte er sie vor der Gefahr bewahrt, als Breed-Verräter versuchten, Storme Montague, eine der neu gepaarten Frauen in Haven, und Cassie zu entführen.

Wie oft hatte sie diesen Abend wieder in ihren Albträumen durchlebt? Doch jedes Mal wandelte sich der Schrecken zu etwas anderem, etwas Sanfterem, Erotischerem. Zu etwas, das ihr nur noch mehr Angst machte, und das auf tiefer, überaus persönlicher Ebene.

Es bewirkte, dass sie ihn begehrte. Albträume wurden zu erotischen Fantasien, wenn sie von jenem Abend träumte. Zu dem Gefühl seiner Lippen, die ihr Ohr und dann ihre Wange küssten. Zu dem Gefühl seiner Lippen, die zuerst nur über ihre streiften und sie dann mit einer hungrigen, animalischen Leidenschaft eroberten, die sie anscheinend nicht leugnen konnte.

»Fuck!« Auf den wütenden Ausruf hin wandte Mica ruckartig den Kopf, um zu sehen, was der Grund dafür war.

Sie hatte nur eine Sekunde, um einen kurzen Blick auf Scheinwerfer zu werfen, die in die Gasse einbogen, bevor Navarro sie hastig in eine tiefe, geschützte Nische zwischen zwei Gebäuden zog und an die Ziegelmauer drückte.

»Eine warme Nacht für diesen Mist hätten sich diese Hundesöhne wohl nicht aussuchen können, oder?«, grollte er an ihrem Ohr, und Mica spürte, dass seine Arme sie schützend umfingen und der lange Ledermantel, den er trug, sie umhüllte, als er ihren Kopf an seine Brust drückte.

Unter dem Mantel war er schwer bewaffnet. Ein ganzes Arsenal im Futter des Leders und in Holstern unter seinem Arm, an der Taille und am Bein.

Sie konnte das kalte Metall der automatischen Maschinenpistole in einem Geschirr an seiner Seite spüren. Eine weitere Automatik steckte im Holster an seinen schmalen Hüften, und in dem an der linken Seite trug er eine der leichtgewichtigen, mächtigen Laserwaffen zur Verteidigung.

An jeden Oberschenkel war ein Messer geschnallt, und nur Gott wusste, was er sonst noch an Waffen bei sich trug.

Und tue es, während du unbedingt versuchst, ihr nicht die Kleider vom Leib zu reißen

Unglücklicherweise war der letzte Teil genau der Befehl, von dem er fürchtete, dass er ihm nie Folge leisten würde.

In Micas Höschen zu kommen war eines der ersten Dinge auf seiner To-do-Liste, während Jonas und Stygian nach einem Fluchtweg aus der Stadt suchten. Er musste sich nicht ändern, um sie zu vögeln.

Fast wäre er zusammengezuckt. Nein, vögeln könnte er sie nie. Bei einer Frau wie Mica konnte ein Mann, egal welcher Spezies, nur Liebe machen, egal ob er sich gestattete, sie zu lieben oder nicht.

Und dies wäre seine einzige Chance auf sie. Es konnte auch gut seine letzte Chance sein, genau zu erfahren, was er hinter sich ließ. Es war Zeit für ihn, zu gehen, bevor die Natur ihn einholte und ihm eine Gefährtin verpasste. Es war Zeit, zurückzukehren zu dem Leben aus Lügen und Illusion, zu dem er gehört hatte, bevor er die Mission angenommen hatte, nach Jonas’ Wissenschaftler zu suchen.

Außerdem war Mica ein Schwachpunkt, der sie beide das Leben kosten konnte.