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Rolf Völkel
Ihre Mitgift
ist der Tod
Mit Psychoterror zur Witwe
Thriller
DeBehr
Copyright by: Rolf Völkel
Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg
Erstauflage: 2021
ISBN: 9783957539083
Grafik Copyright by AdobeStock by: @ freshidea
1. Kapitel
Mit aller List muss die lesbische Beziehung Johannas ein Geheimnis bleiben. Zumal Homosexualität, wie die unter Männern, nach § 175 strengstens verboten ist und in diesen Zeiten mit Gefängnis bestraft wird. Aber das schreckt auch ihre Partnerin Renate nicht ab, einen äußerst teuflischen Plan zu verwirklichen.
Johanna täuscht Liebe vor, um den ahnungslosen Rudolf zur Heirat zu bewegen. Zwei Kinder will sie zur Welt bringen. Sobald der Dummkopf seine Schuldigkeit getan hat und eine jeden Verdacht ausschließende Zeit verstrichen ist, wird er, sehr bedauerlich, aus unerklärlichen Gründen, Suizid begehen.
Zweifellos befindet sich der Servicetechniker gar nicht auf der gleichen sozialen Stufe. Johanna arbeitet wie ihre Partnerin Renate als Lehrerin, sie legen großen Wert darauf, zur intellektuellen Elite zu gehören. Zwar hat sich Rudolf als Lehrausbilder bei einer großen Firma in Halle hochgearbeitet. Morgen beginnen viereinhalb Jahre Abendschule mit dem Abschluss der Meisterprüfung. Solch ein Titel zählt für Johanna noch lange nicht zur Intelligenz.
So richtig nachdenken kann Rudolf nicht bei all dem Stress in seiner Firma. Und zusätzlich die Belastung, zwei Mal in der Woche, bis zweiundzwanzig Uhr auf der Schulbank zu sitzen. Zur Freude der kleinen Familie wird Annemarie geboren. Ein richtiger Racker, der am Tage schläft, nachts schreit, an Nachtruhe ist nicht zu denken. Man könnte vermuten, Johanna hat schon längst diese Schwangerschaft bereut, mit so viel vollen Windeln hat sie nicht gerechnet. Wobei das Kind wächst und gedeiht, bald geht Annemarie in eine Krippe, sodass die Mutter wieder ihrem geliebten Beruf nachgehen kann.
Falls Rudolf seine Frau abends abholt, muss er vor der Schule warten, einen Grund hat sie nicht gesagt. Vielleicht schämt sie sich, einen Servicetechniker geheiratet zu haben. Sicher trifft das auch auf die Mutter zu, welche als Waldarbeiterin ihren Lebensunterhalt verdient. Oder die Schwester, die im Kuhstall arbeitet. Soll das einer verstehen, offensichtlich war ihr der Lehrerberuf in den Kopf gestiegen. Rudolf kann die Streitereien kaum noch ertragen. Stundenlang sitzt seine Frau vor von Schulkindern bemalten Blättern. Und kann sich nicht entscheiden, welche Noten diese verdienen. „Hier, schau mal, welche Zensur wäre für dieses Bild gerecht?“, spricht sie zum Ehemann. Der will sich möglichst nicht äußern, denn fast immer endet das in einem handfesten Streit, dazu verspürt Rudolf wirklich keine Lust. Ganz so klein beigeben möchte er trotzdem nicht, noch dazu bei dieser Aufforderung: „Nichts zu beanstanden, kannst du den Kickerhahn besser malen. Der Kamm erscheint wie im Original, ein schönes Gefieder, an den Füßen mit seinem Krallen gibt es nichts auszusetzen. Außer, dass sie etwas schräg sind, ein Schüler der ersten Klasse kann eben kein Rembrandt sein, das verdient eine glatte Eins“, folgt als Antwort. Johanna kocht schon vor Wut, ihr Gesicht verfärbt sich dann immer puterrot.
„Unglaublich, wovon hat dieser Mensch eine Ahnung, sinnlos, über korrekte Benotung zu sprechen. Außerdem wurde dieses Bild von Dietmar Paulig gemalt. Das ist der, welcher ständig sehr schlecht gekleidet herumläuft sowie zu Beginn der Fischgasse in dem verwahrlosten Haus wohnt.“ Jetzt hat sie es wieder einmal geschafft, denkt sich der Ehemann. „Ach wunderbar, Schüler werden nach Herkunft beurteilt, sehr schön. Dass du damit einem Kind völlig die Lust an der Schule nimmst, somit sein Fortkommen beeinflusst, macht dir nichts aus“, spricht Rudolf empört. Johanna lacht nur, es schallt durch das ganze Haus. Die Nachbarn glauben tatsächlich, welch glückliche Familie wir sind. Annemarie weint im Laufgitter. Rudolf wird sich gleich um das Kind kümmern, danach Abendbrot herrichten. Bevor einige Aufgaben für die Meisterschule gelöst werden sollten. Nach bestandener Meisterprüfung beabsichtigt der junge Mann, sich selbstständig zu machen und für seine Familie ein Haus zu bauen. Vielleicht wird dann auch Johanna etwas einsichtiger, sodass die Ehe fortan in ruhigeren Bahnen verläuft. Großen Einfluss übt Adelheid aus, Rudolfs Mutter. Sie gibt der Schwiegertochter sogar Ratschläge, was sie beim Sex beachten soll. „Auf keinem Fall könnt ihr noch ein zweites Kind in die Welt setzen“, spricht sie fortwährend. Rudolf hat allen Grund, sich gegen derartige Ratschläge zur Wehr zu setzen. Zumal er als Kind und Jugendlicher von seinen Eltern äußerst schlecht behandelt wurde. Jetzt kommen die beiden, spielen sich als die generösen Großeltern auf. Dabei verfolgen sie nur ein Ziel, sich bei Annemarie, dazu ihrer Mutter, einzuschmeicheln, das wurde schon erreicht.
So etwas kann Rudolf keinesfalls vergessen, dass er als Arbeitssklave gehalten wurde. Denn es gab nur etwas zu essen, wenn er in der Tierhaltung seines Vaters das von ihm gesetzte Arbeitssoll schaffte. Egal, wie spät es abends wurde. „Dann muss sich ein Faulpelz eben ein bisschen dranhalten“, bekam er jeden Tag gesagt. Schon frühmorgens ging die Arbeit los. Bevor Rudolf zur Schule ging, musste die Ziege gemolken, die Hühner gefüttert, dreißig Kaninchen sowie eine Nutriazucht versorgt werden. Vater Wilhelm spielt immer den Kranken. Auf keinen Fall will er sich die Finger schmutzig machen, weshalb gibt es einen derartigen Knecht. Für Hausaufgaben blieb keine Zeit, das Holz für den Küchenofen ist wichtiger. Hier will Rudolfs Vater Zeitung lesen, zudem seinen Kumpel Karl empfangen. Es schert ihn wenig, wenn der Sohn an Unterernährung leidet. „Von der Arbeit ist bisher noch keiner gestorben“, antwortet Wilhelm, als der Lehrer Wendt ihn zur Rede stellt. Ein ungewolltes, im Suff gezeugtes Kind, hat eben kein Recht, Ansprüche zu stellen. Wenn er wenigstens solch eine Aussage für sich behalten hätte, so etwas schmerzt besonders. Immer mehr schwindet die Achtung vor solch einem Tyrannen. Nur die Angst vor einer unbekannten fremden Welt zwang Rudolf, dort zu bleiben, wo sollte er hingehen. Du bist froh, dich am späten Abend in das verschlissene Militärbett fallen zu lassen. Man merkte gar nicht, welch schäbige Bodenkammer dieses Zimmer war. Ohne Ofen, Tisch und Stuhl, die Eiskristalle glänzten an der schrägen Decke sowie den winzigen undichten Fenstern. Einen Schrank gibt es nicht, was sollten wir darin aufbewahren, wenn ein Mensch nur die Kleidungsstücke besitzt, die er am Leib trägt. Am liebsten würde Rudolf diese fürchterliche Zeit vergessen.
Er konnte sein Glück kaum fassen, endlich in einer eigenen Familie leben zu dürfen, mit Kindern zudem einer ordentlichen Wohnung. Wenn da nicht die Alten alles hintertreiben würden. Auf keinen Fall kann Rudolf diesbezüglich mit seiner Frau sprechen. Sie glaubt das einfach nicht, bezichtigt ihn als Lügner. Es scheint besser, seine bösen Erinnerungen mit Albträumen in sich hineinzufressen, als vor der Ehefrau alles von der Seele reden zu dürfen. Adelheid wähnt sich sicher, mit der Schwiegertochter ein Herz und eine Seele zu sein, sie streitet eh alles ab. Als einzigen Verbündeten hat Rudolf nur seine kleine Annemarie, das Kind wird immer erwachsener. Dieses Jahr war sie in die Schule gekommen, aber die ständigen Querelen gehen auch an ihr nicht spurlos vorbei. Sie schiebt den Kopf durch den Türspalt: „Vati, sag mal, wie hältst du den ständigen Streit aus?“
Da blickt ein Vater verblüfft aus der Wäsche, sucht nach Worten. Das Kind besitzt mehr Gespür für die Situation als die Alten. Bleibt nur, die Sache zu verharmlosen, als wäre das alles nicht so tragisch: „Na ja, so empfindlich sollte ein Mann nicht sein, es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen“, sagt Rudolf. In der Hoffnung, dies glaubwürdig rüberzubringen, denn Schwierigkeiten gibt es in allen erdenklichen Beziehungen. Keinesfalls darf damit ein Kind belastet werden. Annemarie wurde von den Alten schon als Erbin bestimmt. Der eigene Sohn zählt nicht, der war ja auch nur im Suff entstanden. Rudolf hätte von denen auch nichts anderes erwartet, da hat wenigstens seine kleine Tochter gleich einen guten Start. Wenn man sich wenigstens abends in der Schule etwas ausruhen könnte. Schon alleine die Zugfahrt nach Halle ist anstrengend genug. Oftmals bleibt die Dampflok auf offener Strecke zu später Stunde auf dem Nachhauseweg defekt stehen. Dazu glaubt der Dozent, Diplom-Ingenieur Haberland, Rudolfs Chef, sich immer nur mit ihm unterhalten zu müssen. Der praktische Teil war schon bestanden. Heute werden, nach bestandener theoretischer Prüfung, feierlich die Meisterbriefe übergeben. Alle jungen Meister hatten zu einem Festessen die Ehefrauen oder Freundinnen mitgebracht. Nur Johanna hat keine Zeit für eine solch primitive Veranstaltung. Zu einem Glückwunsch kann sich keiner aus der Familie durchringen.
Egal, denkt sich Rudolf, die gönnen ihm das nicht. Trotz allem Unheil, seine Frau verfügt auch über gute Seiten. Zurzeit wuselt sie fröhlich lachend in der Küche, backt Kuchen, bereitet Mittagessen und vieles andere mehr. Wir könnten glauben, etwas Freudiges sei geschehen, ja richtig, Johanna ist schwanger. Endlich wieder einmal eine gute Nachricht. Jetzt fehlt nur noch ein eigenes Haus, der Ehemann kann auch schon ein passendes Grundstück kaufen. So einfach wird das nicht werden ohne Rückhalt in der Familie, wobei auch ein Kredit notwendig wäre. Wenngleich ein schönes Sümmchen schon gespart wurde, reicht dies noch lange nicht für ein Haus. Zumal zuerst das Grundstück bezahlt werden muss.
Das Schwierigste wird sein, Johanna davon zu überzeugen, womöglich erklärt sie den Mann auch wieder für verrückt. Dieser Ausdruck wurde in letzter Zeit schon mehrfach benutzt, sie setzt noch einen obendrauf: „Ich bringe dich dort hin, wo du hingehörst, ins Gefängnis oder in die Klapsmühle.“ Hat sie letztens wutentbrannt geschrien. Obwohl es dafür keinen Anlass gab, aus heiterem Himmel eine solche Aussage zu machen. Das erscheint wahrhaftig sehr merkwürdig, wenn man einmal darüber nachdenkt. So leicht lässt sich Rudolf nicht ins Bockshorn jagen. Vielleicht hängt das mit ihrer Schwangerschaft zusammen, unbedingt ist Rücksicht zu nehmen. Bisweilen fragt er sich, ob seine Frau tatsächlich in der Lage wäre, seine kleinen Schummeleien mit dem Finanzamt anzuzeigen. Obwohl sie auch gut von diesem Geld lebt, manchmal könnte der Ehemann an dieser Frau verzweifeln. Wenn da nicht Annemarie wäre, hätte Rudolf sicher schon längst das Weite gesucht.
Seine kleine Tochter kommt ihm freudig entgegengelaufen: „Vati, die Mama wird in die Klinik gebracht, wir bekommen ein Baby“, ruft sie.
„Na prima, ich trinke nur schnell eine Tasse Kaffee, fahre dann ganz schnell ins Krankenhaus. Endlich kommt wieder etwas Leben in die Bude.“ Ein liebes Mädel wie Annemarie, da scheint es möglich, sie für ein paar Stunden alleine zu lassen. Wenig später sitzt Rudolf im Fahrzeug, unterwegs muss noch ein Blumenstrauß gekauft werden. Dann empfängt ihn im Krankenhaus ein mächtiges Babygeschrei, Angelika, ein kleines Mädchen ist geboren. Der Ehemann drückt seiner Frau einen Schmatz auf die Lippen: „Das hast du gut gemacht mein Schatz“, sagt er. Dabei wirft sie ihm sofort vorwurfsvolle Blicke zu.
Eigentlich muss Rudolf nachdenken, wann er zuletzt mit ihr Sex hatte, das war schon ziemlich lange her. Ob die Zeit auch wirklich passt, sollte man in dieser Angelegenheit auch noch Buch führen. Falls jetzt Zweifel angemeldet werden, wäre diese Ehe ganz sicher beendet. Es gibt Wichtigeres, seit ein paar Wochen arbeitet Rudolf als Selbstständiger. Er betreibt eine kleine Heizungs- und Sanitärfirma mit zwei Angestellten sowie einem Lehrling. Es gibt viel Arbeit, dazu kaum einmal einen pünktlichen Feierabend. Nun kommt auch noch der Bau eines eigenen Hauses hinzu. Johanna hat ihre Zustimmung gegeben, auch der Standort gefällt, schon nächste Woche wird ein Bagger die Baugrube ausheben. Einige Gewerke will Rudolf selbst ausführen, Freunde wollen helfen. Welche alle die Hand aufhalten, sie denken, er besitzt eine Gelddruckmaschine.
So richtig Freude gibt es am Abend, wenn Angelika gebadet wird, sie im Wasser planscht und strampelt. Annemarie kommt nicht dazu, hier dürfte Eifersucht auf die kleine Schwester eine Rolle spielen, nur sie steht noch im Mittelpunkt. Das währt bestimmt nur kurz. Vorerst erscheinen Adelheid und Wilhelm nicht bei der jungen Familie. Wie oft hatten sie gemahnt, wie belastend ein zweites Kind sein kann. Welch riesige Dummheit des Sohnes, noch ein Kind in die Welt zu setzen.
Jetzt soll wohl ihre geliebte Annemarie das Erbe auch noch teilen. So etwas findet nicht statt, sie werden Mittel und Wege finden, dies zu verhindern. Lange können es die Alten nicht aushalten. Das Enkelkind hat jetzt ein Alter erreicht, wo ein ernsthaftes Wort einiges bewirken kann. Damit kennt sich Adelheid bestens aus: „Hier, sieh mal, wir haben wieder die guten Bonbons mitgebracht, die so gut schmecken“, spricht sie. Während das Mädchen, die schon im Bett liegt, eine Papiertüte greift. Obwohl sich Annemarie wie gewohnt die Zähne geputzt hat, nimmt sie sofort eines, steckt es in den Mund, die schmecken ja wirklich gut vor allem sahnig. Das Wesentliche des Gespräches steht noch bevor: „Sag mal, was meinst du, wenn plötzlich noch ein Geschwisterchen dazu kommt?“, fragt Adelheid. Annemarie zuckt mit den Schultern: „Weiß nicht“, antwortet sie kurz. „Also, uns gefällt das überhaupt nicht, wir haben dich als Erben bestimmt. Wenn du noch eine Schwester hast, dann wird womöglich geteilt“, spricht Adelheid ohne Umschweife. Darüber hat Annemarie noch nicht nachgedacht, wenn die Oma das so sagt, stimmt das natürlich.
Ein wenig erstaunt scheint sie schon zu sein, denn als nächste Erben kommen eigentlich die Kinder infrage, das wäre der Vater. Sicher weiß Rudolf schon längst, durch die Äußerungen der Alten, von deren Vorhaben. Dennoch, wenn auch der Vater seinem Kind dieses Erbe gönnt, wie wird sich seine Schwester oder deren Kinder verhalten. Da vermag ein einigermaßen gescheiter Mann das Chaos sowie den Streit vorhersehen. Dabei handelt es sich um ein beträchtliches Vermögen, denn seit Rudolf aus dem Haus flüchtete, wurden alle Tiere abgeschafft. Wilhelm hat eine neue Einnahmequelle erschlossen, er handelt jetzt mit Antiquitäten. Sein Spezialgebiet sind antike Uhren, Meißner Porzellan, Münzen, Briefmarken, alte handgefertigte Kleinmöbel, Spieluhren, Gemälde. Alles, was Geld bringt, seine Wohnung verbirgt mehr wertvolle Stücke als manches Museum.
Zudem gab es auch schon großen Ärger. Der ausländische Käufer einiger wertvoller Goldmünzen wurde bei der Ausreise vom Zoll kontrolliert, dabei erwischt. Denn es war strengstens verboten, antike Gegenstände illegal außer Landes zu bringen. Zumindest wird der Freibetrag überschritten, dann sind Steuern fällig. Wenn nicht die Goldmünzen insgesamt beschlagnahmt werden. Die Beamten brauchen auch nicht lange, um den Namen des Verkäufers herauszubekommen. Mehrere Tage haben Zollbeamte die Wohnung von den beiden Alten auf den Kopf gestellt. Zudem Listen angefertigt, in denen ein Gutachter den Wert der antiken Gegenstände ermittelt hatte. Für den Handel mit Antiquitäten besitzt Wilhelm keine Gewerbegenehmigung, Steuern bezahlt er auch nicht.
Um sich aus der Verantwortung zu stehlen, hatte Wilhelm skrupellos sogar Rudolf mit hineingezogen. Indem er behauptete, das alles würde zum großen Teil ihm gehören. Mit der Folge, dass Steuerfahnder und Zollbeamte die Steuererklärung aus der Firma des Sohnes noch einmal unter die Lupe nehmen. Vermögen zu verschweigen ist eine strafbare Handlung. Schlaflose Nächte, dazu die Erkrankung Johannas, sind das Ergebnis. Hier kann nur noch ein Rechtsanwalt helfen, was zwangsweise auch hohe Kosten verursacht. Das ganze Jahr haben wir hart gearbeitet, nun ist das Geld nutzlos weg. Wenigstens wird abgewendet, im Gefängnis zu landen. Eine hohe Geldstrafe und Nachzahlungen sind dabei das geringere Übel. Das interessiert die beiden Alten überhaupt nicht. Todmüde fällt Rudolf abends ins Bett, die Firma, dann noch nach Feierabend sowie am Wochenende der Hausbau, zehren an den Kräften und Nerven. Falsches Material wird angeliefert, auch der Treppenbauer hat sich beim Ausmessen vertan. Wenigstens der Dachstuhl wird maßgenau, den hat Rudolfs Freund Günter gezimmert. Auf so einen alten Kumpel ist eben hundertprozentig Verlass. Es ergeben sich immer wieder Vorteile bei einer Selbstständigkeit. Viele Wege zu Behörden sind zu erledigen, was ein Angestellter nicht bewerkstelligen könnte.
Selbstverständlich wird der Bauherr im neuen Haus mit seiner eigenen Firma in verschiedenen Gewerken tätig sein. Hier besteht die Möglichkeit, einiges von der Steuer abzusetzen. Mitternacht ist es geworden, als sich Rudolf von seinem Freund verabschiedet. Der Hausbau hat zunächst Vorrang. Jeder fährt in eine andere Richtung, nur gut, einen wie Günter zum Freund zu haben. Von seiner buckligen Verwandtschaft oder von angeblichen Freunden hat sich noch keiner auf der Baustelle blicken lassen. Trotzdem macht der Bau gewaltige Fortschritte, manchmal arbeiten gleich mehrere Firmen nebeneinander her. Ganz verwundert bemerkt Rudolf, in seinem Wohnzimmer brennt noch Licht. Eigentlich ungewöhnlich, sonst schlafen alle schon tief und fest. Noch schnell das Auto in den Hof fahren, etwas essen, unter die Dusche, dann nichts wie ins Bett. Aber es kommt immer anders, als man denkt. Johanna läuft, wie ein Raubtier im Käfig, ständig von einem Zimmer zum anderen. Ungeduldig erwartet sie den Ehemann, der ziemlich ahnungslos die Tür öffnet: „Unglaublich, wie blöd ist das, solch ein Haus zu bauen, dazu in einer Gegend, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Außerdem bist du viel zu dumm, um es zu bemerken, ich stehe nicht auf Männer. Mein Wunsch wurde mit zwei Kindern erfüllt, ab sofort bist du überflüssig. Verschwinde aus meinem Leben, solange es noch Zeit ist, es gibt genug Bäume zum Aufhängen“, brüllt sie. Ohne Rücksicht auf Nachtruhe von Kindern und Nachbarn. Sie brüllt immer weiter, Rudolf hält sich die Ohren zu, doch das bringt sie vollends zur Raserei. So leicht lässt sich der Ehemann nicht ins Bockshorn jagen.
„Ist das so schwer zu begreifen, für wen ich das mache, nämlich für dich sowie unsere Kinder. Vor einiger Zeit warst du einverstanden, erstens mit dem Grundstück, zweitens mit dem Hausbau. Nun hat sich in letzter Zeit eine lesbische Veranlagung angedeutet. Viel zu oft hat Renate deine Nähe gesucht. Ihr habt beide diesen teuflischen Plan ausgeheckt, mich nur benutzt. Natürlich ergibt sich jetzt, mit dem Bekenntnis, eine neue Situation. Vielleicht schafft ihr es noch, mich aus dem Weg zu räumen“, spricht Rudolf in völlig ruhigen Ton.
Selbstverständlich plärrt sie immer weiter, das macht wirklich keinen Sinn, mit dieser Frau ein vernünftiges Gespräch zu führen. Appetit verspürt Rudolf keinen mehr, wenn er sich jetzt in die Küche setzt, um in aller Ruhe zu speisen, wäre ihr Geifern ohnehin unerträglich, bleibt nichts anderes, als hungrig ins Bett zu gehen. Trotz aller Müdigkeit kann der Ehemann keinen Schlaf finden. Das ist wirklich widerwärtig und kaum zu glauben, wie konnte es geschehen, auf diese Frau hereinzufallen.
Nach einiger Überlegung hat sie sich vom ersten Tag an merkwürdig verhalten. Rudolf suchte die Gründe dafür in ihrer Vergangenheit. Sie sind Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten, wo die Gefahr bestand, von den Russen vergewaltigt worden zu sein. Da hat er sich gewaltig getäuscht, wie soll es fortan weitergehen. In nicht mehr allzu langer Zeit wird sie mit den beiden Kindern zur lesbischen Freundin ziehen. Dann steht Rudolf ganz alleine in seinem neuen Haus. Mehr als hinterhältig ist diese Person. Sich viele Jahre so zu verstellen und Liebe vorzutäuschen, sie hätte Schauspielerin werden sollen. Immer wieder hat sie aus geringstem Anlass Streit provoziert. Um mir die Lust, sich ihr anzunähern, erst gar nicht aufkommen zu lassen. Sie hat mich vorsätzlich, in betrügerischer Absicht, als Ehepartner missbraucht, um zwei Kinder in die Welt zu setzen. Unehelich kommt nicht infrage, was sollen die Leute denken. Heute kommt die Stunde der Abrechnung, mit der Aufforderung, mich am nächsten Baum aufzuknüpfen. Schöne Aussichten, ob ich ihr wohl diesen Wunsch erfülle. Auf jeden Fall war das noch nie eine Ehe, wenn sie nichts unternimmt, dann muss ich das eben tun, überlegt sich Rudolf. Irgendwie wird das Leben weitergehen, vielleicht wäre es besser gewesen, sich mehr um seine Familie zu kümmern.
Die Kinder liegen immer schon im Bett, wenn er abends nach Hause kommt. Wo doch die kleine Angelika so gerne mit dem Vater noch eine Runde mit dem Auto fährt. Autofahren ist die große Leidenschaft des Kindes. Am liebsten, wenn sie bei heruntergelassener Scheibe der Beifahrertür den Kopf hinausstecken kann, dass ihr der Fahrtwind ins Gesicht bläst. Dabei hält Rudolfs rechte Hand Angelika an den Hosenträgern fest, während er mit der Linken das Fahrzeug lenkt. Es macht wirklich Spaß, einem Kind solch eine Freude bereiten zu können. Viel zu schnell vergehen die Wochen dazu Monate, eines Tages wird sie mit den Kindern verschwunden sein.
So ohne Weiteres kann Rudolf nicht klein beigeben, er wird um sie kämpfen. Angelika läuft immer größere Entfernungen, ohne über die Teppichkante zu stolpern. Manchmal läuft sie auch schon vor der Wohnungstür im Treppenflur, wenn die Mutter auf der Terrasse Wäsche aufhängt. Oder im Arbeitszimmer mit Adelheid telefoniert, dann stehen meistens die Türen offen. Johanna hört mehrfaches Plumpsen, dann einen Schlag. Sie schreit auf, wirft den Hörer in die Gabel und stürzt nach draußen. Angelika liegt regungslos unten auf der vorletzten Stufe vor einer Mauer. Ganz schnell ist sie bei ihr, welch ein Glück, das Kind lebt, sofort muss ein Arzt her. Johanna hebt vorsichtig ihre kleine Tochter auf den Arm, trägt sie in das Kinderzimmer, wo das Bettchen steht. Nach wenigen Minuten läutet Dr. Schöpe an der Haustür, er kann die Mutter beruhigen. Das Mädel erlitt eine Gehirnerschütterung, dazu eine Platzwunde am Kopf, die er sofort verbindet.
Einige Zeit muss Angelika im Bett bleiben, der Doktor wird auch jeden Tag nach dem Kind sehen. Zum Feierabend, als Rudolf in den Hof einfährt, wundert er sich. Angelika drückt heute nicht die Nase an der Fensterscheibe platt, sonst schaut auch keiner herunter. Es werden doch nicht schon wieder Adelheid, dazu Wilhelm in der Stube sitzen. Irgendetwas stimmt hier nicht, seine Frau sitzt weinend in der Küche, macht ihm auch gleich Vorwürfe: „Wie oft haben wir darüber gesprochen, aber für eine Gittertür oben an der Treppe bleibt natürlich keine Zeit“, spricht sie vorwurfsvoll.
„Na klar, wer soll denn sonst schuld sein. Dass du lieber mit der Schwiegermutter telefonierst, als das Kind zu beaufsichtigen, wird geflissentlich vergessen. Gleich morgen gehe ich zum Tischler, um eine Bestellung aufzugeben. Wenn der keine Zeit hat, baue ich selbst eine Tür, wir können froh sein, dass nicht noch mehr passierte.“ Rudolf läuft durch mehrere Türen in das Kinderzimmer, da steht der kleine Unglücksrabe schon im Bettchen, will auf den Arm des Vaters: „Na komm, wir gehen in die Küche, der Kaffee steht schon auf den Tisch“, spricht er. Darauf scheint Angelika gewartet zu haben, sie kann auch schon wieder lachen. Nur Annemarie will heute keinen Kuchen, sie zieht es vor, im Kinderzimmer zu bleiben. Den Kaffeetisch deckt Johanna schon lange nicht mehr, aber das bedeutet für den Vater eine Kleinigkeit.
Am Abend läutet das Telefon, Adelheid ist am Apparat, sie will wissen, was geschah. Zudem, warum ihre Schwiegertochter mitten im Gespräch den Hörer auflegte. Als sie erfährt, dass Angelika nur eine Gehirnerschütterung sowie eine Beule am Kopf davontrug, legt diesmal Adelheid mitten im Gespräch den Hörer auf. Wie konnte solch eine günstige Gelegenheit fehlschlagen, es wird erfolgversprechender sein, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Von einer lesbischen Veranlagung der Schwiegertochter hat sie noch nichts mitbekommen. Für einige Wochen wird der Sohn von den Alten dann nicht mehr behelligt. Wenn er doch nicht ständig nachts von so fürchterlichen Albträumen geplagt würde. Entweder wird Rudolf vom Dach eines Hochhauses gestoßen oder er bekommt ein Messer in die Rippen.
Nicht umsonst musste er als Kind Keuchhusten und Lungenentzündung erleiden. Dann später wurde ein Schatten auf der Lunge festgestellt, mit Verdacht auf Tuberkulose. Zudem Rippenfellentzündung, Mittelohrvereiterung, Stirnhöhlenentzündung, vereiterte Mandeln und erfrorene Ohren. Sind wahrlich nur auf unzureichende Bekleidung, man kann sagen, mangelnde Fürsorge zurückzuführen. Unheimlich schämte sich Rudolf seiner armseligen Klamotten damals, hauptsächlich vor dem Mädchen. Es kam schon mal vor, dass er auf die andere Straßenseite lief, wenn ihm welche begegneten. Dies war nicht zu verstehen, wieso andere Kinder, die ohne Vater lebten, besser gekleidet waren als er. Wie gut, den heutigen Kindern alle Annehmlichkeiten des Lebens bieten zu können. Rudolf und seine Schwester träumten davon, ein eigenes beheiztes, voll mit Möbeln eingerichtetes Zimmer zu besitzen. Vielleicht auch ordentlich bekleidet gehen zu dürfen. Nun jedoch überschlägt sich Adelheid, falls das Enkelkind nur den geringsten Wunsch äußert, wird diese mit Geschenken überhäuft. Wenn sie nur einen Bruchteil ihrer Liebe zu Annemarie den eigenen Kindern geschenkt hätte, wie glücklich wären die gewesen.
Viel zu sehr musste Heiderose leiden, sie ließ sich nicht so ohne Weiteres in alte kratzende Kleider stopfen. Bis Adelheid den Latsch auszog, damit so lange auf die Tochter einprügelte, bis sie den Widerstand aufgab. Nicht ohne Grund war Heiderose, gleich nach der Lehre als Schneiderin, von zu Hause geflohen. Nur weit weg, je weiter, desto besser. Keiner der Geschwister konnte darauf hoffen, am Sonntag ausschlafen zu dürfen. Spätestens sieben Uhr wurde die Tür des gemeinsamen Kinderzimmers aufgerissen. Wütend stand Wilhelm im Raum. Wer da nicht sofort aus dem Bett sprang, konnte sich auf einiges gefasst machen. Schließlich gibt es viel Arbeit, entweder war Heuernte oder ein mit Unkraut überwucherter Rübenacker wartete auf Pflege. Brennholz muss zerkleinert werden, dazu sind die angelieferten Briketts in den Keller zu tragen.
Andere zu beschäftigen, ist die Spezialität von Wilhelm, sonst müsste er ja die ganze Arbeit selber machen. Wo kommen wir hin, dazu sind Kinder auf der Welt, den Eltern zur Hand zu gehen, das war schon immer so. Eigentlich wehrt sich Rudolf gegen die immer wiederkehrenden Erinnerungen. Mit dem Versuch, die Vergangenheit aus seinem Gehirn zu löschen. Wenn das nur so einfach wäre, zudem ihn nicht ständig so böse Albträume verfolgen würden. Er braucht seine ganze Kraft für die Gegenwart, nicht für die Zeit von gestern. Bald geht die Schufterei zu Ende, in wenigen Wochen wird das Haus fertig, dann bleibt auch mehr Zeit für die Kinder. Alle Zimmer sind herrlich eingerichtet, nur Johanna zeigt wenig Interesse. Man könnte vermuten, die lesbische Partnerin hat noch keine passende Wohnung gefunden.
Solch ein Einzug in ein neues Haus muss natürlich auch ordentlich gefeiert werden. Adelheid und Wilhelm sind als Erste zur Stelle, Günter hat seine Frau mitgebracht. Noch einige folgen der Einladung, sie kommen aus dem Staunen nicht heraus. Vor der Terrasse herrliche Staudengewächse, dann der wunderbare Ausblick.
Selbstverständlich lässt man sich nicht lumpen, allerbeste Speisen und Getränke kommen auf den Tisch. Johanna zeigt sich als perfekte Schauspielerin. Wenn uns Gäste besuchen, glauben sie tatsächlich, welch glückliche Familie wir sind. Adelheid fordert ständig den Sohn zum Tanz mit seiner Ehefrau auf. Es wird früher Morgen, bis der Letzte den Heimweg antritt. Kein Mensch stört sich daran, wenn die Musik bis Sonnenaufgang spielt. Der nächste Nachbar wohnt mehr als einhundert Meter entfernt, vorsorglich hat Rudolf diesem ein wenig Lärm angekündigt. Es macht Spaß, im neuen Haus zu wohnen, auch die Kinder sind begeistert. Nur gut, dass es heutzutage Telefon gibt, noch immer gilt der Sohn für Wilhelm als unentbehrlich. Sofort muss eine Bestellung aufgegeben werden, er braucht wieder einmal einen ganzen Kasten gutes tschechisches Pilsner Bier, dazu geräucherten Aal. Wenn möglich auch die hausgeschlachtete Knackwurst wie schon das letzte Mal. Lange kann Adelheid ihre Zurückhaltung nicht durchhalten, es scheint ohnehin viel zu viel Zeit verstrichen. Endlich muss sie mit Entschlossenheit ihrem Liebling den Weg in ein sorgenfreies Leben ebnen.
Heute ist der achtzehnte Juli, gleich am frühen Morgen fährt sie zur Familie des Sohnes. Ihren Ehemann Wilhelm kann sie diesmal nicht gebrauchen. Annemarie wird vermutlich in der Schule sein. Nun beginnt es früher Vormittag zu werden, genau richtig für einen hinterhältigen Plan. Die Schwiegertochter befindet sich auch alleine mit Angelika im Haus: „Ach komm doch rein, Mutti, wie schön, wenn du uns einmal besuchst“, freut sich Johanna. Adelheid lässt wie immer längst bekannte Sprüche los, läuft geradewegs durch die Küche in das Wohnzimmer. Dort spielt Angelika mit einer Puppe sowie Bausteinen auf dem Teppich, für das Kind hat sie kein einziges Wort übrig.
Den Reißverschluss ihrer Handtasche hat sie schon vorher geöffnet. Ebenso die Verschlüsse der Tablettenröhrchen mit Medikamenten gelockert. Adelheid braucht nur noch einen günstigen Platz für die Tasche. Gleich neben dem Kind am Tischbein erscheint erfolgversprechend zu sein: „Komm, wir setzen uns in die Küche, vielleicht kannst du mir einen Kaffee machen“, spricht sie zur Schwiegertochter. Die auch gleich das Wasser dafür in den Pfeifkessel einlässt, dann auf die Gasflamme setzt. Jetzt beginnt Adelheid, sie findet in allen Lebenslagen ein Thema. Die Tür zur Wohnstube bleibt nur einen Spalt geöffnet, sodass man Angelikas Spielerei nicht sehen kann. Der Kaffee „Tempelmanns Nummer Eins Bio“ schmeckt wieder ganz vorzüglich. Bei dem vielen Gesprächsstoff war schon mehr als eine Stunde vergangen. Jetzt muss Johanna wirklich einmal nach dem Kind sehen, das sich auch während dieser Zeit nicht einmal bemerkbar gemacht hat. Auf dem Teppich liegen geöffnete Tablettenröhrchen, ein Teil des Inhalts liegt daneben. Angelika wirkt auch ziemlich schläfrig: „Oh mein Gott, das Kind wird doch nicht diese Tabletten geschluckt haben“, ruft Johanna. Wonach Adelheid auch gleich in die Wohnstube kommt: „Ach was, ganz bestimmt nicht, wir geben ihr etwas Milch zu trinken, das wirkt kräftigend, dann kannst du sie ins Bettchen legen.“ Na gut, denkt sich Johanna, die Schwiegermutter hat ja sonst auch immer gute Ideen. Sie nimmt das Kind auf den Schoß und versucht, ihr etwas Milch in den Mund zu träufeln.
Aber Angelika schluckt nur widerwillig, sie schläft auch schon fest: „Du meinst, wir sollten sie ins Bett legen“, fragt Johanna besorgt die Schwiegermutter: „Ja, ja, Schlaf bedeutet immer etwas Gutes für ein Kind“, antwortet diese.
Das erscheint ganz ungewöhnlich, am Vormittag war Angelika bisher immer hellwach. Irgendetwas stimmt hier nicht, offensichtlich hat sie die Tabletten für Bonbons gehalten, dann gelutscht, sicher wird darin die Ursache zu suchen sein. Johanna nimmt das Kind wieder aus dem Bettchen, sie bewegt sich überhaupt nicht mehr. Unverzüglich muss etwas geschehen, sie läuft mit dem Kind im Arm auf die Straße, da kommt auch schon ein Autofahrer. Ein Bekannter, der Besitzer einer Kelterei. Johanna winkt aufgeregt, sogleich stoppt das Fahrzeug: „Bitte fahren sie mich ganz schnell ins Krankenhaus, das Kind hat Tabletten geschluckt“, schluchzt sie unter Tränen. „Ja selbstverständlich, steigen sie ein“, spricht der Mann, der ebenfalls Kinder hat. Der Fahrer drückt aufs Gas, während Johanna immer wieder versucht, ihr Kind aufzuwecken. Dann geht alles ganz schnell, die Ärzte überlegen auch nicht lange und übernehmen den kleinen Patienten.
2. Kapitel
Am frühen Morgen fährt Rudolf in die Wohnsiedlung der Stadt. Zusammen mit seinem Gesellen Lothar sowie einem Lehrling. Heute soll die marode Wasserleitung im Keller eines Mehrfamilienhauses erneuert werden. Ein gutes Stück sind sie auch schon vorangekommen, aber es fehlt noch eine Verschraubung. Lothar setzt sich ins Auto und holt das Ersatzteil aus der Werkstatt, dann fährt er wieder zur Arbeitsstelle: „Chef, du sollst gleich einmal nach Hause kommen. Deine Mutter hat gesagt, irgendetwas ist mit der Angelika passiert“, spricht der Geselle. Rudolf wird wütend: „Hier gibt es im ganzen Haus kein Wasser. Wir arbeiten wie die Verrückten, um so schnell als möglich fertig zu werden, da soll ich mal nach Hause kommen. Sind denn die beiden Weiber nicht in der Lage, einmal ohne mich etwas auszurichten, sie fühlen sich doch sonst immer so stark“, brüllt der Meister seinem Mitarbeiter entgegen. Der auch nur mit den Schultern zuckt, sich einen Kommentar lieber verkneift. Nach einiger Zeit verspürt Rudolf dann keine Ruhe mehr: „Arbeitet bitte weiter, ihr könnt auch ohne mich das Wasser anstellen, ich bin bald wieder zurück“, spricht er zu seinen beiden Männern.
Mittlerweile bewundert Adelheid die Blumenrabatten, nun wird sie auch noch gestört: „Du musst gleich einmal ins Krankenhaus fahren, Johanna befindet sich mit der Kleinen dort. Weil sie wahrscheinlich ein paar Tabletten geschluckt hat“, spricht sie.
Unfassbar, jetzt nur nicht die Nerven verlieren, Rudolf schüttelt ungläubig den Kopf, um sogleich wieder in seinen Lieferwagen zu klettern. Das kann doch nicht sein, da sitzen zwei Frauen in der Wohnung, die vor lauter Gequatsche nicht bemerken, dass dieses Kind Tabletten schluckt. Hoffentlich geht alles gut, man kann nur noch beten.
Alle Arbeitslosen und Rentner scheinen heute mit dem Auto unterwegs zu sein. So fahren die Leute auch, als hätten sie alle Zeit der Welt, aber Johanna braucht mich jetzt so schnell wie möglich. Mit großen Schritten geht Rudolf durch das mächtige Eingangsportal in Richtung der Dame, welche Auskunft erteilt. Kann ich behilflich sein, oder was wünschen Sie, mein Herr, ist hier schon längst aus der Mode gekommen. Als hätte man gerade gestört, blickt sie auf den Besucher. Der kennt diese Gepflogenheiten: „Meine Frau müsste vor ungefähr einer Stunde mit unserem Kind hier angekommen sein. Das wahrscheinlich Tabletten geschluckt hat, wo finde ich sie?“, fragt Rudolf. Ohne auf eine Aufforderung der Dame zu warten: „Ja, nehmen sie bitte dort drüben Platz, ich rufe den Doktor“, spricht sie. Dabei zeigt die Frau auf eine Sitzgruppe gegenüber. „Danke“, erwidert Rudolf.
Sie ruft den Doktor. Ich will keinen Doktor, sondern Johanna und die Angelika mit nach Hause nehmen, denkt sich der Ehemann und setzt sich auf einen der Stühle. Es dauert auch gar nicht lange, da kommt ein Weißkittel den Gang entlang gelaufen, geradewegs auf Rudolf zu: „Sie sind der Ehemann der Frau, welche das Kind mit Tablettenvergiftung brachte?“, fragt er. Der Angesprochene nickt mit dem Kopf: „Kommen Sie bitte, ich würde das ungern hier draußen besprechen, wir gehen in mein Arbeitszimmer“, sagt der Doktor. Es geht den Gang wieder zurück, Rudolf findet das alles ziemlich merkwürdig, bis er aufgefordert wird, Platz zu nehmen: „Es tut mir sehr leid, ich muss ihnen eine traurige Nachricht überbringen. Leider konnten wir nichts mehr tun, das Kind war schon tot, als es hier eingeliefert wurde.“
„Oh mein Gott, sie konnten nichts mehr für unsere Angelika tun?“ Rudolf blickt dem Doktor fragend und fassungslos in die Augen, der schüttelt den Kopf. Das ist doch unglaublich, was das heutzutage für Ärzte sind, diese Herrgötter in Weiß. Aber bestimmt kann der einen hervorragenden Vortrag über den Marxismus halten, dieses Arschloch, denkt sich Rudolf. Zorn und Trauer zugleich befällt seine Seele. Als sich die Tür zum Nachbarzimmer öffnet, dort sitzt Johanna schluchzend auf einem Stuhl. Immer noch mit der schwarz gepunkteten, grünen Kittelschürze bekleidet. Als sie Rudolf erblickt, ertönt ein entsetzlicher Schrei, ganz schnell muss der Ehemann seine Frau in den Arm nehmen. Egal, was geschah, wenn er auch getäuscht und benutzt wurde. In solch einer unglaublichen Situation sollte man das nicht vergessen, aber verdrängen. Die Angelika bleibt unser gemeinsames Kind, der Schmerz sitzt tief in uns beiden.
„Komm, wir gehen nach Hause“, flüstert Rudolf ihr ins Ohr. Johanna reagiert auch gleich, sie fühlt sich zwiespältig. Einerseits fällt es schwer, das Kind zu verlassen, andererseits will sie nur schnell weg hier von diesem unglückseligen Ort. Auf dem Weg bis zur Straße glaubt Rudolf, seine Beine würden augenblicklich den Dienst versagen. Jetzt nur nicht schlappmachen, er muss Johanna festhalten, dass sie nicht auf das Pflaster stürzt: „Oh mein Gott, warum hast du uns verlassen?“, spricht er laut, streckt dabei seine Faust zum Himmel. Im Moment fühlt sich Rudolf außerstande, ein Kraftfahrzeug zu lenken. Er zittert am ganzen Körper und kann seine Tränen nicht mehr zurückhalten. Unfassbar, beide schütteln den Kopf, wie konnte nur so etwas passieren. Nun ist die Angelika tot, es könnte einem das Herz zerreißen. Draußen laufen immer wieder eiligst Leute vorbei, die keine Notiz von zwei verzweifelten Personen in diesem Fahrzeug nehmen. Ewig kann man hier nicht stehen bleiben. Rudolf versucht, sich zu konzentrieren, so gut es geht, nach Hause zu steuern. Nur nicht noch einen Verkehrsunfall verursachen, eine Katastrophe ist wirklich genug. Adelheid war verschwunden, nur Annemarie hält sich im Haus auf. Eine Betroffenheit auf die Nachricht lässt sich nicht in ihrem Gesicht ablesen.
Kraftlos, mit gesenkten Köpfen, sitzt die Familie abends am Küchentisch. Appetit verspürt heute keiner mehr, wie konnte das geschehen, auf keinen Fall darf Rudolf Vorwürfe erheben. Das würde die ganze Angelegenheit nur noch verschlimmern. In der folgenden Nacht findet der Ehemann keinen Schlaf, aber auch Johanna nicht. Morgens sieben Uhr stehen die Gesellen sowohl Lehrlinge in der Werkstatt. Den Kunden abzusagen, können wir uns nicht leisten, die kommen nie wieder. Noch dazu bei dieser Konkurrenz in unserem Gewerk. Trotzdem fällt es schwer, einfach wieder zur Tagesordnung übergehen zu müssen. Warum dreht sich die Welt immer weiter? Um den Menschen begreiflich zu machen, dass man so nicht miteinander umgehen kann, müsste sie wahrhaftig des Öfteren stehen bleiben. Zwei Herren, die den Klingelknopf am Wohnhaus drücken, stellen sich als Kriminalbeamte vor, sie ermitteln wegen fahrlässiger Tötung.
Zum Geschehen kann Rudolf keine Angaben machen, nur Johanna. Adelheids Handtasche mit dem Inhalt war natürlich längst weggeräumt. Am Nachmittag meldet sich telefonisch ein Staatsanwalt, er bittet Rudolf für den nächsten Tag in sein Büro. Was will denn dieser Mensch von mir, denkt er sich, eigentlich müsste der Gesetzeshüter Adelheid bestellen. Nun fährt Rudolf schon wieder diese Strecke in Richtung Stadt. Dieses riesige Gerichtsgebäude flößt einem schon beim Anblick Angst und Ehrfurcht ein. Genau so, wie man sich einen Staatsanwalt vorstellt. Mit schwarzem Anzug, weißem Hemd, Binder zudem Nickelbrille sitzt der Herr hinter einem uralten Schreibtisch. Zumindest ist er freundlich, spricht sein Beileid aus. Vermutlich erscheint Rudolf auch nicht als Angeklagter. Der Herr kommt auch gleich zur Sache. Als wäre das eine Plauderei beim Kaffeetrinken, spricht er ungeheuerliche Anschuldigungen aus: „Halten sie es für möglich, dass ihre Frau Mutter diese Tasche mit den Tabletten absichtlich hingestellt hat?“, will er wissen. Augenblicklich ringt Rudolf um Fassung, da braucht er nicht lange nachzudenken. „Nein, auf gar keinen Fall, dann wäre diese Oma eine Mörderin. Ich denke, der Tod unseres Kindes bedeutet Strafe genug. Sicher wird sie sich ein ganzes Leben lang Vorwürfe machen, dazu keine Nacht mehr ruhig schlafen können“, spricht Rudolf völlig unaufgeregt. Doch der Herr Staatsanwalt blickt immer noch skeptisch. Nun ja, wenn ein Mann ständig mit abartigen Tätern sowie anderen Ganoven zu tun hat, dann können ihn schon mal solche absurden Gedanken befallen. In seinem Beruf gehört es dazu, misstrauisch zu sein.
Wenn das die einzige Frage war, gut so, es wurde schon genügend Zeit verschwendet. Denn Rudolf muss ganz schnell wieder nach Hause, Johanna leidet sehr, eigentlich wäre psychologische Hilfe nötig, aber das stößt auf Ablehnung. Offensichtlich soll im Schmerz Selbstbestrafung stattfinden. Die letzten Tage hat sie nichts gegessen, liegt auf dem Sofa oder im Bett und weint. So gut es geht, versucht Rudolf, die Annemarie zu versorgen, sich um ihre Hausaufgaben zu kümmern. Zunächst sollte ein Mittagessen auf dem Tisch stehen, so einfach geht das alles nicht, was soll werden, wenn auch er noch die Nerven verliert. Ganz schrecklich so ein Tag, an dem man sein eigenes Kind beerdigen muss. Johanna kann sich kaum auf den Beinen halten, es ist zu befürchten, sie könnte mit in das kleine Grab stürzen. Eine große Menschenmenge, Freunde, Verwandte und Neugierige hatte sich auf dem Friedhof eingefunden: „Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub“, spricht der Pfarrer, dann wird der kleine weiße Sarg in die Tiefe gelassen. Unsagbarer Schmerz scheint einem das Herz abzudrücken. Adelheid stürzt zu Boden, andere kümmern sich, denn Rudolf hat Mühe, seine Frau aufrecht stehend zu halten.
Wie soll das noch enden, bald hat auch er keine Kraft mehr. Trotzdem geht das Leben weiter seinen Lauf. Annemarie kann nicht vernachlässigt werden, dann gibt es auch noch die Firma. Wahrhaftig, Johanna bereitet große Sorgen, manchmal schreit sie laut: „Diese alte Hexe hat mein Kind umgebracht.“ Dabei stürzt sie halb ohnmächtig zu Boden. Wie soll das nur weitergehen, der Haushalt findet nicht statt. Dazu hat Rudolf die Arbeiten mit Schreibmaschine schon einer Bekannten in Auftrag gegeben. Es wird besser sein, wenn Johanna in absehbarer Zeit wieder ihrem Beruf nachgeht. Dort wird sie abgelenkt, es wäre zu hoffen, dass bald danach Normalität einkehrt. Müssen wir jetzt befürchten, sie wird fortan unausstehlicher. Ganz schwer ist an die Frau heranzukommen, wir müssten doch mal miteinander reden.