Table of Contents

Titel

Impressum

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Wenn ein Mensch sich verändert...

Vom Autor bisher erschienen:

Mehr von Manfred Höhne bei DeBehr

 

 

Manfred Höhne

 

 

 

 

Kommissar und Autist

John Gregor und das Mädchenfleisch

Nach einem wahren Kriminalfall

 

 

 

 

DeBehr

 

Copyright: Dr. Manfred Höhne

Herausgeber: Verlag DeBehr, Radeberg

Erstauflage: 2021

ISBN: 9783957539106

Grafik Copyright by AdobeStock by © reewungjunerr, © Andrey Kuzmin, © Andrey Burmakin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Autor wurde am 4. November 1934 in Halle/Saale geboren. Er besuchte die Latina der Franckeschen Stiftungen, studierte Medizin und promovierte zum Dr. med.

Mehrere Jahre als Schiffsarzt und im Ausland inspirierten ihn zum Schreiben von Lyrik und Erzählungen. Drei seiner Romane sind bisher bei DeBehr erschienen. Er lebt mit seiner Familie in Naumburg/ Saale.

 

 


Kapitel 1

Sie hatten einen Schuss gehört unten am Hafen und die Gegend abgeleuchtet und abgesucht. Es war ihr Routinegang, mit dem sie für gewöhnlich die Streife beendeten. Dann hörten sie Hundegebell in unmittelbarer Nähe. Und dann fanden sie das Mädchen in dem Waldstreifen am Frankenteich. Sie haben es aber nicht selbst gefunden. Der Hundeführer hat es gefunden, der mit seinen 4 Doggen abends diesen Auslauf benutzte, weil er wenig, und spät abends nie, von Spaziergängern belaufen war, sodass er seine Hunde über eine Strecke frei laufen lassen konnte. Er hat das Revier angerufen und war mit dem Leiter der Streife verbunden worden.

Das Mädchen war in einem fürchterlichen Zustand, nicht ansprechbar und an der linken Schulter verletzt mit einer offenen und heftig blutenden Wunde. Der Hundeführer gab an, dass seine Doggen Männer gestellt hätten, die geflüchtet seien, als er die Hunde zurückrief und an die Leine nahm. Die Tiere gaben aber keine Ruhe und zogen ihn in das Gebüsch neben dem Weg, wo er das traumatisierte Mädchen fand. Der Streifenführer rief den Krankentransport und bandagierte den Oberarm des jetzt bewusstlosen Mädchens mit einem Druckverband, den die Streife in einem Notfallkoffer immer bei sich führte.  

Ich wurde noch vor der Nacht verständigt und begab mich in das Ärztehaus am Frankenwald in der Marienstraße, in das der Rettungsdienst nach einer ersten professionellen Erstversorgung das Mädchen gebracht hatte. Der diensthabende Arzt bestätigte mir den Verdacht, dass es sich bei der Verletzung um eine Schusswunde handelt, sodass ich veranlasste, dass die Patientin in ein am Ende des Krankenhausflures gelegenes Einzelzimmer verlegt wurde. Ich stellte einen Bewacher vor die Tür, denn ich spürte eine Ahnung, dass hier mehr war, als ein Schuss auf ein junges Mädchen.

Eine erste Befragung war nicht möglich. Der Arzt hatte ihm ein Beruhigungsmittel gegeben und es schlief, als ich in sein Zimmer kam. Mein Gefühl, dass die Angelegenheit mehr war, als eine Schussverletzung, bestätigte sich schon am nächsten Tag.

Der Mann, der die Hunde am Frankenseeufer ausgeführt hatte, betrieb einen Hundezwinger und war nach 35 Jahren als Steuerbrigadeur im Hafen arbeitslos geworden. Es war für viele eine schwere Zeit. Das Mädchen habe zusammengerollt im Gebüsch gelegen und ihn für einen der Männer gehalten, die sie verfolgt und verwundet hatten. Er habe beruhigend auf sie eingewirkt und ihr gesagt, dass seine Hunde die Verfolger verjagt hätten. Dann habe er das Revier angerufen. Alles Weitere habe dann die Streife übernommen. Er fügte aber noch hinzu, dass er glaube, dass das Mädchen keine Deutsche sei, was sie gesprochen habe, hätte mehr nach Polnisch oder Finnisch geklungen. Ich bedankte mich für seine Auskunft, vor allem aber für seine Tat. „Das waren wohl eher meine Hunde. Die haben die Männer verjagt und das Mädchen gefunden. Ich werde sie jetzt wohl als Wach- und Suchhunde ausbilden“, lachte er. Ich ließ mich zu seinem Zwinger führen und konnte seinen Stolz spüren, als ich seine Hunde lobte. Es waren eindrucksvolle Tiere! Wer noch nie eine Deutsche Dogge gesehen hat, musste Respekt bekommen. Vom Frankendamm fuhr ich direkt ins Krankenhaus, um nach meiner Patientin zu sehen. Sie schlief noch immer. In der Nacht sei sie sehr unruhig gewesen und habe mehrfach geschrien, sodass ihr der Bereitschaftsarzt noch einmal ein starkes Sedativum gegeben habe. Die Nachtschwester hatte berichtet, und dies auch so in das Nachtjournal geschrieben, dass sie eine osteuropäische Sprache gesprochen habe. Ich bat die diensthabende Schwester, mich anzurufen, wenn das Mädchen ansprechbar werden würde und vergewisserte mich, dass die Bewachung des Zimmers durch das Revier abgesichert war.

Nun erstattete ich erst einmal meinem Chef Bericht. Er hatte den Rapport der Schutzpolizei auf dem Schreibtisch und ich erinnere mich, dass er als Erster den Verdacht äußerte, dass es sich hier um Mädchenhandel handeln könnte. „Nur so ins Ohr“, meinte er, „fordere eine Dolmetscherin für Polnisch und Russisch an, damit wir schnell der Sache auf den Grund kommen. Denn wo das Mädchen war, stecken vielleicht noch mehr.“

  

 

Kapitel 2

Gegen 10 Uhr meldete sich bei mir eine Dolmetscherin, die Russisch und Polnisch beherrschte, und wir vereinbarten, dass ich sie anrufe, wenn das Mädchen ansprechbar ist. Ich telefonierte mehrfach mit dem Ärztehaus am Frankenwald, bis mir die Oberschwester signalisierte, dass eine erste Einvernahme möglich sei. Mit der Dolmetscherin verabredete ich mich direkt auf Station und mit Herbert meinem Partner verblieb ich, dass ich den ersten Besuch wohl besser allein machen sollte.

Das Mädchen lag wach im Bett. Auf dem Nachttisch standen noch der Teller vom Frühstück, ein leeres Glas und ein Kamm mit Haarbürste, was alles bei meinem Eintritt von der Schwester weggeräumt wurde. Ich begrüßte die junge Frau auf Deutsch und sie antwortete auf Deutsch, fügte aber an, dass sie aus Estland, aus Tallinn, stamme. Ich erklärte ihr meine Dienststelle, denn ich trug Zivil, und dass ich eine Dolmetscherin mitgebracht hätte. Ich fragte sie, ob sie Polnisch oder Russisch verstünde, was sie bejahte. „Russisch war bis zu unserer Volkserhebung Staatssprache, das können wir alle, kam noch vor Estnisch bei den Behörden.“

„Sie wissen, wie Sie hierhergekommen sind? Ich muss Sie befragen und ich möchte sie bitten, ehrlich und umfassend zu berichten, denn wir befürchten hinter Ihrer Verletzung eine Straftat.“ Sie nickte. „Wissen Sie, wer auf Sie geschossen hat?“ Sie nickte wieder, nachdem die Dolmetscherin übersetzt hatte. „Bitte erzählen sie von Anfang an.“ Ich setzte mich auf einen Stuhl am Bett und bat auch die Dolmetscherin, sich einen Stuhl zu nehmen. „Ich bin geflohen“, begann das Mädchen. „Aber die Männer haben das gemerkt und sind mir gefolgt“.

Ich unterbrach. „Bitte erzählen Sie von Anfang an, sonst kann ich mir kein Bild machen.“ Ich bemühte mich um einen freundlichen, mütterlichen Ton und lächelte. Das entkrampfte die junge Frau, die jetzt mich und nicht die Dolmetscherin anschaute. „Wir sind am 2. Mai in Tallinn losgefahren und …“ Ich unterbrach noch einmal, ungern, ich wollte sie ja am Reden halten. „Erzählen Sie bitte, wer das Wir waren und wie es zu dieser Fahrt gekommen ist.“ 

„Eigentlich begann es mit einem Inserat in unserer Tageszeitung. Es würden Pflegekräfte und Hotelfachkräfte, ebenfalls zur Ausbildung, in Deutschland gesucht. Meldung unter einer Chiffre. Dort habe ich hingeschrieben, denn gute Arbeitsplätze sind bei uns derzeit rar und werden schlecht bezahlt. Ich bekam einen Vorstellungstermin. Da waren zwei Frauen, die mich taxierten, wie auf einer Kaninchenausstellung, mir aber dann die Ausbildung zur Pflegefachkraft und Hotelfachkraft erklärten. Sie stellten Fragen zur Schulbildung und zu meiner bisherigen Tätigkeit. Auch zu meiner Familiensituation. Das fand ich alles in Ordnung. Am Ende sagten sie, sie würden ein Team zusammenstellen und eine Tour, denn die Einreise nach Deutschland müsse offiziell und unauffällig erfolgen, da es in Deutschland Schwierigkeiten bei der Vermittlung wegen der auch dort noch hohen Zahl von Arbeitslosen gäbe. Ich würde Bescheid bekommen.“ Das Mädchen machte eine Pause. „Dann vergingen 2 Monate und ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben. Dann kam die Nachricht zu einem erneuten Treffen. Die Leitung hatten wieder die beiden Frauen, die ich schon kannte. Sie erzählten noch einmal dasselbe, wie beim ersten Gespräch und erläuterten dann den Plan, wie die Fahrt nach Deutschland organisiert werden sollte. Wir sollten als Sportgruppe, Volleyball, reisen. Für alle gäbe es estnische Reisepässe, für die wir ein Passbild abgeben mussten. Es waren alles Fälschungen. Vor allem sollten wir an den Grenzübergängen nicht reden. Plappern sollten nur die, die Estnisch sprechen, denn wir waren eine estnische Sportgruppe. Aber, wie ich später feststellte, waren nur 11 Mädchen aus Estland, die anderen waren aus Riga, zwei sogar aus Belarus und zwei sind noch in Lettland, in Kaunas zugestiegen.“

„Wie sollten Sie es mit dem Gepäck halten?“, fragte ich.

„Ach ja, das war noch ein wichtiges Thema der Besprechung. Jede nur ein Kleid und ein Paar Schuhe für die angebliche Abschlussfeier. Es dürfe auf keinen Fall wie eine Ausreise für längere Zeit aussehen! Mit einer Kontrolle des Gepäcks durch den Zoll müsse gerechnet werden. Und am Ende wurde uns eingeschärft, mit niemandem ein Wort von diesem Plan zu sagen, sonst müsse die Fahrt abgesagt werden. Eltern und Freunden könnten dann telefonisch oder brieflich von Deutschland aus, nach der Ankunft dort, Bescheid gegeben werden.“

„Glauben Sie, dass sich alle angesprochenen Mädchen daran gehalten haben?“, fragte ich noch einmal dazwischen. „Weiß nicht, ich habe mich daran gehalten und hatte damit kein Problem. Ich lebte in dieser Zeit bei einer Freundin.“

„Wie ging es weiter?“, kam meine Frage.

„Am 29. April kam eine Nachricht, dass wir uns am 2. Mai am Westbahnhof treffen würden, pünktlich 7 Uhr. Wer später kommt, muss zurückbleiben. Die Frauen kontrollierten unser Reisegepäck und händigten uns die Sporttrikots aus, die wir überziehen mussten. Keiner kannte den Sportverein. Wir stiegen in einen schicken Bus, wie ihn sonst nur Touristen haben. Erstes Kennenlernen. Die Mädchen waren fast alle im selben Alter. Dabei stellte ich fest, dass auch Mädchen aus Belarus und Lettland dabei waren.

Die erste Grenzkontrolle nach Lettland verlief glatt. Die Frauen fungierten als unsere Trainerinnen. Für uns hatten sie ein Sammelvisum. Wir wurden nur durchgezählt. Genau so der Grenzübergang nach Litauen. In Kaunas stiegen noch 2 Mädchen zu. Hier hatten wir ein Superabendbrot und übernachteten in einem Waldhotel.

Am nächsten Tag die Überfahrt nach Polen, ohne Probleme. Wo wir übernachteten, weiß ich nicht genau. Es war wieder abseits gelegen. Sah wie eine Jugendherberge aus, aber wir waren die einzigen Gäste. Und wieder ein Superessen!

Am 3. Tag kamen wir nach Deutschland, Stralsund liegt ja nicht weit von der Grenze. Wir blieben im Bus, bis es dunkel wurde. Wir stiegen im Dunkeln aus. Die Häuser, es waren alte Fabrikhallen, waren unbeleuchtet. In eine dieser Hallen wurden wir gebracht und dort begann der Horror. Das Mädchen, das sich Helin Tamm genannt hatte, begann zu weinen. Ein Weinen, das in Schluchzen überging und nicht enden wollte.     

„Wir machen erst einmal eine Pause“, sagte ich, „ich ahne, was kommt. Aber Sie müssen sich erst wieder völlig beruhigen.“   

  

 

Kapitel 3

„Es geht schon“, sagte Helin und wischte sich die Tränen vom Gesicht. „Was jetzt passierte, hatte keine von uns geahnt, nach dieser passablen und fast luxuriösen Anreise. Wir wurden in einen schmalen, fensterlosen Raum getrieben. Von 4 Männern. Dort lagen 20 alte fleckige Matratzen auf dem Fußboden, sonst keine Möbel. Wir bekamen eine Flasche mit Wasser und ein Stück trockenes Brot. Eine stinkende Toilette für alle, ohne Tür und Fenster.“ Helin unterbrach ihren Bericht und heulte erneut.

Als sie sich beruhigt hatte, ich strich ihr mehrfach sanft über das Haar, fuhr sie fort. „Am nächsten Tag wurde uns mitgeteilt, dass die Anmeldung für die vorgesehene Ausbildung nicht möglich sei. Wir können euch nur in Bordelle vermitteln, irgendwie müssen wir ja unsere Unkosten wieder reinbekommen.“ Das wirkte auf uns wie ein Schock. Alle Mädchen waren wie gelähmt, einige fingen an zu weinen. Das erste Mädchen, das protestierte, bekam einen Faustschlag, der sie quer über drei Matratzen schleuderte. „Wir können auch anders“, schrie der Mann. „Zieh‘ dich aus“, schrie er das geschlagene Mädchen an. Als sie nicht sofort folgte, bekam sie einen zweiten Faustschlag. Zitternd folgte das Mädchen der Aufforderung, als sie sich wieder aufgerichtet hatte, bis auf den BH und den Slip. „Ausziehen“, schrie der Mann noch einmal, „wir sind hier nicht auf einer Modeschau!“ Das Mädchen knöpfte den BH auf und zog den Slip aus und stand nun nackt im Raum. „Leg dich auf deine Matratze“, schrie der Mann wieder. Eine der anderen Männer, die rechts und links von der Eingangstür zu unserer Unterkunft standen und das Ritual wohl schon kannten, knöpfte sich die Hose auf und ließ sie fallen. Er legte sich auf das Mädchen und begann sie zu vögeln. Oder wie sie dazu sagen.“ Helin hatte ein schamrotes Gesicht. „Das Mädchen schrie und wehrte sich verzweifelt, was ihr ein Dutzend Ohrfeigen einbrachte, bis sie ruhig lag. Dann koitierte der Mann langsam und intensiv und wir alle mussten zuschauen. Als der Mann fertig war und aufstand, sagte der Wortführer: „So, das war der Anfang. Das ‚üben‘ wir jetzt jeden Tag, bis ihr begriffen habt, wo es langgeht. Das machen wir jetzt jeden Tag reihum, bis ihr begriffen habt, wie ihr euch in eurer neuen ‚Karriere‘ zu verhalten habt.“ Hier machte Helin wieder eine Pause, drehte den Kopf zur Wand und begann wieder hemmungslos zu flennen. Ich wusste nicht so recht, wie ich reagieren sollte. Erfahrungen solcher Art hatte ich ja nicht. Aber ich glaubte, dass eine längere Pause nötig sei. Ich nahm das Mädchen in die Arme und redete beruhigend auf sie ein. Ich hielt sie lange im Arm, bis ihre Tränen stiller wurden. Ich ließ ihr übersetzen, dass wir heute erst einmal Schluss machen und morgen weitersprechen würden.

Am Nachmittag erstattete ich erst einmal meinem Chef Bericht. Er war angewidert und erschüttert und veranlasste sofort, was notwendig war. Informationen zu dem Grenzübergang, Vorbereitung einer großräumigen Durchsuchung der Hallen und Lagerhäuser am Südhafen und natürlich eine ausführliche Information seiner vorgesetzten Dienststelle. Zu einer großräumigen Durchsuchung der vielen derzeit zumeist ungenutzten Gebäude und Hallen zwischen Werft und Andershof waren mehr Kräfte erforderlich, als uns zur Verfügung standen. Bruno stimmte deshalb die Maßnahmen mit seinen Kollegen von der Polizeiinspektion Stralsund ab. Unsere ‚gute Seele‘, Lotte- Marie, hatte auch einen kleinen, aber bekannten Baubetrieb organisiert, da wir möglicherweise Werkzeuge brauchen würden, die wir nicht haben. Noch am Abend meldete sich bei ihm auch das neu gegründete Landeskriminalamt aus Leezen-Rampe und teilte mit, die Leitung des Vorganges in Stralsund zu übernehmen. Mir war das völlig wurscht, ich wollte nur die Täter gefasst und die Mädchen befreit sehen.

 

Kapitel 4

Aber die großräumige Aktion am nächsten Morgen war ernüchternd. In 11 durchsuchten Hallen und alten Industriegebäuden fanden sich keine Anzeichen, dass Menschen sich dort aufhielten oder aufgehalten hätten. Das Auffahren der Polizeifahrzeuge und Mannschaftswagen mit Einheiten der Polizeiinspektion, die mit Helmen, Schutzwesten und schweren Waffen ausgerüstet waren, löste eine erhebliche Unruhe bei der Bevölkerung aus, brachte uns aber auch Zeugen, die den Bus gesehen hatten. Der habe am Vortag Stralsund in Richtung Polen verlassen, was uns vom Grenzkontrollpunkt Pomellen bestätigt wurde. Im Bus hätten nur zwei Frauen und der Fahrer gesessen, wurde berichtet. Der Einsatz von Fährtenhunden mit der Geruchsspur von Helin Tamm führte vom Auffinden des verletzten Mädchens in Richtung dieser Gebäudekomplexe, über Wege und eine Ödfläche, verlor sich aber in einem versumpften Wiesengelände nahe der Abbruchkante. Ich musste noch einmal mit dem Mädchen sprechen, um Genaueres zu erfahren, wie ihr die Flucht gelungen war. Wo eine Flucht möglich war, musste es eine Tür geben, und wo eine Tür ist, musste auch der Zugang zu dem Gefängnis der Mädchen sein. Ich rief Herbert an und bat ihn, meine Arbeit im Team allein zu übernehmen und nannte ihm meine Gründe. Ich ließ mich zum Krankenhaus bringen und bestellte auch die Dolmetscherin wieder dorthin. Der Kollege, den wir zum Schutz vor dem Zimmer postiert hatten, stand am offenen Flurfenster und rauchte eine Zigarette, die er erschrocken ausdrückte, als er mich kommen sah. Ich unterhielt mich mit ihm und wartete auf die Dolmetscherin, die erstaunlich schnell zur Stelle war. Wir gingen gemeinsam hinein. Helin saß im Bett und bürstete sich die am Vortag gewaschenen Haare. Jetzt sah ich, dass ihre Haare brünett waren und nicht dunkel, wie ich es vom ersten Besuch in Erinnerung hatte. Sie begrüßte uns, als hätte sie auf uns gewartet. Wir setzten uns wieder zu ihr ans Bett und ich kam direkt zu meinem Anliegen. „Wir waren in Ihrem ersten Bericht bis zu der brutalen Vergewaltigung gekommen“, sagte ich, „aber wie ist es Ihnen gelungen, zu fliehen?“

„Es war die erste Vergewaltigung. Es wurde zum Ritual. Jeden Tag kam eine andere dran. Wer schrie oder sich wehrte, wurde verprügelt. Einmal bedienten sich zwei Männer an einem Mädchen. Ich habe mir den Oberschenkel aufgekratzt und mir das Blut ins Gesicht geschmiert und in ein Taschentuch, um möglichst abstoßend zu wirken und meine Regel vorzutäuschen. Aber ich wusste, es war nur ein Aufschub. Am 5. oder 6. Tag sagte der Wortführer, wie beiläufig, „wer ins Edelbordell will, soll sich melden, wer sich nicht in den nächsten Tagen meldet, kommt nach Südamerika, dort sind die Sitten dann etwas rauer.“ 

Nach der Ausgabe der Gemüsesuppe und dem Einsammeln der leeren Schüsseln, kam er noch einmal durch die schwere Eisentür. „Jetzt muss eine von euch Abwasch machen, die Schüsseln in der Küche starren ja vor Dreck. Du, mit dem zerkratzten Gesicht“, dabei zeigte er auf mich. Er schob mich in eine kleine Küche vor unserem Schlafsaal und machte Licht. Dabei rollte er ein schwarzes Tuch vor das kleine Fenster. Das Kabel der Glühbirne hing an einem Nagel an der Decke des kleinen Raumes, dass ich im Lichtschatten den Dreck in den Schüsseln mehr fühlen als sehen konnte. Es gab nur kaltes Wasser und keinen Schwamm oder eine Bürste, sodass ich die angetrockneten Suppenreste mit dem Wasser aufweichen und mit der Hand auswischen musste. Daneben türmte sich auch ein Berg von schmutzigem Geschirr von den 4 Männern. Der Wortführer stand eine Weile neben mir und sah mir zu, dann ging er wieder zu seinen Spießkumpanen. Da wagte ich es das erste Mal, mich in der Küche umzusehen. Neben der Spüle und dem Berg voll Geschirr gab es noch einen kleinen Tisch, einen Spind mit Fächern voll Konservendosen und einen Elektroherd. Beim Spülen des Geschirrs der Männer, das aus Porzellan war, zerbrach ich einen Teller und steckte eine Scherbe in meinen Slip, um mir in der Nacht die Pulsadern aufzuschneiden. Und über dem Herd, mir blieb fast das Herz stehen, das kleine Fenster mit dem schwarzen Tuch davor. Ich ließ das Wasser laufen, stieg auf den Herd, riss das schwarze Tuch vor dem Fenster ab und zwängte mich durch das kleine Fenster. Ich musste mich kopfüber fallen lassen, so klein war es. Ich fiel auf die Hände in eine riesige Pfütze. Es musste geregnet haben. Aber ich spürte den Schmerz nicht und nicht den Dreck, ich lief. Ich lief, bis ich keuchte, planlos, in Richtung der Lichter der Stadt. Über eine Straße, eine nasse Wiese, einen Weg an einem See – bis der Schuss fiel, der mich in der Schulter traf. Ich lief weiter, bis ich in dem Gebüsch am See zusammenbrach. Dort hat mich der Mann mit den großen Hunden gefunden. Von da an weiß ich nichts mehr.“

  

 

Kapitel 5

Am späten Nachmittag kam John und signalisierte mir eine wichtige Nachricht. Als ich ihn danach fragte, erzählte er: „Ich habe unter den Dauerparkern am Dom einen älteren Mercedes gefunden mit einer polnischen Nummer, der könnte einem der Männer gehören, die wir suchen. Das Auto müsste rings um die Uhr beschattet werden.“ Ich telefonierte mit Bruno. „Entschuldige, wenn ich dich beim Abendbrot störe, aber du hast gesagt, dass ich dich in der Sache Tag und Nacht anrufen kann…“ Und ich erzählte ihm John Gregors Beobachtung. „Ich werde die Kollegen von der Inspektion bitten, die Rundumbeschattung zu übernehmen. Danke für die Information. Ende.“

Am Abend übertrug ich meine Notizen in meine Aufzeichnungen, das Wichtigste war der Fluchtweg, das kleine Fenster. John Gregor sah mir wie immer über die Schulter. „Ist dir etwas wichtig“, fragte ich ihn. „Sie müssen alle Gebäude jenseits der Straße zwischen Werft und Südhafen noch einmal nach diesem kleinen Fenster absuchen“, sagte er. „Und nach Reifenspuren, jetzt in dem nassen Boden.“ Er blätterte in meiner Akte und sagte, als ich ihn anschaute: „Ich will mit dem Mädchen reden.“ Mehr nicht. Nicht warum und mit welchem Ziel. Ich kannte ihn ja. „Ich arrangiere das und sage dir Bescheid.“

„Ich will morgen mit ihm reden.“ Er sagte das mit einer Bestimmtheit, mit der er alles sagte. „Ich rufe dich an“, war alles, was mir zu sagen übrigblieb. Ich würde das mit Bruno klären, wenn ich ihm Bericht erstatte.  

Als ich mich am Morgen zum Dienst fertigmachte, kam John mit meinem beigefarbenen ‚Ausgehmantel‘ und drängte mich, mit ihm zu gehen. „Wohin willst du mit mir gehen“, fragte ich, „ich muss zum Dienst.“