Wie wir in New York
eine Wohnung suchten
und ein neues Leben fanden
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1. Auflage
© 2019 Benevento Verlag bei Benevento Publishing,
eine Marke der Red Bull Media House GmbH, Wals bei Salzburg
A Heart In New York
Words & Music by Benny Gallagher & Graham Lyle
© Copyright 1980 Goodsingle Limited.
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Gesetzt aus Aleo, girl crush
Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:
Red Bull Media House GmbH
Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15
5071 Wals bei Salzburg, Österreich
Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Illustrationen: finepic®
Fotos: © Roderick Aichinger, Christina Horsten, Lousia Marie Summer, Felix Zeltner
Illustrationen im Innenteil: © Claudia Meitert / carolineseidler.com
ISBN 978-3-7109-0059-4
eISBN 978-3-7109-5071-1
Ein Rausschmiss als Geschenk
East 80th Street, Upper East Side, Manhattan 11th Street, Park Slope, Brooklyn
Ein Neuanfang in der eigenen Stadt
Jackson Ave, Long Island City, Queens
Logistik eines Nomadenlebens
Bowery, Chinatown, Manhattan
Die Unruhe vor dem Sturm
Malcolm X Blvd, Harlem, Manhattan
Ganz unten
W 54th St, Sunset Park, Brooklyn
Die Qual der Wahl
Humboldt St, East Williamsburg, Brooklyn
Alles latte
Madison St, Bushwick, Brooklyn
Ein Monat im Spa
Water St, Dumbo, Brooklyn
Alt werden mit Immobilien
West 69th St, Upper West Side, Manhattan
Die Übriggebliebenen
7th Ave, Chelsea, Manhattan
In der Stadt der Bücher
West 160th St, Washington Heights, Manhattan
Emotionen auf dem Festland
East 140th Street, Mott Haven, Bronx
Im Reich der grünen Engel
East 4th St, East Village, Manhattan
Das Geheimnis der Underdogs
Hamilton Ave, St. George, Staten Island
In Teufels Küche
West 47th St, Hells Kitchen, Manhattan
Die Enklave der Verrückten
Surf Ave, Sea Gate, Brooklyn
Vierzehnmal umziehen – und dann?
West 78th Street, Upper West Side, Manhattan
»There’s a heart, a heart that lives in New York.«
Simon & Garfunkel
Für unsere Eltern, Großfamilien und alle,
die ihre Lieben für verrückt halten – und sie trotzdem
ziehen lassen. Und für Emma.
»Bye«, sagt der alte Mann im zerlöcherten Feinrippunterhemd. »Viel Glück.« Als er die Tür ins Schloss fallen lässt, zucke ich zusammen. Wir stehen in einer hässlichen Seitenstraße von Brooklyn – und sind obdachlos.
Unsere knapp zwei Jahre alte Tochter Emma halte ich im Arm. All unsere Habseligkeiten sind in einem Mietauto verpackt, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkt. Die Wohnung hatten wir im Internet gemietet, es hätte unsere vierte New Yorker Bleibe in vier Monaten werden sollen. Drei lichtdurchflutete Räume, 160 Quadratmeter, in Sunset Park, einem spannenden Industrieviertel in Brooklyn. Aber hier kennt niemand John, unseren angeblichen Gastgeber. Wir sind auf einen Internetbetrüger hereingefallen – und haben ihm 1400 Dollar überwiesen. Nach ein paar endlos scheinenden Sekunden drehe ich mich zu Felix: »Und jetzt?«
Am Anfang war es nur eine absurde Idee, aus der Not geboren: Weil uns der verrückteste Mietmarkt der Welt zu Nomaden gemacht hat, wollen Felix und ich mit Emma durch New York ziehen, jeden Monat in eine neue Wohnung in einem neuen Stadtviertel. Es wird ein Achterbahnjahr, in dem wir die Stadt, ihre Menschen und uns selbst völlig neu kennenlernen. Aber an diesem Samstag, an dem der Himmel über New York so grau ist wie das Haus vor uns, in dem wir uns so sehr wünschten zu wohnen, erleben wir den absoluten Tiefpunkt unserer Wohnreise.
Warum wir uns das alles antun? Dafür muss ich vielleicht am Anfang beginnen, der für mich immer schon New York hieß. An einem Samstag im Februar, mitten in einem Schneesturm, bin ich Anfang der Achtzigerjahre im Lenox Hill Hospital an der 77th Street auf die Welt gekommen. Vor Freude fuhr mein Vater, der damals am deutschen Generalkonsulat arbeitete, mit dem Auto durch das dichte Schneetreiben bis an die Südspitze Manhattans und wieder zurück. So hat er es mir immer wieder erzählt.
Meine ersten Lebensmonate verbrachte ich in New York, dann wurde mein Vater zurück nach Deutschland versetzt. Auf Fotos sehe ich mich später als Baby im Metropolitan Museum oder im Central Park, erinnern kann ich mich daran nicht. Trotzdem blieb New York unterbewusst tief in mein Gehirn eingebrannt, genau wie ein unverkennbarer amerikanischer Akzent, der viele Jahre später in der ersten Englischstunde wiederauftaucht und die Lehrerin für akkurates British English mindestens genauso verwirrte wie mich. Immer wieder kam ich in den folgenden Jahren für Besuche zurück. Wenn ich nicht in New York war, fühlte ich stets irgendwo in mir ein diffuses Fernweh nach der Stadt – oder ist es Heimweh?
Als ich 2012 eine Korrespondentenstelle in New York angeboten bekomme, schießen mir im Gespräch mit dem Personalchef Freudentränen in die Augen. Weil die Versetzung noch nicht offiziell besiegelt ist, darf ich meinen Kollegen nichts sagen und hangele mich, meine Aufregung nur mit größter Mühe verbergend, durch den Rest des Arbeitstages. Als ich endlich Feierabend machen kann, renne ich zu meinem Auto und rufe vom Handy aus Felix an. »Sie haben mir New York angeboten.« Felix arbeitet damals als freier Journalist und ist in seinem Leben bislang genau einmal umgezogen, von seiner Heimatstadt Nürnberg zum Studium nach München. Die Eltern wohnen bis heute in dem mittelfränkischen Fachwerkhaus seiner Kindheit. »Ich bin dabei!«
Über eine Unterkunftsliste für Praktikanten des deutschen Generalkonsulats finden wir erst mal ein dunkles Kellerzimmer in Chelsea. In der Dusche krabbeln die Kakerlaken, und aus der Nachbarwohnung stinkt es dermaßen nach Katzenpisse, dass man im Hausflur nur durch den Mund atmen kann – aber das Kellerloch ist bezahlbar. Von dort aus suchen wir unsere erste richtige gemeinsame Wohnung.
Überwältigt von den scheinbar unendlichen Möglichkeiten, halte ich mich an Bekanntem fest. Die Upper East Side rund um das Lenox Hill Hospital, eine schicke Gegend östlich des Central Parks, fühlt sich sofort wieder wie zu Hause an – mit der Bäckerei Orwashers, wohin der erste Ausflug meiner Eltern mit mir im Kinderwagen führte, der Hans-Christian-Andersen-Statue im Park, vor der mein Opa mit mir als Baby für Fotos posierte, und dem Eckrestaurant an der 74th Street, das heute ein langweiliges Steakhaus ist, aber mal das Skyline Diner war, wo sich der Kellner bei meinem letzten Besuch als Studentin noch an mich erinnern konnte. »Deine Eltern waren Stammgäste«, sagte er und stellte mir einen Teller Hühnersuppe hin. »Ich sehe euch drei noch vor mir.«
An einem heißen Sommertag ziehen Felix und ich von früh bis spät mit verschiedenen Maklern kreuz und quer durch die Upper East Side. Wir sehen einen Wohnturm, wo Portiers, sogenannte Doormen, mit weißen Handschuhen den Bewohnern wie im Hotel Türen aufhalten und Koffer tragen. Mit einem Makler in Anzug und Krawatte quetschen wir uns in eine der überteuerten und engen Butzen, die er fröhlich »Studio mit Schlaf ecke« nennt. Er zeigt auf einen eingebauten Wandschrank, dessen Türen sich nur öffnen lassen, wenn man das Bett aus der Schlafecke räumt. »Das ist der Schrank für all die Sachen, die ihr nie braucht!« Wir sehen heruntergekommene Wohngemeinschaften an lauten Avenues mit Studenten, die sich auf Matratzen stapeln, wir sehen Wohnungen, deren Fenster direkt auf die Backsteinwände des Nachbarhauses hinausführen (»the classic New York view«) – und schließlich am Ende eines langen Tages ein Apartment, das unser Budget sprengt, aber in das wir uns sofort verlieben: 66 East 80th Street, Apartment 6A.
»Ich freue mich immer riesig, wenn hier etwas frei wird«, sagt die Maklerin und drückt in einem alten, verspiegelten Aufzug auf den dicken, runden, schwarzen Knopf neben der Nummer 6. »Das Haus ist ein echter Geheimtipp, man denkt es von außen nicht, weil es so schlicht aussieht, aber hier gibt es tolle Wohnungen, und die Lage ist unschlagbar.« Wir betreten 6A und sehen schon vom Eingangsbereich aus zwei große Dreifachfenster, dahinter das Häusermeer der Upper East Side, Wassertürme, andere Wohnungen, Basketballplätze auf Dächern. »Alles andere waren Wohnungen, das hier ist ein Zuhause«, sagt die Maklerin. Wir öffnen eines der Fenster, lehnen uns hinaus und sehen rechts die Park Avenue, links das Südende des Metropolitan Museums, dahinter das Grün des Central Parks. Wir taufen es »the view«. »Genau die richtige Wohnung für Geschichtenerzähler«, wird ein Freund später sagen.
6A ist unsere erste große Liebe in der Stadt. Das Allerschönste an unserem neuen Zuhause entdecken wir erst ein paar Wochen nach dem Einzug: die von einem roten Alarmriegel und »Nobody Allowed On Roof«-Schild gesicherte Tür zum Dach. Die Kabel sind durchschnitten, und die Verbotsschilder bleiben wie so oft in New York ohne Konsequenzen. Besonders an klebrigheißen Sommerabenden zieht es uns hinauf ins Freie, wir genießen die Weite, die Menschenleere des Daches, das sich bald anfühlt wie unsere Terrasse. Einmal, im Hochsommer, übernachten wir dort oben und versinken im beruhigend gleichmäßigen Rauschen der Klimaanlagen und im Glitzern des Häusermeeres um uns herum.
Bisher haben wir unser bisschen Verdientes und Erspartes als Studenten und Berufsanfänger ins Reisen gesteckt, jetzt stecken wir es ins Wohnen: 2800 Dollar Miete pro Monat. Fünf- bis zehnmal so viel, wie wir für unsere Studentenzimmer in München bezahlt haben. Anfangs kommt uns das astronomisch viel vor, dann lernen wir, dass der durchschnittliche New Yorker 3500 Dollar im Monat für zwei Zimmer bezahlt und weit mehr als die Hälfte seines Einkommens dafür draufgehen. So gesehen ist unsere Bude ein Schnäppchen – und tatsächlich schaffen wir es, mit meinem Einstiegsgehalt und Felix’ freiberuflichem Strampeln, jeden Monat zusammenzulegen und den Scheck zum Vermieter zu schicken.
Zwei Jahre nach unserem Einzug kommt dann Emma dazu. Das Mount Sinai Hospital liegt direkt an der Strecke des New York Marathons, sodass am Tag nach ihrer Geburt Tausende Menschen von unten her mit uns jubeln. Aus dem Fenster unseres Einzelzimmers, das meine deutsche Krankenversicherung erstaunlicherweise möglich gemacht hat, schauen wir auf den herbstlich verfärbten Central Park, das Krankenhaus schenkt einen weißen Strampler von Ralph Lauren, und die Schwestern bringen einen rosafarbenen und viel zu süßen Geburtstagskuchen. Einen Tag und keine Komplikation später aber ist klar: Wir müssen raus, das Bett wird gebraucht.
»Lass uns doch nach Hause laufen«, sage ich übermütig. »Sind doch nur achtzehn Blocks.« Schon nach der Hälfte sacken mir die Beine zusammen, wir setzen uns in ein Café, das passenderweise »Heavenly Rest«, Himmlische Ruhe, heißt, und blinzeln müde in die Herbstsonne. Nach einer Weile rappeln wir uns wieder auf und schleppen uns die restlichen zehn Blocks nach Hause. Immer abwechselnd trägt einer von uns die schlafende Emma im Arm, deren Kopf gerade so aus dem gefütterten Jeansanzugbündel lugt, in dem meine Eltern schon mich aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht haben. Dreißig Jahre zuvor und drei Straßenblocks weiter südlich.
66 East 80th erscheint uns wie eine andere Welt, dabei waren wir nur 48 Stunden weg. Ich hole die Post aus dem Briefkasten, und wir fahren mit dem Aufzug nach oben. In der Wohnung lege ich das immer noch schlafende Jeansanzugbündel auf das durchgesessene helle Sofa, das wir günstig bei einem Second-handladen um die Ecke gekauft haben, und schaue die Post durch. Rose & Rose steht auf einem dicken Brief als Absender. Attorneys at Law – eine gerichtliche Vorladung. Der Vorwurf: Lärmbelästigung. Wir hätten den Boden unseres Apartments nicht zu hundert Prozent mit Teppichen bedeckt und damit gegen den Mietvertrag verstoßen, weshalb wir die Wohnung nun innerhalb von sechs Wochen räumen müssten. Wortlos drücke ich Felix den Brief in die Hand, lasse mich neben Emma auf das Sofa fallen und fange an zu weinen. In meinem Kopf dreht sich alles, ich bin übermüdet und überemotionalisiert. In sechs Wochen ist Weihnachten, denke ich, und wir haben ein kleines Baby und keine Wohnung. Wie Maria und Josef. Ein Mann, eine Frau, ein Baby, kein Zuhause. Die älteste Geschichte der Welt.
Hinter der Vorladung steckt die Verrückte aus 5A, das wird uns schnell klar. Die geheimnisvoll zurückgezogen lebende, angeblich stinkreiche Frau hatte schon kurz nach unserem Einzug begonnen, uns zu terrorisieren. Manchmal sahen wir sie durch das Haus huschen – das Gesicht gerötet, die Haare fettig, das dreckige Unterhemd über den Bauch gespannt –, aber sie weigerte sich stets, mit uns zu sprechen. Stattdessen schickte sie eine E-Mail nach der anderen an die Hausverwaltung. Unser Wecker sei zu laut, unsere Schritte zu viele, unsere Teppiche zu wenige. Dabei glich unsere Wohnung auf ihren Druck hin längst einem Teppichladen. Freunde lachten, wenn sie knöcheltief in Flokati einsanken.
Die Beschwerden aus 5A waren für uns Alltag, ein kleiner Haken an unserer heiß geliebten Wohnung, so dachten wir. Was wir erst durch die Vorladung erfahren: Der verrückten Frau gehört das ganze Haus. Sie hat es geerbt. Der Hausverwalter erzählt uns die Geschichte, stockend, er ahnt bereits, was kommt. Wir haben keine Chance. Briefwechsel und Gerichtstermine können den Auszug nur noch um ein paar Monate hinauszögern.
Während Emma im Zweistundentakt schläft, suchen wir eine neue Bleibe. Felix steckt mehr Energie in die Suche als ich. Die Vorstellung, meine geliebte Oase auf der Upper East Side zu verlassen, lähmt mich. »Schau mal hier«, sagt Felix und gibt mir sein Handy. »Das könnte doch was für uns sein.« Im Listings Project, dem Newsletter einer Künstlerin, über den vor allem Kreative Ateliers und Wohnungen inserieren, hat eine Mary eine Annonce geschaltet: »Top-floor beauty in prime Park Slope, large 1br+den, amazing light, gorgeous floors.« Ein angeblich wunderschönes Apartment im obersten Stock eines Gebäudes in Park Slope, drei Zimmer, hell, Parkettboden. »Das ist in Brooklyn«, sage ich und gebe Felix sein Handy zurück. »Ich will nicht nach Brooklyn.«
Felix lässt nicht locker, und so stehen wir wenige Tage später in einer von frühlingshaft sprießenden Bäumen gesäumten Straße vor einem dreistöckigen hellroten Backsteinhaus, dessen dunkelrote Markise über der Eingangstür in der Sonne leuchtet. »Na?«, fragt Felix. »Was sagst du jetzt?« Ich hebe Emma aus dem Kinderwagen und drücke auf die oberste der drei Klingeln. Nach drei steilen Treppen empfängt uns Angelo, Marys Ehemann, vor der Wohnungstür. »Willkommen! Kommt rein.« Angelo ist New Yorker mit italienischen Wurzeln und pensionierter Polizist. Er ist klein, trägt Brille und wirkt auf den ersten Blick wie ein freundlicher älterer Herr. Auf den zweiten Blick aber blitzt aus seinen Augen hinter den Brillengläsern etwas Angriffslustiges.
Später werden uns die Nachbarn erzählen, dass sie ständig mit Angelo streiten, er sei cholerisch, schnell beleidigt und wolle alles kontrollieren. Bei unserem ersten Besuch aber sind wir einfach nur froh, dass die Wohnung, aus der gerade drei Studentinnen ausziehen, zwar etwas heruntergewirtschaftet, aber einladend hell und zum gleichen Preis deutlich größer als unser Apartment auf der Upper East Side ist. »Mit deutschen Mietern habe ich immer nur gute Erfahrungen gemacht«, sagt Angelo, als wir nach der Wohnungsführung um den Esstisch herumsitzen und er uns erzählt, dass er noch ein weiteres Haus in West Harlem besitzt. Wie das Haus in Park Slope zu einer Zeit gekauft, als die Kriminalitätsraten der Gegenden hoch und die Preise niedrig waren. Von den Mieteinnahmen kann er heute Sohn und Tochter durchs College bringen.
»Ihr erscheint mir sehr sympathisch«, sagt Angelo schließlich. Sein harter Brooklyn-Akzent klingt, noch mehr als es der amerikanische Akzent ohnehin tut, als habe er eine Kartoffel im Mund. Aus coffee wird kuuoffiee, aus family wird feeemili. »I luuove feeemiliies. Ihr werdet euch hier ein Nest bauen und eure Kinder großziehen. Das ist mir viel lieber als diese Studenten, die immer nur ein Jahr bleiben.«
Wir verabschieden uns und schieben Emma im Kinderwagen durch Park Slope, vorbei an reihenweise renovierten dreistöckigen Steinhäusern an baumgesäumten Straßen, an Läden, Restaurants und Cafés. In unserer ganzen New Yorker Zeit waren wir bislang erst einmal in diesem Viertel, für ein Interview mit dem Schriftsteller Paul Auster, der neun Straßenblocks weiter nördlich etwa zur selben Zeit wie Angelo ein Haus gekauft hat. Ewig weit weg von Manhattan kam mir das damals vor, wie ein Tagesausflug mit der U-Bahn.
»Was machen wir, wenn wir eine Zusage für die Wohnung bekommen?«, fragt Felix. Zwei anderen Interessenten zeige er die Wohnung noch und dann wolle er uns bis zum nächsten Tag Bescheid geben, hatte Angelo versprochen. Ich atme tief durch. »Dann machen wir es.«
Zwei Wochen später ist Umzugssonntag. Während Felix mit drei helfenden Freunden die erste Fuhre unserer verpackten Sachen in einem gemieteten Kleinlaster über den East River nach Brooklyn fährt, fangen Emma und ich in der fast leeren Wohnung mit der Abschiedsparty an. Als die Jungs aus Brooklyn zurückkommen, ist die Feier in vollem Gang. »Wie lief’s?«, frage ich Felix zur Begrüßung und merke an seinem Blick sofort, dass etwas nicht stimmt. »In der Wohnung ist alles ganz anders.« Verwirrt schaue ich ihn an. »Was? Wie anders?« Aber Felix kommt nicht zum Antworten, die Party um uns herum saugt uns sofort ein und spuckt uns auch so schnell nicht mehr aus.
Erst nachdem wir gemeinsam mit den Gästen einen letzten Sektkorken auf dem Dach knallen lassen haben und wieder alleine in der nun bis auf unsere Matratze völlig leeren Wohnung sind, erfahre ich, was passiert ist: »Ich bin als Erster hochgegangen und kam mit der schwersten Umzugskiste im Arm die Treppe hochgekeucht. Angelo hat mich oben im Handwerkeroutfit begrüßt. Da habe ich mir erst mal nichts bei gedacht, weil er ja angekündigt hatte, dass er noch streichen wollte. Aber dann hat er gesagt: ›Lass mich dir eben schnell eine Tour geben.‹« Verständnislos schaue ich Felix an. »Was für eine Tour denn? Wir haben die Wohnung doch schon besichtigt.« Felix seufzt. »Angelo hat alles umgebaut.«
Am nächsten Tag sehe ich mit eigenen Augen, was Felix mit Umbau beschrieben hatte: Die große gemütliche Küche ist jetzt ein leeres Zimmer. Klaffende Löcher in der Wand verraten, wo die Küchenzeile stand. Die Tür ins Schlafzimmer gibt es nicht mehr. Wo ich mir Emmas Kinderzimmer ausgemalt und im Kopf schon ihre Möbel und Spielsachen ausgebreitet hatte, ist nun die fensterlose Küche samt schlampig versetzter Küchenzeile, deren Schranktüren sich kaum öffnen lassen. Zum Esszimmer ist ein Durchgang schief in die Wand gehämmert. Vorher wirkte die Wohnung charmant, jetzt hat sie etwas Grobschlächtiges an sich.
Zu dem Umbau habe er sich spontan entschlossen, erzählt mir Angelo fröhlich, als er später auf einen kurzen Besuch vorbeischaut. »Aber hättest du uns nicht wenigstens mal fragen können?«, stammele ich. Ich fühle mich überrumpelt und irgendwie auch ein bisschen hintergangen. Angelos Augen blitzen. »Wieso? Das ist doch super für euch, ihr habt jetzt ein Zimmer mehr – und eine Spülmaschine. Ganz fertig ist es natürlich noch nicht, ich muss noch streichen. Das mache ich dann demnächst mal.« Ein Versprechen, das er nie einlösen wird.
Unser Start in Park Slope ist mehr als holprig, und viel besser wird es auch mit der Zeit nicht. Das Viertel ist für mich wie ein fehlgekaufter Kaschmirpulli, der an anderen Menschen flauschig-kuschelig-weich und maßgeschneidert-passend aussieht. An mir aber kratzt und ziept er, die Ärmel zu kurz, der Rollkragen schnürt die Luft ab. Die Häuser wirken auf mich bald klein und provinziell, die Menschen, die in teurer Yogakleidung hippe Kinderwagen durch die Straßen schieben, neugierig und übergriffig. Ständig mäkeln sie herum, wenn Emma ihrer Ansicht nach nicht ausreichend warm angezogen ist oder längst im Bett sein müsste. Manhattan nennen sie nur »the city« und behaupten stolz: »I haven’t been to the city in months«, seit Monaten seien sie nicht mehr dort gewesen. Jedes Mal versetzt mir das einen kleinen Stich. Mir fehlt die City, ihre Anonymität, die Selbstverständlichkeit, die alltägliche Freundlichkeit, die Urbanität.
»Wird schon«, sagt Felix anfangs immer noch, wenn ich ihm davon vorjammere. Aber nach und nach, wenn er wieder einmal fast zwei Stunden zu einem Termin in Manhattan gebraucht hat oder am Wochenende die U-Bahn gar nicht gefahren ist, sagt er das nicht mehr. »Wo sollen wir denn sonst hinziehen?«, fragt er stattdessen. »Zurück zu den Superreichen auf die Upper East Side will ich nicht.«
Dass wir in New York bleiben wollen, ist uns beiden intuitiv klar – hier haben wir unsere Arbeit und viele Freunde gefunden, und irgendwie fühle ich, dass wir mit der Stadt noch nicht fertig sind, wenn man das überhaupt jemals sein kann. Aber wir wissen beim besten Willen nicht, wo wir hinziehen sollen. Die Upper East Side schien – zumindest für mich – Herzenssache, Park Slope war Zufall – und jetzt? Ein paar Viertel sind schlichtweg zu teuer. Andere versprechen ähnlich angespannte Langeweile wie das aktuelle. Ein paar erscheinen genau wie Park Slope viel zu weit weg von meinem dpa-Büro im UN-Gebäude in Midtown am Ufer des East River. Die meisten aber reizen uns und zwar so sehr, dass eine Auswahl und Festlegung auf ein einziges unmöglich erscheint. Chelsea? Upper West Side? Lower East Side? Jackson Heights? Astoria? Harlem? Wie sollen wir uns da je entscheiden?
»Vielleicht müssen wir uns gar nicht entscheiden«, sagt Felix irgendwann, als wir Emma wieder einmal im Kinderwagen durch die Straßen von Park Slope schieben in der Hoffnung, dass sie einschläft. Die Wohnsituation ist zum Dauerthema geworden, immer wieder diskutieren wir darüber, steigern uns rein, drehen uns im Kreis. »Wie wäre es, wenn wir einfach überall wohnen? Ein Jahr lang, jeden Monat woanders. So können wir alles mal ausprobieren, auch teure Viertel könnten wir uns ja leisten, wenn es nur für einen Monat wäre. Und danach wissen wir dann bestimmt, wo wir hingehören.« Eine Schwachsinnsidee, das ist mir sofort klar. Aber sie elektrisiert mich, flimmert in meinem Kopf, setzt sich fest, macht sich breit und lässt mich nicht mehr los.
Felix scheint es ähnlich zu gehen. Immer wieder bringt einer von uns das Thema auf, und je häufiger wir darüber sprechen, desto greifbarer wird die Idee – allerdings immer noch schwachsinnig genug, dass wir sie zunächst für uns behalten. Bis Felix eines Tages seinem Freund Amol davon erzählt. »Weißt du, wie Amol reagiert hat?«, fragt er mich, als er am Abend immer noch staunend wieder zu Hause ist. »Er hat gesagt: ›Klingt super. Fangt doch bei mir in Long Island City an. Ich habe da ein Haus gebaut, und eine der Wohnungen steht gerade frei, da zieht ihr ein.‹ Kannst du das glauben?«
»Nein. Meint er das ernst?« Felix zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber es würde schon zu ihm passen, Amol liebt größenwahnsinnige Ideen.« Ein New Yorker eben. Schnell begeistert, elektrisiert von Neuem und Außergewöhnlichem. Immer darauf aus, andere zu unterstützen, immer auf der Suche, etwas dazuzugewinnen, nie Angst davor, etwas zu verlieren.
Ein paar Tage später erreicht uns folgende E-Mail:
Von: <Angelo>
Betreff: Vertragsverlängerung
Datum: 9. März 2016 um 16:31
»Hallo, Felix, Christina und Emma. Ich hoffe, es geht euch gut. Wie ihr wisst, endet euer Mietvertrag am 31. Mai 2016. Ihr wart gute Mieter, und ich hoffe, ihr entscheidet euch zu verlängern. Solltet ihr euch entschließen zu verlängern, läge die neue Miete allerdings bei 3200 Dollar im Monat. (…) Ich bekomme inzwischen 3700 Dollar für das Erdgeschoss, und auch wenn das ein noch besseres Apartment mit Garten und hochwertig renoviert ist, kann ich es mir nicht leisten, so große Preisunterschiede zwischen Apartments aufrechtzuerhalten. Ich hasse es immer, Mieten zu erhöhen, aber die laufenden Kosten, Steuern und Versicherungen steigen immer weiter an. (…) Nur das Beste, Angelo«
»400 Dollar mehr im Monat«, sagt Felix, nachdem wir die E-Mail zusammen an seinem Computer gelesen haben. Wir hatten schon so eine Vorahnung gehabt, dass Angelo seine grobe Schnellschussrenovierung als Vorwand für eine Mieterhöhung benutzen würde – eine in New York weitverbreitete Taktik. »Das können wir uns nicht leisten.« Als wir das Angelo bemüht sachlich zurückschreiben, kommt nur eine knappe Antwort: »I will start showing next week.« Schon ab der kommenden Woche will er die Wohnung potenziellen Nachmietern zeigen. Kein Verhandeln, keine Kompromisse.
Wir packen Emma in den Kinderwagen und gehen in eine Pizzeria, zwei Straßenblocks entfernt. Emma bekommt ein Stück Margherita und wir erst mal zwei Bier. »Uff«, seufzt Felix und trinkt einen Schluck. »Und jetzt? Was machen wir denn jetzt?« Ich schaue ihn an, und plötzlich wird mir klar: Die E-Mail von Angelo ärgert mich gar nicht. Sie freut mich sogar! Ich will endlich raus aus Park Slope, und Angelos Mieterhöhung ist nun der perfekte Anlass dafür. Und der perfekte Vorwand, unsere Schnapsidee vom Umzugsjahr umzusetzen oder zumindest mal auszuprobieren. Ein Rausschmiss als Geschenk. »Deine Idee mit dem Umziehen …«, sage ich, »wir machen das jetzt einfach. Was kann uns schon passieren? Ein neues Apartment müssen wir uns ja sowieso suchen. Wenn das Experiment danebengeht, brechen wir eben ab und suchen uns dann eine richtige Wohnung.«
Felix schaut auf sein Bierglas und die Pizza mampfende Emma. »Wo würden wir denn dann überall wohnen?« Langsam hellt sich sein Gesicht auf und bekommt einen vorfreudig-aufgeregten Ausdruck, den ich gut kenne, von den vielen Reisen, die wir schon zusammen ersponnen und geplant haben. »Na ja, also erst mal geht es zu Amol nach Long Island City, wir kommen einfach auf sein Angebot zurück«, fange ich an. »Und dann müssen wir schon in alle fünf Bezirke – Manhattan, Queens, Brooklyn, die Bronx und Staten Island. Die Bronx und Staten Island sind natürlich sehr weit weg, da reicht vielleicht jeweils ein Monat. Vielleicht je zwei in Brooklyn und Queens, dann bleiben sechs in Manhattan?« Wir überlegen, spinnen herum, zählen Dutzende Bezirke auf und leihen uns schließlich je einen grünen, roten und blauen Buntstift von Emma aus, mit denen sie eifrig eine Kindertischunterlage bemalt. In großen bunten Buchstaben schreiben wir eine grobe Wunschliste auf einen Bieruntersetzer.
1.LIC
2.STATEN ISL.
3.BRONX
4.QUEENS II
(Ridgewood, Astoria, Jackson Heights, Sunnyside)
5.BROOKLYN I
6.BROOKLYN II (Williamsburg, Gowanus …)
7.HARLEM
8.WSH. HEIGHTS
9.MIDTOWN
10. CHINATOWN
11. SÜDWEST
12. MANHATTAN (FiDi, UWS, LES …)
Aber natürlich kommt alles ganz anders.
Ich stelle den Bohrer auf links und ziehe alle Schrauben heraus. Dann trete ich mit Wucht in die Mittelstrebe, zerre den Lattenrost auf den Flur und lasse ihn das steile Treppenhaus hinunterrutschen. Wir hatten in New York noch nie ein Bett; das höchste der Gefühle war ein Lattenrost mit Matratze. Als wir hier nach Brooklyn zogen und Christinas Vater uns besuchte, hatte er die spontane Idee, uns ein Bett zu zimmern. Wir kauften Bretter, sägten und schraubten, aber leider verrechneten wir uns auch, und als wir dann unseren alten Ikea-Lattenrost auf die frisch verschraubten Bretter legten, ächzte, kreischte und knurrte er wie ein wildes Tier in der Falle. Die Matratze hatte ein wenig Überhang, und ich stieß mich regelmäßig an den scharfen Kanten. Dieses Bett war ein bisschen wie die ganze Wohnung. Die Küchenschränke waren neu, aber man konnte sie kaum öffnen, so schief waren sie eingebaut. Die Spülmaschine war ungewohnter Luxus, aber bald zogen kleine braune Käfer in die Klapptür ein, die wir erst Monate später als Kakerlaken identifizierten.
Ich gehe ins Kinderzimmer. Emmas weißes Kinderbett steht unschuldig herum, mit Blick zur Straße. Im Fenster große alte Plastikbuchstaben E - M - M - A, die früher im Roseland Ballroom hingen, wir hatten sie auf einem Flohmarkt kurz nach der Schließung des legendären Clubs entdeckt. Wie oft habe ich hier zwischen Buchstaben und Bett auf dem Boden gekauert und Emmas Hand gehalten, bis sie einschlief. »Brauchen wir das noch?«, frage ich Christina. Sie schüttelt den Kopf. Ich zögere kurz. Dann trete ich mit dem Fuß in die Stirnseite, das Holz splittert. Die weißen Stücke trage ich die Treppe hinunter und lehne sie an die Hauswand, neben die Latten unseres Ehebetts.
Es tut mir wahnsinnig gut, unsere Wohnung so auszuweiden. Mit jedem Stück, das ich nach draußen trage, fällt etwas von mir ab. Selten habe ich mich so unbeschwert gefühlt wie genau jetzt, beim Anblick dieser Innereien unseres bisherigen New Yorker Lebens, das wir nun hinter uns lassen. Beim Reisen, das habe ich gelernt, sind das Packen und der Aufbruch immer das Schwierigste. Der Rest kommt von selbst. Gerade fühle ich mich, als seien wir schon unterwegs.
Eine Frau mit Kinderwagen bleibt vor unserem Haus stehen, ihr Blick wandert von den Bettgestellen in die schwarze Milchkiste, die wir an den Zaun gehängt haben. Sie wühlt in unserem Hausrat und entscheidet sich für den Handmixer und die kleine Filzpuppe, die an Emmas erstem Kinderwagen baumelte. Beides lässt sie in ihrer Umhängetasche verschwinden. Wenn man hier etwas loswerden möchte, kann man es einfach auf den Gehsteig stellen – alles kommt weg! Sogar der kaputte Stuhl und die alte Vase. Als sei eine heimliche, gut ausgerüstete Sperrmüllgang den ganzen Tag dabei, das Viertel zu observieren. Oder sind es doch nur die Yogamütter, die ihre eigenen Häuser vollstopfen?
Christina zerrt drei blaue Ikea-Taschen heran, schwer und randvoll gepackt mit Klamotten, Haushaltsgeräten, Büchern. Wir verladen sie in den Kofferraum eines VW-Passat, den uns Freunde geliehen haben, und packen Emma in den Kindersitz. Alles, was in den Tüten steckt, soll zu Housing Works, einem Laden auf der Fifth Avenue im etwas edleren Norden von Park Slope. Die Idee zu Housing Works entstand während der HIV/Aids-Krise, die New York in den Achtzigern wie eine biblische Seuche heimsuchte. Mit dem Verkauf von gespendeten Sachen half die Institution HIV/Aids-Kranken – und hatte von Beginn an echten Anspruch auf Ästhetik. Inzwischen gibt es Housing-Works-Filialen quer über die Stadt verteilt. Als wir den Laden auf der Upper East Side, unserer allerersten Neighborhood, entdeckten, konnten wir kaum fassen, welch großartige Möbel dort herumstanden. Offenbar gaben die vielen reichen Menschen im Viertel gern ihre kaum benutzten, scheckheftgepflegten Designerstücke dort ab. Wir richteten uns quasi komplett bei Housing Works ein.
Und heute geben wir zurück: Wir haben alles Geschmackvolle, was wir haben, in die Tüten gepackt. Mit dabei ist auch der silberne Toaster aus Edelstahl mit den vier Toastfächern und der verchromten Bröselschublade. Eine Leihgabe, die bei uns hängen blieb. Aber: Wer braucht schon einen Toaster, wenn es um die Ecke herrliche, frisch gebackene Croissants und Bagel gibt? Wer braucht Kochlöffel, wenn das Take-away ein paar Blocks weiter günstiger ist als die Zutaten im Supermarkt? Warum überhaupt sollte man immer das essen, was man selbst anrühren kann, wenn draußen die ganze Welt darauf wartet, probiert zu werden?
Mit Christina habe ich mal gewettet, dass wir alle Mahlzeiten eines Tages von unterschiedlichen Kontinenten essen können, ohne den Stadtteil zu wechseln: in Queens, Beiname »the World’s Borough«, Heimat von Menschen aus über 190 Ländern, die angeblich sogar Sprachen sprechen, die in ihrer Heimat längst ausgestorben sind. Wir frühstückten in einer uruguayischen Bäckerei, gingen danach in einen indischen Supermarkt, aßen bei einem Hongkong-Chinesen Nudeln zu Mittag, tranken kolumbianischen Kaffee und gönnten uns zum Abendessen polnische Würste. Dazwischen fotografierten wir rätselhafte Schilder wie »Bangladesh Pharmacia«. Die Tatsache, dass in New York Menschen aus allen Ländern der Erde neben- und übereinander leben, mit allen Hautfarben, Sprachen, Konfessionen, Ideologien und sonstigen Unterschieden, ohne sich die Köpfe einzuschlagen, ist eigentlich unmöglich, eine real existierende Utopie. Und dass man sie alle jederzeit in ihrem Alltag besuchen kann, ist bis heute die faszinierendste Eigenschaft dieser Stadt für mich.
Auch deswegen gibt es in modernen New Yorker Wohnungen kaum noch eigenständige Küchen. Die Grundrisse sehen große Wohnzimmer vor, mit kleinen Kochnischen, die sich wie Zierpalmen in die Ecke drücken in der Hoffnung, möglichst wenig aufzufallen. Kochen lässt man hier bleiben, so weit möglich, und mein Kochmuskel, nie besonders stark ausgebildet, ist in den letzten Jahren völlig verkümmert. Dafür ist mein Gaumen voll durchgestartet: Er unterscheidet heute mühelos zwischen Pfeffersorten, Blätterteigvarianten und Steakbratstufen und entscheidet rasend schnell über Qualität. Für Instantkaffee hat er nur noch Verachtung übrig. Ein kleiner Snob.
»Wir nehmen keine Babyklamotten, keine Handtücher und keine Bettwäsche«, sagt der Housing-Works-Verkäufer mit Blick auf unsere blauen Taschen. »Alles andere gern.« Ich werfe noch einmal einen Blick auf unseren Besitz, all die Dinge, die wir nie wiedersehen werden. Und mit jedem Gegenstand, den der Verkäufer hinter der Ladentheke verschwinden lässt, fühle ich mich noch ein wenig freier. Der Toaster, die Kochtöpfe, die schweren Coffee Table Books, Kühltaschen, altes Spielzeug.
Wie die meisten stationär wohnenden Menschen sind Christina und ich der schleichenden Versuchung erlegen, unseren Lebensraum mit Krimskrams zu füllen. Warum wir das gemacht haben, warum das so viele Menschen tun, das verstehe ich immer weniger. Wir klagen heute alle über die hektische Welt, über die Sehnsucht nach Einfachheit, Freiheit, Ruhe, Übersicht. Warum verstopfen wir dann den einzigen Raum, über den wir wirklich Kontrolle haben – unseren Wohnraum?
»Das eherne Idyll der Wohnzimmer und Vorgärten, die Rehe und Zwerge und tränenden Clowns der einen. Und die Peace-Runen und Erich-Fromm-Schmöker und die Poster mit den auslaufenden Dalí-Uhren der anderen«, schreibt Wolfgang Büscher in seinem Buch Deutschland, eine Reise. »Die Unterschiede zwischen beiden waren gering. Alle meinten dasselbe. Alles, alles, nur kein Krieg.« Wir Deutsche wollen also Frieden. Sanftmut. Aber warum besitzen die Amis dann neunzig Prozent des Kinderspielzeugs weltweit? Warum gibt es den Ausdruck »drunk online shopping«, um zu beschreiben, wie Menschen hierzulande angeheitert Amazon-Streifzüge unternehmen? In diesem Moment, in dem wir uns von unserem Besitz lösen, kommt mir unser bisheriger Konsum vor wie eine Ersatzhandlung.
Der nächste Morgen, unser letzter in Brooklyn, empfängt uns mit brüllendem Lärm. Unsere Nachbarn, die Feuerwehrmänner der FDNY Engine 220 / Ladder 122, folgen ihrem strengen Protokoll. Jeden Tag müssen die jüngsten Männer der Wache morgens wie abends drei Kettensägen auf den Gehsteig heraustragen, sie jaulend anwerfen und dann für zehn Sekunden die stille, gemütliche, zarte Luft unserer Straße zerschneiden. Schon klar, dass eine Feuerwehr ihre Ausrüstung testen muss – aber täglich zweimal? Arbeiteten wir von zu Hause, rahmten sie unseren Arbeitstag mit ihren Sägen ein. Wie oft war ich gerade hochkonzentriert, als das Homm, Hoooommm, HOOOOOMMMMMM plötzlich durch meine Gehörgänge pflügte. Oft zerrissen die Kettensägen nicht nur meine Arbeit, sondern auch Emmas Babyschlaf.
Ich beobachtete die Feuerwehrmänner dann passiv-aggressiv vom Fenster aus. Wie die Älteren, wenn die Jungen ihre Sägen weggepackt hatten, wieder aus der roten Tür traten und sich vor die Wache stellten. Small Talk führend, unsicher tänzelnd, mit verschränkten Armen und herausgestreckter Brust, durchtrainiert und immer auf Hochglanz poliert. Ein unifomierter Boys Club in Lauerstellung. Immer so lange, bis plötzlich die Alarmklingel läutete und eine blecherne Durchsage aus dem Lautsprecher den Schweregrad des Einsatzes bekannt gab. Alle verschwanden durch die Tür, und nur Sekunden später öffneten sich die Tore. Das »BRRÖÖÖÖÖÖÖT« der Hupe des ausrückenden Löschwagens klang jedes Mal, als würde ein wütender Riesenfrosch über das Viertel hinwegtrampeln.
Schadenfreude kam in mir hoch, wenn ich dann vom Schreibtisch aus hörte, wie das Feuerwehrauto schon nach ein paar Minuten wieder um die Ecke bog und rückwärts ins Haus rangierte, um das Spiel von vorne zu beginnen. Fehlalarm war der Normalfall und natürlich trotzdem jedes Mal ein potenzieller Ernstfall. Insgeheim bewunderte ich sie für ihre Disziplin, für die Fähigkeit zu professionellem Warten. Seit dem 11. September ist jedem klar, dass New Yorker Feuerwehrmänner ihr Leben geben, wenn es darauf ankommt. Auch an unserer Wache hängt eine Plakette mit Namen, die damals nicht mehr mit um die Ecke bogen.
Dennoch: Das Gegockel war unerträglich. Zur Weihnachtsfeier hatte sich ein besonders muskulöser Feuerwehrler als »Grinch« verkleidet, ein grüner Weihnachtsgnom, den amerikanische Kinder seit Generationen als Comicfigur kennen. Das Tor der Wache stand weit offen, darin ein Plastikweihnachtsbaum, um den er singend herumtanzte und dabei kleine Geschenke verteilte. Die Kinder der Feuerwehrmänner saßen brav auf dem Boden, die Frauen standen lässig und überschminkt dahinter, sie ähnelten Fußballspielerfrauen. Ich brachte Emma rüber, sie war vor allem von den verchromten Stoßstangen des Löschwagens beeindruckt, in denen sie sich spiegeln konnte.
Ein paar Tage später kam es zum Showdown zwischen den übermotivierten Nachbarn und mir. Emma und ich waren zu zweit zu Hause und hatten Streit – wie fast immer aus irgendeinem nichtigen Anlass. Sich mit Kindern zu streiten ist ebenso notwendig wie absurd, denn während man selbst völlig aus der Bahn fliegt – ich saß in grimmiges Selbstmitleid getaucht auf dem Sofa –, sind Kinder bereits zwei Sekunden später an völlig anderen Dingen interessiert. Emma war zum Wohnzimmerfenster gewatschelt und schaute nun hinaus auf unsere nächtliche Straße. Das Fenster war hochgeschoben, aber wie gesetzlich vorgeschrieben mit einer Absperrung gesichert. Ich ließ sie also gewähren und tat mir selbst leid. Plötzlich sah ich Taschenlampenkegel durch den Fensterrahmen über Emma wandern und hörte Stimmengewirr vor dem Haus. Es klingelte. Ich war zu faul, das schwere Fenster hochzuschieben, also schob ich Emma beiseite und streckte meinen Kopf durch den schmalen Spalt zwischen Fenstergitter und Fenster hindurch nach draußen, um meiner Wut Luft zu machen. Leider verhakte sich dabei meine Brille, rutschte mir von der Nase und fiel hinunter. Unscharf blinzelnd konnte ich erkennen, dass die Männer, die sich vor unserem Haus aufgebaut hatten und mir nun ins Gesicht leuchteten, blaue Uniformen trugen.
»Ist bei Ihnen alles in Ordnung?«, rief der Anführer der Feuerwehrmänner hinauf. »Das Baby steht da so alleine. Am offenen Fenster! Wir haben das jetzt eine ganze Weile beobachtet.«
Ich lief rot an, zog meinen Kopf mit einem schmerzhaften Ruck zurück, nahm Emma auf den Arm, öffnete die Haustür und hörte mir einen Vortrag des Wachhabenden über Kindersicherheit und offene Fenster an, bevor er sich kopfschüttelnd mit seiner Mannschaft zurückzog. Elende Spießer, hätte ich ihnen am liebsten nachgerufen, während ich meine Brille aufhob. Fehlalarmfetischisten! Eines Tages lege ich eure Kettensägen lahm!
Viele Menschen ziehen nach Park Slope, weil es als das sicherste Viertel der Stadt gilt. Mich kann das sicherste Viertel mal. Ich habe kein Trauma von einem gefährlichen New York, dem Moloch der Beschaffungsdiebe und Mobster, an das sich einige hier noch erinnern. Ich bin dafür einfach zu spät hergekommen – als die Stadt bereits eine der sichersten der Welt war. Ich vertraue den Menschen hier, und bisher hatte ich zu keiner Sekunde Grund, meine Haltung zu ändern. Die vielen Umzüge sollten meine etwas naive Haltung noch ordentlich durchrütteln.
Ich swipe die letzten Fotos auf meinem Handy durch: der zertretene Lattenrost. Unsere Auszugsparty. Und die Kakerlake, die über die Anrichte in der Küche krabbelt. Das Foto habe ich unserem Vermieter Angelo geschickt. Wie er dem jungen Paar, das vor ein paar Tagen vorbeikam, um die Wände auszumessen, das wohl beibringen wird, bei 3200 Dollar Monatsmiete?
Vor einem Jahr, als wir unser Zuhause auf der Upper East Side verlassen mussten, hätten wir beinahe geheult. Jetzt drehen Christina und ich unserer Bude grinsend den Rücken zu und machen ein Selfie. Ein wenig zerzaust und aufgeregt sehen wir aus, wie vor unserer ersten Rucksackreise als Studenten.
Mit einem kleinen Umzugswagen rumpeln wir wenig später los in unser neues Leben. Die Ladefläche in unserem Rücken ist nicht mal halbvoll. Wir haben nur unser geliebtes blaues Sofa von Housing Works, den weiß überstrichenen Ikea-Schreibtisch, die drei weißen Stühle, die wir mal auf der Straße fanden, und unsere Fahrräder behalten; dazu eine kleine Kiste mit Spielsachen für Emma. Unsere Bücher haben wir in ein Dutzend rote Plastikkisten gepackt, die uns ein Start-up ausgeliehen hat. Immer weniger New Yorker wollen mit Pappkartons umziehen, die Firma nutzt das aus und liefert wiederverwendbare Plastikkisten nach Hause, die nach dem Umzug wieder abgeholt werden. Sie sind kleiner als Umzugskartons, werden also nicht zu schwer und lassen sich leichter öffnen und schließen. Ich hatte die Firma angeschrieben und gefragt, ob sie uns nicht bei unserem Wohnexperiment helfen könnten. Erstaunlicherweise sagten sie sofort zu! Anstatt in einer Woche müssen wir die Kisten nun erst in einem Jahr zurückgeben.
Wir fahren über die Pulaski Bridge, die Brooklyn mit Queens verbindet. Aus dem Fahrerfenster sehe ich die Hausboote, die unter uns im Newtown Creek schaukeln. Er mündet in den mächtigen East River, hinter dem sich die Skyline erhebt: Chrysler Building und Empire State Building leuchten herüber. »Endlich wohnen wir wieder in der City«, sagt Christina. Tatsächlich fühlt es sich auch für mich an, als kämen wir vom Dorf zurück in die Stadt. Vor uns erstreckt sich die Jackson Avenue, die Hauptader von Long Island City. Taxis, Lastwagen und Pendler schieben sich in Kolonnen in Richtung Queensboro Bridge, eine wichtige Verbindung hinüber nach Manhattan. Die Gebäude an der Avenue sind unspektakulär, manche modern und aus Glas, andere alt und windschief.
Mittendrin steht ein seltsamer, achtstöckiger Bau mit rostbrauner Fassade, die gewürfelte Fenster freilegt und aussieht wie ein abstraktes Gemälde. Hier werden wir wohnen. Mein Kumpel Amol hat sein Angebot tatsächlich ernst gemeint und überlässt uns eine der Wohnungen in seinem Haus. Wir parken den Wagen direkt vor der Tür. Schwere Trucks donnern über Schlaglöcher an uns vorbei. Der Horizont ist mit Baukränen verstellt.
Christina und ich blicken uns an und schnaufen durch. Noch heute Abend fliegt sie mit Emma für ein paar Tage nach Deutschland. Wir sind es inzwischen gewöhnt, als Familie oft auf zwei Kontinente verteilt zu sein. Seit Jahren gehört für uns das Pendeln über den Atlantik dazu, um unsere Familien zu sehen und für mich auch, um Geld zu verdienen. Aber wie wird das jetzt, ohne home base, ohne festen Rückzugsort? Wie werden unsere Eltern reagieren, wenn sie von Christina erfahren, dass wir tatsächlich angefangen haben, jeden Monat umzuziehen? Bereits die Verkündung der Idee via Facetime vor ein paar Tagen führte zu eindeutigen Reaktionen: »ihr spinnt« (Christinas Vater) und »was wird nur aus dem Kind?« (meine Mutter).
Ich drücke die Klingel der Penthousewohnung, in der Amol mit seiner Familie lebt. Er kommt uns mit Kaffeekanne in der einen und Tasse in der anderen Hand entgegen. »Willkommen! Ich will gleich weiter frühstücken, aber ich zeige euch noch die Wohnung.« Mit seiner hohen Stirn, dem langsam weiß werdenden Bart und seinen bunten Shirts und Schuhen erinnert er mich immer ein wenig an einen Guru. Dabei ist Amol eigentlich Internetunternehmer – ein sehr erfolgreicher. Seine Familie kam aus Mumbai nach New York, er wuchs hier auf und besuchte die besten Schulen, bevor er ein Smartphone für Entwicklungsländer erfand und viele weitere Startups mit aufbaute. Mitten in der Finanzkrise 2008 begann er dann dieses Haus zu bauen. Es hat einen eigenen Namen und – klar – eine eigene Website: »East of East«.
In einem geräumigen Aufzug fahren wir in den vierten Stock. Die Aufzugtür öffnet sich direkt in die Wohnung, in einen gigantisch hellen Raum mit moderner Wohnküche. Es gibt zwei Balkone, Spül- und Waschmaschine und einen Kühlschrank, der selbstständig Eiswürfel produziert! Christina strahlt über das ganze Gesicht. Emma probiert sofort ihr Bobbycar aus und saust durch die Wohnung.
Amol lässt uns alleine. Wer weiß, ob wir das Umziehen ohne ihn überhaupt begonnen hätten. Mehrfach habe ich ihn gefragt, wie viel Miete er möchte, und jedes Mal tat er so, als hätte er die Frage nicht gehört. Wir leben nun mietfrei in einem Luxusapartment, das wir uns sonst nie hätten leisten können.
Dank Aufzug haben wir die paar Möbel schnell eingeräumt. Mit dem Umzugswagen fahre ich Christina und Emma zum JFK-Flughafen. Es ist ein seltsamer Abschied. Nach so viel gemeinsamer Euphorie muss ich nun versuchen, mich erst einmal allein einzugewöhnen. Als ich den Wagen zurück in die Stadt lenke, nehme ich den nördlichen Highway 495, der sich mitten in Queens in die Höhe schraubt und hinter einer Kurve die Skyline freigibt. Sie taucht aus der Tiefe auf, breiter als die Windschutzscheibe, als das eigene Sichtfeld. New York, die Stadt der Ambitionen. Die Stadt, in die man es »schafft«.
»Up for a beer?«, textet Amol, als ich nach meiner Rückkehr am Schreibtisch sitze und durch das Balkonfenster auf die in der Abendsonne leuchtende Skyline schaue, die nun noch näher glitzert als vorhin im Auto. Wie sind wir nur in diesem Paradies gelandet? Haben wir wirklich gerade noch zwischen Kakerlaken in einer halb renovierten Butze in Brooklyn gewohnt? Kann man so einfach neu anfangen, in seiner eigenen Stadt?
Amol holt mich mit dem Aufzug ab, und wir laufen los, hinein ins alte Zentrum von Long Island City mit Kirchen, schiefen Holzhäusern und schunkeligen Bars. An einer dunklen Ladenfront bleibt er stehen. »Das ist das Oracle«, sagt Amol, »meine Auszeit von der Stadt.« Er holt einen Schlüssel aus der Tasche und führt mich in einen Salon, der aussieht wie ein Filmset von James Bond. Mondäne Ledersessel, überbordende Pflanzen, ein schwarzes Piano und eine gut sortierte Bar. Eine Wendeltreppe führt ins Untergeschoss, wo halb fertige Statuen und Pastelle stehen. Zischend öffnet Amol eine Bierdose und erklärt, dass das Oracle von Bildhauern, Schriftstellern und Musikern gemeinsam finanziert werde. Das Betreiberpaar, beide Künstler, wohne im Obergeschoss. Es gebe fast täglich Poetry Nights, Konzerte und Lesungen. Als altes Industrieviertel sei Long Island City seit Langem eine Künstlerenklave. Viele Kreative, denen das East Village zu teuer wurde, hätten zwischen den Lagerhallen auf dieser Seite des East River neuen Raum zum Leben und Arbeiten gefunden.