Cover

Das Buch

Der große Sprung ist die ungewöhnliche Geschichte von Schwäche, die zu Stärke wird, von einer Angst die zu Mut und Vertrauen wird, von einem kleinen ängstlichen Jungen, der zum Extremsportler wird. Es ist die Geschichte von Motorcross-Champion Vanni Oddera, erzählt von ihm selbst in entwaffnender Offenheit.

Als Kind verbringt er jede freie Minute im Wald, und lernt dort nach und nach, die Angst zu überwinden, die in der Schule und zu Hause genährt wird. Doch draußen in der Natur ist er frei, ganz bei sich und eins mit der Welt. Er lernt, seine Grenzen auszutesten und zu überwinden und wendet sich schließlich dem Extremsport zu.

Auf der Höhe seines Erfolges beschließt er, Kindern zu helfen, die so wie er einst Schwierigkeiten haben, den Ansprüchen der Gesellschaft gerecht zu werden. Er ruft die Initiative Mototerapia ins Leben, bei welcher er benachteiligten und behinderten Kindern Vertrauen geben und Angst nehmen möchte.

Ein inspirierendes Buch, das Mut macht und zeigt, dass es immer einen Pfad abseits der breiten Wege gibt, die alle gehen, wenn man sich nur traut, ihn zu benutzen; erzählt in bewegender Unmittelbarkeit und Offenheit.

Der Autor

Vanni Oddera wurde 1980 in einem kleinen Dorf zwischen Genua und Savona geboren. Seine Kindheit verbrachte er lieber in der Natur, als in der Schule, wo er lernte, seine Furcht zu überwinden. Als Jugendlicher wand er sich dem Extremsport zu und wurde bald darauf Champion im Freestyle Motorcross. 2009 gründete er die Organisation Motorterapia, bei welcher er körperlich oder emotional eingeschränkte Kindern an den Motorsport heranführt und ihnen so die Chance gibt, Freude und Mut zu entwickeln und über sich selbst hinauszuwachsen.

VANNI ODDERA

DER GROSSE SPRUNG

Wie der Wald mir half,

meine Angst zu verlieren

Aus dem Italienischen von Max Valvola

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Die Originalausgabe Il grande salto erschien 2017 bei Ponte alla Grazie

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Vollständige deutsche Erstausgabe 07/2019

Copyright © 2017 by Vanni Oddera

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Printed in Germany

Redaktion: Astrid Roth

Umschlaggestaltung: © Nele Schütz

unter Verwendung eines Motivs von Nicola Magrin

Satz: Leingärtner, Nabburg

e-ISBN: 978-3-641-23510-9
V003

www.heyne.de

Ich stelle mir vor, wie meine Großmutter in der Küche ist und gerade das Mittagessen kocht. Der Duft ihrer Suppe zieht durchs Haus. Das konnte meine Großmutter besonders gut, Suppen kochen. Vielleicht hackt sie gerade irgendetwas auf einem Brettchen, das Geräusch macht mich neugierig, und ich laufe in die Küche. Das Haus ist groß, nahezu riesig. Seine Größe macht mir keine Angst, schließlich bin ich hier geboren und werde meine ganze Kindheit hier verbringen. Zwei Stockwerke, direkt dahinter der Wald. Wenn ich heute daran vorbeikomme, ist es für mich ein Haus wie jedes andere. Voller Erinnerungen, klar, aber wenn ich es anschaue, denke ich nicht daran. Ich denke nur, dass es einfach ein Haus ist, das am Waldrand steht. In meinen frühen Erinnerungen ist es eine Art Schloss. In diesem Bild, das ich immer vor mir sehe (das vielleicht von Träumen, von Geschichten anderer und meiner eigenen Geschichte überlagert wird), laufe ich durch das Haus zu meiner Großmutter in die Küche. Was mir Angst und mich stumm macht, wütend geradezu, ist die Tatsache, dass ich so hilflos bin. Überall verhindern die Größenverhältnisse, dass ich tun kann, was ich will. Ich gehe ins Bad, komme aber nicht ans Waschbecken, kann den Wasserhahn nicht aufdrehen, kann einfach nichts machen. Ich gehe in das große Zimmer, in dem ich bei meiner Großmutter schlafe. Darin steht das große Ehebett, und ich würde gerne darauf hüpfen, aber es geht nicht. Im Flur hängen die Jacken für den Wald, aber ich komme an meine nicht dran. In der Küche steht meine Großmutter mit dem Rücken zu mir, sie hat mich nicht bemerkt. Auf dem Tisch steht ein Kuchen, und ich könnte mir ein Stück nehmen und es aufessen, wie ich es immer mache. Aber ich komme nicht dran, ich komme nicht auf den Stuhl, und ich komme nicht ans Fensterbrett, ich komme einfach nirgends dran. Nichts hat die richtige Größe für ein Kind. Ich muss reden. Muss um alles bitten. Alles zeigen. Für alles das richtige Wort finden. Meine Großmutter ist geduldig und liebevoll und sobald sie mich bemerkt, dreht sie sich um, wischt sich die Hände an der Schürze ab, beugt sich zu mir herunter und fragt, was ich brauche. Ich solle ihr nur alles gut erklären, dann werde sie mir jeden Wunsch erfüllen. Ich kann mich an kein einziges Mal erinnern, dass meine Großmutter mich nicht beachtet hätte. Sie hat alles für mich getan. Schlimm war, und das bringt mich immer noch auf, wenn ich daran zurückdenke, schlimm war, dass sie zwar alles für mich gemacht hat, aber nichts war, wie ich es wollte. Ich wollte mir den Kuchen selbst nehmen. Selbst den Wasserhahn aufdrehen. Ohne fremde Hilfe in den Spiegel schauen. Selbst in das Bett klettern, in dem ich nachts schlief. Ich wollte tausend Dinge tun und konnte nichts davon, ohne jemanden um Hilfe zu bitten. Alles war so groß, so hoch, so weit entfernt. Aber ich hatte den Drang, es trotzdem zu schaffen. Das ist meine erste Erinnerung. Mein erstes Bild. Mein erstes Gefühl. Auch in meinen Träumen kommt dieser Drang vor: an etwas, das außerhalb meiner Reichweite liegt, dranzukommen. Es ist die Geschichte meines Lebens. Wenn ich darüber nachdenke, ging es bei allem, was ich bisher gemacht habe, um Maß, um Distanzen, die es zu überwinden, um Verbote, die es zu missachten galt, um die Angst, wieder zu schrumpfen. Mein ganzes Leben ging es darum und wird es darum gehen, Grenzen zu überschreiten. Einen Abgrund zu überspringen. Ein Hindernis zu überwinden. Ob das Hindernis real oder nur in der Vorstellung existiert, spielt dabei keine Rolle. Das ist dasselbe. Wir Menschen errichten unnötigerweise Hürden. Wir schaffen Grenzen, und es liegt allein an uns, herauszufinden, wie wir sie wieder einreißen können. Lasst es uns tun. Das ist gar nicht so schwer. Es kostet zwar Einsatz und Mühe, man muss Schmerzen erdulden, dranbleiben und bereit sein, Niederlagen und Verzweiflung aushalten, aber dann ist das Hindernis überwunden. Egal ob es in uns selbst oder außerhalb ist. Meistens beginnen wir mit den äußeren, den physisch wahrnehmbaren Hindernissen. Das ist einfacher. Als ich ein Kind war, dachte ich, dass mich die Größe der Dinge, die mich umgaben, einschränken würde. Das musste ich ändern. So fing es an. Die physisch wahrnehmbaren Hindernisse überwand ich dadurch, dass ich einen Raum eroberte, in dem alles die richtige Größe für ein Kind hat, in dem nichts unerreichbar war, außer der Unendlichkeit. Dieser Raum war der Wald. Der Wald war mein Zuhause. Ich bin im Wald groß geworden. Ich war ein Waldkind.

ERSTER TEIL

DER WALD

Zauber

Es gibt ein Bild, das von meiner Freiheit im Wald erzählt. Ein altes Polaroidfoto. Wer es damals aufgenommen hat, weiß ich nicht mehr. Es zeigt meinen Großvater, der halb aufgerichtet zwischen den Felsen liegt. Er trägt eine weiße Strickjacke, und seine rechte Hand ruht auf dem Knie seiner braunen Cordhose. Entspannt, aber aufmerksam hält er locker ein Seil in der Hand, daran ist ein kleines Boot befestigt, auf dem ich den See erkunde. Wie alt ich wohl war? Drei vielleicht. Ich weiß es nicht. Es gibt keinen Vermerk dazu. Ein Fotoalbum besitze ich nicht, und niemand hat das Datum irgendwo notiert. Egal. Dieses Bild gibt genau wieder, wie ich den Wald in meiner Kindheit erlebt habe.

Mein Großvater ging mit mir in den Wald, er war wie ein zweiter Vater für mich. Ich bin bei meinen Großeltern aufgewachsen, deren Haus sich nur wenige hundert Meter vom dem meiner Eltern befand. Meine Eltern waren den ganzen Tag arbeiten und mein acht Jahre älterer Bruder beschäftigte sich mit ganz anderen Dingen. Ich war bei Großmutter und Großvater und jeden Tag, egal ob es regnete oder die Sonne schien, von morgens bis abends (als ich zur Schule ging, nur noch nachmittags) im Wald. Und Großvater war immer dabei. Er erklärte mir alles, gab mir Ratschläge, beschützte mich ganz unauffällig. Er muss gewusst haben, wie wichtig es für mich war, mich frei und unabhängig zu fühlen, alles selbst zu machen. Er hielt sich im Hintergrund, ich bemerkte ihn kaum. Es war genau wie auf dem Bild. Er war in der Nähe, hing seinen Gedanken nach, konnte mir aber jederzeit zu Hilfe kommen. Ich musste nämlich immer alles ausprobieren. Was ich suchte? Ich kann es nicht sagen. Und damals wusste ich es nicht. Und weil ich es nicht wusste, ging ich jeden Tag im Wald auf die Suche. Ich war einfach wahnsinnig neugierig. Wenn ich etwas entdeckt hatte und dann ins Bett musste, wollte ich am nächsten Tag unbedingt weitermachen, weitersuchen, weiterforschen. Dann fiel mir etwas anderes auf, fesselte meine Aufmerksamkeit, und so ging das immer weiter. Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr.

Wie verzaubert war ich, so würde ich es heute nennen. Alles brachte mich zum Staunen, alles machte mich neugierig, ich war wie gebannt. Ich lebte in einer verzauberten Welt.

Ein Erwachsener vergisst leicht, was er als Kind empfunden hat. Noch leichter ist es, sich von der Natur zu entfernen. Wir können unsere Tage mit so vielen Dingen anfüllen. Unsere Technologie macht uns glauben, wir könnten ohne die Natur leben, als wäre die Natur beherrschbar. Wenn man allerdings dermaßen naturverbunden aufgewachsen ist wie ich, fällt das Erinnern leicht. Daran, wie Schnee riecht, zum Beispiel. Der Geruch der Luft, bevor es ein paar Stunden später zu schneien beginnt, ist herrlich. Was ich dabei gefühlt habe, war für mich so bedeutungsvoll und einmalig, dass ich nicht darüber reden wollte. Das möchte ich auch jetzt nicht. Es lässt sich nicht in Worte fassen. Würde ich es tun, würdet ihr mich für verrückt halten, mir nicht glauben oder meinen, ich bilde mir das ein. Gefühle, wie die Natur sie einem schenkt, haben etwas Mystisches. Man darf sie nicht in Worte fassen, sonst verliert man sie für immer. Wie man sich in diesen Zustand bringt, so zu empfinden, kann ich aber schon erzählen. Und glaubt bloß nicht, dass ich fantasiere, ich weiß bestimmt, dass ich nicht der Einzige mit solchen Erfahrungen und Visionen bin, im Gegenteil.

Eigentlich braucht es nur wenig, aber dieses Wenige muss sich wiederholen, immer und immer wieder. Man muss in den Wald eintauchen. Und dafür genügt kein einzelner Tag. Der Wald muss zu einer Konstanten werden, einer alltäglichen Erfahrung. Man muss so tief eintauchen, dass man sich als Teil des Waldes fühlt. Wir sind alle Teil der Natur, und deshalb ist es nicht so abwegig, sich dort zu Hause zu fühlen. Gerüche, Farben und was man sonst noch wahrnehmen kann, tragen dazu bei, sich als Teil der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten zu fühlen. Der Wald ist kein Park, kein Ort, an dem man mal ein Stündchen verbringt, der Wald ist ein Haus, ein großes zwar, aber dennoch ein Haus, ein Ort, an dem wir zu Gast sind, willkommen zwar, aber dennoch zu Gast. Es gibt eine Menge Gesetzmäßigkeiten dort, die man am besten durch die Tiere versteht. Ich kannte das Leben im Wald ganz genau. Die Ameisen und ihre Straßen. Die Kröten und ihre Verstecke. Die Wildschweine, Dachse, Rehe und vor allem die Füchse, jeden einzelnen von ihnen. Aber es geht jetzt nicht um den Fuchs, den ich mir auf die Brust habe tätowieren lassen, weil er das Tier ist, das mir am meisten entspricht. Es geht um meine Kindheit. Wie ich sie verbracht habe. Einmal entdeckte ich zum Beispiel einen Dachsbau. Tags drauf legte ich mich davor auf die Lauer. Mein Großvater immer in der Nähe, um mich zu beschützen. Ich beobachtete. Studierte die Gewohnheiten des Dachses so leidenschaftlich und gewissenhaft, wie nur Kinder das können. Was diese Gewohnheiten mir sagten? Ich weiß es nicht. Ich kann es aus heutiger Sicht nicht mit Sicherheit sagen. Aber ich spürte damals bestimmt, dass es um die Gesetze des Waldes ging, und ich verglich sie mit unseren, die mir zum Teil absurd erschienen. Heute weiß ich, dass wir uns schon zu weit von der Natur entfernt haben, davon, dass wir Teil der Natur sind. Damals hatte ich natürlich nicht dieselben Gedanken wie heute. Damals erfasste ich das alles eher instinktiv. Die Gesetze des Waldes waren mir jedenfalls näher, und ich setzte mich immer intensiver mit ihnen auseinander. Ich angelte Forellen, Döbel, Karpfen. Es gab Fische, die entwischten mir so oft, dass ich irgendwann mit ihnen per du war. Einen kapitalen Karpfen habe ich drei Jahre lang verfolgt, und als ich ihn dann endlich an der Angel hatte, habe ich ihn durchs ganze Dorf getragen und ihn überall herumgezeigt, um ihn dann triumphierend nach Hause zu schleppen. Ich war zu einem Teil von ihm geworden und indem ich ihn aß, wurde er zu einem Teil von mir. Aber da war ich schon größer. Anfangs angelte ich auf dem kleinen Boot mit meinem Großvater und kletterte auf der Suche nach Höhlen auf den Felsen herum. Und ab und zu merkte ich, dass manches, was ich tat, ganz schön gefährlich war. Einmal war ich ziemlich hoch geklettert und rutschte an der Felskante aus. Ich sah nach unten, sah in den Abgrund und dachte, jetzt fliegst du da runter und dann bist du tot. Aber ich habe es geschafft, mich festzuhalten und hochzuziehen. Großvater war zwar in der Nähe, konnte mir aber nicht helfen. Er war wie ein Hund, der Schafe hütet. Er blieb an einer Stelle und ließ mich laufen, und wenn ich nicht zurückkam, machte er sich auf die Suche, bis er mich bei einer meiner Erkundungen aufspürte. Nach diesem Sturz verstand ich, dass überall Gefahr lauerte, dass man sich deshalb in der Natur gut auskennen musste und sie nicht herausfordern durfte.

Herausforderung und Furcht waren nicht das, was ich in der Natur suchte, davon hatte ich sowieso schon genug. Was ich suchte, und davon habe ich ja schon erzählt, war ein Zauber. Wisst ihr, was im Frühling an einem See los ist? Unter der Wasseroberfläche explodiert das Leben förmlich; die Frösche laichen, es gibt Kaulquappen und Salamander, die Knospen bersten mit einer Kraft, dass einem schwindlig wird. Das Herz geht einem davon auf, und man begreift, dass Menschen nicht immer die Wahrheit sagen. Als Kinder lernen wir, alles, was Erwachsene sagen, ihre Einschätzungen, ihr Urteil für bare Münze zu nehmen. Es dauert eine Weile, bis wir sie infrage stellen. Weil ich in tiefer Verbundenheit mit dem Wald lebte, kam dieser Zeitpunkt für mich früher. Ich begriff, dass die Dinge anders liegen. Wer beobachtet und mit den Gesetzen des Waldes, dem Verlauf der Jahreszeiten und ihren Regeln vertraut ist, sieht die Dinge mit anderen Augen. Er versteht die Bedeutung der Temperatur des Regens, des Wassers in den Bächen, des Schnees, der Sonne. Wenn man in diese Welt eintaucht, spürt man, dass es Brücken gibt, die einen an Orte führen können, die man niemals zu erreichen geglaubt hätte. Sie sind für diejenigen, die fern der Natur leben, unsichtbar. Wir haben verschiedene Sinne, und wenn wir klein sind, benutzen wir sie alle und alle auf dieselbe Weise, weil wir ausprobieren. Etwas leitet und begleitet uns, damit wir keine allzu großen Fehler machen, keine tödlichen Fehler, wie zum Beispiel giftige Pilze essen. Etwas oder jemand steht uns bei. Auch wenn das fragwürdig scheint, damals habe ich wirklich alles probiert. Ich weiß, wie Holz schmeckt, Erde, Kieselstein und Fels, ich weiß, wie klares Quellwasser und das trübe Wasser einer Pfütze schmecken; wie der Saft bestimmter Pflanzen und auch der einiger Blumen. Hierbei ist allerdings Vorsicht geboten – Blumen sind wie Pilze, manche sind giftig. Aber beschnuppern, streicheln und anfassen solltest du sie. Dann merkst du, dass du dich nicht in einer fremden Umgebung befindest, sondern zu Hause. Dieses Haus öffnet dir das Herz, und du kannst mehr sehen, Dinge, über die du nicht sprechen solltest, über die du gar nicht sprechen kannst, weil es keine Worte dafür gibt. Nur sehen kannst du sie, spüren, hören, in dich aufnehmen. Nicht nur du selbst, auch die Welt ist noch jung, die Dinge haben noch keinen Namen, und du kannst wählen: Entweder gibst du den Dingen selbst einen Namen oder lässt ihn dir von jemandem beibringen, der älter ist als du. Beide Möglichkeiten sind gut, beide funktionieren. Am besten, du nutzt beide, ohne einer den Vorzug zu geben. Die Natur lehrt uns hier Maß, es kann leicht ins Ungleichgewicht gebracht werden. Für mich sind das sehr persönliche Erkenntnisse, die ich nie mit jemandem teilen wollte, nicht einmal mit meinen Großeltern oder meinem Bruder. Die Natur fordert uns auch auf, uns nie damit zufriedenzugeben, was uns gesagt wird. Die Menschen haben den Stein der Weisen noch nicht gefunden. Was sie einem beibringen, kann von einem Moment auf den anderen nicht mehr gelten. Dieses Bewusstsein, das ich durch den Wald gewonnen habe, hat mich für immer auf meinem Weg geprägt. Auch in den schwierigsten Momenten.

Schwierigkeiten

Wirklich schwierige Momente erlebte ich erst, als ich schon älter war, aber auch als kleiner Junge hatte ich ein bisschen zu kämpfen. Ich hatte eine wunderbare Familie, aber auch bei uns gab es natürlich die ein oder andere Schwierigkeit.

Mein Vater war mit sechsundfünfzig Jahren nicht mehr der Jüngste, als ich zur Welt kam. Und er hatte bis dahin kein besonders ruhiges und unkompliziertes Leben gehabt. Seine Familie stammt aus Pontinvrea, einem Dorf, das er nie verlassen hat und das auch ich nie verlassen werde. Seine Familie war bettelarm und, wie damals üblich, äußerst groß. Sie lebte in einem Haus aus Bruchstein und Lehm, das Dach aus Stroh, die Böden aus gestampfter Erde. Ja, aus gestampfter Erde, auch wenn das Mittelalter schon längst vorbei war. Mein Vater war eins von zwölf Kindern – ein weiteres Maul, das gestopft werden musste. Deshalb verkauften ihn seine Eltern, als er zwei Jahre alt war, an einen Schäfer. Auch wenn wir uns heute darüber empören, mein Vater hat diese Geschichte immer mit einem gewissen Stolz erzählt. Das tat er wohl einerseits, um die Probleme anderer zu verharmlosen (worüber ich nicht besonders froh bin), andererseits deshalb, weil dieser Handel zwei positive Dinge bewirkte: Seiner Familie ging es besser, und er kam zu einem Bett und einer warmen Mahlzeit am Tag. Jedenfalls wuchs er zu einem Mann heran, der einfach alles konnte. Er hat zahllose Berufe ausgeübt, und auf dem Höhepunkt seiner Jugend war er Besitzer einer Kartoffelchips-Fabrik, die mit den größten in ganz Italien mithalten konnte. Dann verkaufte er das Unternehmen und verwirklichte seinen Traum: Er baute eine Siedlung am Waldrand. In dieser Siedlung bin ich aufgewachsen, und sie trägt den Namen der Bäume, die sie umgeben: La Pineta.

Anfang der Achtzigerjahre, als ich ein kleiner Junge war, nahmen die Dinge allerdings keine gute Wendung. Der Immobilienmarkt brach zusammen, und mein Vater konnte die Kredite nicht bedienen, die er hatte aufnehmen müssen. Wir hatten ernste Geldsorgen. Mein Vater schuftete von morgens bis abends. Meine Mutter kümmerte sich um die Büroarbeit. Ich war bei den Großeltern. Zum Mittagessen kamen wir alle zusammen. Das war toll, weil alle da waren, über zehn Leute. Meine Großeltern, meine Eltern, mein Bruder, der ein oder andere Onkel und immer waren auch ein paar Bauarbeiter dabei, die für meinen Vater arbeiteten. Eigentlich war das wirklich schön, aber genau bei diesen Mittagessen bekam ich zu hören, dass wir Geldsorgen hatten, dass ich Sachen anziehen sollte, die uns die Leute vorbeibrachten, und dass mein Großvater mich ernährte. Das macht mich heute noch wütend. Man darf einem drei Jahre alten Kind nicht die eigenen Geldprobleme aufbürden. Um diesem Druck, mit dem ich aufwuchs, zu entkommen, floh ich den Wald. Oder in das Bett meiner Großmutter, deren Hand ich zum Einschlafen hielt. Sie stand ununterbrochen in der Küche, kochte und putzte, und ihr Daumen war davon immer ganz rau. Ich umschloss ihn mit der Hand, das gab mir Sicherheit, ich fühlte mich wohl und konnte einschlafen.

Aber die Nächte waren nicht einfach. Ich machte jede Nacht ins Bett. Und weil meine Großeltern mich schützen wollten und dabei auch ein bisschen verwöhnten, schimpften sie nicht mit mir. Dafür bin ich ihnen dankbar. Großmutter legte eine Plastikfolie über die Matratze und darauf das Laken, das ständig gewechselt werden musste. Ich schlief mit Windel, aber das reichte nicht. Morgens war sie oft durchgeweicht und auf meiner Seite war die Matratze nass. Das ging so weiter, bis ich zehn war. Krass? Ich fand es nicht schlimm. Ich fand auch nicht schlimm, dass ich immer einen Schnuller brauchte. Ich hatte Großmutters Daumen und Großvaters Zuwendung, aber den Schnuller brauchte ich trotzdem, bis ich zehn war. Das Einfachste wäre gewesen, dass sie ihn hätten verschwinden lassen. Einfach sagen, er sei verloren gegangen, und dann keinen neuen besorgen. Aber das trauten sie sich nicht. Als ich in die Schule kam, schämte ich mich vor den anderen, nuckelte aber heimlich weiter. Vielleicht hat es das leichter gemacht aufzuhören. Jedenfalls habe ich mit ungefähr zehn den Schnuller weggelegt. Mit dem Bettnässen war es anders. Das wurde zu einem ziemlichen Problem. Bis ich dreizehn war, konnte ich nie bei einem Freund übernachten, keinen Ausflug mitmachen. Ich war immer allein. Immer bei den Großeltern. Immer im Wald.

Mutproben

Was hat das alles für Ängste in mir ausgelöst? Schwer zu sagen. Ich glaube, es hat nicht viel Sinn, sich länger damit zu beschäftigen. Dazu gibt es sicherlich viele Meinungen. Ich könnte aber erzählen, wie ich mit meinen Ängsten umgegangen bin. Nein, ich muss es erzählen. Die Auseinandersetzung mit der Angst wurde nämlich zu einer Art Spezialgebiet des kleinen, dicken, schrägen Jungen, der ich war. Ich war völlig anders als meine Klassenkameraden, und das ging so weit, dass ihre Eltern sie nicht mehr mit mir spielen lassen wollten. Immer gab es Ärger oder sie verletzten sich sogar im Umgang mit mir. An Verletzungen hatte ich mich längst gewöhnt. Was trieb ich bloß für einen Unfug? Wieso wurde ich zu einer Gefahr für mich selbst und andere? Ich glaube, ich wurde gefährlich, weil ich unentwegt Gefahren überwinden wollte. In Gefahren sah ich wohl die Ursache meiner Angst, und um der Angst zu trotzen, musste ich mich der Gefahr stellen.