»Natürlich handelt es sich nicht um eine richtige Rebellion«, erklärte MacArthur, während er Laurence ein Glas kühle Limonade reichte. Er war urplötzlich wieder da gewesen. Wie hatte er es bloß geschafft, die Allegiance zu verlassen?
Die Hitze hatte endlich nachgelassen, und die herbstliche Luft war angenehm kühl. Draußen kreischten kleine Fledermäuse, die zwischen den Bäumen am Gartenrand umherflatterten. »Aus meiner Sicht gibt es keinen Grund, warum wir uns wie diese Yankee Doodles benehmen und uns ins eigene Fleisch schneiden sollten. Es ist doch einfach nicht vernünftig, sich nach einer acht Monate entfernt liegenden Regierung und ihren Vermutungen zu richten. Ihre Lordschaften konnten ja nicht ahnen, dass sie beinahe einen Krieg provoziert hätten, den wir niemals hätten gewinnen können. Was hätten wir tun sollen, wenn China ein Dutzend dieser Albatros-Kreaturen entsendet und mit Säcken voller Bomben über unsere Köpfe hätte hinwegfliegen lassen? In England wussten sie ja nicht einmal von deren Existenz. Nein, nein, wir müssen unsere Geschicke selbst in die Hand nehmen, auch wenn ich deshalb noch lange nicht vorhabe, meiner Loyalität gegenüber dem König abzuschwören. Das niemals.«
Womit MacArthur, so vermutete Laurence, wahrscheinlich meinte, dass er nicht vorhatte, sich vor dem Eintreffen einer Reaktion, mit der frühestens in anderthalb Jahren zu rechnen war, von seiner Regierung loszusagen. Laurence hatte den Verdacht, dass MacArthurs Gefühle hinsichtlich seiner Loyalität wohl etwas dehnbarer ausfallen würden, falls die Minister sich dann nicht entschieden hätten, seine neue Position als selbsternannter Erster Minister von Australien anzuerkennen.
»Nun denn«, sagte MacArthur. »Dieser Rankin: Ich weiß nicht, wie dieser Bursche weiter das Kommando über unsere kleine Luftstreitmacht innehaben kann …«
»Ich wäre überrascht, wenn es Ihnen überhaupt gelingen würde, ihn dazu zu überreden, diesen Posten anzunehmen«, entgegnete Laurence trocken. Er hatte eigentlich erwartet, dass Rankin zusammen mit Macquarie nach England zurückkehren würde. Anders als Bligh hatte dieser abgesetzte Gouverneur nicht die Absicht gehabt, noch zu bleiben.
»Tja, nun, dann haben Sie tatsächlich allen Grund, überrascht zu sein«, sagte MacArthur. »Er ist ein wenig halsstarrig, das lässt sich nicht abstreiten, aber sein Drache hat einen vernünftigen Charakter. Wie ich herausgefunden habe, funktioniert es recht gut, wenn ich mich vor jeder beliebigen Verhandlung mit seinem Kapitän erst mit seinem Drachen auf ein kurzes Gespräch unter vier Augen treffe. Doch es wäre sinnlos, unter diesen Voraussetzungen Rankin zum Kommandanten des Stützpunktes zu ernennen. Unter den augenblicklichen Umständen sind Sie der Mann, den wir für diese Aufgabe gewinnen wollen. Ich habe Ihnen eine Begnadigung ausgestellt. Natürlich mag das nicht ganz dem üblichen Verfahren entsprechen, aber fürs Erste muss das ausreichen …«
»Sir«, antwortete Laurence, »ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet – auch wenn ich sagen muss, dass ein solches Vorgehen mehr als ein wenig ungewöhnlich ist.«
»Nun«, sagte MacArthur, der mit der Hand wedelte, als sei das unwichtige Haarspalterei. »Wir sind hier alle mehr oder weniger ungewöhnlich, und es wird noch eine ganze Weile dauern, bevor wir es uns leisten können, auf andere Weise zu verfahren. Sir, ich denke nicht, dass Sie tatenlos in der Ecke herumsitzen wollen, bis wir eine Antwort aus England erhalten haben. Sie sind einfach nicht dafür geschaffen, in einer vergessenen Ecke der Welt zu vermodern. Und warum sollten Sie auch? Sie wurden schließlich mit der Absicht hierher geschickt, für die Kolonie zu arbeiten. Wie das in irgendeiner Weise den Bedingungen Ihrer Deportation widersprechen sollte, wüsste ich wirklich nicht.«
Es lag schon eine besondere Form von Unverfrorenheit darin zu behaupten, dass Laurence’ lebenslange Strafe wegen Verrats die Übernahme des Kommandos über den jungen Stützpunkt und seine Flieger nicht ausschließen sollte. Eben die Sorte von Unverfrorenheit, die nicht nur zu einem, sondern gleich zu zwei unterschiedlichen Staatsstreichen geführt hatte. Beinahe war Laurence überzeugt: Was ihre Geisteshaltung anging, waren MacArthur und Bonaparte aus demselben Holz geschnitzt, auch wenn sie nicht die gleichen Begabungen besaßen.
»Und ich komme auch nicht umhin festzustellen«, fuhr MacArthur fort, »dass Sie mit aller Wahrscheinlichkeit in dieser ganzen chinesischen Angelegenheit verdammt nützlich sein werden. Es ist ganz offensichtlich, wie bemerkenswert umgänglich diese Burschen werden, sobald sie Ihnen und Ihrem Drachen hier gegenüberstehen.«
MacArthur bezog sich auf die Reaktion zweier junger chinesischer Beamter, die in der letzten Woche in die Kolonie gebracht worden waren, um eine Einladung zu Verhandlungen über territoriale Fragen zu überbringen. Temeraire hatte es auf seine Bitte hin geschafft, Lung Shen Gai abzufangen, jenen Drachen, der zuvor so nahe bei Sydney gesichtet worden war. Bei dieser Gelegenheit hatte MacArthur erläutert, dass die vorherrschende Meinung unter seinen Bürgern mit einer großen Begeisterung über die Möglichkeit verbunden sei, demnächst chinesische Handelswaren in beträchtlicher Zahl auf ihren Märkten vorzufinden. Freihandel war das Schlagwort auf den Lippen aller Männer, die ihre Meinung äußerten, und das tat jeder. Durch O’Deas Beschreibungen waren die Nachrichten über die wertvolle Fracht, die von den Schlangen im Norden mitgebracht worden war, längst unter einem großen Teil der Bevölkerung verbreitet worden. Jede Nacht erzählte er sie aufs Neue in den Tavernen und sicherte sich so seinen Grog, wobei die Aufzählungen im Verlauf der Wiederholungen nie an Anziehungskraft verloren, sondern eher hinzugewannen.
»Falls Ihnen nichts daran liegt, der Kommandant des Stützpunktes zu werden, so wage ich zu behaupten, dass Sie vielleicht sogar das Außenministerium übernehmen könnten«, fügte MacArthur hinzu. »Wenn ich es mir recht überlege, wäre das noch passender.«
»Sie wären besser beraten, Temeraire für diese Aufgabe anzuwerben, wenn er denn geneigt wäre, das Amt zu übernehmen«, sagte Laurence. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, aber: Nein!« Er setzte sein Glas ab. »Bitte richten Sie Ihrer Gattin meine besten Wünsche aus.«
Temeraire döste auf dem Feld hinter dem Haus. Nach einem Monat der Erholung hatte er wieder etwas an Gewicht gewonnen, und die Schuppen seiner Haut begannen langsam, ihren besonderen, schimmernden Glanz zurückzugewinnen. Als er Laurence näher kommen sah, hob er den Kopf und gähnte. »Ist dein Abendessen vorbei? Worüber wollte er denn mit dir sprechen?«
»Er hat mir die Welt zu Füßen gelegt oder zumindest einen Teil davon, wenn wir den Befehl über den Stützpunkt übernehmen würden«, sagte Laurence, schwang sich empor und hakte sich in die Karabinergurte ein. »Es würde ihm gefallen, aus mir einen Admiral oder einen Minister zu machen. Selbstverständlich hat er mich auch begnadigt. Was immer das vor einem britischen Gericht wert sein mag – ich könnte mir vorstellen, dass das die Strafe eher um zwanzig Jahre verlängern würde.«
»Das ist aber schon ein freundliches Angebot«, erwiderte Temeraire, und seine Halskrause richtete sich auf. »Bist du wirklich sicher, dass es dir nicht gefallen würde, ein Minister zu sein?«, erkundigte er sich. »Das ist fast wie ein Lord, oder nicht? Immerhin sprichst du stets von Ihren Lordschaften, wenn du eigentlich die Minister des Königs meinst.«
»Ganz sicher«, sagte Laurence.
Als sie zurückkehrten, fanden sie auf dem Felsvorsprung den abgesetzten Gouverneur vor, der in ein leises Gespräch mit Rankin vertieft war. Eine kleine Abteilung von Soldaten des Neusüdwales-Korps stand in geringer Entfernung als Eskorte – oder treffender gesagt: als Gefängniswärter – bereit.
»Wenn ich auch Ihre Weigerung, etwas zu unternehmen, nicht gutheißen kann, bin ich doch froh zu hören, dass Sie nicht vollends zu MacArthurs Rebellion übergelaufen sind«, sagte Macquarie in ernstem Tonfall. »Zusammen mit Kapitän Rankin und den loyalen Offizieren wird die Krone Sie umgehend abziehen wollen. Wenn es uns gelingt, die Allegiance einzuholen, werden wir sie wieder als Transporter nutzen. Was Ihre Strafe angeht, wird es sich bestimmt einrichten lassen, dass Sie die Zeit in Indien verbringen …«
»Sie werden mir verzeihen, Sir«, unterbrach ihn Laurence, »aber wenn Sie wirklich keine bessere Verwendung für uns haben, als uns über den Ozean in ein Gefangenenlager in Indien zu verschiffen, nur um uns von MacArthurs Überzeugungskraft fernzuhalten, dann muss ich dieses Vergnügen ablehnen.«
Mit dieser Position konnte sich Macquarie keinesfalls leichten Herzens abfinden. Er protestierte, kommandierte und schmeichelte sogar, soweit es einem Mann mit seinem Sinn für Würde – so verletzt sie auch sein mochte – überhaupt möglich war. Aber Laurence blieb ungerührt, selbst dem letzten, widerwilligen Angebot gegenüber: »Sie sind doch unzufrieden damit, dass Sie sich nicht nützlich machen können, nicht wahr?«, fragte Macquarie. »Es wäre doch gelacht, wenn sich nicht eine ehrenvolle Aufgabe finden ließe. Das ist ganz bestimmt möglich«, sagte er. »Vielleicht sogar eine, die geeignet wäre, Ihre Begnadigung zu erlauben …«
»Die Aufgaben, die bisher für uns gefunden wurden, besaßen einen hässlichen Beigeschmack«, entgegnete Laurence, »und ich denke, dass ich die Geduld meiner Vorgesetzten nicht weiter strapazieren will.«
»Laurence«, setzte Temeraire vorsichtig an, nachdem Macquarie entmutigt davongestapft war. »Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde. Mich verlangt es ebenso wenig wie dich danach, etwas mit der Regierung und ihren Befehlen zu schaffen zu haben. Aber bist du wirklich sicher, dass es dir nicht gefallen würde, in den Krieg zurückzukehren, wenn man uns vielleicht haben will?«
Einen Moment schwieg Laurence und horchte darauf, ob sich sein Pflichtgefühl zu Wort melden würde, doch es blieb still. Man würde sie nicht bitten, England oder die Freiheit zu verteidigen oder aus irgendeinem anderen Grund zu dienen, der es wert gewesen wäre. Es würde nur erneut bedeuten, bei der einen oder anderen niederträchtigen Zerstörung mitzuwirken. Das Einzige, was er in seinem Inneren verspürte, war ein großes Verlangen nach etwas Reinerem. »Nein«, sagte er schließlich. »Ich bin die Auseinandersetzungen der Nationen und Könige leid, und wenn du damit zufrieden bist, würde ich keinen halben Penny für irgendein anderes Reich als unser Tal mehr geben wollen.«
»Oh! Ich wäre zufrieden, sehr sogar.« Temeraire freute sich sichtlich. »Wollen wir morgen dorthin aufbrechen? Weißt du, Laurence, ich habe nachgedacht: Noch vor dem Winter könnten wir dort einen Pavillon errichtet haben.«
Gewöhnlich ziehe ich es vor, meine Veränderungen der zeitlichen Abfolge von Ereignissen (auch wenn sie weit entfernt liegen oder nur indirekt wichtig sind) von der Ankunft von Temeraire in Europa ausgehen zu lassen. In diesem Fall jedoch habe ich mir die Freiheit genommen, einige Ereignisse des Mauritiusfeldzugs von 1810 auf 1809 vorzuverlegen. Dies geschieht einzig wegen des Vergnügens, mit dem schillernden Charakter von Sir Willoughby spielen zu können, anstatt eine erfundene Figur einzuführen. Ich hoffe, meine Leserinnen und Leser werden mir diese historische Ungenauigkeit verzeihen.
Es gab nur wenige Straßen innerhalb des eigentlichen Hafengebietes von Sydney, die diese Bezeichnung verdienten, wenn man vom Hauptverkehrsweg absah, und selbst der war schlecht befestigt und nur von einer Handvoll kleinerer, heruntergekommener Gebäude gesäumt, die das Herzstück der Kolonie bildeten. Tharkay verließ diese Straße und führte die Gruppe auf einen schmalen Trampelpfad zwischen zwei holzgedeckten Gebäuden, dem er folgte, bis er in einen Hof einbog und Halt machte. Dort, nicht etwa unter einem Dach, sondern lediglich unter einer aufgespannten Persenning, saßen allerlei grobschlächtige, raue Männer beisammen und taten sich an Hochprozentigem gütlich.
Auf der Hofseite, die am weitesten von der Küche entfernt war, drängten sich die Strafgefangenen mit ihren Segeltuchhosen in ausgeblichenem Graubraun, staubig von den Feldern und Steinbrüchen und müde und erschöpft. Gegenüber saßen kleine Gruppen von Männern aus dem Neusüdwales-Korps, die mit unverhohlen unfreundlichen Gesichtern beobachteten, wie sich Laurence und seine Begleiter an einem kleinen Tisch ganz am Rand der Anlage niederließen.
Abgesehen von der Tatsache, dass sie Fremde waren, zog Granbys Mantel die Aufmerksamkeit auf sich: Flaschengrün war hier eine ungewöhnliche Farbe, und auch wenn Granby die gröbsten Auswüchse an goldenen Borten und Knöpfen, mit denen ihn Iskierka so gerne ausstaffierte, abgetrennt hatte, war das bei der Stickerei auf den Ärmelaufschlägen und dem Kragen nicht so einfach gewesen. Laurence selbst trug schlichtes Braun. Selbstredend stand es überhaupt nicht zur Debatte, so zu tun, als gehöre er noch dem Fliegerkorps an. Falls seine Kleidung Fragen bezüglich seiner Stellung aufwerfen sollte, dann war das nur der Situation angemessen, denn weder ihm noch sonst irgendjemandem war es bislang gelungen, herauszufinden, wie sich seine Lage in praktischer Hinsicht gestalten sollte.
»Ich hoffe, dieser Bursche wird bald auftauchen«, bemerkte Granby missmutig. Er hatte darauf bestanden, mitzukommen, allerdings nicht, weil er den Plan guthieß.
»Ich habe die sechste Stunde ausgemacht«, antwortete Tharkay und wandte den Kopf zur Seite, denn einer der jüngeren Offiziere war von seinem Tisch aufgestanden und kam zu ihnen.
Acht Monate an Bord eines Schiffes, ohne eigene Pflichten und Aufgaben, stattdessen inmitten von Schiffskameraden, die sich weitgehend einig in ihrer Entschlossenheit waren, Laurence ihre Verachtung spüren zu lassen, hatten ihn auf die Szene vorbereitet, die sich nun mit beinahe ermüdender Ähnlichkeit erneut abzuzeichnen begann. Die Beleidigung selbst war vor allem deshalb lästig, weil sie, mehr als alles andere, einer Antwort bedurfte. Sie hatte jedoch nicht die Kraft zu verletzen – nicht aus dem Mund eines ungehobelten jungen Kerls, der nach Rum stank und es eigentlich nicht einmal wert war, in den armseligen Reihen einer Militäreinheit zu stehen, die man auch das Rum-Korps nannte. Laurence betrachtete Leutnant Agreuth voller Abscheu und sagte kurz und knapp: »Sir, Sie sind betrunken; gehen Sie zurück an Ihren Tisch und lassen Sie uns in Ruhe an unserem sitzen.«
Er hatte mit diesen beschwichtigenden Worten jedoch keinen Erfolg: »Ich sehe nicht ein, warum ich …«, erwiderte Agreuth, doch seine Zunge war so schwer, dass er den Satz abbrechen und noch einmal von vorne anfangen musste, wobei er einen Teil mit ausgesuchter Deutlichkeit wiederholte, »… warum ich auf irgendetwas hören sollte, das aus dem verfluchten Mund eines Pisspotts von einem Hurensohn und Verräter …«
Laurence erstarrte und lauschte der Tirade mit wachsender Ungläubigkeit. Er hätte diesen Gossenjargon vielleicht von einem aufgebrachten Taschendieb am Hafen erwartet, doch nie im Leben von einem Offizier. Granby fasste sich offenbar schneller, denn er sprang auf und knurrte: »Bei Gott, Sie werden sich entschuldigen, oder ich werde Sie durch die Straßen peitschen lassen, glauben Sie mir.«
»Ich würde zu gerne sehen, wie Sie das versuchen«, antwortete Agreuth und beugte sich vor, um in Granbys Glas zu spucken. Laurence erhob sich zu spät, um Granbys Arm noch festzuhalten, ehe dieser Agreuth das Glas ins Gesicht schmetterte.
Das bedeutete natürlich ein Ende für den letzten Rest Hoffnung auf einen zivilisierten Umgang miteinander, mochte es auch nur aufgesetzte Höflichkeit sein. Stattdessen zerrte Laurence Granby am Arm zurück, um Agreuths wild schwingender Faust zu entgehen, musste ihn jedoch wieder loslassen – nachdem er zum zweiten Mal selbst im Gesicht getroffen worden war –, um mit der geballten Hand zurückzuschlagen.
Er hielt sich keineswegs zurück. Eine Rauferei war zwar unschicklich und empörend, aber da sie unvermeidlich zu sein schien, war es am besten, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. So mobilisierte er alle Kraft, die ihm eine Kindheit in der Schiffstakelage und das spätere Festhalten am Drachengeschirr beschert hatte, und hieb Agreuth die Faust direkt unter das Kinn. Der Leutnant hob einen guten Zentimeter vom Boden ab, und sein Kopf schnellte nach hinten, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er taumelte ein paar Schritte nach vorne, ehe er der Länge nach mit dem Gesicht voran zu Boden ging und dabei einige Nachbartische mit umriss, sodass mehrere Gläser neben ihm zerschellten und der Mief von billigem Rum aufstieg.
Dabei hätte man es belassen können, doch Agreuths Begleiter – obschon Offiziere und einige von ihnen älter und nüchterner als Agreuth – zeigten keinerlei Scheu, sich in den aufkommenden Tumult zu stürzen. Die Männer an dem umgeworfenen Tisch – Matrosen eines ostindischen Handelsschiffes – waren ebenso rasch dabei, die Unterbrechung bei ihrem Saufgelage persönlich zu nehmen. Dies war ein bunt zusammengewürfelter Haufen aus Matrosen, Arbeitern und Soldaten, bei denen nur wenig zur Volltrunkenheit fehlte, und einigen wenigen Frauen, ähnlich dem, was sich in beinahe jedem anderen Gasthaus einer Hafenstadt überall auf der Welt finden ließ, wie Laurence wusste: ein Pulverfass, das nur auf ein Zündholz wartete. Der Rum war noch nicht zwischen den Steinen versickert, als sich die Männer rings um sie herum schon von ihren Stühlen erhoben hatten.
Ein anderer Offizier des Neusüdwales-Korps stürzte sich auf Laurence, und dieser Mann war größer als Agreuth, aber ebenfalls betrunken und schwerfällig vom Alkohol. Laurence wand sich aus seinem Griff, drückte den Gegner auf den Boden und schob ihn, so gut es ging, unter den Tisch. Tharkay hatte derweil mit einem Sinn fürs Praktische eine Rumflasche am Hals gepackt. Ein anderer Mann – der nicht das Geringste mit Agreuth zu tun hatte und ganz offenkundig erfreut darüber war, irgendjemanden in einen Kampf verwickeln zu können – machte einen Satz auf Tharkay zu, der ihm jedoch kurzerhand die Flasche an die Schläfe schmetterte.
Granby war in der Zwischenzeit von drei Männern gleichzeitig angegriffen worden. Zwei davon waren Agreuths Begleiter und von purer Boshaftigkeit getrieben, der dritte jedoch versuchte alles, um an das juwelenbesetzte Schwert und den Gürtel, den Granby um die Taille trug, zu gelangen. Laurence schlug dem Dieb aufs Handgelenk und packte ihn am Kragen, um ihm einen heftigen Stoß zu versetzen, der ihn rückwärts durch den Hof stolpern ließ. In diesem Augenblick schrie Granby auf, und als Laurence sich umdrehte, sah er, wie Granby sich unter einem schmutzigen, rostfleckigen Messer duckte, mit dem jemand nach seinen Augen stach.
»Bei Gott, haben Sie denn den Verstand verloren?«, schrie Laurence und umklammerte die Hand des Mannes, der mit dem Messer herumfuchtelte. Es gelang ihm, die Klinge wegzudrücken, während Granby erfolgreich den dritten Mann niederschlug und sich umdrehte, um Laurence zu Hilfe zu kommen. Das Durcheinander wurde nun rasch völlig unübersichtlich, wozu Tharkay einiges beitrug, indem er kaltblütig die umgestürzten Stühle durch den Raum schleuderte, weitere Tische umwarf und den Gästen, die empört aufsprangen, den Fuselinhalt ihrer Gläser ins Gesicht schüttete.
Laurence, Granby und Tharkay waren nur zu dritt, doch da sie ringsum von Offizieren des Neusüdwales-Korps umgeben waren, blieb den anderen aufgebrachten Männern kein anderes Ziel als ebenjene Offiziere: ein Ziel, auf das die Strafgefangenen in ihrem Zorn ohne jede Zurückhaltung losgingen. Die Empörung hatte jedoch keine berechenbare Stoßrichtung, und nachdem der Offizier vor Laurence mit einem schweren Stuhl niedergestreckt worden war, schwang der wutentbrannte Angreifer hinter ihm seine Waffe mit gleicher Vehemenz nun gegen Laurence.
Laurence glitt auf den nassen Bodenplanken aus und wehrte den Stuhl ab, ehe er im Gesicht getroffen werden konnte. Dann richtete er sich auf und kniete in einer Pfütze. Er zog dem Mann ein Bein unter dem Körper weg, was jedoch nur dazu führte, dass der Bursche mit seinem ganzen Gewicht samt Stuhl auf Laurence’ Schulter landete, sodass sie gemeinsam zu Boden stürzten.
Splitter bohrten sich Laurence in die Seite, wo sein Hemd aus der Kniebundhose gerutscht war. Der große Strafgefangene bedachte ihn mit wilden Flüchen und hieb ihm seine geballte Faust ans Kinn. Laurence schmeckte Blut, als seine Lippe von einem Zahn aufgerissen wurde, und seine Sicht wurde verschwommen. Sie rollten über den Fußboden; im Nachhinein hatte Laurence an diese nächsten Minuten keine klare Erinnerung mehr. Er ließ wilde Hiebe auf den Mann niederprasseln; bei jeder Drehung landete er einen Treffer, der den Kopf des Gegners auf die Bohlen krachen ließ. Es war ein bösartiger Kampf wie zwischen Tieren, der ohne Gefühle oder Gedanken ausgetragen wurde. Nur wie von Weitem bekam Laurence mit, wenn er versehentlich getreten wurde oder von der Wand oder umgestürztem Mobiliar aufgehalten wurde.
Erst als der Körper seines Gegners ohnmächtig erschlaffte, ließ die Raserei nach. Laurence öffnete mühsam die geballte Hand und ließ die Haare des Mannes los; dann rappelte er sich taumelnd vom Boden auf. Sie waren bis zum Holztresen vor der Küche gerollt. Laurence streckte den Arm aus, umklammerte die Tischkante und zog sich hoch. Stärker als ihm lieb war, wurde er sich mit einem Mal des stechenden Schmerzes in seiner Seite und der brennenden Schnitte an Wange und Händen bewusst. Als er sein Gesicht abtastete, bekam er eine lange Glasscherbe zu fassen, löste sie und warf sie auf den Tresen.
Die Schlägerei rings um ihn herum ließ bereits nach. Die Dauer dieser Auseinandersetzung war nicht mit einem Kampf an Deck eines Schiffes zu vergleichen, in dem es wirklich etwas zu gewinnen gab. Laurence humpelte an Granbys Seite: Agreuth und einer seiner Offizierskumpane waren ebenfalls wieder auf die Beine gekommen und hatten nun, obwohl sie stark geschwächt waren, Granby in einer Ecke erneut angegriffen, noch immer voller Bosheit, doch so erschöpft, dass sie eher hin und her schwankten, als dass sie wirklich miteinander rangen.
Laurence schob sich dazwischen und befreite Granby, dann stützten sie einander und stolperten aus dem Hof hinaus in eine enge, stinkende Gasse, in der die Luft trotz allem kühl und frisch erschien, nun, da sie endlich unter der behelfsmäßigen Überdachung hervorgekommen waren. Ein feiner Regen ging nieder. Dankbar lehnte sich Laurence an die gegenüberliegende Mauer. Der Sprühnebel, der sich auf sein Gesicht legte, kühlte ihn ab und machte seinen Kopf frei, während sein gut trainierter Magen den Mann ignorierte, der nur wenige Schritte von ihm entfernt seinen Mageninhalt in die Gosse erbrach. Einige Frauen, die die Gasse herunterkamen, rafften ihre Röcke und setzten ohne Zögern ihren Weg an ihnen vorbei fort. Die Aufregung im Hof der Taverne würdigten sie keines Blickes.
»Mein Gott, du siehst schrecklich aus«, bemerkte Granby bedrückt.
»Kann ich mir denken«, entgegnete Laurence und betastete vorsichtig sein Gesicht. »Und ich wage zu behaupten, dass ich mir auch zwei Rippen gebrochen habe. Es tut mir leid, das zu sagen, John, aber du siehst nicht so aus, als wärest du in besserer Verfassung.«
»Nein, vermutlich nicht«, antwortete Granby. »Wir müssen uns ein Zimmer suchen, falls sie uns überhaupt irgendwo durch die Tür lassen, um uns zu waschen. Ich habe keine Ahnung, was Iskierka veranstalten würde, wenn sie mich in diesem Zustand zu Gesicht bekäme.«
Laurence hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, was Iskierka tun würde und Temeraire ebenfalls, und er war sich sicher, dass von der Kolonie nichts Nennenswertes mehr übrig sein würde, wenn die beiden fertig wären.
»Nun«, sagte Tharkay und gesellte sich zu ihnen, während er sich sein Halstuch um seine eigene blutende Hand wickelte, »ich glaube, ich habe unseren Mann vor einer Weile einen Blick in den Hof werfen sehen, aber ich fürchte, er hat es sich unter diesen Umständen doch noch mal anders überlegt. Ich werde Erkundigungen einholen, um ein weiteres Treffen mit ihm zu vereinbaren.«
»Nein«, sagte Laurence und betupfte Lippe und Wange mit seinem Taschentuch. »Nein danke. Ich glaube, wir können auf seine Informationen verzichten. Ich habe genug gesehen, um mir ein Bild von der Disziplin hier in der Kolonie und von seiner militärischen Stärke zu machen.«
Temeraire seufzte und spielte mit den letzten Bissen seines Känguru-Eintopfs herum. Das Fleisch hatte einen angenehmen Wildgeschmack, dem Hirschfleisch nicht unähnlich, und zunächst hatte er es nach der langen Seereise für eine sehr befriedigende Abwechslung zu den Fischen gehalten. Aber er fand es ausschließlich dann wirklich lecker, wenn es nur leicht angebraten war, was wenig Variationsmöglichkeiten zuließ. Im Eintopf wurde das Fleisch sehnig und fade, vor allem angesichts der Tatsache, dass der Vorrat an Gewürzen immer mehr zu wünschen übrig ließ. Von seinem erhöhten Sitz auf einem Felsvorsprung am Hafen aus konnte Temeraire verlockendes Vieh in einem Pferch erkennen, doch offensichtlich war es viel zu wertvoll, als dass es dem Korps zur Verfügung gestellt werden würde. Und natürlich konnte Temeraire Laurence eine solche Ausgabe nicht zumuten, nicht, wo er doch dafür verantwortlich war, dass Laurence sein gesamtes Vermögen verloren hatte. Stattdessen hatte Temeraire sofort all seine vorsichtigen Klagen über die mangelnde Abwechslung wieder eingestellt. Bedauerlicherweise hatte Gong Su das als Ermunterung aufgefasst, und so gab es seit vier Tagen in Folge morgens und abends nichts als Känguru – und nicht mal ein winziges Stückchen Thunfisch zur Abwechslung.
»Ich sehe gar nicht ein, warum wir nicht wenigstens zum Jagen weiter ins Landesinnere vorstoßen dürfen«, klagte Iskierka, während sie ihre eigene Schüssel ohne viel Federlesens ausleckte. Sie weigerte sich schlicht, Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die auch nur im Entferntesten an gute Manieren erinnerten. »Dies ist ein riesiges Land, und es ist doch wohl klar, dass sich Besseres zum Essen finden ließe, wenn wir uns ein bisschen umsehen würden. Vielleicht gibt es hier irgendwo diese Elefanten, von denen du immer wieder erzählst. Ich würde zu gerne mal einen davon probieren.«
Temeraire hätte selbst eine Menge für einen schmackhaften Elefanten gegeben, mit einer großzügigen Prise Pfeffer und vielleicht etwas Salbei zubereitet. Man durfte Iskierka jedoch auf keinen Fall in diese Richtung ermutigen. »Du kannst gerne hinfliegen, wohin du willst«, sagte er, »und du wirst dich mit Sicherheit verirren. Niemand hat eine Ahnung, wie die Landschaft hinter diesen Bergen aussieht, und du wirst da auch niemanden treffen, den du nach dem Weg fragen kannst: weder Menschen noch Drachen.«
»Das ist albern«, bemerkte Iskierka. »Ich sage zwar nicht, dass Kängurus gute Mahlzeiten abgeben, denn das ist einfach nicht der Fall, und es gibt auch nicht genug von diesen Tieren. Aber es ist sicher auch nicht schlimmer als das, was wir während des letzten Feldzugs in Schottland bekommen haben. Nichtsdestoweniger ist es Unsinn zu behaupten, dass hier niemand lebt; warum denn nicht? Ich würde sagen, dass es hier jede Menge Drachen gibt. Die stecken nur einfach woanders und haben vermutlich viel besseres Essen als wir.«
Temeraire schien das in der Tat keine ganz unwahrscheinliche Möglichkeit, und er nahm sich vor, die Sache später mit Laurence unter vier Augen zu besprechen. Das wiederum erinnerte ihn an Laurence’ Abwesenheit und an die vorgerückte Stunde. »Roland«, rief er mit einem besorgten Unterton in der Stimme. Natürlich brauchte Laurence kein Kindermädchen, aber er hatte versprochen, vor dem Abendessen wieder zurück zu sein und ein bisschen weiter aus dem Roman vorzulesen, den er tags zuvor in der Stadt gekauft hatte. »Roland, ist die fünfte Stunde nicht schon vorbei?«
»Herr im Himmel, ja, es muss beinahe sechs sein«, antwortete Emily Roland und legte ihren Degen auf den Boden. Sie und Demane hatten draußen im Hof ein bisschen Fechten geübt. Mit einem lose gezupften Ende ihres Hemdes tupfte sie sich das Gesicht ab und rannte zum Rand des Felsvorsprungs, um den Matrosen unten etwas zuzurufen. Dann kam sie wieder zurück und sagte: »Nein, ich lag völlig falsch. Es ist schon Viertel nach sieben. Das ist ziemlich seltsam, dass die Tage so lang sind, obwohl es doch schon bald Weihnachten ist.«
»Das ist überhaupt nicht seltsam«, entgegnete Demane. »Es ist nur seltsam, wenn man darauf beharrt, dass es hier auch Winter sein muss, nur weil es das in England ist.«
»Aber wo steckt Granby, wenn es so spät ist?«, fuhr Iskierka auf, die gelauscht hatte. »Er hatte nichts Besonderes vor, wie er mir versichert hat, sonst hätte ich ihn doch nie so schäbig gekleidet losgehen lassen.«
Temeraire nahm sich diese Bemerkung zu Herzen und stellte kurz seine Halskrause auf. Es störte ihn nun doch sehr, dass Laurence nichts anderes als den schlichten Mantel eines Gentleman trug, ohne jede Borte und ohne goldene Knöpfe. Er hätte mit Freuden Laurence’ Erscheinungsbild verbessert, wenn er nur die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Laurence jedoch weigerte sich noch immer, Temeraires Krallenscheiden für ihn zu verkaufen, und selbst wenn er es getan hätte, hätte Temeraire in diesem Teil der Welt doch nichts entdeckt, was ihm auch nur annähernd als angemessene Kleidung für Laurence vorgekommen wäre.
»Vielleicht sollte ich besser aufbrechen und nach Laurence suchen«, sagte Temeraire. »Ich bin mir sicher, dass er nicht so lange unterwegs sein wollte.«
»Ich werde ebenfalls nach Granby suchen«, verkündete Iskierka.
»Tja, wir können aber nicht beide wegfliegen«, antwortete Temeraire verdrießlich. »Jemand muss bei den Eiern bleiben.« Er warf einen raschen, prüfenden Blick auf die drei Eier in ihrem schützenden Nest aus zusammengerollten Decken und unter dem schmalen Baldachin aus Segeltuch, der über ihnen aufgespannt worden war. Er war recht unzufrieden mit der Situation: Ein hübsches, kleines Kohlebecken, dachte er, könnte selbst bei diesem warmen Wetter nicht schaden, und vielleicht könnte man weicheren Stoff rings um die Schale drapieren. Es passte ihm auch überhaupt nicht, dass das Sonnensegel so niedrig gehängt war, wodurch er seinen Kopf nicht darunterstecken konnte, um an den Eiern zu schnüffeln und herauszufinden, wie hart die Schale schon geworden war.
Es hatte einige Schwierigkeiten mit ihnen gegeben, nachdem sie vom Schiff abgeladen worden waren. Einige der Offiziere des Korps, die mit ihnen mitgeschickt worden waren, hatten dagegen protestiert, dass Temeraire die Eier bei sich behalten wollte, weil sie angeblich selbst besser in der Lage wären, sie zu beschützen, was natürlich lächerlich war. Daraufhin hatten sie unter der Hand angefangen zu behaupten, dass Laurence versuchen würde, die Eier zu stehlen, was Temeraire mit einem Schnauben abgetan hatte.
»Laurence will keinen anderen Drachen, er hat doch mich«, hatte Temeraire erklärt. »Und was das Stehlen angeht: Ich möchte mal wissen, wessen Idee es war, mit diesen Eiern einmal halb um die Welt zu segeln, über die Meere mit all den Stürmen und Seeschlangen überall, um sie an diesen seltsamen Ort zu bringen, der nicht einmal ein richtiges Land ist und wo es keine anderen Drachen gibt. Mein Vorschlag war das ganz sicher nicht.«
»Mr. Laurence wird unverzüglich mit harter Arbeit beginnen wie die übrigen Strafgefangenen«, hatte Leutnant Forthing gesagt, was unbedacht gewesen war – als ob Temeraire etwas Derartiges zulassen würde!
»Das reicht, Mr. Forthing«, hatte sich Granby eingemischt, der das Gespräch mitgehört und sich daraufhin zu ihnen gesellt hatte. »Ich muss mich doch sehr wundern, dass Sie sich zu solch vorschnellen Äußerungen hinreißen lassen; ich bitte dich, Temeraire, schenk ihnen keinerlei Beachtung, überhaupt keine.«
»Oh, das mache ich nicht«, antwortete Temeraire, »und auch die anderen Vorwürfe interessieren mich nicht.« An Forthing und seine Männer gewandt, fügte er hinzu: »Wie dumm von Ihnen zu glauben, Sie könnten die Eier stattdessen selber behalten und die Drachen nach dem Schlüpfen sofort anschirren, als ob die jeden von Ihnen akzeptieren müssten, der sie durch Zufall gewonnen hat. Ich habe gestern gehört, wie Sie in der Messe darüber gesprochen haben, Lose zu ziehen, also müssen Sie gar nicht erst versuchen, die Sache abzustreiten. Ich werde das definitiv nicht zulassen, und ich bin mir völlig sicher, dass auch die Schlüpflinge von keinem von Ihnen etwas werden wissen wollen.«
Natürlich hatte er seinen Willen durchgesetzt und die Dracheneier mitgenommen, um sie an ihren momentanen, einigermaßen sicheren und behaglichen Aufbewahrungsort zu bringen. Doch Temeraire machte sich keine Illusionen darüber, was die Vertrauenswürdigkeit der Menschen anging, die solch gehässige, falsche Behauptungen von sich gegeben hatten. Keinen Augenblick zweifelte er daran, dass sie versuchen würden, sich heranzuschleichen und die Eier an sich zu bringen, sobald sie auch nur die geringste Chance witterten. Aus diesem Grund schlief er um das Zelt gerollt, und Laurence hatte Roland, Demane und Sipho als Wachen eingeteilt.
Ärgerlicherweise entpuppte sich diese Verantwortung als große Einschränkung, vor allem da man Iskierka die Eier keine Sekunde lang anvertrauen konnte. Zum Glück war die Stadt sehr klein, und der Felsvorsprung von beinahe jedem Punkt aus sichtbar, wenn man nur seinen Hals genug reckte, sodass Temeraire das Gefühl hatte, er könnte es wagen, aufzubrechen, nur um rasch Laurence zu finden und sicher zurückzubringen. Natürlich war Temeraire überzeugt davon, dass niemand töricht genug sein würde, Laurence in irgendeiner Form respektlos zu behandeln, aber es war nicht zu leugnen, dass Männer dazu neigten, von Zeit zu Zeit unvorhergesehene Dinge zu tun. Forthings Bemerkung nagte noch immer an Temeraire.
Wenn man die Sache sehr genau nehmen wollte, dann stimmte es, dass Laurence ein verurteilter Strafgefangener war: verurteilt wegen Hochverrats. Seine Strafe war nur auf Drängen von Lord Wellington nach der letzten Schlacht in England in Deportation umgewandelt worden. Und diese Strafe war in Temeraires Augen verbüßt, denn niemand konnte abstreiten, dass Laurence zwangsweise abtransportiert worden war, und diese Erfahrung war mehr als Strafe genug gewesen.
Die unglückselige Allegiance war bis zu den Bullaugen mit noch unglückseligeren Verurteilten vollgestopft gewesen, die den ganzen Tag an Handgelenken und Fußknöcheln angekettet waren und entsetzlich stanken, wann immer sie in klirrender Reihe an Deck gebracht worden waren, um Bewegung zu bekommen. Einige von ihnen hingen schlaff in ihren Ketten. Temeraire kam das wie Sklaverei vor, und er konnte nicht verstehen, warum es, wie Laurence steif und fest behauptete, einen solch riesigen Unterschied machen sollte, dass ein Gericht festgestellt zu haben glaubte, diese armen Gefangenen hätten etwas gestohlen. Schließlich konnte sich doch jeder ein Schaf oder eine Kuh holen, wenn sie von ihren Besitzern vernachlässigt oder nicht richtig bewacht wurden.
Fest stand, dass sich das Schiff nicht von irgendeinem Sklavenschiff unterschied: Der Gestank waberte durch die Deckplanken, und beinahe ständig trug der Wind ihn bis zum Drachendeck. Nicht einmal der Duft von brutzelndem Pökelfleisch aus der unten gelegenen Kombüse konnte die üblen Gerüche vertreiben. Als sie schon beinahe einen Monat lang auf Reisen waren, hatte Temeraire durch Zufall erfahren, dass Laurence unmittelbar neben dem Gefängnis untergebracht worden war, wo die Luft noch viel schlechter sein musste.
Laurence hatte sich jedoch geweigert, sich in irgendeiner Form darüber zu beschweren. »Mir geht es sehr gut, mein Lieber«, hatte er gesagt. »Es steht mir frei, den ganzen Tag und die milderen Nächte auf dem Drachendeck zu verbringen, was nicht einmal den Schiffsoffizieren möglich ist. Es wäre ausgesprochen unfair, für mich eine bessere Behandlung zu beanspruchen, wo ich doch nicht einmal ihre Arbeit erledige. Jemand anders würde sein Quartier räumen müssen, damit ich es beziehen könnte.«
So war es eine sehr unangenehme Überfahrt geworden. Und nun waren sie hier, wo es ebenfalls niemandem gefallen konnte. Zusätzlich zu den ständigen Känguru-Mahlzeiten kam die Tatsache, dass es hier sehr wenige Menschen gab und nichts, was einer richtigen Stadt ähnelte. Temeraire war daran gewöhnt, in England schlechte Unterbringungen für Drachen zu sehen, aber hier wohnten die Menschen nicht viel besser als auf den Lichtungen in jedem beliebigen Stützpunkt Englands. Viele von ihnen waren in Zelten oder behelfsmäßigen, kleinen Gebäuden untergebracht, die nicht einmal stehen blieben, wenn man – gar nicht unbedingt zu niedrig – über sie hinwegflog. Stattdessen brachen sie zusammen und spuckten aufgebrachte Bewohner aus, die einen riesigen Aufstand veranstalteten.
Und es gab auch keine Gelegenheit für einen Kampf. Während der Überfahrt hatten sie immer wieder Briefe und Zeitungen erreicht, wenn schnellere Fregatten an dem schwerfälligen Rumpf der Allegiance vorbeigeschossen waren. Für Temeraire war es sehr entmutigend zu hören, als Laurence ihm vorlas, dass Napoleon angeblich wieder in Kämpfe verwickelt war, dieses Mal in Spanien, und überall entlang der Küste Städte einnahm. Sicher war Lien bei ihm, während Temeraire und Laurence nutzlos am anderen Ende der Welt festsaßen. Das war alles andere als fair, dachte Temeraire missmutig, dass Lien, die der Überzeugung war, Himmelsdrachen sollten überhaupt nicht kämpfen, den ganzen Krieg für sich allein haben sollte, während er hier hockte und sich um Eier kümmern musste.
Auf der Überfahrt hatte es nicht einmal eine klitzekleine Schlacht zum Trost gegeben. Einmal hatten sie in der Ferne einen französischen Freibeuter gesehen, aber das kleinere Schiff hatte alle zur Verfügung stehenden Segel gesetzt und war mit Höchstgeschwindigkeit davongeeilt. Iskierka hatte es trotzdem verfolgt, aber Laurence hatte Temeraire darauf hingewiesen, dass er für ein so fruchtloses Abenteuer nicht die Eier allein lassen könne. Zu Temeraires Befriedigung war Iskierka nach wenigen Stunden gezwungen gewesen, mit leeren Klauen zurückzukehren.
Ganz sicher würden die Franzosen nicht auf die Idee kommen, Sydney anzugreifen; nicht, solange es nichts zu gewinnen gab als Kängurus und dürftige Behausungen. Temeraire verstand nicht, was sie hier überhaupt tun sollten. Es galt, sich bis zum Schlüpftermin, der – da war er sich sicher – nicht mehr weit entfernt sein konnte, um die Eier zu kümmern, und danach würde ihnen kaum noch etwas zu tun bleiben, als herumzusitzen und aufs Meer zu starren, soweit er das beurteilen konnte.
Die Menschen waren entweder mit Landarbeit beschäftigt, was nicht sehr interessant war, oder es handelte sich bei ihnen um Strafgefangene, die, so kam es Temeraire vor, ohne erkennbaren Grund am Morgen weggeführt und nachts wieder zurückgebracht wurden. Eines Tages war er einer solchen Gruppe aus Neugier hinterhergeflogen. Die Männer marschierten zu einem Steinbruch, wo sie kleine Brocken aus dem Fels schlugen und sie dann in Karren in die Stadt brachten, was ihm ziemlich absurd und ineffektiv vorkam. Er selbst hätte fünf Wagenladungen mit einem einzigen Flug von vielleicht zehn Minuten transportieren können, aber als er gelandet war, um seine Hilfe anzubieten, waren die Gefangenen schon in alle Richtungen weggerannt. Die Soldaten hatten sich später bei Laurence bitter darüber beklagt.
Sie mochten Laurence überhaupt nicht. Einer von ihnen war sehr grob gewesen und hatte gesagt: »Für fünf Pence würde ich Sie ebenfalls in den Steinbruch stecken«, woraufhin Temeraire den Kopf hinabgebeugt und erwidert hatte: »Und für zwei Pence werde ich Sie in den Ozean werfen. Was haben Sie denn geleistet, während Laurence mit mir zusammen viele Schlachten gewonnen und Napoleon vertrieben hat? Das würde ich ja gerne wissen. Sie haben einfach nur hier herumgesessen und es nicht mal geschafft, eine ansehnliche Menge an Kühen zu züchten.«
Inzwischen hatte Temeraire das Gefühl, dass die Abschweifung vielleicht ein wenig ungerecht gewesen sein mochte und dass er Laurence überhaupt nicht in die Stadt hätte gehen lassen dürfen, wo es Menschen gab, die ihn in die Steinbrüche schicken wollten. »Ich werde aufbrechen und nach Laurence und Granby suchen«, sagte er zu Iskierka, »und du bleibst hier. Wenn du auch fliegst, setzt du sowieso nur wieder etwas in Brand.«
»Ich werde überhaupt nichts in Brand setzen«, antwortete Iskierka. »Es sei denn, es ist nötig, etwas anzuzünden, um Granby zu befreien.«
»Das meinte ich«, sagte Temeraire. »Verrate mir doch bitte mal, was ein Feuer Gutes bewirken soll.«
»Falls mir niemand verrät, wo er ist«, erklärte Iskierka, »dann stecke ich einfach etwas in Brand und drohe damit, auch alles andere anzuzünden, und ich bin mir sicher, dann werden sie schon mit der Sprache rausrücken. So einfach ist das.«
»Ja«, sagte Temeraire, »und währenddessen hält sich Granby wahrscheinlich in einem der Häuser auf, die du angesteckt hast, und wird verletzt. Und wenn nicht, dann springt das Feuer auf die Gebäude in der Nähe über, ob dir das nun gefällt oder nicht, und er könnte schließlich auch in einem von diesen Häusern festsitzen. Ich dagegen werde einfach das Dach eines Gebäudes abnehmen, hineinsehen und Laurence und Granby herausheben, falls sie da drin sind, aber das werden mir die Leute ohnehin verraten.«
»Ich kann auch ein Dach abnehmen!«, kreischte Iskierka. »Du bist ja bloß neidisch, weil es viel wahrscheinlicher ist, dass jemand Granby entführt, weil er mehr Gold an sich trägt und viel prächtiger aussieht.«
Temeraire schnaufte vor Zorn, schwoll an und war kurz davor, seine Empörung und den angestauten Atem gleichermaßen auszustoßen, als Roland mit drängender Stimme unterbrach und sagte: »Oh, streitet doch nicht! Seht mal, da kommen sie alle drei gesund und munter zurück. Das da auf der Straße sind sie, da bin ich mir sicher.«
Temeraire ließ den Kopf herumschnellen: Drei kleine Gestalten hatten sich gerade aus den wenigen, zusammengedrängten Häusern gelöst, die die Stadt bildeten, und befanden sich nun auf dem engen Viehpfad, der zum Felsvorsprung heraufführte.
Temeraire und Iskierka reckten die Hälse und starrten zu ihnen hinunter. Laurence hatte eine Hand erhoben und winkte kräftig, trotz der Schmerzen in seinen Rippen, denen ein Bad und ein fester Verband nicht viel Erleichterung gebracht hatten. Diese Verletzung jedoch würde er vor Temeraire verbergen können. »Wenigstens haben wir die beiden nicht hier unten auf der Straße«, sagte Granby, als er seinen eigenen Arm sinken ließ und ein wenig zusammenzuckte. Vorsichtig befühlte er seine Schulter.
Die Sache wurde allerdings doch noch brenzlig, als sie den Felsvorsprung erreicht hatten. Sie waren nur langsam vorangekommen, und immer wieder drohten Laurence’ Beine nachzugeben, ehe sie die Spitze erreicht hatten und sich auf einer der grob gezimmerten Bänke niederlassen konnten. Temeraire schnüffelte, dann senkte er abrupt seinen Kopf, bis er mit Laurence auf Augenhöhe war, und sagte: »Du bist verletzt. Du blutest.« In seiner Stimme lag ein ängstlicher Unterton.
»Nichts, weswegen du dir Sorgen machen musst. Ich fürchte, ich hatte einen kleinen Unfall in der Stadt«, sagte Laurence, der zwar ein schlechtes Gewissen hatte, eine geringfügige Beschönigung der Ereignisse jedoch den unvermeidlichen Konsequenzen vorzog, die es haben würde, wenn Temeraire richtig wütend würde.
»Siehst du, mein Lieber, es ist nur gut, dass ich in der Stadt meinen alten Mantel trage«, sagte Granby zu Iskierka, einer plötzlichen Eingebung folgend. »Er ist schmutzig geworden und eingerissen, und es hätte dir doch bestimmt leidgetan, wenn ich etwas Hübscheres angezogen hätte.«
Auf diese Weise war Iskierka abgelenkt und sann über Kleidungsfragen nach, anstatt sich über blaue Flecken Gedanken zu machen. Sofort behauptete sie, das alles sei eine natürliche Folge der Umgebung. »Wenn du dich an einem heruntergekommenen, armseligen Ort wie dieser Stadt befindest, dann ist auch nichts anderes zu erwarten«, sagte sie, »und ich sehe auch nicht ein, warum wir überhaupt hierbleiben sollten. Ich denke, wir kehren lieber wieder direkt nach England zurück.«