JEHUDA BACON MANFRED LÜTZ
»Solange wir leben,
müssen wir uns
entscheiden.«
Leben nach
Auschwitz
Gütersloher Verlagshaus
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
1. »Von wo kommt das Böse?«
2. »Meine Bilder haben mich gerettet!«
3. »Ich hatte noch kein Gespür dafür, dass Antisemitisches schmerzhaft ist.«
4. »Dum spiro, spero – solange ich atme, hoffe ich.«
5. »In jedem Menschen ist dieser göttliche Funke, auch in einem solchen Verbrecher.«
6. »In Grenzsituationen bleibt nur die Herzensbildung übrig.«
7. »Die größte Versuchung meines Lebens.«
8. »Denn ich wollte nicht, dass es den Nazis gelingt, aus mir einen kleinen Nazi zu machen, einen Menschen, der voller Hass ist.«
9. »Jeder Künstler und jeder Mensch betet, wenn er etwas von ganzem Herzen macht.«
10. »Lebe dafür, solange du kannst, bei den anderen noch ein Lächeln zustande zu bringen.«
Biographische Notizen zu Jehuda Bacon
Vorwort
Jehuda Bacon bekommt feuchte Augen. Nicht etwa als er über die Hölle von Auschwitz berichtet, da legt er nüchtern Zeugnis ab vom unvorstellbaren Grauen dieses Ortes. Aber als er von den Menschen erzählt, die ihm den Glauben an die Menschheit wiedergegeben haben, da spürt man eine tiefe Rührung, die umso ergreifender ist, wenn man erfährt, dass Jehuda Bacon jahrelang nicht mehr weinen konnte. Auschwitz hatte seine Tränen versiegen lassen.
Ich hatte noch nie etwas von Jehuda Bacon gehört. Gerade schrieb ich ein Buch, das gegen das Gerede vom angeblich leicht herstellbaren Wohlfühlglück wirkliches Glück gerade in den unvermeidlichen Krisensituationen eines Lebens sucht. Kann man auch im Leid glücklich sein? Es gibt keine leichte Antwort auf diese Frage, vor allem keine theoretische. Da plötzlich sehe ich im Fernsehen Jehuda Bacon, einen kleinen freundlichen weißhaarigen Mann mit ungemein lebendigen Augen, und was er sagt ist ein Ereignis. Man könne auch im Leiden einen Sinn erleben, und zwar, wenn man so tief erschüttert sei, dass man erlebe, dass jeder Mensch so ist wie man selbst. Liebe erleben und Liebe geben, das lasse einen spüren, was der Mensch sei. Und das sagt ein Mann, der das Schlimmste erlebt hat, was Menschen jemals Menschen angetan haben. Mir ging dieser liebenswürdige alte Mann nicht mehr aus dem Kopf.
Der Zufall wollte es, dass ich wenige Monate später mit 50 jungen Leuten nach Israel fuhr. Kurz vor unserem Abflug teilte uns noch eine Mutter mit, sie habe einige Kontakte in Israel, wenn wir interessiert seien. Als Beispiel nannte sie nur einen Namen: Jehuda Bacon. Sofort war ich elektrisiert. Nie hätte ich gedacht, dass ich tatsächlich Jehuda Bacon persönlich kennenlernen würde. Tagsüber waren wir in Yad Vashem, der Holocaustgedenkstätte, und abends holte ich Jehuda Bacon mit dem Taxi ab. Ich war ziemlich aufgeregt. Doch vom ersten Moment an beruhigte er mich, indem er von einer unmittelbaren Freundlichkeit war, völlig unkompliziert, sofort ganz zugewandt und von einer geradezu anmutigen Bescheidenheit und einer heiteren Demut. So einen Menschen hatte ich noch nie erlebt.
Der Tag in Yad Vashem hatte uns alle aufgewühlt. Da war niemand, der nicht erschüttert war. Doch im Taxi redete Jehuda Bacon nicht von Auschwitz oder von sich, er erzählte mir von Premysl Pitter, einem Mann, der ihn nach dem Krieg in ein Waisenhaus aufgenommen hatte und der all die Kinder dort, Juden und Hitlerjungen, mit so viel Liebe umsorgt habe, dass sie wieder Zuversicht schöpften. Schon hatte ich Sorge, dass er von Auschwitz gar nichts erzählen wollte ...
Ich wusste viel zu wenig von Jehuda Bacon. Künstler war er geworden, Kunstprofessor sogar. Seine Bilder hängen in großen Galerien auf der ganzen Welt und sie haben keineswegs alle mit Auschwitz zu tun. Doch richtig angefangen zu malen hatte er im KZ, in Theresienstadt und dann in Auschwitz, und seine Bilder aus dem KZ waren so eindrücklich, dass sie im Eichmann-Prozess in Jerusalem und im Auschwitz-Prozess in Frankfurt als Beweismittel gewertet wurden. In Yad Vashem hängen Bilder von ihm. In den Rauch, der aus den Krematorien aufsteigt, hat er das Bild seines Vaters gezeichnet, der von ihm weggerissen und in die Gaskammer getrieben wurde. Und ein anderes Bild hat man in Yad Vashem auf eine große Wand projiziert: Da zieht ein Mensch einen anderen aus dem Dunkel ins Licht. Und dieser Mensch war niemand anderes als Premysl Pitter, von dem er mir im Taxi erzählt hatte.
Höflich und fast mit Ehrfurcht empfingen die jungen Leute Jehuda Bacon. Und was dann passierte, war höchst merkwürdig. Wir hatten eigentlich einen Gesprächsabend geplant, aber als Jehuda Bacon begann zu erzählen, waren alle so gebannt, dass niemand auf den Gedanken kam, noch Fragen zu stellen. Er begann nicht mit Auschwitz, er begann mit Premysl Pitter und mit den Menschen, die ihn wieder ins menschliche Leben zurückholten. Damit war ein existentielles Fundament gelegt, ein sicherer Ort, von dem aus er uns dann durch sein Leben führte. Er schenkte uns nichts. Wie ein liebevoller Vater nahm er uns bei der Hand und zeigte uns, wozu Menschen fähig sind, im Guten wie im Bösen. Nie war seine Erzählung routiniert, obwohl er sicher schon viele Male über sein Schicksal berichtet hatte, er begegnete uns auf höchst intensive Weise sehr persönlich, dennoch nie belehrend, sondern auf Augenhöhe von Mensch zu Mensch.
Es gibt nicht den Auschwitzüberlebenden. Wer die vielen Berichte liest, der findet da alle denkbaren Temperamente und Reaktionen. Da gibt es natürlich die Verbitterten, denen Auschwitz endgültig das Licht aus dem Leben gelöscht hat, die tief Enttäuschten oder die Hasserfüllten, die nie mehr nach Deutschland fahren wollten, die nie mehr einem Deutschen die Hand geben wollten, aber auch diejenigen, die sich nichts anmerken ließen, und schließlich die Versöhnten. Doch diese Tiefe, diese Fürsorge für die Hörer, diese hohe Sensibilität, die ich bei Jehuda Bacon erlebte, das war etwas ganz Besonderes. Vielleicht lag es daran, dass er Künstler ist, oder dass er so eindrucksvollen Menschen begegnet ist oder auch dass er so gerne und mit Begeisterung Lehrer an der Jerusalemer Bezalel-Akademie gewesen ist. Jedenfalls war sofort klar, dass wir hier etwas ganz Kostbares erlebten, was wir nie vergessen würden.
Bei der Rückfahrt im Taxi fragte ich ihn, ob es denn ein ausführlicheres Buch über sein Leben auf Deutsch gebe. Nein, meinte er fröhlich. Und als ich ihn fragte, ob er denn zu einem Gesprächsbuch bereit wäre, sagte er sofort zu. Am nächsten Tag besprach ich mit meinem Verlag den Vertrag und im Januar 2016 flog ich mit meiner Tochter Antonia, die die Ton- und Filmaufnahmen machte, nach Jerusalem, um das Projekt umzusetzen. Vier Tage trafen wir uns in der Nähe seiner Wohnung im Leo-Baeck-Institut und redeten insgesamt über 14 Stunden miteinander. Er kam immer alleine zu Fuß, er wollte nicht abgeholt werden, und er grüßte uns schon fröhlich am Fenster, bevor er das Haus betrat. Am letzten Tag führte er uns noch durch Yad Vashem. Bei den Gesprächen hatte er ein unglaubliches Durchhaltevermögen. Immer wieder machte ich den Vorschlag, eine Pause einzulegen. Aber er meinte fröhlich, das sei nicht nötig, wenn ich aber eine Pause bräuchte, sei das kein Problem. So sprach er höchst lebendig, gestenreich und anschaulich vier bis fünf Stunden lang ohne Pause. Bei Fragen reagierte er nie ungeduldig, überhaupt war er von einer berührenden Herzlichkeit und Höflichkeit, dennoch nie förmlich und immer voller Witz und Humor. Nicht dass er den Ernst von Auschwitz überspielte, im Gegenteil: Dadurch dass er so rückhaltlos offen war, berührte mich das Grauen, das dieser so liebenswürdige Mensch, der da vor mir saß, erleiden musste, noch viel tiefer.
Ich habe viel über den Holocaust und über Auschwitz gelesen, ich habe alles recherchiert, was ich über das Leben von Jehuda Bacon finden konnte, aber die persönliche Begegnung mit ihm war wirklich etwas Einzigartiges. Ich hoffe, dass das in diesem Buch auch dem Leser spürbar wird.
Und dann passierte noch etwas Merkwürdiges. Wir hatten die Gespräche aufgenommen und dann abschreiben lassen. Doch das Ergebnis war irritierend. Viele Sätze waren fragmentiert und bei der Lektüre nur schwer verständlich. Schon kam der Gedanke auf, diese Texte zu paraphrasieren. Als ich mich dann aber gründlich mit der Abschrift befasste, stellte ich etwas Erstaunliches fest: Man musste die Fragmente nur richtig zusammensetzen und schon zeigte sich ein lebendiger, berührender und manchmal sogar poetischer Text. Das Ergebnis dieser Restaurationsarbeit ist so sehr dem authentischen Text von Jehuda Bacon verpflichtet, dass wir, wenn es verständlich blieb, auch seine sprachlichen Eigenheiten beibehalten haben, den liebenswürdigen böhmisch-jiddischen Tonfall, vor allem aber immer wieder das Oszillieren zwischen Präsens und Vergangenheit. Denn man konnte geradezu sehen, wie ihm die schmerzlichen und ergreifenden Ereignisse der Vergangenheit beim Erzählen immer wieder fast sichtbare Gegenwart wurden.
Dieses Buch ist kein Buch über Auschwitz, da gibt es schon viele eindrucksvolle Berichte. Dieses Buch bringt die Weisheit eines Menschen zur Sprache, der Entsetzliches erlebt hat, aber darunter nicht zerbrochen ist. Bevor einer seiner Lehrer nach Auschwitz deportiert wurde, erzählte er seinen Schülern davon, dass es in jedem Menschen einen unauslöschlichen Funken gebe. An diesen Funken erinnerte er sich, als er selbst nach Auschwitz kam. Und diesen Funken hat er in seinem Leben durch seine ganze Existenz zum Leuchten gebracht.
Seit ich Jehuda Bacon begegnet bin, lebe ich anders, mein Leben ist ein bisschen heller geworden. Nicht dass ich mich nicht mehr über mich oder andere ärgere. Aber ich muss manchmal über all den alltäglichen Kleinkram lachen, der einen gefangen nimmt. Und dann geht es mir besser. Vor allem aber habe ich in kurzer Zeit unglaublich viel über die Menschen und das Leben gelernt. Dass auch viele andere Menschen diese Erfahrung machen können, dafür gibt es jetzt dieses Buch.
Ich danke Jens Oertel, dem Vertrauten Jehuda Bacons, dass er dieses Buch gefördert hat. Vor allem aber danke ich Jehuda Bacon für seine Zeit, seine Zuneigung und sein Zeugnis.
Bornheim, den 07.07.2016
Dr. Manfred Lütz
1
»Von wo kommt
das Böse?«
Manfred Lütz: Jehuda Bacon, Sie haben Auschwitz erlebt, überlebt. Was hat das in Ihnen ausgelöst?
Jehuda Bacon: Vor allem die Frage: Von wo kommt das Böse? Auschwitz war für mich fast die Verkörperung des Bösen, des Unmenschlichen. Das war eine ganz andere Dimension, die für ein so genanntes Normalleben eigentlich unfassbar war. Wie kann so etwas passieren? Wie kann man so werden? Dieses Thema hat mich nach dem Krieg am meisten interessiert. Und weil ich kein Philosoph bin, sondern Künstler, habe ich versucht, das als Künstler intuitiv zu erfassen. Ich dachte, dass jemand, der überlebt hat, das weitererzählen muss. Ich wollte für all die anderen jüdischen Kinder erzählen, was die Seele eines jüdischen Kindes erlebt hat, und hatte dabei den naiven kindlichen Glauben, wenn ich das erzähle, werden die Menschen besser. Aber die Menschen wurden nicht besser. Und das mit dem Erzählen war nach dem Krieg auch sehr schwierig. Viele konnten meine Erzählungen nicht ertragen und ich wusste auch nicht, was man erzählen kann und was nicht.
Sie haben Schreckliches erlebt, dennoch wirken Sie so gar nicht verbittert ...
Das war mein Geschenk von oben. Nach dem Krieg begegnete ich wunderbaren Menschen, deren Einfluss bis heute reicht. Diese Menschen haben mir das Vertrauen in die Menschen wieder zurückgegeben. Und das war auch sehr nötig. Denn meine Freunde und ich konnten nach all dem, was wir erlebt hatten, niemandem mehr Glauben schenken. Warum sollte uns jemand etwas Wahres sagen oder etwas Gutes tun? Denn die meisten Menschen, die wir getroffen hatten, waren nicht so angenehme Menschen gewesen, wenn nicht gar geradezu böse.
Wen meinen Sie mit diesen wunderbaren Menschen?
Da war zum Beispiel ein Mann, der vor dem Krieg Waisenhäuser geleitet hatte und schon vor Ende des Krieges darüber nachdachte, wie er dann, wenn seine Kinder wieder zurückkämen, sie sofort behüten und ihnen die beste Pflege geben könnte. Leider kamen diese Kinder nicht zurück, aber es kamen andere. Und als ihm das Sozialministerium sofort nach dem Krieg einige Schlösser prominenter Deutscher übergab, da verwandelte er sie in Kinderheime. Der Mann hieß Premysl Pitter und er war ein Mensch, der uns nicht durch Predigen und viel Reden, sondern durch seine Güte und Liebe gewonnen hat. Ich wusste damals noch nicht, was das bedeutet, aber heute muss ich sagen, er war charismatisch. Alle Kinder, die ihm begegneten und ihn erlebten, können ihn bis heute nicht vergessen. Das Eigenartige war, dass er nichts von uns wollte, sondern uns einfach nur seine Liebe gab, sich mit seiner ganzen Persönlichkeit dahingab. Plötzlich sahen wir, da ist jemand, der nichts will, aber alles gibt, hauptsächlich die Liebe, der wir in Auschwitz und überhaupt im Krieg nicht mehr begegnet waren. Da ist ein Mensch, der sich nur dieser Jugend, diesen Kindern widmet.
Was waren das für Kinder?
Nicht nur jüdische Kinder, sondern auch Kinder der ehemaligen Hitlerjugend. Er war vom Außenministerium beauftragt, sich auch um Kinder in den Lagern zu kümmern, in denen die Sudetendeutschen vor der Vertreibung eingesperrt waren. Und so ging er in die Lager, brachte die schlimmsten Fälle von Müttern mit kleinen Kindern heraus und gab ihnen dieselbe Pflege wie uns. In jener Zeit war das ein Wunder. Es gab damals sofort nach dem Krieg noch einen ungeheuren Hass gegen alle Deutschen. In Prag war es lebensgefährlich, deutsch zu reden. Deutsche wurden geschlagen oder es geschah ihnen Schlimmeres. Und da kam so ein Pitter, geht in so ein Lager, wo jetzt die Deutschen sind, nimmt die schlimmsten Fälle heraus und verlangt auch für sie, wie für alle anderen Kinder, besseres Essen und bessere Kleidung.
Ist Ihnen aus dieser ersten Zeit bei Premysl Pitter etwas genauer in Erinnerung geblieben?
Da gab es so ein kleines Mädchen. Damals bat ich jeden: Sitz, ich will dich zeichnen! Ich wollte einfach jeden als Modell benützen. Sehr egoistisch! Und als ich vor ein paar Jahren in Prag eine Ausstellung hatte, sah ich da noch alte Zeichnungen von mir, und plötzlich sehe ich das Bild dieses Mädchens mit Flaschenlocken und darunter hatte ich ein paar Zeilen geschrieben: Das Kind konnte man noch retten. Die Mutter hatte sich die Adern aufgeschnitten und dem Kind auch, weil sie die schreckliche Situation nicht mehr aushalten konnte. Und dieses deutsche Kind war auch zu uns gekommen. Pitter nahm auch jüdische Kinder aus Polen auf, denn da hatte es sofort nach dem Krieg kleine Pogrome gegeben. Jüdische Kinder, die aus den KZs in ihre Orte zurückgekehrt waren und sagten, das war mein Haus, da lebte ich, wurden einfach umgebracht. Pitter war ein wunderbarer Mann, der wirklich für alle sorgte.
Im Krieg, als noch Juden in Prag lebten, gab es da selbstverständlich auch Mütter mit kleinen Babys, aber die durften keine Milch bekommen. Was machte Pitter? Er sammelte Milch von tschechischen Familien und brachte sie in jüdische Familien mit Säuglingen. Er wurde angezeigt und zum Chef der Gestapo vorgeladen. Das bedeutete normalerweise den Tod oder die Deportation ins KZ. Er war darauf vorbereitet. Und was passierte jetzt? Der Chef der Gestapo fragte ihn: »Ist das wahr, das mit den jüdischen Kindern? Ja wissen Sie denn nicht, dass das verboten ist!« Und da sagte er: »Selbstverständlich wusste ich das.« – »Aber warum haben Sie es dann getan?« – »Das war meine menschliche Pflicht!« – So eine Antwort hatte dieser Gestapochef vorher noch von niemandem gehört. Und sein Auftreten wirkte auch diesem nicht so angenehmen Herrn von der Gestapo gegenüber so überwältigend, dass er diese Anzeige nahm, sie in den Papierkorb warf und sagte: »Gehen Sie!« Und nicht nur das, er schützte ihn den ganzen Krieg über. Pitter predigte nicht gegen den Faschismus ...
Er war Prediger der böhmischen Brüder ...
Ja, zwar kein organisierter, aber er lebte in diesem Geist. Und er wirkte auch so und das war das Wichtigste. Bei Premysl Pitter konnten wir erleben, dass es Menschen gibt, die einem voll Güte nur helfen wollen, ohne zu erwarten, irgendetwas zurückzubekommen. Er zeigte uns die Möglichkeit der Liebe, der Menschlichkeit. Und so war er für uns die Verkörperung der Möglichkeit: Nicht alle sind böse. Das war eine große neue Erfahrung. Das heißt, wir konnten diesem Menschen glauben, wo wir doch die Erfahrung gemacht hatten, dass es gefährlich ist, jemandem zu glauben. Der konnte ja ein Verräter sein oder mich schlagen. Und hier ist ein Mann, der mit seinem guten Einfluss so auf uns wirkte, dass er uns dadurch zeigte: Es gibt auch andere Menschen. Premysl Pitter hat mir den Glauben an die Menschheit zurückgegeben. Er hatte ein großes Charisma und alle seine Mitarbeiter waren getragen von diesem Geist. Dank der wunderbaren Menschen, die wir um uns hatten, gab es auch nie Rachegefühle zwischen deutschen und jüdischen Kindern, wir wollten sie niemals verprügeln, weil sofort eine andere Atmosphäre da war.
Können Sie sich noch an ein typisches Erlebnis mit Premysl Pitter erinnern?
Ja! Stellen Sie sich vor, wir sitzen das erste Mal in einem Saal in dem Schloss und nehmen das Mittagessen ein und es ist ja Sitte, dass man ohne Kopfbedeckung bei Tisch sitzt. Nur ein Junge lässt seine Mütze auf dem Kopf. Und da kommt Pitter herein und denkt, das ist so ein Lausbub, der kennt die Sitten nicht, und nimmt ihm die Mütze vom Kopf. Doch da sagt ihm ein jüdischer Mitarbeiter, das sei kein Lausbub, sondern der Sohn eines Rabbiners und da ist es Sitte, immer die Kopfbedeckung aufzubehalten. Sofort gab ihm Pitter die Mütze zurück und entschuldigte sich. 25 Jahre später hatten wir ehemaligen Kinder, wir waren ja arm, ein paar Groschen zusammengespart und Pitter nach Jerusalem eingeladen, wo er eine Medaille von der israelischen Regierung bekam. Und da passiert etwas. Als Pitter zu uns ehemaligen Kindern hereinkommt, und es ist ja viele Jahre später, sieht er Wolfi, den Rabbiner-Sohn, und fragt: »Bist du der Wolfgang?« Der sagt: »Ja.« Und da sagt er: »Kannst du mir verzeihen, was ich dir damals angetan hab?« (Jehuda Bacon kommen die Tränen.) Es quälte ihn also der Gedanke, dass er jemanden Unschuldigen beschuldigte.
Ich weiß, dass Sie dem Religionsphilosophen Martin Buber begegnet sind und dass er Sie sehr inspiriert hat. Mich hat Martin Buber deswegen besonders beeindruckt, weil er sehr tief über den Menschen nachgedacht hat, über das dialogische Prinzip, die existenzielle Begegnung zwischen Menschen. Wann haben Sie ihn zum ersten Mal getroffen?