Inhaltsverzeichnis
Ein Wort vorab
Ein strahlendes Baby, das die Eltern anlacht, sobald es gestreichelt und liebkost wird, ein fröhliches Kleines, das zutraulich an der Hand der Eltern das Abenteuer Umwelt erobert, ein zärtlicher kleiner Schmuser auf Mamas Schoß, begeistertes Toben quer durch die Wohnung auf Papas Rücken, in ihre Phantasiewelt vertiefte Spielkameraden, stolzes Herumzeigen erster gelungener Schreibversuche – Bilder einer glücklichen Kindheit, Symbole einer vertrauensvollen Beziehung zwischen Eltern und Kind. Eine gelungene Bindung zwischen Kind und Eltern bildet nicht nur eine Basis, anfängliche kleinere Probleme gemeinsam gut meistern zu können, sie beeinflusst auch alle weiteren Phasen der Kindheit positiv. Selbst der schwierige Pubertierende verliert, trotz aller Protesthaltung, nicht das Vertrauen zu Mutter und Vater. Und auch der junge Erwachsene findet immer wieder den Weg zu ihnen und lässt sie an seinem Leben teilhaben. Bindung stärkt! – nicht nur während der Kindheit, sondern sie bietet Rückhalt weit über die Jugendzeit hinaus.
Hinter den glücklichen Momenten einer vertrauensvollen Eltern-Kind-Beziehung verbirgt sich natürlich auch eine andere, »harte« Realität: Schlaflose Nächte, weil die Kleinen über Tage hinweg untröstlich scheinen. Nervenzehrende Hilflosigkeit, weil dem Trotzkopf kaum beizukommen ist. Ungeduldiger Ärger, da der Rechtschreibfehler zum »hundertsten« Mal auftritt. Wut und Verzweiflung, wenn die Diskussionen mit dem vierzehnjährigen, ewig gelangweilten, verstockten Neinsager kein Ende zu nehmen scheinen. Ein gerütteltes Maß an Enttäuschung, wenn anscheinend wochenlang, auch an Geburtstagen, in der gesamten Umgebung kein einziges Telefon für einen kurzen Anruf aufzutreiben ist. Dennoch, durch alle Veränderungen und Krisen im Verlaufe eines Lebens – auch wenn sich allgemein die Bedeutung der Eltern für ein Kind ändert und auch ändern muss – ist die Beziehung eines Kindes zu seinen Eltern etwas Besonderes und den Lebensweg grundlegend Mitbestimmendes, selbst wenn sich diese Beziehung irgendwann als kritisch erweist.
Mit all unseren Bemühungen möchten wir unsere Kinder zu einer selbstbewussten, kompetenten, mit sich und ihrem Leben zufriedenen, eigenständigen und liebesfähigen Persönlichkeit führen, die in ihr soziales Umfeld eingebettet ist und deren Verbundenheit – wir müssen uns das eingestehen – mit dem Elternhaus über den gesamten Lebensweg hinweg bestehen bleiben soll. Eltern sind sich ihrer Verantwortung wohl bewusst, den gewichtigen Grundstein für einen gelungenen Lebensweg ihres Kindes zu legen. Es steht außer Frage, dass körperliches Wohlbefinden hierfür nicht ausreicht, sondern dass das »psychische Wohlbefinden« letztendlich über die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung entscheidet, und das heißt die gefühlsmäßige Zuwendung und Nähe, die einem Kind Sicherheit und Geborgenheit vermitteln.
Die Zuneigung, die ein Kind in den ersten Lebensjahren erfährt, bildet den Rahmen, in dem alle anderen späteren Beziehungen eingefügt werden. An ihm »arbeiten« Eltern mit ihrer Liebe und Fürsorge vom ersten Lebenstag ihres Kindes an – ja, eigentlich schon vorher. Und sie sind es, die seine Signale der Zuneigung beantworten und ihm somit die Welt der Gefühle erschließen.
In der Überzeugung, dass ein gelungener Anfang auch die beste Grundlage für einen weiterhin erfolgreichen Verlauf darstellt, wird sich dieses Buch vor allem auf das erste Lebensjahr konzentrieren, auch wenn es nicht beim zwölften Lebensmonat Halt machen wird. Dies bedeutet natürlich nicht, dass ausschließlich die Erfahrungen eines Kindes im ersten Jahr »prägend«, also alles entscheidend für das gesamte restliche Leben sein werden und somit alle weiteren Bemühungen nur noch ergänzenden Charakter haben. Es soll damit betont werden, wie eminent wichtig dieser Zeitraum ist – sowohl für die kindliche Entwicklung als auch für die Entstehung elterlicher Gefühle.
Jedes menschliche Wesen lernt vom ersten Tag seines Lebens an – genauer gesagt, bereits vorher. Und jedes menschliche Wesen kann lebenslang hinzu- und umlernen. Somit lassen sich auch im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, falls die erste Entwicklungszeit eines Kindes kritisch verlaufen ist, etwaige Mängel mit viel Liebe und Geduld ausgleichen. Pflege- und Adoptiveltern beispielsweise können durch ihr emotionales Potenzial anfängliche Vernachlässigungen auffangen, und Eltern können, sobald sie eine bedenkliche Entwicklung erkennen, an ihren »Schwächen« arbeiten, die ihr Kind ungünstig beeinflussen, und entsprechend gegensteuern.
Seien Sie also unbesorgt: Sie müssen keineswegs befürchten, dass Ihr Kind gleich einen Ballast für sein gesamtes Leben mitschleppt, wenn Sie hie und da einen Fehler machen. Wir müssen nicht perfekt sein – perfekte Eltern ohne Fehl und Tadel dürfte es wohl kaum geben und für ein Kind früher oder später wahrscheinlich ein Gräuel sein. Liebevolle, zugewandte Eltern, die ihr Kind als eigenständige kleine Persönlichkeit akzeptieren, »genügen« für den Anfang vollends.
Einführung
Was ist eigentlich eine gelungene Eltern-Kind-Beziehung?
»Bindung«, »Bonding« und »Attachment« -
Begriffe, die fast jeder kennt
Für eine gesunde Entwicklung ist ein Kind auf eine emotionale Beziehung zumindest einer Person angewiesen, die die Elternaufgabe übernimmt. »Bindung«, das wissenschaftliche Schlagwort hierfür, fand in diesem Zusammenhang schnell Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Doch nicht nur das Kind bindet sich an seine Eltern, auch die Eltern entwickeln eine emotionale Beziehung zu ihrem Kind. Im englischen Sprachgebrauch wird mit »attachment« die Seite des Kindes, mit »bonding« die Seite der Eltern bezeichnet. Im deutschen Sprachgebrauch wird hingegen mit dem Begriff »Eltern-Kind-Bindung« oder »Eltern-Kind-Beziehung« mehr die Zusammengehörigkeit der beiden Seiten der Gefühlsverbindung zwischen Eltern und Kind betont.
Ich möchte hervorheben, dass ich in diesem Buch das Wort »Eltern« im weitesten Sinne verwende. Es steht für die Personen, die ein Kind beständig betreuen, und gilt nicht unbedingt allein für die leiblichen Eltern. Ebenso steht der Begriff »Mutter« stellvertretend für die »Hauptbezugsperson«. Mütter sind allerdings vor allem im ersten Lebensjahr – manchmal aus rein biologischen Gründen aufgrund des Stillens – meist die primären Betreuungspersonen. Engagierte Väter mögen mir verzeihen, dass ich sie oft aus Gründen der flüssigeren Lesbarkeit nicht explizit anführe.
Sichere und unsichere Bindungsbeziehungen – die klassischen Bindungsbeobachtungen
Eltern vermitteln ihrem Kind das Gefühl der psychischen Sicherheit, das heißt, sie sind Quelle der Angstfreiheit und Geborgenheit. Im Säuglingsalter ist diese vor allem von der Präsenz der Eltern abhängig. Die weitere kindliche Entwicklung mit der Zunahme von kognitiven Fähigkeiten ermöglicht einem Kind Schritt für Schritt, sich der emotionalen Nähe und Verfügbarkeit der Bindungspersonen auch auf anderen Wegen sicher zu sein.
Durch ihre fürsorgliche Art und Weise, durch die Aufmerksamkeit, mit der Eltern auf seine Signale reagieren, erhält ein Baby bereits im Verlauf seiner ersten Lebensmonate Gewissheit darüber, dass seine Eltern es liebevoll umsorgen und seine Bedürfnisse erkennen, dass sie es annehmen und schützen. So erweisen sie sich als zuverlässige Bindungspartner. Werden Eltern zu einer sicheren Basis für ihr Kind, kann man dies bereits im Krabbelalter an seinem Verhalten ablesen: Sicher gebundene Kinder erobern nicht nur neugieriger und selbstständiger ihre Umwelt. Sie zeigen auch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen eigenständigem Spiel und Interesse bzw. Freude am Kontakt mit den Eltern. Sie sind im Allgemeinen ausgeglichen, weinen seltener und zeigen kaum ängstliches, ärgerliches oder aggressives Verhalten. Sie suchen bei Unbill die Nähe der Eltern und lassen sich trösten, ohne zu klammern, das heißt, sie lösen sich auch wieder, sobald Trauer und Schmerz überwunden sind. Sie wissen, wie sie sich Hilfe holen, und tun dies auch, sobald sie sich überfordert fühlen.
Eine gelungene Eltern-Kind-Beziehung lässt sich vielleicht am besten im Vergleich zu nicht sicher gebundenen Kindern anhand des Fremde-Situation-Tests (siehe auch S. 14) verdeutlichen, auch wenn das gleich zu Anfang in etwas »trockene« wissenschaftliche Bereiche führt. Bei diesen Beobachtungen werden etwa Einjährige mit sie immer stärker verunsichernden Situationen konfrontiert. In exakt festgelegten Beobachtungssituationen bleiben die Kinder eine Zeit lang teils mit einer fremden Person, teils völlig alleine in einer ihnen unbekannten Umgebung zurück. Je verunsicherter ein Kind ist, desto mehr benötigt es die beruhigende Nähe seiner Mutter, desto weniger zeigt es verständlicherweise auch Spiel- oder Erkundungsverhalten, selbst wenn das dargebotene Spielzeug noch so interessant ist. Man kann sich das als eine Wippe vorstellen: auf der einen Seite das Erkundungsverhalten, auf der anderen Seite das Bindungsbedürfnis. Je sicherer und unbeschwerter sich ein Kind fühlt, desto eher ist sein Erkundungsverhalten aktiviert. Je unsicherer es sich fühlt, desto mehr Bindungsverhalten zeigt es und umso weniger Erkundungsverhalten. Wird ein Kind mehr und mehr verunsichert oder geängstigt, kann es immer weniger spielen und wird verstärkt nach einem Rückhalt bei seiner Betreuungsperson suchen, die ihm sein Sicherheitsgefühl wiedergibt und ihm zeigt, dass es geschützt und alles in Ordnung ist.
Bei der Testanordnung erwartet man wahrscheinlich zunächst, dass die Reaktionen der Kinder während der Trennung von ihrer Mutter die interessantesten Informationen liefern. Wie die Kleinen mit den Trennungssituationen umgingen, erwies sich zwar als wichtig, besonders aufschlussreich für die Beurteilung der Bindungsqualität waren jedoch die Verhaltensweisen bei der Wiedervereinigung mit der Mutter.
Der Fremde-Situation-Test – eine Methode zur Beurteilung der Bindungsbeziehung
Mary Ainsworth entwickelte diesen Test, durch den die Bindungsqualität von etwa Ein- bis Eineinhalbjährigen an ihre Betreuungspersonen erfasst werden können – und zwar aufgrund eines standardisierten Ablaufs von Episoden des Zusammenseins mit der Mutter bzw. der Trennung von ihr in einer fremden Umgebung. Die im Testraum herumliegenden Spielsachen sind zwar interessant und regen auf der einen Seite zu Erkundungsverhalten an, auf der anderen Seite sind die Kinder durch die fremde Umgebung aber auch ein wenig beunruhigt. Sie benötigen daher eher eine Rückversicherung durch die Mutter, was sich an den öfters auftretenden, das Bindungsbedürfnis signalisierenden Verhaltensmustern gut erkennen lässt, wie häufigerer Blickkontakt mit der Mutter oder Wunsch nach direkter körperlicher Nähe. Da die Mutter bei diesem Test abseits von der Spielecke sitzt, sind die Verhaltensweisen des Kindes zur Kontaktaufnahme gut beobachtbar.
In acht Episoden, die jeweils drei Minuten dauern, wird das Kind unterschiedlich stark verunsichernden Situationen ausgesetzt – natürlich nur, wenn es nicht zu heftig reagiert: Mutter und Baby werden von einer Untersuchungsleiterin in den Beobachtungsraum gebracht (Episode 1). Zunächst also mit der Mutter allein muss das Kind sich entscheiden, ob es in der unbekannten Umgebung zur Mutter strebt oder die interessanten Spielsachen erkunden möchte (Episode 2). Drei Minuten später kommt eine fremde Person hinzu (Episode 3). Nach der festgesetzten Zeit verlässt die Mutter den Raum (Episode 4) und kehrt nach weiteren drei Minuten zurück, während gleichzeitig die fremde Person geht (Episode 5). Danach verlässt die Mutter ebenfalls den Raum wieder und das Baby bleibt alleine zurück (Episode 6). Nach drei Minuten kommt die fremde Person erneut herein (Episode 7). In der letzten Episode verlässt die Fremde den Raum, sobald die Mutter zurückkehrt (Episode 8).
Jede Episode verunsichert die Kinder immer stärker. Das heißt, ihr Bedürfnis nach Nähe zur Mutter nimmt zu, die Spielbereitschaft jedoch mehr und mehr ab, da sie immer ängstlicher werden, insbesondere wenn die Mutter gegangen ist und sie in der fremden Umgebung alleine bleiben. Auch nach der Rückkehr der Mutter sind die Kinder verständlicherweise noch stark beunruhigt und spielen nicht mehr so intensiv wie in der Ausgangssituation.
■ Die übliche Reaktion von Kindern mit einer sicheren Bindung: Zunächst erkunden die Kinder interessiert das Spielzeug, das in der Spielecke ausgebreitet ist, während sie hin und wieder Kontakt zur Mutter aufnehmen, die etwas abseits sitzt. Verlässt die Mutter den Raum, protestieren die Kleinen zwar, sie beginnen jedoch nicht unmittelbar zu weinen oder zu schreien. Sie rufen zunächst nach ihr, und da sie nicht zurückkehrt, verlieren sie nach und nach das Interesse an den Spielsachen. Sie beginnen, nach der Mutter zu suchen und oft auch zu weinen, wobei die Beruhigungsversuche einer fremden Person erfolglos bleiben. Sobald die Mutter zurückkehrt, wird sie freudestrahlend begrüßt. Die Kleinen suchen ihre körperliche Nähe und wollen von ihr getröstet werden. Nach einer Weile sind sie schließlich beruhigt und beginnen allmählich wieder zu spielen.
■ Die Reaktionen unsicher gebundener Kinder: Bei nicht sicher gebundenen Kindern sind verschiedene typische Verhaltensmuster beobachtbar:
Bei einer sogenannten unsicher-vermeidenden Bindungsbeziehung zeigen die Kleinen in der Beobachtungssituation zunächst ein anscheinend recht selbstständiges Verhalten. Die Mutter wird während des Spiels insgesamt wenig beachtet, selbst wenn sie den Raum verlässt, scheint es für die Kinder kein Problem zu sein. Sie spielen angeregt mit Fremden und beachten ihre Mutter bei der Rückkehr nicht besonders, suchen also auch keinen Körperkontakt zu ihr. Insgesamt scheinen die Kleinen allein gut zurechtzukommen und zeigen sich wenig beeindruckt von der ungewöhnlichen Situation. Dieses Verhalten lässt – allerdings nur auf den ersten Blick – einen hohen Grad an Selbstständigkeit vermuten (siehe auch S. 19 f.).
Bei einer unsicher-ambivalenten Bindung können die Mütter ihre Kinder nur sehr schwer beruhigen, sobald sie verunsichert werden. Die Kleinen haben in der fremden Umgebung starke Angst, den Kontakt mit ihrer Mutter zu verlieren. Sie beobachten die ganze Zeit über, was die Mutter macht. Bisweilen ist es der Mutter in der Testsituation nicht möglich, ihr Kind alleine zu lassen, da es sich anklammert und heftig weinend protestiert. Auf der anderen Seite wehrt es sich manchmal ärgerlich und wütend dagegen, in den Arm genommen und getröstet zu werden, wenn die Mutter es nach der Trennung beruhigen will.
Von einer desorganisierten Bindungsbeziehung spricht man, wenn verschiedenste widersprüchliche Verhaltensweisen zusammenfallen, die oft eine Kombination von Reaktionen aus den beiden anderen unsicheren Bindungsbeziehungen sind. So treten beispielsweise Vermeidungsreaktionen gleichzeitig mit starkem Trennungsprotest auf. Oder das Kind gebärdet sich ausgesprochen ärgerlich gegenüber der Mutter, obwohl es zuvor zufrieden alleine spielte. So vielschichtig die Ausdrucksweise bei dieser Bindungsdesorganisation ist, so vielschichtig sind die Hintergründe hierfür. Der desorganisierte Bindungstyp kann in Zusammenhang mit neurologischen Schädigungen des Kindes auftreten, aber auch mit Misshandlung und Vernachlässigung bzw. mit anderen traumatischen oder ungewöhnlichen und belastenden Ereignissen in Verbindung stehen. Deshalb ist diese Bindungsorganisation hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Sie näher zu erläutern, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Interessierte Leser können mehr in dem Buch von Grossmann/Grossmann Bindungen, das Gefüge psychischer Sicherheit nachlesen (siehe Anmerkungen/Literatur, S. 149).
Die Beschreibung der kindlichen Verhaltensweisen im Fremde-Situation-Test sollte Sie jetzt nicht dazu veranlassen, beunruhigt Ihre Kleine zu beobachten, die bei Besuchen kaum von Mamas Schoß klettert, oder den selbstbewussten Zwerg, der neugierig und unbeeindruckt die fremde Wohnung Ihrer Freunde inspiziert. Es gibt einfach kleine Schüchterne, die immer etwas gehemmter in fremder Umgebung sind und die nur »langsam auftauen«, das ist Temperamentssache. Und die ausgesprochen selbstbewusste Variante sollte Sie auch nicht gleich ängstigen: Sie haben nun mal ein extrovertiertes Kerlchen vor sich, das es vielleicht auch durch Ihr großes soziales Netz gewohnt ist, sich unbeeindruckt in fremder Umgebung zu bewegen. Diese Verhaltensweisen müssen keineswegs gleich eine unsichere Bindung signalisieren.
Auch während wissenschaftlicher Untersuchungen sind für eine seriöse Zuordnung der Kinder zu den verschiedenen Bindungstypen mehr als nur die Beobachtungen während der Fremde-Situation nötig, die hier nur grob und im Überblick beschrieben wurden. Alle Untersuchungen der gefilmten Tests gingen mit aufwändigen Verhaltensanalysen durch mehrere trainierte Personen und mit Beobachtungen auch im häuslichen Rahmen einher, um die Persönlichkeitseigenschaften der kleinen Probanden mit einbeziehen zu können.
Bereits im ersten Lebensjahr unterscheidet man verschiedene Temperamente
Schon mit wenigen Monaten unterscheiden sich Kinder in ihrem Temperament, das sich an typischen Reaktionen und Verhaltensstilen festmacht, zum Beispiel anhand der Heftigkeit ihrer Reaktionen, wie leicht sie sich an Veränderungen anpassen können, in welcher Stimmungslage sie vornehmlich sind: Im Babyalter unterscheidet man zwischen »pflegeleichtem«, »schwierigem« und »langsam auftauendem« Temperament.
Wie die Bezeichnung vermuten lässt, ist die Stimmungslage pflegeleichter Babys vorwiegend positiv. Der Tagesablauf ist für Eltern recht bald gut vorhersehbar, da sich relativ schnell zum Beispiel ein Schlaf- oder Stillrhythmus einstellt. Diese Kinder haben keine Probleme damit, sich auf andere Leute und neue Gegebenheiten einzustellen und können sich leicht und gut an veränderte Situationen anpassen. Etwa 40 % werden zu den pflegeleichten Babys gerechnet, während ungefähr 10 % ein schwieriges Temperament haben. Bei ihnen ist der Tagesablauf ziemlich unberechenbar. Sie reagieren eher mit Rückzug auf neue Menschen und Situationen und gewöhnen sich nur schwer an Veränderungen. Vor allem reagieren sie allgemein recht heftig und unwillig. Die langsam auftauenden Kinder hingegen wirken scheu und zurückhaltend und ziehen sich ebenfalls schnell bei unvertrauten Situationen zurück, an die sie sich auch nicht so schnell gewöhnen können. Sie reagieren aber nicht besonders heftig oder negativ. Zu diesen langsam auftauenden Babys zählt man etwa 15 % (die restlichen 35 % der Kinder können nicht eindeutig zugeordnet werden).
Was bedeuten die unterschiedlichen Bindungsqualitäten konkret für ein Kind?
Die oben ausgeführte Beschreibung der verschiedenen Verhaltensweisen zeigt Ihnen, dass bereits Einjährige verschiedene Strategien entwickelt haben, mit Belastungen umzugehen.
Eine unsicher-ambivalente Bindung, bei der ein Kind sich oft ängstlich an die Mutter anklammert, erlaubt den Kleinen in etwas ungewöhnlicheren Situationen kaum, ihre Umgebung zu erkunden, das heißt Erfahrungen zu sammeln. Sie sind viel zu sehr damit beschäftigt, die Mutter ängstlich zu beobachten, um ja nicht den Kontakt zu ihr zu verlieren. Dadurch werden sie in ihren Entfaltungsmöglichkeiten stark eingeschränkt, denn sie können die Angebote der Umgebung durch das andauernd erhöhte Bindungsbedürfnis nicht nutzen.
Auch wenn die unsicher-vermeidend gebundenen Kinder zunächst die Gegebenheiten des Fremde-Situation-Tests gut zu meistern scheinen (siehe S. 14), zeigt sich bei genauerem Hinsehen jedoch sehr wohl, dass auch sie – obwohl sie kein Bindungsverhalten signalisieren – durch das Weggehen der Mutter belastet sind. Die Art ihres Spiels deutet dies bereits an, es ist eher ein Beschäftigen denn ein wirkliches Erkunden. Ihre physiologischen Reaktionen zeigen noch eindeutiger ihre Belastung. Sie ist ablesbar an einem erhöhten Herzschlag und dem Ansteigen des Cortisolspiegels, der im Speichel messbar ist – eine Methode, mit deren Hilfe man den Grad der momentanen Stressbelastung zuverlässig erfassen kann. Nur bei unsicherer Bindungsbeziehung war die erhöhte Ausschüttung dieses Stressanzeigers feststellbar, auch noch lange Zeit nach dem verunsichernden Ereignis, nicht jedoch bei sicher gebundenen Kindern.
Unsicher-vermeidend gebundene Kinder sind weder so unbeeindruckt, noch sind sie reifer in ihrer Entwicklung, wie sie durch ihr »cooles« Verhalten nach außen zu signalisieren scheinen. Sie haben vielmehr aufgrund ihrer bisherigen Erfahrungen eine Strategie entwickelt, nach außen unbeeindruckt zu wirken, also nicht zu zeigen, wie stark sie eigentlich erregt sind und wie sehr sie in Wirklichkeit eine Beruhigung durch die Mutter benötigen. Ein Kind, das sich prinzipiell der Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit seiner Mutter nicht sicher ist, wird nicht nur schneller verunsichert sein als im Falle einer sicheren Bindung – ihm fehlt darüber hinaus auch eine geeignete Strategie, um sich wieder beruhigen zu können, da es die Nähe seiner Mutter meidet. Zusätzlich zeigt es seine Belastung nicht nach außen, sodass die Umwelt die Angespanntheit des Kindes kaum wahrnehmen und es unterstützen kann. Bereits als Einjährige lassen sich manche ihren Kummer umso weniger anmerken, je stärker sie emotional belastet sind.
Um es noch einmal hervorzuheben: Sicher gebundene Kinder drücken bei der Wiedervereinigung mit ihrer Mutter ihr Bedürfnis nach Nähe aus und können durch angemessene Verhaltensweisen ihren Kummer bewältigen. Unsicher-vermeidend und unsicher-ambivalent gebundene Kinder können jedoch nicht auf eine adäquate, ihren Bedürfnissen entsprechende Bewältigungsstrategie zurückgreifen. Ihre Belastung drückt sich daher bereits im Alter von einem Jahr in einer physischen Ausgleichsreaktion aus, feststellbar anhand den Stress anzeigenden erhöhten Cortisolwerten.
Sicher gebundene Kinder können sich in Belastungssituationen über die Nähe ihrer Eltern beruhigen und ihre Erregung schnell in den Griff bekommen. Unsicher gebundene Kinder konnten keine verlässliche Beziehung zu ihren Eltern aufbauen und sind durch den Mangel an emotionalem Rückhalt schnell zu verunsichern. Sie können so weniger die Angebote der Umwelt zur Exploration und somit zum Erfahrungserwerb nutzen. Die erhöhte Herzschlagfrequenz und die lange anhaltenden erhöhten Cortisolwerte zeigen, dass ihre Strategien zur Bewältigung von Belastungen wenig geeignet sind, selbst wenn sie nach außen unbeeindruckt scheinen.
Bindung stärkt
Ein Erfolgskonzept für die Zukunft
Sich an zumindest eine Person binden zu können, ist die Voraussetzung für eine normale Entwicklung eines Kindes. Waisenhäuser, in denen noch Mitte des letzten Jahrhunderts die Betreuerinnen (auch von Säuglingen) täglich, ja manchmal stündlich wechselten, gingen als trauriges Beispiel eines »natürlichen Experiments« in die Geschichte ein: Hygienisch und körperlich zwar gut versorgt, blieben die Babys dennoch bald weit hinter dem altersgemäßen Entwicklungsstand zurück, wurden apathisch und kränklich. Diese Beobachtungen regten René Spitz zu seinen grundlegenden Erkenntnissen zur Mutter-Kind-Bindung an. Unser Wissen um die Hintergründe der gefühlsmäßigen Verbindung zwischen Eltern und Kind entspringt einer jahrzehntelangen, engagierten Forschung und ist untrennbar verbunden mit Namen wie John Bowlby, Mary Ainsworth, den Grossmanns, den Papoušeks und vielen anderen.
Die klassischen Untersuchungen von »Uganda« und »Baltimore« führten zu einem standardisierten Verfahren zur Beurteilung der Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind, dem beschriebenen Fremde-Situation-Test. Die so genannten Babywatcher, die mit ihren neuen Methoden erstaunliche Leistungen aufzuspüren vermochten, brachten neuen Schwung in die Erforschung der kindlichen Entwicklung. Die Verhaltensbiologie untersuchte die Funktion und die stammesgeschichtlichen Hintergründe des Bindungsgeschehens. Klinische Untersuchungen belegten die »Wirksamkeit« körperlicher Nähe für die Entwicklung von Neu- und vor allem Frühgeborener – und dies sogar messbar in Gramm und Zentimeter.
Die umfangreichen Ergebnisse aus den verschiedenen Wissenschaftsrichtungen belegen heute den Einfluss der Eltern-Kind-Bindung bis in das Erwachsenenalter hinein.
1 Eine sichere Bindung -
nicht nur Schutzraum für die ersten Lebensjahre
Es sind also nicht die kleinen Anhänglichen, die kaum Mamas Schoß verlassen, und es sind auch nicht die »coolen« Kleinen, die anscheinend niemanden benötigen und frühzeitig so selbstständig wirken, die uns als Einjährige eine gute Bindungsbeziehung kundtun. Der gelungene Aufbau einer Bindung zeichnet sich durch ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Bedürfnis nach Nähe und Distanz bzw. Selbstständigkeitsstreben aus. Natürlich stets betrachtet vor dem Hintergrund der altersabhängigen Möglichkeiten.
Als Baby zunächst weitgehend auf die Anwesenheit einer seiner vertrauten Betreuungspersonen angewiesen, wächst mit der Mobilität des Kindes und mit seiner kognitiven Weiterentwicklung erst allmählich die Fähigkeit heran, sich der umsorgenden Eltern auch dann bewusst zu sein, wenn sie nicht direkt wahrnehmbar sind – wenn sie also nicht zu sehen, hören, riechen oder spüren sind. »Belohnen« uns schon die Kleinsten für unser anfängliches Umsorgen und unsere liebevolle Zuwendung durch ihre Ausgeglichenheit und ihr allgemein freundliches Wesen, ihr seltenes Weinen und ihre Zugänglichkeit, so kooperieren sicher gebundene Kinder zusätzlich schon mit einem Jahr mit uns Erwachsenen. Das heißt, sie sind schon früh bereit, auf unsere Anweisungen einzugehen, und sie beginnen bereits früh altersgemäß selbstständig zu agieren. Die anfängliche »Investition« Zuneigung und Zeit kann ein Kind bei einem gelungenen Aufbau der Bindungsbeziehung schon bald in Selbstvertrauen und Selbstständigkeit umsetzen.