Susan Cain
mit Gregory Mone und Erica Moroz
Still
und
Stark
Die Kraft introvertierter
Kinder und Jugendlicher
Illustrationen von Grant Snider
Aus dem Englischen von
Christa Trautner-Suder
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Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Quiet Power. The Secret Strengths of Introverts« bei Dial Books for Young Readers, an imprint of Penguin Random House LLC.
Deutsche Erstveröffentlichung Oktober 2017
Copyright © 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München,
unter Verwendung eines Motivs von plainpicture/Anja Weber-Decker
Copyright der Originalausgabe © Susan Cain 2016
Copyright der Illustrationen im Innenteil und auf den Umschlagseiten © Grant Snider
Susan Cain mit Gregory Mone und Erica Moroz
Lektorat: Doreen Fröhlich
DF · Herstellung: kw
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-20713-7
V002
www.goldmann-verlag.de
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Für Gonzo, Sam und Eli mit all meiner Liebe
S.C.
MANIFEST FÜR INTROVERTIERTE
Still und stark
Einleitung
»Warum bist du immer so still?«
Freunde, Lehrer, Bekannte, sogar Leute, die ich kaum kenne, haben mich das schon gefragt. Die meisten meinen es ja gut. Sie wollen wissen, ob bei mir alles in Ordnung ist oder ob es einen Grund dafür gibt, dass ich so zurückhaltend bin. Manche fragen dies in einer Art, die vermuten lässt, dass sie es etwas seltsam finden, dass ich eine Weile nichts gesagt habe.
Ich habe nicht immer eine eindeutige Antwort auf diese Frage. Manchmal bin ich still, weil ich mitten in einem Gedanken oder einer Beobachtung bin. Manchmal konzentriere ich mich stärker auf das Zuhören als auf das Reden. Oft jedoch bin ich still, weil ich einfach so bin. Still.
In der Schule schien es immer das größte Kompliment zu sein, das man bekommen konnte, wenn es hieß, man könne »aus sich herausgehen«. Meine Lehrer forderten mich im Unterricht häufig auf, ich solle mich öfter melden. Bei Tanzveranstaltungen in der Schule ging ich mit meinen Freundinnen auf die Tanzfläche, aber wenn es nach mir gegangen wäre, hätten wir nur bei einer von uns zu Hause gechillt. Während des Studiums besuchte ich laute Partys mit vielen Leuten, konnte jedoch nie das Gefühl abschütteln, es gefiele mir eigentlich besser, mit ein oder zwei Freunden irgendwo zu essen und ins Kino zu gehen. Ich habe mich aber nie darüber beklagt. Ich dachte, es würde von mir erwartet, diese Dinge zu tun, um als »normal« zu gelten.
Während all dieser Zeit hatte ich ein kleines, aber inniges Netzwerk enger Freunde und Kollegen aufgebaut. Ich habe mich nie darum gekümmert, ob jemand beliebt war oder nicht, daher waren einige meiner Freunde »cool« und andere überhaupt nicht. Dank meiner Vorliebe für vertraute Gespräche waren meine Freundschaften aufgebaut auf gegenseitigem Vertrauen, Freude daran, jeweils in Gesellschaft des anderen zu sein, und Zuneigung. Sie hatten wenig mit Cliquenbildung oder Wettstreit um besondere Beliebtheit zu tun. Die Leute fingen an, mich für meine einfühlsamen Fragen zu loben, für meine Fähigkeit, selbstständig zu denken, und für mein ruhiges Herangehen an angespannte Situationen. Sie machten mir Komplimente dafür, tiefsinnig nachzudenken und eine großartige Zuhörerin zu sein. Sie fingen auch an, mir zuzuhören. Sie stellten fest, dass, wenn ich etwas sagte, dies gut durchdacht war. Und als ich in die Arbeitswelt eintrat, boten mir die draufgängerischen unverblümten Typen, die mich früher eingeschüchtert hatten, Jobs an!
Mit der Zeit merkte ich, dass meine stille Art, ans Leben heranzugehen, die ganze Zeit über eine große Kraft gewesen war. Sie war ein Werkzeug, dessen Gebrauch ich nur erst hatte lernen müssen. Ich schaute mich um und sah, dass die Welt viele großartige Beiträge – vom Apple-Computer bis zu Der Kater mit Hut – von Introvertierten erhalten hatte, und zwar wegen, nicht trotz deren stillem Temperament. Ich sammelte meine Gedanken in einem Buch für Erwachsene und nannte es Still. Die Kraft der Introvertierten. Das Buch schaffte es auf die Bestsellerliste der New York Times, hielt sich dort jahrelang und wurde in vierzig Sprachen übersetzt. Viele tausend Menschen erzählten mir, einfach nur dieser eine Gedanke – dass ihr stilles Herangehen bei richtiger Nutzung eine starke Kraft darstellt – habe ihr Leben tatsächlich verändert. Das berührte sie auf eine Weise, die ich mir nie hätte vorstellen können.
Schon bald fing ich an, Dinge zu tun, die mir unmöglich erschienen waren, als ich jünger war. Als ich beispielsweise in der Middle School war, versetzte es mich in Angst und Schrecken, wenn ich vor anderen sprechen sollte. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen, wenn ich am nächsten Tag ein Buch vorstellen musste. Einmal war ich so eingeschüchtert, dass ich vor der Klasse wie gelähmt dastand und den Mund nicht aufbekam. Heute erscheine ich auf Bildschirmen in aller Welt als Fürsprecherin für introvertierte Menschen und halte Vorträge vor mehreren tausend Leuten. Ich habe Vorträge über Introvertiertheit gehalten, die mit vielen Millionen Aufrufen zu den am häufigsten gesehenen TED-Talks aller Zeiten wurden (TED steht für »Technology, Entertainment and Design« und ist der Name einer Organisation, die Konferenzen veranstaltet, bei denen die Leute wichtige Ideen teilen).
Von diesen Erfahrungen angeregt, wurde ich Mitbegründerin von Quiet Revolution, einem Unternehmen mit der klar definierten Mission, Introvertierte aller Altersstufen zu stärken. Ich möchte, dass wir Stillen das Gefühl haben, überall wir selbst sein zu können – in der Schule, bei der Arbeit und in der gesamten Gesellschaft. Quiet Revolution setzt sich für eine Veränderung ein und verschafft den Stimmen von uns Introvertierten mehr Gehör. Es ist eine inklusive Bewegung – jeder kann sich uns anschließen, egal wie still oder extrovertiert er ist. Ich ermuntere alle, sich unter Quietrev.com zu engagieren!
Ich werde häufig gefragt, ob ich mich in einen extrovertierten Menschen verwandelt habe, seit ich so ungezwungen in der Öffentlichkeit sprechen und Kommentare in den Medien abgeben kann. Ich habe mich jedoch über die Jahre hinweg nicht grundlegend verändert. Noch immer bin ich gelegentlich schüchtern. Und ich liebe mein stilles, nachdenkliches Selbst. Ich habe die Macht der Stille akzeptiert – und ihr könnt das auch.
Viele meiner Leser haben mir gesagt, sie wünschten, sie hätten schon als Kinder oder Jugendliche etwas über die Quiet Revolution gehört, oder als Eltern von introvertierten Kindern. Und ich habe auch von jungen Leuten gehört, dass sie sich eine Version von Still nur für sich wünschen.
So entstand dieses Buch.
Was ist überhaupt ein introvertierter Mensch?
Es gibt in der Psychologie einen Begriff für Menschen wie mich. Wir werden als Introvertierte bezeichnet – und es gibt nicht nur eine Definition, um uns zu beschreiben. Wir genießen die Gesellschaft anderer, haben aber auch gerne Zeit für uns alleine. Wir können sehr gute soziale Fähigkeiten haben, ziehen uns aber auch gerne zurück. Wir sind gute Beobachter. Wir hören lieber zu und reden weniger. Introvertiert zu sein bedeutet, ein Innenleben mit Tiefgang zu haben und dieses Innenleben auch wichtig zu nehmen.
Während ein Introvertierter jemand ist, der nach innen schaut, ist ein Extrovertierter genau das Gegenteil. Extrovertierte blühen in einer Gruppe auf und beziehen Energie aus dem Umgang mit anderen.
Auch wenn ihr selbst nicht introvertiert seid, gibt es vielleicht einige Introvertierte in eurer Familie oder eurem Freundeskreis.1 Introvertierte machen ein Drittel bis die Hälfte der Bevölkerung aus – das ist jeder Zweite oder Dritte von den Leuten, die ihr kennt. Manchmal sind wir leicht zu erkennen. Wir sind diejenigen, die es sich mit einem Buch oder einem iPad auf dem Schoß auf dem Sofa bequem machen, anstatt von Leuten umgeben zu sein. Auf Partys mit vielen Leuten könnt ihr uns vielleicht im Gespräch mit wenigen Freunden finden – aber sicher nicht auf dem Tisch tanzend. Im Unterricht schauen wir manchmal woandershin, wenn der Lehrer Freiwillige aufruft. Wir passen schon auf – wir würden nur lieber allem still folgen und uns erst melden, wenn wir bereit dazu sind.
Bei anderen Gelegenheiten sind wir Introvertierten ziemlich gut darin, unsere wahre Natur zu verbergen. Wir können in Klassenzimmern und in der Schulkantine unentdeckt bleiben und im Lärm überleben, während wir es tief in unserem Inneren kaum erwarten können, der Menge zu entkommen und Zeit für uns selbst zu haben. Seit mein erstes Buch erschienen ist, habe ich mich immer wieder darüber gewundert, wie viele scheinbar extrovertierte Menschen – Schauspieler, Politiker, Unternehmer und Sportler – mir »gebeichtet« haben, dass auch sie introvertiert sind.
Introvertiert zu sein bedeutet nicht notwendigerweise, schüchtern zu sein. Es ist wichtig, zwischen beidem zu unterscheiden. Introvertierte können natürlich schüchtern sein, aber es gibt auch schüchterne Extrovertierte. Schüchternes Verhalten kann wie Introvertiertheit wirken – es lässt die Menschen still und reserviert werden. Das Gefühl von Schüchternheit ist genau wie die Introvertiertheit kompliziert und vielschichtig. Es kann von Nervosität oder der Unsicherheit herrühren, ob die anderen einen auch akzeptieren. Es kann in der Angst begründet sein, etwas falsch zu machen. Im Unterricht meldet sich ein schüchterner Schüler nicht, weil er Sorge hat, eine falsche Antwort zu geben und sich zu blamieren. Das introvertierte Mädchen neben ihm wird sich vielleicht ebenfalls nicht melden, aber aus anderen Gründen. Sie empfindet vielleicht einfach nicht das Bedürfnis, etwas beizutragen. Oder sie ist zu sehr damit beschäftigt, zuzuhören und das Gehörte zu verarbeiten, um reden zu wollen. Schüchternheit hat genau wie Introvertiertheit Vorteile. Studien zeigen, dass schüchterne Kinder eher loyale Freundschaften haben und gewissenhaft, empathisch und kreativ sind. Beide, Schüchterne wie Introvertierte, können sehr gut zuhören. Und durch Zuhören werden wir häufig gut im Beobachten, Lernen und Reifen.
Dieses Buch beschäftigt sich mit beidem, mit Introvertiertheit und Schüchternheit – und mit den Vorteilen, die ihr daraus jeweils ziehen könnt. Ich bin zufälligerweise introvertiert und von Natur aus schüchtern (auch wenn ich mit der Zeit dahin gekommen bin, mich weniger schüchtern zu fühlen). Ihr seid vielleicht nur das eine oder das andere. Lest die Teile des Buches, die auf euch zutreffen, und macht euch um den Rest keine Gedanken.
Bist du introvertiert, extrovertiert oder ambivertiert?
Psychologie ist das Studium des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Psyche und ihrer Funktionen. Die Psyche jedes Menschen hat natürlich ihre individuellen Funktionskreise, aber jede folgt mehr oder weniger derselben Rahmenstruktur, und es gibt viele Überschneidungen zwischen uns. Carl Gustav Jung, ein berühmter Psychologe des 20. Jahrhunderts, führte die Begriffe »introvertiert« und »extrovertiert« zur Beschreibung verschiedener Persönlichkeitstypen ein.2 Jung war selbst introvertiert, und er war der Erste, der erklärte, dass Introvertierte von der inneren Welt der Gedanken und Gefühle angezogen werden, während sich ihre Gegenspieler, die Extrovertierten, nach der äußeren Welt der Menschen und Aktivitäten sehnen.
Natürlich sagte selbst Jung, kein Mensch sei komplett introvertiert oder komplett extrovertiert. Diese Persönlichkeitszüge bewegen sich auf einem so genannten Spektrum. Am besten wird ein Spektrum verständlich, wenn man sich ein langes Lineal vorstellt. Am einen Ende des Lineals befinden sich die extrem Extrovertierten und am anderen Ende die extrem Introvertierten. Es gibt Menschen, die ungefähr in der Mitte einzuordnen sind – Psychologen bezeichnen sie als »Ambivertierte« –, aber selbst die Menschen, die eher zu einer der beiden Seiten tendieren, weisen eine Mischung aus beidem auf. Viele Introvertierte erzählen, dass sie sich in Gesellschaft enger Freunde oder bei einem Gespräch über ein interessantes Thema eher wie Extrovertierte verhalten. Und so gerne Extrovertierte auch in Gesellschaft anderer sind, brauchen auch die meisten von ihnen manchmal etwas Zeit nur für sich.
Bevor wir weitergehen, habt ihr hier die Chance zu sehen, wo ihr auf dem Spektrum von introvertiert bis extrovertiert einzuordnen seid. Es gibt keine richtigen oder falschen Antworten. Entscheidet euch einfach für »trifft zu« oder »trifft nicht zu«, je nachdem, was am ehesten zu euch passt.
Dies ist ein formloser Fragebogen, kein wissenschaftlich validierter Persönlichkeitstest. Die Fragen wurden auf der Grundlage der häufig von heutigen Forschern akzeptierten Merkmale der Introversion formuliert.
Je öfter du mit »trifft zu« geantwortet hast, desto introvertierter bist du wahrscheinlich. Hast du mehrheitlich mit »trifft nicht zu« geantwortet, neigst du eher zur Extrovertiertheit. Und wenn du ungefähr gleich häufig mit »trifft zu« und mit »trifft nicht zu« geantwortet hast, bist du wahrscheinlich ambivertiert.
Egal in welche Richtung du neigst, es ist in Ordnung. Der Schlüssel zu einem angenehmen Leben ist, dass du deine eigenen Vorlieben kennst. Manche Menschen sind wirklich »geborene Introvertierte« oder »geborene Extrovertierte«, denn Persönlichkeitszüge wie Introvertiertheit und Extrovertiertheit können von einer Generation an die nächste vererbt werden. Unsere Gene entscheiden jedoch nicht alles. Selbst wenn ihr euch als das eine oder andere seht, sind eure Persönlichkeit und eure Haltung nicht in Stein gemeißelt, sondern ihr habt viel Raum, um sie mit der Zeit zu formen und zu entwickeln. Jemand, der mit einem äußerst schüchternen und ruhigen Temperament geboren wurde, wird wahrscheinlich nicht zu einem Menschen heranwachsen, der wie Taylor Swift vor riesigen Menschenmengen auftritt, aber die meisten von uns können sich bis zu einem gewissen Grad ausdehnen, ähnlich wie sich ein Gummiband (bis zu einem gewissen Punkt) sehr flexibel dehnen kann.
Wenn ihr erkennt, welche Situationen ihr gut meistern könnt und in welchen ihr euch daher wohlfühlt, kann euch dies ein Gefühl von Kontrolle vermitteln. Dann könnt ihr auf der Grundlage dessen, was für euch gut funktioniert, auswählen. Ihr könnt die Aktivitäten weiterführen, bei denen ihr euch wohlfühlt – und könnt eure Komfortzone zugunsten eines Projekts oder einer Person, die euch wichtig sind, verlassen. Ich kann gar nicht genug betonen, wie viel Kraft es verleiht, so zu leben – daher werden wir in diesem Buch immer wieder auf diesen Punkt zurückkommen. Bestätigung aus eurer Umgebung – online oder persönlich – verschafft ein gutes Gefühl, aber die wichtigste Bestätigung kommt von euch selbst.
Auch Extrovertierte sind großartig
Die Gesellschaft übersieht uns Introvertierte oft. Sie umschwärmt die Vielredner und die, die gerne im Rampenlicht stehen, als wären sie die Vorbilder, denen jeder nacheifern sollte. Ich bezeichne dies als das extrovertierte Ideal. Damit meine ich die Überzeugung, dass wir alle schnell denkende, charismatische und risikofreudige Menschen sein sollten, die das Handeln dem Nachdenken vorziehen. Das extrovertierte Ideal kann dafür verantwortlich sein, dass ihr euch fühlt, als sei etwas nicht in Ordnung mit euch, weil ihr in einer größeren Gruppe nicht in Bestform seid. Es kommt in der Schule besonders stark zum Tragen, wo die lautesten Kinder, die am meisten reden, oft am beliebtesten sind, und wo die Lehrer die Schüler belohnen, die sich im Unterricht eifrig melden.
Dieses Buch stellt das extrovertierte Ideal infrage – aber das bedeutet nicht, dass es die Extrovertierten selbst in Frage stellen würde. Judith, meine beste Freundin, ist ein geselliger Mensch und steht seit der Grundschule immer im Mittelpunkt der »Beliebten«. Mein geliebter Ehemann Ken ist ein charmanter Typ, der gerne die Regie übernimmt und in größerer Gesellschaft immer interessante Geschichten zum Besten geben kann. Ich liebe Judith und Ken zum Teil deswegen, weil wir unterschiedlich sind und uns gegenseitig ergänzen. Sie sehen in mir Stärken, die sie selbst nicht haben (oder nicht so häufig, wie sie sie gerne hätten), und ich fühle ihnen gegenüber ganz genauso.
Ich kann tatsächlich gar nicht genug das Yin und Yang der beiden Persönlichkeitstypen betonen. Gemeinsam sind wir so viel besser, als es die Summe unserer beiden Teile wäre. Mein Mann und ich beschreiben dies gerne mit einem mexikanischen Ausdruck: »juntos somos más«, das bedeutet »gemeinsam sind wir mehr«.
Sosehr ich die Extrovertierten liebe, möchte ich doch die Scheinwerfer darauf richten, wie es sich anfühlt, still zu sein – möchte zeigen, wie stark diese Stille sein kann. Es ist kein Zufall, dass so viele der bedeutendsten Künstler, Erfinder, Wissenschaftler, Sportler und Wirtschaftsbosse introvertiert waren. Mahatma Gandhi war als Kind schüchtern und fürchtete sich vor allem, besonders vor anderen Menschen.3 Nach der Schule rannte er nach Hause, um sich nicht mit seinen Klassenkameraden beschäftigen zu müssen. Aber er wuchs heran und führte sein Land Indien zur Freiheit, ohne seine Natur grundlegend zu verändern. Er kämpfte seinen Kampf durch friedliche, gewaltlose Proteste.
Der beispiellose US-amerikanische Basketballwerfer Kareem Abdul-Jabbar zeigte seinen berühmten Hakenwurf jeden Abend vor zehntausenden von Leuten, hatte aber weder an den Menschenmengen noch an der Aufmerksamkeit Freude. Er las gerne Geschichtsbücher und beschrieb sich selbst als Nerd, der zufällig gut Basketball spielt. Seine Ruhezeiten nutzte er auch zum Schreiben und veröffentlichte sowohl Romane als auch seine Memoiren.4
Und was ist mit Beyoncé? Ihr kennt diese Ikone vielleicht von ihren weltweiten Shows in ausverkauften Stadien oder durch ihre Musikvideos, die zusammen über eine Milliarde YouTube-Aufrufe haben. Aber obwohl Beyoncé bereits frühzeitig auftrat, beschreibt sie sich selbst als introvertiertes Kind. Heute begeistert ihr Selbstvertrauen Fans in aller Welt – das heißt jedoch nicht, dass sie ihre stille, beobachtende Art aufgegeben hätte. »Ich bin eine gute Zuhörerin und beobachte gerne, und manchmal glauben die Leute, ich sei schüchtern«, sagt sie.5
Die begabte Schauspielerin Emma Watson ist ebenfalls eine schüchterne Introvertierte. »Tatsächlich bin ich eine gesellschaftlich ungeschickte, introvertierte Person«, sagt Watson. »Auf einer großen Party … gibt es zu viele Reize für mich, weswegen ich mich immer irgendwann auf die Toilette zurückziehe! Ich brauche Auszeiten … Im Small Talk bin ich eine Niete … Wenn ich neue Leute kennenlerne, fühle ich mich unter Druck, weil ich mir ihrer Erwartungen bewusst bin. Das heißt jedoch nicht, dass ich in einer kleinen Gruppe und mit meinen Freunden nicht gerne tanze und auch extrovertiert sein kann. Ich bin nur eben in der Öffentlichkeit extrem befangen.«6
Misty Copeland wurde als »nicht standesgemäße Ballerina« bezeichnet. Wie die meisten Athleten fing sie früh zu trainieren an – aber nicht so früh wie die meisten Ballerinas, die oft bereits mit vier Jahren beginnen! Als schüchterne Dreizehnjährige dachte sie, ihr Vortanzen für das Drill-Team der Schule sei eine Pleite gewesen. Aber obgleich sie still war, blieb sie nicht unbemerkt. Ihre Stärke und ihr Talent waren nicht zu leugnen, und ihre Fähigkeit, zu beobachten und sich auf eine komplizierte Choreografie zu konzentrieren, war für jemanden ihres Alters einzigartig. Sie wurde an diesem Tag zur Spielführerin der aus sechzig Mädchen bestehenden Truppe ernannt, was sie schließlich zum Ballett führte. 2015 wurde sie die erste schwarze Primaballerina in der Geschichte des American Ballet Theatre.7
Ein weiterer gut bekannter Introvertierter ist Albert Einstein. Als Kind geriet er durch seine Vorliebe für selbstständiges Lernen gelegentlich in Schwierigkeiten. Mit sechzehn fiel er bei einer Aufnahmeprüfung für die Schule durch und zwar zum Teil, weil er sich nicht die Zeit genommen hatte, für alle Fächer zu lernen, sondern sich nur auf das konzentriert hatte, was ihn interessierte. Später lernte er es jedoch, intensive Phasen, in denen er alleine arbeitete, mit kleinen gesellschaftlichen Treffen zu kombinieren. Als Twen gründete er die Akademie Olympia, eine Art Club, wo er sich mit ein paar engen Freunden traf, um über die Gedanken zu diskutieren, für deren Entwicklung er so viele Stunden in der Einsamkeit zugebracht hatte. Als Einstein sechsundzwanzig Jahre alt war, schrieb er die Gesetze der Physik komplett neu. Mit zweiundvierzig Jahren erhielt er den Nobelpreis.8
Auf den folgenden Seiten werdet ihr einigen stillen Kindern begegnen, die sich in traditionell introvertierten Aktivitäten wie Schreiben und Kunst hervortun. Ihr werdet auch Introvertierten begegnen, die Klassensprecher, meisterhafte öffentliche Redner, Sportler, Schauspieler und Sänger geworden sind. Diese Rollen mögen für stille Kinder unpassend erscheinen – und in vielen Fällen waren die Kinder, mit denen ich euch bekanntmachen werde, anfangs auch sehr zögerlich, sie zu übernehmen. Aber sie motivierten sich selbst, aus Leidenschaft für ihre Arbeit. Diese zielstrebige Leidenschaft ist ein gemeinsames Merkmal vieler Introvertierter – ich hoffe, dass auch ihr im Lauf der Zeit (das muss nicht sofort sein) eure persönliche Leidenschaft erkennen werdet!
Anhand der Geschichten und Erfahrungen anderer junger Leute, die so sind wie ihr, werde ich Fragen stellen, über die Introvertierte sich häufig Gedanken machen. Wie könnt ihr als stille Menschen euren Platz im Leben finden? Wie könnt ihr sicherstellen, dass ihr nicht unbeachtet bleibt? Und wie könnt ihr neue Freunde gewinnen, wo es euch so schwer erscheint, mit Selbstvertrauen gesprächig zu sein?
Wir werden in diesem Buch über die Beziehungen sprechen, die Introvertierte mit den Menschen in ihrer Umgebung haben – mit Freunden, der Familie und den Lehrern. Wir werden darüber sprechen, wie wir unsere Interessen und Hobbys verfolgen. Und darüber, welche Beziehung wir zu uns selbst haben. Ich hoffe, dass ihr durch dieses Buch lernen werdet, euch so zu akzeptieren und zu schätzen, wie ihr seid. Die Welt braucht euch, und es gibt viele Möglichkeiten, wie ihr mit eurer stillen Art Bände sprechen könnt.
Betrachtet dieses Buch als Anleitung. Ich will euch nicht beibringen, euch in einen anderen Menschen zu verwandeln. Vielmehr möchte ich euch zeigen, wie ihr die wunderbaren Qualitäten und Fähigkeiten, die ihr bereits habt, am besten nutzt. Und dann heißt es … nimm dich in Acht, Welt!
Erster Teil
In der Schule