Uwe Johnson
Jahrestage
2
Aus dem Leben von
Gesine Cresspahl
Suhrkamp Verlag
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage
der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4452
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk
verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber
verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr.
Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung
nicht erkennbar.
Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
auf Grundlage der von Willy Fleckhaus gestalteten Originalausgabe
unter Verwendung eines Fotos von Renate von Mangoldt
www.suhrkamp.de
ISBN 978-3-518-73071-3
Dezember 1967 - April 1968
Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt, wo sie über einen Felsbuckel muß, chlorgrünes, laues, pralles Wasser in einem Fliesenkasten unter dem Hotel Marseille an der West End Avenue, Manhattan, Obere Westseite, New York, New York. Das Wasser ist laut, platzt und reißt unter den Sprüngen der Schwimmer, schwappt gegen die Wände, klackt in den Überläufen, wirft das Prasseln des eingeengten Echos wild hin und her. Auf die Zehenspitzen. Die Arme vor. Die Knöchel hoch. Den Kopf zwischen die Arme. Die Fußsohlen flach beieinander halten. Jetzt schlägt das Wasser gegen die Schädeldecke. Die rasche Fahrt unter dem Wasser, den Händen hinterher, geht durch halbblindes Zwielicht.
Die Kinder im flachen Teil des Beckens begrüßen schon den Kopf, der zwischen ihnen auftaucht. - Beautiful header, Gesine: sagen sie. Sie sagen aber: Dschi-sain, und womöglich meinen sie, daß sie einen Kopfsprung so nicht gelernt haben. A curious header, Mrs. Cresspahl.
Die Kinder von der West End Avenue, dem Riverside Drive halten den Mediterranean Swimming Club besetzt in dieser Zeit zwischen Ende der Arbeit und letzter Mahlzeit. Sie dulden unter sich die tapfer rudernden Greisinnen in ihren Blumenkappen, sie halten die jugendlichen Athleten im Auge, die mit Gewaltmärschen unter Wasser dem Verfall ihrer Körper vorbeugen wollen, und es ist leiser in der Ecke, in der eine einsame Ehefrau stillsteht, gewissenhaft und geniert mit einem Kriechling auf der Hüfte. Aber die Sprungbahn räumen die Kinder eher für ihresgleichen, die Erwachsenen lassen sie warten oben auf dem Brett, und Jungen wie David Williams machen sich einen Spaß daraus, unverhofft unter den verbissen strampelnden Muskelmännern hindurchzutauchen.
Sie haben den Kopfsprung anders gelernt. Der Ruck, den die vorschnellenden Arme durch den ganzen Körper bis in die Knöchel ziehen, er ist nicht zu sehen. Sieh dir diese Marie Cresspahl an, seit sechs Jahren erst im Lande, sie gleitet in einer einzigen unabgesetzten Bewegung vom Beckenrand ins Wasser, wie ein Fisch auf der Rückreise ins geheurere Element. Es ist, als ließe sie sich fallen; so ohne sichtbaren Abstoß springt sie. Marie übt mit ihren Freundinnen das Tauchen, mit Pamela Blumenroth, mit Rebecca Ferwalter; sie werfen aber nicht Geldstücke auf den Grund des Beckens, sondern die Schrankschlüssel, deren stumpfe Farbe sie tarnt. Ohne Schlüssel kämen sie aus dem Bad nicht mehr hinaus, in ihrem schadenfrohen Geschrei sitzt auch Ängstlichkeit, und wenn Marie aus dem Tiefen aufsteigt, die Hand mit dem geretteten Schlüssel steil voran, ist doch Erleichterung zu merken in ihrem kleinen, nassen, von Freude straffen Gesicht. Nachher, wenn sie sich die stramme Kappe vom Kopf zieht, wird sie inmitten ihrer langen winterblonden Haare älter aussehen als ihre zehneinhalb Jahre. Im weißen Rahmen der Kappe ist der unausgewachsene Bogen ihrer Augenhöhlen unter der gedrungenen Stirn ausgestellt wie allen Schutzes entblößt.
Oberhalb des lärmenden Wassers, in halber Höhe des blaukachligen Raums, läuft um zwei Wände ein Balkon, die Rückseite der Bar Marseille, wo die paarsitzigen Tischchen aufgestellt sind. So alt ist das Hotel. Den Kunden von 1895 genügte es noch, von oben, von ferne hinabzusehen auf die Badenden, die knapp Bekleideten; in einem Bau von heute würden die Trinker die Hocker an den Rand des Beckens wünschen, oder daneben, hinter eine durchsichtige Panoramawand. Dennoch kommt Mr. McIntyre dort oben kaum je zum Stillstand vor seinen neunundneunzig Flaschen Feuerwassers; in diesem Viertel wohnen genug Leute, die sich gern verabreden inmitten der rothölzernen Wände, die jeden Tag ein bißchen wohnen auf dem blankgesessenen Leder und den massigen Wulst der altersglänzenden Mahagonitheke mit ihren Ellenbogen putzen. Dort oben hat vor sechs Jahren eine Gesine Cresspahl zu lange gesessen und an irischen Redensarten einen falschen Eingang in das hiesige Leben gesucht, oft in der Nachbarschaft von Mr. Blumenroth, der damals nicht aussah wie ein Vater von Pamela. Immer noch haben die Juden die Obere Westseite nicht ganz aufgegeben, Juden sind hier erwünscht; aber in sechs Jahren noch nie hat sich an der zierlich durchbrochenen Brüstung der Kopf eines dunkelhäutigen Bürgers gezeigt, und wie es oben nicht die Preise Mr. McIntyres sind, die Neger von einem Besuch des Marseille abhalten, so machen es unten nicht allein die sechzig Dollar Jahresgebühr, daß die Weißen im Wasser unter sich bleiben.
An diesem Abend sind es zwei Gäste des Hotels, die am südlichen Rand des Beckens hin und her ziehen, stur in immer der selben Bahn, zwei junge Fremde, die in einer fast beleidigten Art stoppen vor den alten Damen, die lieber die kürzere Querstrecke schwimmen, und sie schlucken Wasser und Wut auf die Kinder, die dicht vor ihrer Nase sich ins Tiefe versenken. Vielleicht sind es Deutsche, technische Lehrlinge auf Ausbildung in der new yorker Stammfirma, denn sie sprechen deutsch, obwohl nicht nur Gesine Cresspahl sondern auch die jüdischen Schwimmer ihre etwas ratlosen Bemerkungen und Zurufe zur Not verstehen. Sie ahnen nicht, wo sie sind; sie sprechen unbefangen, laut. Es ist ihnen nicht sauber genug hier. Zu Hause haben sie eine neugebaute Schwimmhalle. Ihnen sehen viele Badegäste aus, als müßten sie in europäischen Ländern nicht auffallen. Und endlich kommt Marie an, in glatten weichen Stößen unter Wasser, und berichtet siegesgewiß: Sie reden über dich! Du hättest die richtige Größe! Dein Busen säße zu tief! Du hättest vielleicht noch kein Kind geboren, aber auf die Nasenspitze müßte dich Keiner noch drücken! Dein Haar, deine Wangenknochen, danach solltest du aus Polen stammen! From a Slavian country! sagt sie. Denn das Deutsche sprechen Cresspahls nur noch unter sich, darauf besteht diese Marie, der die grau und grünen Augen ganz fürsorglich geworden sind von dem Glauben, sie habe ihrer Mutter ein Lob angebracht, etwas Verträgliches.
Und wenn ihr Kinder in die Welt setzt, nich mit dein’n Knochn, Cresspahl! Neemtlich, wenn das ein’ Diern wird, soll sie die Beine von Lisbeth haben!
Das Becken des Mediterranean Swimming Club, zwanzig Meter lang, achtbahnig, ist vielleicht geräumiger als das der »Mili« in Jerichow, in dem Gesine Cresspahl schwimmen gelernt hat, das Kind das ich war. Erinnerung baut an: sagen die, die noch einmal zurückgegangen sind. Dahin zurück darf ich nicht. Das ist weit von hier. Das ist mehr als 4500 Meilen entfernt, und mehr, noch nach acht Stunden Flug muß man dahin gehen, bis man in die Nacht gerät, und kommt nicht an. Das ist mehr als 6000 Kilometer. Das ist wendische Gegend, Mecklenburg, an einer anderen Küste. Dort habe ich gelebt, für zwanzig Jahre. Denn sittst vilicht, verraden un verköfft, in son’n amerikanschen Wald …
An der »Mili« von Jerichow Nord stellte mein Vater vor dreißig Jahren Regenschuppen auf, Heinrich Cresspahl, Jahrgang 1888, von den deutschen Kriegen weggegangen in die Niederlande, nach England, und doch mit meiner Mutter zurückgekehrt nach Mecklenburg, damit ich in Deutschland zur Welt käme, wenige Jahre vor dem nächsten Krieg. So elend war meine Mutter damals schon, Lisbeth, geborene Papenbrock. Der Flugplatz auf der hohen Ostseeküste bei Jerichow, den mein Vater mit Holzarbeiten bauen half, war für einen modernen Krieg, und so wurde ein mickriger Grabenfluß auf seinem Weg zum Meer angehalten und umgeleitet und mußte das Wasser der Militärbadeanstalt erneuern. Den Namen »Mili« bekam die Anlage von der Schuljugend, erst nach dem Krieg, als die sowjetische Besatzungsmacht den Komplex Jerichow Nord sprengte und schleifen ließ und das Schwimmbecken vergaß. 1953 waren Cresspahls Regenschuppen längst durch Jerichows Öfen gegangen, nur in verrotteten Stümpfen übriggeblieben. Es war Februar, das Becken abgelassen, von Schneetreiben säuberlich weiß ausgelegt am Boden. Jakob kam mir ohne Zögern nach unten nachgeklettert. Wir sind in dem Becken auf und ab gegangen, bis alle Bahnen ausgefüllt waren mit den Spuren unserer Füße. Von Jakobs Gesicht an diesem Tage bekomme ich kein Bild; ich müßte es denn erfinden. Wir waren unsichtbar, geschützt von den Wänden des Erdlochs, versteckt unter dem wirbelnden Himmel, in der sausenden Stille. Und er konnte mir nur für sich sagen, wie das Leben ist in der Fremde, nicht für mich.
Die Regierung hat der Luftwaffe in Viet Nam nun die Sperrzone an der chinesischen Grenze zum Durchfliegen freigegeben. Vierzehn amerikanische Wissenschaftler versprechen der Nation, ein den Kommunisten überlassener Sieg werde nur zu größeren, aufwendigeren Kriegen führen und nicht zu dauerndem Frieden.
Das ist Mrs. Cresspahl, die vorn auf dem federnden Brett wartet, bis die Sprungbahn frei wird. Wohnt hier um die Ecke, Riverside Drive und 96. Straße. Vierunddreißig Jahre alt. Die hält ihren Hals steif, die zieht einen Bauch ein. Nicht mehr lange, und sie wird ihre Schuhe nicht nach der Eleganz kaufen, eher nach der Gesundheit. Wenn sie sich zum Sprung versammelt, werden ihr die Augen schmal, die Lippen hart. Der harte Schlag des Wassers gegen den Kopf läßt für einen Augenblick Betäubung zu, Blindheit, Abwesenheit; nicht lange.
– Quite a header, Dschi-sain!
Im Senatsausschuß für Auswärtige Beziehungen zweifeln einige Mitglieder, ob Regierung und Generalstab 1964 die Wahrheit sagten mit der Behauptung, am 4. August seien die Zerstörer Maddox und Turner Joy von Schiffen aus Nord-Viet Nam angegriffen worden. Nach Mr. John W. White aus Cheshire, Connecticut, der damals ganz in der Nähe am Unterwasserorter des Tenders Pine Island saß und die Funksprüche der Zerstörer abhörte, waren die unsicher, ob sie nun beschossen wurden oder nicht. Da wurden ankommende Torpedos signalisiert, aber es kamen keine Torpedos an. Zeigte das Radar tatsächlich eine Herde anrückender kleiner Boote? Ist Flakfeuer nachzuweisen, wurden Leuchtraketen gesichtet. Waren von Flugzeugen in der Nacht so geringfügige Kielwasser auszumachen? Das alles galt damals als wahr und reichte aus für eine Ermächtigung des Präsidenten, mit dem fremden Krieg Ernst zu machen.
– Ein Präsident kann nicht lügen: sagt Marie: Es käme doch heraus!
Sie steht an der Schrankküche im Eingang unserer Wohnung, in einer zu großen Schürze, ein Handtuch über dem Arm, wendet das Fleisch in der Pfanne, wischt sich mit verkantetem Unterarm ihr heißgewordenes Haar aus der Schläfe wie schon ihre Großmutter und deren Mutter, dennoch nicht wie ein Kind, das als Hausfrau aushilft, sondern als ein Mitglied des Haushalts, das seinen Teil daran versteht und übernimmt. So fotografiert, würde sie in zehn Jahren sich ausdeuten als ein Kind, das in glücklichen Umständen aufwuchs, in einer Zeit des Friedens. Sie hat sich Zeit genommen, mit halb eingezogener Unterlippe, verengerten Augen, und als sie sprach, wollte sie wohl der Mutter Aufmerksamkeit erweisen, der Erwachsenen jedoch ihre unnötigen Bedenken vorhalten. Ihr fehlt zu dem Krieg, daß sie ihn sieht.
Sie kann den Krieg in Viet Nam nicht sehen. Zu genau hat sie von mir gehört, wie ein Krieg sich von außen anläßt. Von ihrer Schule her weiß sie keine Familie, der die Regierung einen gefüllten Sarg geschickt hat. Sie kennt die Ruinen zwischen den Avenuen Amsterdam und Columbus, aber sie werden nicht von den Bomben jenes Feindes sondern von den Abbruchkugeln der hiesigen Grundstückspekulanten geschlagen. Die kleinen Geschäfte am Broadway sterben nicht am Kriegstod der Erben, sondern an den Dollars der Miete und der Mafia. Die Regierung zieht die Autos nicht ein, und die Tankstellen machen Zugaben für die Abnahme von Benzin. Marie muß nicht daran denken, in der Nähe eines Polizisten die Stimme zu senken. Sie könnte sich nicht vorstellen, daß Mr. Weiszand morgen früh um sechs Uhr von vier Beamten in Zivil geweckt und in ein Gefängnis geholt würde, nur weil er an der Columbia-Universität Demonstrationen gegen den fernen Krieg anstiftet und anführt. Sie weiß von Eisenbahnen, von Schiffen, von Flugzeugen, daß sie für die Reise Geld braucht, nicht eine Passiergenehmigung von einer Behörde. Ich könnte ihr kaum Ware nennen, die in New York nicht zum Verkauf stünde. Dazu braucht es keinen Krieg, daß unser Telefon abgehört würde. Da müßte schon die Armee den Riverside Park vor unserem Haus besetzen und die Durchgänge zur Promenade am Hudson mit Granatwerfern absperren, um Marie halbwegs zu überzeugen. Womöglich hält sie im Grunde für nicht transportable Sachen, was ich ihr aus Deutschland erzählen kann. So mag man in Europa einen Krieg führen, nicht hier; sie ist aber hier, und damit genug beschäftigt.
Marie ist gegen Kriege, weil dabei Personen verletzt werden können. Und sie kann nicht geradenwegs gegen meine Auskünfte angehen; sie will nicht einmal mich kränken. Sie ist hingegangen und hat in einer Schulstunde mit einer Lehrerin Streit angefangen über die Gerechtigkeit der Kampfhandlungen in Südostasien; sie hat vorher ihre Freundinnen ausgeholt, Marcia, Pamela, Deborah, Angela, weniger um Solidarität auf Vorrat zu legen, als Freundschaft nicht zu riskieren. Gegenüber Marcias Eltern, Mr. & Mrs. Linus L. Carpenter, brächte sie nicht einmal das Thema über die Lippen; die Carpenters geben Geld für Bürgerrechtler, wünschen dunkelhäutigen Bürgern überall anständige Wohnungen außer an der eigenen Adresse und halten die Angelegenheit Viet Nam für ausgeleiert, ein Gespräch darüber mittlerweile für taktlos, wenn nicht geradezu unschicklich. Mr. Carpenter III, Georgetown, Harvard, Oberst der Reserve bei einem Hubschrauberbataillon, Carpenter von Allen, Burns, Elman & Carpenter, er hat Marie erklärt, in einem demokratischen Staatswesen sei für einen Jeden seine Stelle zu verwalten, und die Sache des Krieges gehöre zur Stelle des Präsidenten. Als Marie das vorsichtig, zu Testzwecken, zu Hause vorbrachte, kam obendrein heraus, daß sie die Plakette GEHT RAUS AUS VIET NAM nur so lange angesteckt trug, wie die Mode in ihrer Klasse sich hielt. Sie ist so unaufrichtig, wie ich sie erzogen habe.
Mit meinen Ausrüstungen kann sie gegen das Land nicht besser bestehen als ich. Es ist ein Land, in dem Präsident Johnson die vorweihnachtliche Sentimentalität mit einer Fernsehansprache für seine Politik hier wie draußen für sich ausnützen darf und von einer Kennedy-McCarthy-Bewegung reden, und die New York Times spricht nicht unzufrieden von einem »tödlichen Bindestrich«, der den Senator Kennedy in größere Nähe zu den Antikriegs-Vereinigungen bringe, als ihm wahrscheinlich lieb sei. Marie hat Johnsons würdevoll verschlagenen Auftritt gestern abend bei den Carpenters angesehen und kam zurück voll Empörung, daß der Präsident ihren Senator darstellte als einen ungebührlich ehrgeizigen Menschen, der nichts wolle als ihm seinen Job abjagen. Es fiel ihr nicht auf, daß Kennedy mit Friedensabsichten denunziert werden sollte. Sie lebt hier seit sechs Jahren. Sie möchte nirgends leben als hier. Sie möchte nicht leben in einem Land, dem sie mißtraut. Diesem vertraut sie.
Ihre Höflichkeit jedoch ist fast nicht erschöpflich. Noch beim Tischdecken und Auftragen war sie am Überlegen, und noch vor dem ersten Bissen sagte sie: Du meinst, wenn eine Präsidentenlüge herauskommt, ist es für uns zu spät und für ihn spät genug?
Sie kann so ein vernünftelndes Gehabe zeigen. Das Kinn auf die zusammengelegten Hände gestützt, den Kopf freundlich schräg, so sah sie mich an. Sie hatte mir bewiesen, daß sie ihrer Mutter aufs Wort zuhört. Sie hatte mir zu der einen Antwort noch eine andere zugegeben, und sie war über keine im mindesten erschrocken.
Was haben wir für eine Zeitung in dieser Stadt! Die New York Times meldet von den Astronomen, daß die Sonne heute in der nördlichen Hemisphäre die kürzeste Zeit über dem Horizont sein wird und der Winter 17 Minuten nach acht Uhr morgens begann.
Und sie meldet, daß im August 1964 im Golf von Tonkin tatsächlich vier Mitglieder der Besatzung der Turner Joy 300 Fuß von Backbord die Spur eines Torpedos aus Nord-Viet Nam im Wasser sichteten; daß aber die Regierung den Entwurf zur vollen Kriegsermächtigung längst vor August 1964 fertig hatte.
Und Marie sagt in etwas schnippischen, fliegenden Tönen: So kann ich nicht leben, wie du es von mir verlangst! Ich soll nicht lügen, weil du nicht Lügen magst! Du wärst längst ohne Arbeit, und ich aus der Schule, wenn wir nicht lögen wie drei amerikanische Präsidenten hintereinander! Du hast deinen Krieg nicht aufgehalten, nun soll ich es für dich tun! Als du ein Kind warst, rund um dich haben sie ihren Krieg hochgezogen, und du hast nichts gemerkt!
– Man hat mir nichts gesagt, Marie.
– Und doch war es zu sehen! Apologies are in order, Mrs. Cresspahl.
– Hör auf zu weinen, Marie.
– Sag: Versógelicke; wie ich als Kind.
– Versógelicke, Marie.
Mein Krieg war gut versteckt. Sogar der Name der Stadt Jerichow war entlegen in Deutschland. Die Badegäste, die sie im Auto auf dem Weg zum Seebad Rande passierten, was sahen sie? Vierhundert Meter grober Pflastersteine, die die Wagen zu holprigen Knicksen brachten. Scheunen. Höfe. Die rote Ostfront der Ziegelei mit ihren zwei echten und fünfzehn vorgetäuschten Fenstern. Kühle Grabsteine im Schatten. Eine niedrig umbaute Straße, dörflich schmal, zweistöckige Häuser, vorn ältlich verputzt, seitlich Fachwerkbalken. Darüber ein Ungetüm von einer Kirche mit Bischofsmütze, bis zum Ansatz der Schildgiebel von Baumkronen umwölkt. Viele Läden mit Auslagen, die einst Wohnzimmerfenster gewesen waren. Karstadts bunkerähnlicher Kasten, ein Landkaufhaus. Oder sie kamen mit dem Bus vom Bahnhof und begannen mit dem Marktplatz mit seinen fast herrschaftlichen Gebäuden. Papenbrocks Haus wie der Lübecker Hof unbescheidener als das Rathaus. Pferdefuhrwerke auf dem Weg zur Stadtwaage. Kaum einheimische Autos. Ferienstille. Wo die Erwartung der Fremden den eigentlichen Beginn der Stadt ansiedelte, rutschten sie auf die kahle Chaussee zur Ostsee. Zur Linken, weitab, waren Rohbauklumpen zu erkennen, warum nicht noch eine Landarbeitersiedlung, wie es doch auf den Schildern stand, »Neue Scholle Nord«. Wo eine sonderbar großzügige Betonbahn abging, fiel die Straße ab, und hinter den dick umbuschten Hotels von Rande lag die sonnenstreifige See ausgebreitet. Was da im Westen vergessen zurückblieb, war der Militärflugplatz Jerichow Nord. 1936.
Aber der Flugplatz hatte in Jerichow nicht seinen Namen. Seit mehr als einem Jahr arbeiteten und verdienten Handwerk und Handel der Stadt daran, und doch hieß die Anlage »Mariengabe«, nach dem Dorf, das dabei draufgegangen war. Die Gegend war immer Zollgrenzbezirk gewesen, nun fiel der Sperrbezirk nicht auf. Badegäste, von ihren verjährten Reiseführern auf ergiebige Spazierwege hingewiesen, wurden in gehörigem Abstand von der Baustelle durch Wehrmachtstreifen gestellt und verwarnt. Der Adel hatte seinen Stammtisch im Lübecker Hof gehalten; dort wurde über die Olympischen Spiele in Kiel gesprochen, zur Not über die Dürre des Jahres 1934, schon weniger gern über den Vierjahresplan. Denn Friedrich Jansen, Bürgermeister und Ortsgruppenleiter der Staatspartei, hatte einen eigenen Stammtisch gegründet, an den Fenstern auf die Ausspannung, und ließ sich zumeist von ausländischen Besuchern über lange Abende bringen. Oft waren das Herren von der Geheimen Staatspolizei zu Hamburg, in einer schwarzen Uniform, und manche hatten tatsächlich einen schweren Ledermantel an den Haken zu hängen. Die Arbeiter in »Mariengabe« hatten im September 1936 einen halben Tag lang die Arbeit verweigert, es war auch die Rede von kommunistischen Flugschriften. Herr von Maltzahn hatte eins in seinen Wäldern gefunden und es Friedrich Jansen eilfertig in die Hand gedrückt, »ungelesen«. Nun sprach von Maltzahn nicht von einem Flugplatz, sondern von »unserer Rache für Versailles«. Herr von Lüsewitz war für seinen Besitzanteil von Mariengabe zu seiner Zufriedenheit entschädigt worden und erwähnte seither gern sein »Opfer«. Friedrich Jansen gebrauchte schlicht das Wort von der »nordischen List« und kannte offensichtlich ein »weinsaufendes adliges Gesocks«. In Peter Wulffs Krug ging man dem Flugplatz aus dem Weg mit Ausdrücken wie »dicker Hund« und »blaues Wunder«, aber nicht, wenn Ortsfremde trinken gekommen waren, und mochten sie jenseits der Hörweite sitzen, und mochte ihr Plattdeutsch noch so passend klingen. Hauptlehrer Stoffregen kam auch vom Flugplatz lieber gleich auf die Juden und das Attentat auf den schweizerischen Landesgruppenleiter Gustloff, das ihm »entlarvend« erschien. Von Oberlehrer Kliefoth galt es als sicher, daß er nicht umsonst aus Berlin in eine Gegend geschlichen war, in der die Nazis die Macht schon ein halbes Jahr länger genossen hatten als anderswo und ihm eher verzeihen würden, aber was? und von Kliefoth wurde erzählt, er habe im Zug nach Gneez ein Gespräch von Mitreisenden über »Bauarbeiten« unterbrochen mit der Bemerkung: Ich warne Sie. Angeblich hatte er diesen seinen Einfall nicht erklärt. Fuhrunternehmer Swenson hatte an seiner Omnibuslinie vom Bahnhof nach Jerichow Nord so »mäßig« verdient, daß er sich nun den zweiten Lastwagen hatte zulegen können, und Swenson bezeichnete seinen Anteil am Bau des Flugplatzes als »Verantwortung«. Pastor Brüshaver versuchte offenen Schabernack und besprach die Sache als »Reichsauftrag Volkssport«, nach den Schildern, die am westlichen Ende des Baugebietes aufgestellt waren; und Pastor Brüshavers Sohn flog in Spanien gegen die Truppen der legalen Regierung und würde sich womöglich als Lohn die Kommandantur eines Flugfeldes verdienen, es mußte ja nur noch fertig werden. Und mein Vater hatte die Sägen vom frühen Morgen bis in den Abend gehen in seiner Werkstatt und versuchte beim Mittagessen den Lärm mit Kopfschütteln aus den Ohren zu kriegen und hatte ein Bankkonto in Rostock und eins in Lübeck und nahm auch beim Postscheckamt Hamburg Zahlungen entgegen für die Arbeit von acht Angestellten und war gehorsam in die Deutsche Arbeitsfront eingetreten und gab Heine Klaproth getreu nach dem Gesetz frei für den Dienst in der Hitlerjugend und hatte zwanzig Ohren am Mittagstisch, meine eingeschlossen, und sprach von Mariengabe.
Er finde den Namen angemessen. Wo Einer gebe, sei Einer nicht gegen das Nehmen. Wasser sei härter als Stein, und was aus großer Höhe in die Ostsee stürze, nähme er dann nicht mehr geschenkt. Er habe auch in England Flugzeuge gesehen. Lisbeth sei sogar in einem englischen Flugzeug in der Luft gewesen. Das könne sie doch nicht abstreiten. Jerichow sei ja bisher nicht berühmt, außer für Friedrich Jansen, und das werde sich gewißlich ändern mit den Bomben, die die Engländer hier doch zuerst abladen würden. Das sei ja fast eine Verabredung mit den Engländern.
Heinrich du rædst uns dot! Heinrich, das Kind! Heinrich Cresspahl!
Mein Vater sprach nicht von Bomben, sondern von »Schiet avlådn«, und was immer er vor sich hin sprach wie jeweils unerwartete Einfälle, geruhsam, nahezu behaglich, alles fand nicht den geraden Weg zu Friedrich Jansen und seinem feinledernen Notizbuch, sondern ging erst einmal in das nächste Haus und über die Höfe und in die Gärten und auf die Felder, und erst wenn Jerichow versorgt war, kam Friedrich Jansen an die Reihe. Der Parteigenosse Jansen lieferte das wortwörtlich ab bei der Gestapo in Gneez. Das war ein fehlerhaftes Verfahren. Denn er bekam auf seine Bürgermeisterei ein streng amtliches Schreiben von einem hamburger Luftwaffenamt, mit Hoheitszeichen und Siegel, das ihm von seinen Quengeleien abriet. Mit der Einschließung seines eigenen Namens habe er verraten, daß er da private Brötchen backe, und die deutsche Luftwaffe sehe sich nicht in der Lage, ihm die Butter daraufzustreichen. Im übrigen sei es erwiesen, daß Wasser ein fallendes Flugzeug härter abfange als Land, und schließlich dürfe sich nicht einmal eine im politischen Leben stehende Person im Range eines Kreisleiters erdreisten, der Luftwaffenführung eine Unterschätzung des potentiellen Gegners zu unterstellen. Was nun das Grundsätzliche betreffe, so herrsche in den betroffenen Kreisen der Luftwaffe eine Überzeugung vor, wonach so mancher Handwerker mehr und wirksamere Arbeit für den Ausbau der deutschen Luftverteidigung leiste als Beschäftigte in den Reihen von Verwaltung und Partei. Heil Hitler! Und Friedrich Jansen saß da und mußte stillhalten, wenn ihm nun auch noch dargestellt wurde, wie dieser Cresspahl den Kopf schüttle bei seinen Reden. Als ob er Wasser in den Ohren hätte. Und wenn doch immer Einer sich für eine Weile an Friedrich Jansens Stammtisch setzte, so um ihn mit Cresspahls Anregungen munter zu halten, und zum anderen, weil es doch ärgerlich war, daß dieser Cresspahl so selbstverständlich vom Kriege sprach, als könne es nicht doch ohne einen abgehen. Was der Mann da tat, es hatte ja geradezu etwas Spaßverderberisches. Hatte es doch.
– Mariengabe: sagt Marie, ärgerlich versonnen. - Ich hoffe, die Engländer haben dort ordentlich abgeladen. ’t would suit me fine.
– Versógelicke, Marie.
Was haben wir für eine Zeitung in dieser Stadt! Sogar uns kennt sie als ihre Kunden und ermahnt die Ausländer vorsorglich, der Bundesregierung im Januar die Adresse zu melden.
Und Marie macht sich noch am späten Nachmittag auf den Weg, die Formulare für die Registrierung von unserem Postamt in der 105. Straße zu holen. Daß wir aus dem Lande gewiesen würden, was wäre denn das!
Lieber Herr Dr. Kliefoth,
ich bedanke mich für die freundliche Erkundigung nach meinem Kind und stelle es Ihnen ein wenig vor. Diese Marie ist zehneinhalb Jahre alt und reckt sich zu vier Fuß elf Zoll. Unter Altersgenossen gilt sie als groß. Neuere Fotos von ihr habe ich nicht; auf älteren wollte sie in der Regel ein Bild von sich machen. Sie versteht sich also als jemand, der die Leute hinter den Kameras auf eine neugierige, gleichzeitig fürsorgliche Weise betrachtet. Ein Paßbeamter würde ihre Kopfform als länglich/oval notieren, aber so lang wie ein Ei ist sie nicht, und wirklich hat sie im Profil etwas Kugelköpfiges. Mit dem Winter werden ihre Haare nahezu sandfarben, insbesondere die Brauen. Die Augen grau und grün, nach dem Licht. Klar. Lange gespreizte Wimpern, nicht von mir. Ich sehe in ihrem Gesicht den Vater (den Sie ja nicht kannten); meine Freunde sehen darin mich. Wohl finde ich Mecklenburgisches, Ironie in Schiefhalsigkeit, durch Kopfsenken verkanteten Blick, steinerne Versteckmiene, überhaupt das Anschlägige, das Schabernacksche. Das alles nun in ausländischer Sprache. Es ist das Amerikanisch des Mittelstands, diszipliniert durch eine Traditionsschule, vorsichtig gegen Slang. Was sie dann aber spricht, damit lebt sie. Oft muß ich, mit meinem Dolmetscherdiplom, nachschlagen. Serendipity. Gegenwärtig hat sie es mit den umständlichen Redensarten: I scorn the action, wenn es um ungenehme Arbeiten geht. Neuerdings ist eine Art Entschuldigung: I stand corrected, und das mit dem Akzent der Upper West Side von New York, für den Sie so leicht keine Zensur fänden.
Deutsch spricht sie, als hätte sie Schmerzen im Hals. Wahrscheinlich mußte sie die mitgebrachte Sprache opfern, um bequemer anwachsen zu können in der Straße, der Schule, der Stadt. Düsseldorf, Berlin, Jerichow, für sie ist es Geographie. Germany. An Ferien in Dänemark erinnert sie sich besser. Sie jetzt in die deutsche Sprache zurückbringen, es wäre ein größeres Unglück für sie als der Umzug ins Amerikanische war. Ihr wäre es lieber, wir hätten einen richtigen Paß, einen hiesigen.
Über Weihnachten in New York werde ich Ihnen Auskünfte nicht so vollständig geben können, wie Sie sie benötigen. Die optische Belästigung beginnt ungerechtfertigt früh, bis zu vier Wochen vorher. Der Kommerz schlägt als erster zu, nicht nur mit der gezielten Dekoration. Die Kaufhäuser hämmern dem Kunden auch noch akustisch ein, aus welchem Grunde er diesmal sein Geld hergeben soll; Weihnachtsmusik und Unsere garantiert aus Paris importierte Unterwäsche. Auf den Straßen kriecht die Heilsarmee aus den Nestern; Posaune und Klingelglöckchen. Schließlich stellt noch die schäbigste Bar einen elektrifizierten Winzling von Weihnachtsbaum zwischen die Flaschen. Die Reichen an der Park Avenue, die sommers ihren Mittelstreifen mit Blumen bepflanzen und aus »außerhalb der Stadt liegenden Quellen« bewässern, stellen sich dann große, stark beleuchtete Tannenbäume hin, aber nicht ganz bis zur 96. Straße, wo die Gegend der Armen, der Neger beginnt. Tannenbäume liegen auch bei uns auf dem Broadway, nachts mit Kükendraht zu dicken Mieten verschnürt, tagsüber frei aufgestellt, jeder Baum mit eigenem Ständer. Sieht aus wie Luxusware. Das wird für die europäischen Immigranten feilgehalten, die der ersten Generation. Die der zweiten haben die Stechpalmenzweige schon adoptiert. Da bei uns Marie über die Dekoration verfügt, haben wir Stechpalme. Holly. Für wichtig genommen werden noch die Festpostkarten, die der Empfänger auf dem Kamin aufstellen kann zum Zeichen, bei wie vielen Postkunden er beliebt ist und wie viele darunter mit aufwendiger Ausführung von Druck und Grafik von einer wohlhabenden Lebensführung künden können. Wir haben keinen Kamin. Auch die »Bescherung« am 24. abends hat Marie bald auf den amerikanischen Termin verlegt, in ihrer Geringschätzung für europäische Sitten. Dazu braucht man einen Strumpf, der an den Kamin zu hängen ist. Den Strumpf hätten wir zwar. Es ist sodann die Aufgabe eines Individuums namens Saint Nicholas, alias Santa Claus, alias Santa, den Strumpf in der Nacht mit Geschenken aufzufüllen. Sie würden ihn schon erkennen, diesen dispenser of gifts:
He has a broad face and a little round belly,
That shakes when he laughs like a bowlful of jelly.
Für Marie muß das so abgewickelt werden, weil sie es für eine vorgeschriebene Zeremonie hält. In einem mehr technischen Sinne hätte sie wohl Lust, mit ihren jüdischen Freundinnen Chanukah zu feiern. Nun weiß ich nicht, wie das deutsch geschrieben wird. Sie hat sich ausführlich unterrichten lassen, daß dies Fest gefeiert wird vom 25. Tag des Monats Kislev bis zum 2. Adar, und zwar zum Andenken an die neue Weihung des Tempels durch die Makkabäer nach ihrem Sieg über die Syrer unter Antiochus dem Vierten. Dies ist auch dem geneigten Hausfreund gewißlich bekannt. Maries Fest ist am Dienstagmorgen unwiderruflich zu Ende, einen Tag früher als bei Ihnen, aber das ihrer Freundinnen Pamela und Rebecca hat am Dienstagabend erst seinen Anfang, und an jedem seiner acht Tage bekommen die Kinder etwas geschenkt! Vielleicht ist Ihnen weiterhin bekannt, daß Chanukah mit dem Anzünden der Menorah eröffnet wird, des neunarmigen Kerzenhalters. Aber wir mögen mit jüdischen Nachbarn befreundet sein, wir mögen als Ausnahme von den Deutschen der Zwölf Jahre gelten, wir bleiben die Gois für sie, und Marie wird nicht dabei sein dürfen, wenn Mr. Ferwalter seine Menorah ansteckt. Übrigens werfen die Juden den so genannten Christen die weihnachtliche Betriebsamkeit vor, wofür die sich schadlos halten mit der Annahme, Chanukah sei womöglich noch empfindungsseliger.
Womöglich können Sie noch vermerken, welchen Status Christi Geburt in der Geschäftswelt innehat. Zwar hängen in der Bank, in der ich arbeite, an der Wand zwischen den Fahrstühlen ungeheure aus Tannenzweigen gewundene Kränze, mit kostbaren roten Schleifen, diskret und eben nicht billig, woraus den Kunden wie den Gästen das Selbstverständnis des Unternehmens ersichtlich sein soll, nicht nur das finanzielle. Aber wenn morgen nicht ein Sonntag wäre, sondern ein gewöhnlicher, müßte ich zur Arbeit.
Mehr habe ich nicht gesehen. Mehr ist mir nicht erzählt worden.
Heute nachmittag sind wir auf der Fünften Avenue in eine Demonstration gegen die Kriegshandlungen in Viet Nam geraten, nachmittags nicht in Ihrem Verständnis, es war noch nicht eins, aber schon nach zwölf. Sätze von solcher Art sind wohl in allen Ihren Englischklassen zitiert worden als echte Kliefoths. Wußten Sie das? In die Demonstration teilten sich etwa dreihundert Demonstranten und gewiß nicht weniger Polizisten. Wir wollten zu Dunhill am Rockefeller Center, um Ihnen Ihren Morgentabak zu erstehen, und die Polizisten standen arg Wache an der Mall, der Promenade des Rockefeller Center, weil es doch privates Eigentum ist. Die Polizisten waren bemüht, sich gelassen zu geben, und wollten die Demonstranten mit bullhorns, wie heißen die deutsch, auf dem Bürgersteig halten, als läge ihnen nichts am Herzen als die Regelung des Verkehrs, und die Demonstranten hatten ihre Flüstertüten vergessen. Erst als mir einer dreimal ein Wort ins Ohr geblasen hatte, erfaßte ich es. LOVE wollte der, LIEBE. Sie nannten sich Santas Helfer, und waren nicht bürgerlich gekleidet, halb hatten sie sich in der Boutique und halb im Armeeladen eingedeckt. Obendrein trugen sie die Haare lang, und das staatsloyale Publikum, beladen mit den Paketen der letzten Stunde, stark vergrätzt durch die hohen Ausgaben und eben auch schon verschwitzt, dies Publikum brüllte Sachen von Badewanne und Hygiene. Dies war etwas, das Marie empörte. Sie hat es so gelernt, daß jedermann seine Meinung soll öffentlich vortragen dürfen; nun kamen Leute an, die wollten anderen Kleidung und Haartracht vorschreiben.
Der Anführer der Demonstranten war ein junger Mann mit einer großen Wolke blonden Haares auf dem Kopf, der trug eine Fahne der U. S. A. und dazu ein Schild, auf dem in den gleichen Farben das Wort KILL geschrieben stand. Den sah ich zuletzt, als er mit seinen Freunden in das Warenhaus Saks einzubrechen versuchte, Santas freundliche Helfer. Und die Heilsarmee dudelte unerschrocken, und immer noch warteten Kerle in roten Kapuzenmänteln und Kunststoffbärten, sich mit Kindern fotografieren zu lassen. Dann wurden wir endgültig zur Madison Avenue hin abgedrängt. Die Beamten waren nicht offen wütend, nur gereizt von der langdauernden Anstrengung, sich unerregt zu zeigen; sie nannten mich sehr wohl noch Lady; jedoch tadelten sie mich, weil ich mit einem Kind durch ihre Veranstaltung mit Santas Helfern gewandert war, sie schickten mich ziemlich streng »nach Hause«. Nun war Marie zum zweiten Mal empört. Denn sie mag sich noch in manchen Momenten als Kind fühlen; dies war keiner von denen gewesen. In ihrer Wut vergaß sie sich und nannte den Polizisten, zwar leise: a pig. Ein Schwein. Das war mir nicht geläufig gewesen. Dann entschuldigte sie sich für die unbedachte Wortwahl.
Verzeihen Sie, wenn ich Sie um eine Gefälligkeit bitte, nämlich auf dem Kirchhof nachzusehen, ob Creutzens meine drei Gräber abgedeckt haben. Es ist nicht, daß ich die Sitte der Grabpflege verteidigen will. Es ist nur, Erich Creutz mag wohl etwas tun wollen für mein Geld, aber Emmy Creutz hat schon versucht, ihn davon abzuhalten, und ich gönne ihr nicht die Befriedigung, daß sie zwar den alten Cresspahl nicht hat hereinlegen können, dafür seine Tochter um so mehr.
Lieber Herr Kliefoth, ein Neues Jahr, Ihr zweiundachtzigstes, und ein otium cum dignitate wünscht Ihnen Ihre sehr ergebene G. C.
Gleich unter der Datumszeile auf der ersten Seite bringt die New York Times zwei Bilder, wie benachbart, wie verwandt: wie Präsident Johnson gestern amerikanischen Soldaten im Stützpunkt Camranh-Bucht in Süd-Viet Nam Orden anpinnt: links. Wie Präsident Johnson gestern an der Redegebärde des Papstes vorbeiblickt, das Gesicht in joviale Lächelfalten gehängt: rechts. Weil Weihnachten ist?
Als Zitat des Tages bringt sie seinen Ausspruch: »Wir sind jederzeit bereit, das Wort und das Votum mit dem Messer und der Granate zu vertauschen, um Viet Nam einen ehrenhaften Frieden zu bringen.«
Weil Weihnachten ist?
Zu Weihnachten 1936 war meine Mutter noch nicht tot. Noch Weihnachten 1937 war Lisbeth Cresspahl am Leben.
Uns’ Lisbeth. »Fröln Papenbrock«, das hatten die Jerichower ihr ins Gesicht gesagt wie später »Fru Cresspahl«, untereinander jedoch sprachen sie von »Lisbeth«, mochten die doch in Lübeck das anders halten mit dem Respekt für den Namen. Respekt för’t Hus, das war so eine rostocksche Geschichte, nichts für Jerichow. Da war uns’ Lisbeth bekannt, seit der alte Papenbrock (»Albert«) 1922 Sommerferien mit Familie in Jerichow verbracht hatte. Nicht in den herrschaftlichen Hotels am Strand von Rande, im Lübecker Hof in Jerichow, selten mit Badeausflügen, öfter mit ferienähnlichen Kutschfahrten auf die Rittergüter des Winkels, eher feldmesserhaften Gängen durch die Stadt und geradezu beiläufigem Vorsprechen in dem gediegenen Bau am Markt, den die von Lassewitz als Stadthaus unterhielten, nachdem sie Ländereien nicht eben übrig hatten. Papenbrock galt da für Einen, der um Jerichow Ersatz suchte für die Gutspacht, die er in Vietsen an der Müritz aufgegeben hatte, und auch sein Aufenthalt mit Frau und Sohn und zwei Töchtern würde jene zweite Zeile nicht in die mecklenburgischen Reiseführer bringen, deren Lehrer Stoffregen die Petrikirche und Pächter Lindemann seine Ausspannung für wert hielt. Deswegen konnte man die sonderbaren Gäste doch ansehen, mochte so ein Papenbrock sich auch geben als zu gut für den Blick der Katze. Offizier gewesen. Na, Hauptmann. Ståtsch. Manchmal fiel ihm der Bauch aus der in Schwerin geschneiderten Frontkurve; dafür waren es ja Ferien. Das war bekannt, wie der die Augen auf Engsicht stellte und im Mundwinkel die Zähne versetzte, das taten jetzt viele, mochte der auch mehr Mark zum Dollar hinlaufen sehen. Albert. Seine Louise saß stattlich wie er in der Kutsche, aber es war etwas Ängstliches, Jammerndes in dem Ton, mit dem sie die beiden Mädchen ihr gegenüber unter einer Fuchtel zu halten versuchte, die ihr nicht verliehen war. Der Sœhner, Horst, war meist mucksch, weil er auf dem Bock neben dem Kutscher zu sitzen hatte, so widerwillig artig; das wurde wohl kein Papenbrock wie der alte. Hilde, die älteste von den Mädchen, war ein wenig von oben herab, wenn sie bei Tisch etwas nachforderte oder Einheimischen eine Antwort nicht verweigern durfte; die hielt den Namen Papenbrock offensichtlich für großartig. Lisbeth ging und saß zwischen denen gelassen herum, maulte nicht über die kräftigen Familienmärsche, nickte jerichower Kindern zu und war überdies ihres Vaters liebstes Kind und brauchte ihm doch nicht um den Bart zu gehen. Vielleicht, weil sie von allen dreien am besten reiten konnte, ausdauernd und ohne Angst über die Koppelzäune. Zu der Zeit war sie ja noch nicht einmal großjährig gewesen, sechzehn Jahre. Wardt wi woll Lisbeth seggn, und damals auch noch ins Gesicht.
Das war nun alles auf Vorrat gemerkt, und doch kam die Familie Papenbrock im Sommer 1923 nicht wieder. Es ging jemand weg aus Jerichow. Im Frühjahr packten die Lassewitzens zusammen, wie gewöhnlich zur Zeit ihrer Reise nach Kann Es oder wie immer die Franzosen das aussprechen, und wenn diesmal sogar die ansehnlicheren Möbel in Schwerin auf Lager genommen wurden, so wollten sie am Ende das Haus gerichtet haben. Das Haus hatte Pflege nötig. Der Seewind hatte von den Stuckgirlanden über der Doppelreihe Frontfenster reichlich Blumenwerk abgefressen, im Dachboden sollten die Katzen mit den Mäusen nicht mehr zurechtkommen, und von den Parketts hieß es, das sei ein Gehen wie auf der gefrorenen Ostsee. Es wurden Instandsetzungen ausgeschrieben, Umbauten sogar, wenn auch nicht von der Familie, sondern von Dr. Avenarius Kollmorgen, der vordem deren Anwalt nicht gewesen war. Es täuschte, daß Dr. Kollmorgen (»Avenarius«) ein wenig klein gewachsen war, fragen ließ der sich nicht, der schob die Lippen vor und schwenkte Rätselblicke hin und her und verschenkte solche Sprüche wie den von der Zeit, die eher komme als der Rat. Der machte wohl die Inflation mit. Deswegen ließ er sich doch bitten und zahlte voraus nicht mit der galoppsüchtigen Mark sondern mit Anweisungen auf Öl, auf finnisches Holz, auf Dünger, abzuholen in den Häfen von Wismar oder Lübeck. Hier war einer, der wollte die Arbeit rasch getan haben, und nicht schludrig. Avenarius hatte über Jerichows Handwerk nicht zu klagen, außer über Tischler Zoll, in einem Fall. Im Dezember 1923 kamen die Lassewitzschen Möbel aus Schwerin zurück, aber nicht ein Lager schickte die, sondern ein Restaurator. Zwei Tage später, der Palast der Lassewitz stand da wie ein verwunschenes Prachthotel so leer, kamen die Bewohner, die Familie Papenbrock im Auto, die Dienerschaft auf der Eisenbahn und der Haushalt in einem Möbelwagen aus Waren an der Müritz. Licht in allen Fenstern bis in die späte Nacht. Das fing ja gut an. Albert hatte ja wohl aus der angehaltenen Inflation ganze Schwärme von Rentenmark in seine Tasche gezogen. Aber was er nicht mit Rentenmark bezahlt hatte, waren die Grundstücke, deren Eintragungen im Grundbuchamt nun öfter zu sehen begehrt wurden durch Bürger von Jerichow auf Grund ihrer Bürgerrechte: das war nicht nur das Lassewitzsche Haus. Das waren noch zwanzig Meter mehr von der südlichen Bahnhofstraße, der anschließende Garten und Haus mit Geschäft von E. P. F. Prange, dem die Düngemittelhandlung eingegangen war. Das waren auf der anderen Seite des Hauses, an der Stadtstraße, die Schwenn’sche Bäckerei mit dem ganzen Hintergrundstück, und eine Scheune, die ganz vergessen war, und die Scheune hatte dieser Papenbrock sich umbauen lassen zu Stall und Speicher. Insgesamt war es mehr als das Doppelte vom Erwarteten. Aber es fing gar nicht großartig an. Papenbrock hatte sogar das Wappen derer von Lassewitz im Giebel belassen, aus Bescheidenheit: sagten die einen; die anderen: da gebe es noch so ein anderes Wort. Aber wer die für herrschaftlich gehaltene Louise Papenbrock kennen lernen wollte, der konnte das zu allen geltenden Ladenöffnungszeiten in der Schwenn’schen Bäckerei haben; die mochte ihr gehören, sie stand da doch hinter dem Ladentisch und schnitt die Dreipfundbrote vor der Brust so säuberlich in Hälften, das wurde beim Wiegen nicht anders. Die konnte ja arbeiten! Und der Sœhner, der Bengel, der Horst wurde von seinem Vater auf dem Speicherhof gescheucht und hatte die Pferde zu besorgen, als solle er Kutscher werden. Die Düngemittel konnte der Adel nach wie vor im Geschäft von E. P. F. Prange erwerben, obwohl doch Prange bei seinen Söhnen im Lauenburgischen untergekrochen war; erst nach und nach sprach sich herum, daß unter dem Prangeschen Namen auf den Rechnungen nun noch der eines Besitzers eingedruckt war. Um 1928 reichte das schon für die Hochzeit der ältesten Tochter, zu der auch schon die von Maltzahns angefahren kamen; obwohl Hildes Mann nicht von Adel war und nicht ein Doktor der Rechte, die er noch studierte, jener Alexander Paepcke. 1928 war es weiterhin kein Geheimnis mehr, daß die Deutsche Reichsbahn die Wagen für Weizen und Zuckerrüben nicht mehr auf Anforderungen von Händlern aus Lübeck oder Bremen zum jerichower Bahnhof rollte, sondern auf Rechnung von Albert Papenbrock, Hauptmann a. D. oder am Ende doch Major a. D., wie sollte ein Verstand es sonst fassen? Das mußte schon vor 1928 gewesen sein! denn 1926 hatte die Bahn doch schon ein Gleis zu Papenbrocks Speicher gelegt, damit er seine Einkäufe nicht immer gleich sondern mit Überlegung verhandeln konnte. Offenbar hatte Albert einmal mit Lagerhaltung besseres Geld gemacht als ihm anzusehen war. Und nichts von herrschaftlichem Wesen! Das Personenauto hatte er an Knoop in Gneez abgestoßen, er fuhr die Familie im Lieferwagen der Bäckerei spazieren, außerdem nicht zu oft. Das konnte man unbedenklich weitersagen, daß Papenbrock sich auf das freundlichste anstellte, wenn Einer Geld von ihm leihen wollte. Es war ja nicht Papenbrock selbst, der zum Termin ankam, wenn die Zinsen zum dritten Mal nicht da waren, es kam die Landesbank. Für das Verhalten der Bank konnte Papenbrock nichts. Und seit menschlichem Gedenken einem Schnaps nicht abgeneigt, im Kontor nicht und nicht im Försterkrug, wo die Bänke weder bezogen noch abgewischt waren. Eins, ja.
Für die Mädchen war ihm Jerichow nicht gut genug, nicht einmal Gneez. Hilde hatte er auf eine Töchterschule nach Lübeck gegeben. Lisbeth hatte Wissenschaften und obendrein den Haushalt in Rostock lernen müssen. Lisbeth kam erst im Juni 1928 wieder für dauernd nach Hause, noch keine 22 Jahre alt, und besorgte Hildes Hochzeit und die Einladungen, zu denen das Haus Papenbrock nun mehr Lust hatte als früher. Und war nicht die Lisbeth, die in Jerichow bekannt war.
Rik Lüd ehr Döchter un armen Lüd ehr Kalwer kamen ball an den Mann, und Lisbeth sollte nach Lübeck heiraten, und wollte warten. Papenbrock ließ sie warten. Wie wird Papenbrock seiner Lieblingstochter etwas zum Unguten tun?
Und gibt sie einem Tischler aus Malchow am See und läßt sie mitgehen nach Richmond in England, 1931, damit sie rauskommt aus den schlechten Zeiten. Holt sie zurück, damit sie ihre Gesine in Jerichow auf die Welt bringt, und hält den Mann fest mit einer Tischlerei im Lande, 1933, als er den Zeitläuften traute. Und sieht drei Jahre lang zu, wie seine Tochter in einer Stadt mit ihm lebt wie krank, und kann das aushalten?
Die sieht nicht aus wie 30; wer das nicht weiß, gibt fünf Jahre zu.
Fromm ist sie immer gewesen; aber wenn jetzt die Kinder aus ihrer Christenlehre zurückkommen, die bringen ein Gewissen mit, das kann Einer gar nicht brauchen am täglichen Tag.
Papenbrock redet mit dem Mann, aber er redet im guten mit Cresspahl, nicht als ob er ihn für schuld hält. Der hält den lieber als die eigenen Söhne.
Ihr ist immer alles so anzusehen gewesen. Heut magst sie gar nicht ansehen.
Verkniffen. Vertückscht. Nein, vertückscht nicht; als ob sie eingesperrt wäre. Und war ein Mädchen, wenn die vor dem Spiegel gebetet hat, wußte sie warum. Ihre großen Augen jetzt, daran erkennst sie noch. Am Blick nicht; sieht dich an, als wärst nicht da, als träumte sie was Ängstliches.
Und Papenbrock steht mit ihr vor der Kirche nach dem Weihnachtsgottesdienst und will ihr was sagen und kann nicht und sackt so zusammen in einem Seufzen und geht krumm ab, als wüßte er nun nicht mehr.
Wie kann Papenbrock einmal nicht mehr weiter wissen?
Kann das sein, daß Papenbrock ein Mal uns’ Lisbeth zu etwas Falschem gebracht hat?
Weihnachten. Immer noch ein Tag zum Feiern, und nicht einmal die New York Times verläßt sich auf mehr Aufmerksamkeit als für bloße 44 Seiten.
Am ersten Weihnachtenfeiertag 1936 wurde Lisbeth Cresspahl aus dem Haus geholt und ins Kreiskrankenhaus abgefahren. Für Cresspahl ging es so unverhofft, es kam ihm erst mittags planmäßig vor.