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Hilary Mantel

Falken

Roman

Aus dem Englischen
von Werner Löcher-Lawrence

 

 

 

Wieder für Mary Robertson,

mit meinen herzlichsten Empfehlungen

und guten Wünschen

 

 

»Bin ich nicht wie andere Männer? Nein? Nein?«

Henry VIII. zu Eustace Chapuys,
kaiserlicher Botschafter

 

 

 

TEIL EINS

I

Falken

Wiltshire, September 1535

Seine Kinder fallen vom Himmel. Er sieht vom Pferd aus zu, hinter ihm dehnen sich die Weiten Englands. Sie fallen, goldflügelig, mit blutunterlaufenem Blick. Grace Cromwell schwebt in dünner Luft. Lautlos fängt sie ihre Beute, lautlos landet sie auf seiner Hand. Die Geräusche, die sie dann macht, das Rascheln des Gefieders, das Seufzen und das Ordnen der Schwingen, das leise Glucken aus der Kehle, sind Geräusche des Wiedererkennens, vertraut, töchterlich, fast missbilligend. Ihre Brust ist blutbefleckt, und an ihren Klauen hängt Fleisch.

Später wird Henry sagen: »Deine Mädchen waren heute gut unterwegs.« Der Greifvogel Anne Cromwell wippt auf dem Handschuh von Rafe Sadler, der sich neben dem König in leichter Konversation übt. Sie sind müde, die Sonne sinkt in Richtung Horizont, und sie reiten zurück nach Wolf Hall, die Zügel locker auf den Hälsen ihrer Rösser. Morgen werden seine Frau und zwei Schwestern aufsteigen. Die toten Frauen, deren Knochen lange schon in Londons Erde ruhen, werden wiedergeboren. Schwerelos gleiten sie durch die höheren Luftströmungen. Sie haben kein Mitleid. Sie sind niemandem verantwortlich. Ihr Leben ist einfach. Wenn sie nach unten blicken, sehen sie nichts als ihre Beute und die geborgten Federn der Jäger: Sie sehen ein flatterndes, zuckendes Universum, ein Universum gefüllt mit Beute.

Der ganze Sommer war so, ein fortwährendes Reißen, mit auffliegenden Fellfetzen und Federbüscheln, dem Zurückrufen und Antreiben von Hunden, dem Hätscheln müder Pferde, dem Pflegen – durch die Gentlemen selbst – von Prellungen, Verrenkungen und Blasen. Und wenigstens ein paar Tage lang schien die Sonne auf Henry. Manchmal jagten vor Mittag Wolken aus dem Westen heran, und große, duftende Regentropfen fielen, aber die Sonne kam mit sengender Hitze zurück, und jetzt ist es so klar, dass man bis hinauf in den Himmel sehen und die Heiligen ausspionieren kann.

Als sie absitzen, die Pferde den Stallburschen übergeben und auf den König warten, sind seine Gedanken bereits bei der Arbeit: bei den von einem Kurier über die Postwege beförderten Depeschen aus Whitehall, die dem Hof folgen, wohin immer er zieht. Beim Abendessen mit den Seymours wird er sich allen Geschichten fügen, die seine Gastgeber zu erzählen wünschen, allem, was der König unternehmen mag, so zerzaust, glücklich und gut gelaunt, wie er heute Abend scheint. Wenn der König zu Bett geht, beginnt seine Arbeitsnacht.

Obwohl der Tag vorüber ist, scheint Henry nicht geneigt, nach drinnen zu gehen. Er lässt den Blick schweifen, atmet Pferdeschweiß ein, auf der Stirn einen breiten, ziegelroten Streifen Sonnenbrand. Am Morgen hat er den Hut verloren, und so musste auch der Rest der Jagdgesellschaft – so ist es nun mal – die Hüte abnehmen. Der König ließ sich keinen Ersatz anbieten. Während sich die Dämmerung über Felder und Wälder stiehlt, sucht die Dienerschaft nach einer Bewegung der schwarzen Feder im dunkler werdenden Gras, dem Auffunkeln seiner Jagdplakette, einem goldenen heiligen Hubertus mit saphirnen Augen.

Schon ist der Herbst zu spüren. Es wird nicht mehr viele Tage wie diesen geben, also lasst uns noch eine Weile dastehen, umringt von den Stallknechten Wolf Halls, und zusehen, wie sich Wiltshire und die westlichen Counties in den blauen Dunst recken; lasst uns dastehen, die Hand des Königs auf seiner, Cromwells, Schulter, das Gesicht Henrys ernst, während er sich durch die Landschaft des Tages erzählt, durch grünes Gehölz und rauschende Bäche, die Erlen am Ufer, den Morgennebel, der sich gegen neun Uhr hob, den kurzen Schauer, den leichten Wind, der sich legte und erstarb, die Ruhe, die Hitze des Nachmittags.

»Sir, wie kommt es, dass Sie keinen Sonnenbrand haben?«, fragt Rafe Sadler, der, rothaarig wie der König, in einem sommersprossigen Rosa glüht. Selbst seine Augen scheinen wund. Er, Thomas Cromwell, zuckt mit den Achseln und legt Rafe einen Arm um die Schulter, als sie sich langsam nach drinnen bewegen. Er hat es durch ganz Italien geschafft, das offene Schlachtfeld wie die verschattete Arena des Kontors, ohne seine Londoner Blässe zu verlieren. Seine grobe Kindheit, die Tage auf dem Fluss, die Tage auf den Feldern: Sie haben ihn so weiß gelassen, wie Gott ihn erschaffen hat. »Cromwell hat die Haut einer Lilie«, verkündet der König. »Das ist auch das Einzige, in dem er ihr oder einer anderen Blüte gleicht.« Ihn so foppend, schlendern sie zum Abendessen.

Der König hatte Whitehall in der Woche von Thomas Mores Tod verlassen, einer trüben, tropfnassen Woche im Juli, und auf dem Weg nach Windsor versanken die Pferdehufe des königlichen Trosses tief im Matsch. Seitdem sind sie in einem breiten Streifen quer durch die westlichen Counties gezogen. Die Helfer Cromwells stießen, nachdem sie die Geschäfte des Königs in London erledigt hatten, Mitte August zu Henrys Zug. Der König und seine Begleiter schlafen bestens in neuen Häusern aus rötlichem Ziegel, in alten Häusern, deren Befestigungen verfallen oder eingerissen sind, und in spielzeuggleichen Märchenschlössern, die niemals befestigt waren, mit Wänden, die von einer Kanonenkugel wie Papier durchschlagen werden können. England genießt seit fünfzig Jahren Frieden. Das ist der Schwur der Tudors: Frieden bieten sie. Jeder Haushalt ist bemüht, sich dem König von der besten Seite zu zeigen, und wir haben in diesen letzten Wochen einige panische Änderungen an Putz und Stuck gesehen, hastige Steinmetzarbeiten, mit denen sich die Gastgeber beeilten, die Rose der Tudors neben den eigenen Insignien sichtbar zu machen. Sie suchen und vernichten jede Spur von Katherine, der ehemaligen Königin, zerschmettern mit Hämmern die Granatäpfel des Hauses Aragón, die zerdrückten Überbleibsel und herumfliegenden Kerne. Und wenn die Zeit für eine Steinmetzarbeit fehlt, malen sie den Falken Anne Boleyns auf Türen und Giebel.

Hans hat sich ihnen unterwegs angeschlossen und eine Zeichnung von Anne, der Königin, angefertigt, aber sie gefiel ihr nicht. Wie gefällt man Anne dieser Tage? Hans hat auch Rafe Sadler gemalt, mit dem ordentlichen kleinen Bart und dem entschlossenen Mund, der modische Hut eine gefiederte Scheibe, die ihm unsicher auf dem Kopf mit dem kurzgeschorenen Haar sitzt. »Da haben Sie mir aber eine platte Nase verpasst, Master Holbein«, sagt Rafe, und Hans sagt: »Wie, Master Sadler, sollte es in meiner Macht stehen, Ihre Nase zu richten?«

»Er hat sie sich als Kind beim Ringaufspießen gebrochen«, sagt er, Cromwell. »Ich selbst habe ihn zwischen den Pferdehufen hervorgezogen, ein Häufchen Elend, das nach seiner Mutter weinte.« Er drückt Rafe die Schulter. »Kopf hoch, Rafe. Ich finde, du siehst sehr gut aus. Denk nur daran, was Hans mit mir gemacht hat.«

Thomas Cromwell ist jetzt um die fünfzig Jahre alt. Er hat den Körper eines Arbeiters: untersetzt, zweckdienlich, zu Fettleibigkeit neigend. Er hat schwarzes Haar, das langsam grau wird, und wegen seiner blassen, undurchlässigen Haut, die dazu gemacht scheint, Regen wie Sonne zu widerstehen, spotten die Leute, sein Vater sei Ire, obwohl er doch tatsächlich ein Brauer und Schmied aus Putney war, auch ein Scherer, ein Mann, der seine Finger in allem drin hatte, ein Schläger und Krakeeler, ein Säufer und Drangsalierer, einer, der immer wieder vor den Richter gezerrt wurde, weil er jemanden geschlagen oder betrogen hatte. Wie der Sohn eines solchen Mannes seine gegenwärtige Stellung erlangen konnte, ist eine Frage, die sich ganz Europa stellt. Manche sagen, er sei mit den Boleyns aufgestiegen, der Familie der Königin; andere, dass er es ganz dem verstorbenen Kardinal Wolsey, seinem Förderer, zu verdanken hat. Cromwell war Wolseys Vertrauter, verschaffte ihm Geld und kannte seine Geheimnisse. Wieder andere meinen, er bewege sich in der Gesellschaft von Hexenmeistern. Noch als Junge verließ er das Reich, wurde Söldner, Wollhändler, Bankier. Niemand weiß, wo überall er war und wen er getroffen hat, und er hat keine Eile, es den Leuten zu erzählen. Er schont sich nicht im Dienste des Königs, er weiß um seinen Wert und seine Verdienste und versichert sich seines Lohns in Form von Ämtern, Vergütungen und Eigentumsurkunden, Herrenhäusern und Gütern. Er hat seine Art, an sein Ziel zu gelangen, er hat eine Methode. Er beschwört einen Mann oder besticht ihn, zwingt ihn oder bedroht ihn, erklärt ihm, wo seine wahren Interessen liegen, und zeigt ihm Seiten seiner selbst, von denen er bislang nichts wusste. Jeden Tag hat der persönliche Sekretär des Königs mit Granden zu tun, die ihn, wenn sie könnten, mit einem rachsüchtigen Schlag vernichten würden, einer lästigen Fliege gleich. Das weiß er und zeichnet sich doch durch seine Höflichkeit aus, seine Ruhe und seinen unermüdlichen Einsatz für die Sache Englands. Er hat nicht die Angewohnheit, sich zu erklären. Er hat nicht die Angewohnheit, seine Erfolge zu erklären. Aber wann immer das Glück zu ihm kommt, steht er auf der Schwelle bereit, um die Tür weit zu öffnen, sobald das zögerliche Kratzen auf dem Holz zu vernehmen ist.

Daheim in seinem Stadthaus in Austin Friars grübelt sein Porträt an der Wand, die dunklen Absichten in Wolle und Fell gehüllt, die Hand um ein Dokument gelegt, als wollte er es erwürgen. Hans hatte einen Tisch zurückgeschoben, ihn damit eingekeilt und gesagt, Thomas, Sie dürfen nicht lachen, und so waren sie verfahren. Hans summte bei der Arbeit, und er, Cromwell, starrte grimmig durch ihn hindurch. Als er das vollendete Porträt sah, sagte er: »Gott, ich sehe ja aus wie ein Mörder«, und sein Sohn Gregory sagte: Wussten Sie das nicht? Kopien werden angefertigt, für seine Freunde und seine Bewunderer unter den Evangelikalen in Deutschland. Vom Original will er sich nicht trennen – nicht jetzt, da ich mich daran gewöhnt habe, sagt er –, und so kommt er in seine Diele und findet verschiedene Versionen seiner selbst in unterschiedlichen Entstehungsstufen vor: einen zögerlichen Umriss, zum Teil ausgemalt. Womit beginnen bei Cromwell? Einige fangen mit seinen scharfen kleinen Augen an, einige mit seinem Hut. Andere weichen der Frage aus und malen zunächst Siegel und Schere, wieder andere den türkisfarbenen Ring, den ihm der Kardinal geschenkt hat. Wo immer sie anfangen, die Wirkung bleibt am Ende die gleiche: Hegte er einen Groll gegen dich, würdest du ihm nicht gern im Mondschein begegnen. Sein Vater Walter sagte immer: »Sieh meinen Sohn Thomas böse an, und er sticht dir ein Auge aus. Stell ihm ein Bein, und er schneidet es dir ab. Aber wenn du ihm nicht querkommst, ist er sehr zuvorkommend. Und er zahlt allen ein Glas.«

Hans hat den König gemalt, milde in sommerlicher Seide, nach dem Essen mit seinen Gastgebern zusammensitzend, die Flügelfenster spätem Vogelgesang geöffnet, und mit den kandierten Früchten werden die ersten Kerzen hereingetragen. Wohin immer der königliche Tross kommt, zieht Henry mit Anne, der Königin, ins Haus des Ersten am Ort. Sein Gefolge schläft bei den feinen Leuten, und es ist für die Gastgeber des Königs üblich, wenigstens einmal während seines Besuchs zum Dank die übrigen Gastgeber einzuladen, was ihren Haushalt einer ziemlichen Belastung unterwirft. Er hat die Vorratswagen heranrollen sehen, hat gesehen, wie die Küchen ins Chaos gestürzt wurden, und ist selbst in der graugrünen Stunde vor Sonnenaufgang dabei, wenn die Ziegelöfen für die ersten Brotlaibe geschrubbt, Tierkörper aufgespießt, Töpfe an Dreibeine gehängt werden, Geflügel gerupft und zerlegt wird. Sein Onkel war der Koch eines Erzbischofs, und als Kind ist Cromwell oft in der Küche von Lambeth Palace gewesen. Er kennt sich bestens aus, und das Wohlbefinden des Königs darf in nichts dem Zufall überlassen werden.

Diese Tage sind vollkommen. Das klare, ungetrübte Licht lässt jede in einer Hecke schimmernde Beere erkennen. Jedes Blatt an einem Baum hängt mit der Sonne hinter sich wie eine goldene Birne da. Im Hochsommer westwärts reitend, sind wir in waldige Jagden getaucht, haben die Downs erklommen und jene Höhen erreicht, in denen sich noch über zwei Counties hinweg der Wandel des Meeres bemerkbar macht. In diesem Teil Englands haben unsere Vorväter, die Riesen, ihre Erdarbeiten hinterlassen, ihre Grabhügel und aufgerichteten Steine. Immer noch fließen in unseren Adern, den Adern jedes Engländers und jeder Engländerin, einige Tropfen Riesenblut. In jenen uralten Zeiten, in einem Land unberührt von Schaf und Pflug, haben sie Wildschweine und Elche gejagt. Tagelang lichteten sich die Wälder nicht. Manchmal werden alte Waffen ausgegraben: Äxte, die, beidhändig geführt, Pferd und Reiter niederbringen konnten. Denkt an die riesigen Gliedmaßen jener Toten, die sich unter der Erde rühren. Der Krieg war ihre Natur, und er ist immer darauf aus, zurückzufinden. Es ist nicht einfach nur die Vergangenheit, an die denkt, wer über diese Felder reitet. Es ist das, was in der Erde ruht, was in ihr brütet. Es sind die Tage, die noch kommen werden, die ungekämpften Kriege, die Verwundungen und Tode, die wie Samen von der Erde Englands warm gehalten werden. Wer den lachenden Henry sieht, den betenden Henry, wer sieht, wie er seine Männer über die Waldpfade führt, der wird denken, dass er auf seinem Thron so sicher wie auf seinem Pferd sitzt. Doch der äußere Anschein kann trügen. Nachts liegt er wach, starrt auf die geschnitzten Deckenbalken und zählt seine Tage. Er sagt: »Cromwell, Cromwell, was soll ich tun?« Cromwell, rette mich vor dem Kaiser. Cromwell, rette mich vor dem Papst. Dann ruft er den Erzbischof von Canterbury, Thomas Cranmer, und will wissen: »Ist meine Seele verdammt?«

Fern in London wartet der Botschafter des Kaisers, Eustace Chapuys, täglich auf die Nachricht, dass sich das englische Volk gegen seinen grausamen, gottlosen König erhebt. Das ist die Nachricht, die er herbeisehnt, und er würde Arbeit und gutes Geld aufwenden, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Sein Master, Kaiser Karl, herrscht auch über die Niederlande und Spanien sowie Spaniens überseeische Besitzungen. Karl ist reich und mitunter erbost, dass sich Henry Tudor erdreistet hat, seine Tante Katherine abzuservieren und eine Frau zu heiraten, die das Volk auf der Straße eine glotzäugige nennt. Chapuys fordert seinen Master mit dringenden Depeschen dazu auf, in England einzumarschieren, sich mit den Rebellen des Reiches, Heuchlern und Unzufriedenen zu verbünden und diese unheilige Insel zu erobern, deren König sich durch ein Parlamentsgesetz hat scheiden und zu Gott erklären lassen. Der Papst nimmt es nicht freundlich auf, dass er in England als bloßer »Bischof von Rom« verlacht wird, dass ihm seine Einkünfte verweigert und sie in die Schatullen Henrys geleitet werden. Eine Bannbulle ist zwar noch nicht öffentlich gemacht, doch bereits formuliert; drohend schwebt sie über Henry und macht ihn unter den christlichen Herrschern Europas zum Ausgestoßenen: Sie sind dazu eingeladen, ja werden ermutigt, die Meerenge zu überqueren oder die schottische Grenze, um sich aller Dinge zu bemächtigen, die ihm gehören. Vielleicht wird der Kaiser kommen. Vielleicht kommt der König von Frankreich. Vielleicht kommen sie gemeinsam. Es wäre angenehm, könnten wir sagen, dass wir bereit sind für sie. Die Wirklichkeit ist eine andere. Im Falle eines bewaffneten Einmarsches könnten wir gezwungen sein, die Knochen der Riesen auszugraben, um sie ihnen um die Ohren zu hauen: Uns fehlen Geschütze, Pulver und Stahl. Das ist nicht Thomas Cromwells Fehler, wie Chapuys mit einer Grimasse sagt, Henrys Königreich befände sich in besserem Zustand, wäre Cromwell schon vor fünf Jahren eingesetzt worden.

Wenn man England verteidigen will, und er will – würde selbst mit dem Schwert in der Hand ins Feld ziehen –, muss man wissen, was England ist. In der Augusthitze stand er barhäuptig bei den in Stein gemeißelten Gräbern der Vorfahren: Männer cap à pie in Rüstung und Kettenhemd, die in Fehdehandschuhen steckenden Hände verbunden und steif auf den Waffenröcken liegend, die gepanzerten Füße auf steinernen Löwen, Greifen und Windhunden; steinerne Männer, stählerne Männer, deren weiche Frauen neben ihnen liegen wie Schnecken in ihren Häusern. Wir denken, die Zeit kann den Toten nichts anhaben, aber sie nagt an ihren Denkmälern, durch Unfälle und einfache Reibung stiehlt sie ihnen Nasen und Finger. Ein winziger abgetrennter Fuß (wie von einer knienden Putte) rutscht unter einem Stück Stoff hervor, die Spitze eines abgebrochenen Daumens liegt auf einem steinernen Kissen. »Wir müssen unsere Vorfahren nächstes Jahr instand setzen«, sagen die Herren der westlichen Counties: Allein ihre Schilde und Halter und die aufwendigen Wappen schimmern in frischen Farben, und mit ihren Worten schmücken sie die Taten ihrer Ahnherren aus. Wer sie waren und was sie hatten: die Waffen meines Vorfahren, die er bei Agincourt trug, die Tasse meines Vorfahren, die er aus der Hand von John of Gaunt erhielt. Wenn ihre Väter und Großväter in den späten Kriegen zwischen York und Lancaster auf der falschen Seite standen, sagen sie nichts davon. Eine Generation weiter müssen Fehler vergeben, müssen Reputationen wiederhergestellt werden, sonst kann England nicht fortschreiten und wird immer wieder in die schmutzige Vergangenheit gezogen.

Er hat natürlich keine Vorfahren: nicht von der Art, mit der man sich brüstet. Es gab einmal eine Adelsfamilie namens Cromwell, und als er in den Dienst des Königs trat, drängten ihn die Herolde, der äußeren Erscheinung halber deren Wappen anzunehmen. Aber ich gehöre nicht dazu, sagte er höflich, und ich will ihr Wappen nicht. Er war nicht älter als fünfzehn gewesen, als er vor den Fäusten seines Vaters floh, den Kanal überquerte und in die Armee des französischen Königs eintrat. Seit er gehen konnte, hatte er gekämpft. Und wenn du kämpfst, warum sollst du dann nicht dafür bezahlt werden? Aber es gab lohnendere Tätigkeiten als das Kriegshandwerk, und er fand sie. So beschloss er, nicht zu schnell zurück nach Hause zu kommen.

Und wenn seine blaublütigen Gastgeber heute Rat wollen, was die Platzierung eines Springbrunnens betrifft oder dreier tanzender Grazien, sagt ihnen der König, Cromwell hier ist Ihr Mann. Cromwell hat gesehen, wie sie es in Italien machen, und was denen genügt, wird auch Wiltshire genügen. Manchmal verlässt der König einen Ort nur mit seinem reitenden Gefolge. Die Königin mit ihren Hofdamen und Musikern bleibt zurück, während Henry mit seinen liebsten Getreuen eine wilde Jagd über Land veranstaltet. Und so kommen sie nach Wolf Hall, wo der alte Sir John Seymour wartet, um sie in der Mitte seiner aufblühenden Familie zu begrüßen.

»Ich weiß nicht, Cromwell«, sagt der alte Sir John. Er fasst ihn leutselig beim Arm. »All diese nach toten Frauen benannten Falken … machen die Sie nicht unglücklich?«

»Ich bin nie unglücklich, Sir John. Die Welt ist zu gut zu mir.«

»Sie sollten wieder heiraten und eine Familie gründen. Vielleicht finden Sie ja eine Braut, während Sie hier bei uns sind. Im Wald von Savernake gibt es viele frische junge Frauen.«

Ich habe immer noch Gregory, sagt er und hält über die Schulter nach seinem Sohn Ausschau. Irgendwie sorgt er sich immer um Gregory. »Ah«, sagt Seymour, »Jungen sind gut, aber ein Mann braucht auch Töchter. Töchter sind ein Trost. Sehen Sie nur Jane an. Sie ist ein so gutes Mädchen.«

Er wendet den Blick Jane Seymour zu, auf die ihr Vater deutet. Er kennt sie gut vom Hofe, war sie doch die Hofdame von Katherine, der früheren Königin, und auch von Anne, die heute Königin ist. Jane ist eine schlichte junge Frau von silbriger Blässe, gekleidet in Schweigen und mit der Fähigkeit versehen, Männer so zu betrachten, als bedeuteten sie eine unangenehme Überraschung. Sie trägt Perlen und weißen, mit steifen kleinen Nelkenzweigen bestickten Brokat. Er erkennt eine beträchtliche Ausgabe. Die Perlen beiseitegelassen, muss es an die dreißig Pfund gekostet haben, sie so auszustaffieren. Kein Wunder, dass sie sich mit leichter Sorge voranbewegt, wie ein Kind, dem gesagt wurde, dass es sich nicht bekleckern darf.

Der König sagt: »Jane, sind Sie jetzt, da wir Sie zu Hause bei Ihrer Familie sehen, weniger schüchtern?« Er nimmt ihr Mausehändchen in seine mächtige Pranke. »Bei Hof haben wir nie ein Wort von ihr gehört.«

Jane blickt zu ihm auf und wird vom Hals bis zum Haaransatz rot. »Haben Sie je so eine Röte gesehen?«, fragt Henry. »Höchstens bei einem kleinen Mädchen von zwölf.«

»Ich kann nicht behaupten, zwölf zu sein«, sagt Jane.

Beim Abendessen sitzt der König neben Lady Margery, seiner Gastgeberin. Zu ihrer Zeit war sie eine Schönheit, und die erlesene Aufmerksamkeit, die der König ihr zuteilwerden lässt, könnte glauben machen, dass sie es noch immer ist. Sie hat zehn Kinder bekommen, von denen sechs noch leben. Drei sind mit im Zimmer: Edward Seymour, der Erbe, hat einen schmalen Kopf, einen ernsten Ausdruck und ein klares, festes Profil. Er ist ein gut aussehender Mann, belesen, wenn nicht gelehrt, der sich klug jeder Aufgabe widmet, die er bekommt. Er war im Krieg, und während er darauf wartet, erneut in die Schlacht zu ziehen, tut er sich beim Jagen und auf dem Turnierplatz hervor. Der Kardinal hieß ihn zu seiner Zeit besser als den Rest der Seymours, und er selbst, Thomas Cromwell, sieht in ihm, nachdem er ihm auf den Zahn gefühlt hat, in jeder Hinsicht einen Mann für den König. Tom Seymour, Edwards jüngerer Bruder, ist laut und ungestüm und eher für die Weiblichkeit von Interesse. Wenn er hereinkommt, kichern die Jungfrauen, und die jungen Matronen senken die Köpfe und studieren ihn mit gesenkten Wimpern.

Der alte Sir John ist ein Mann von berüchtigtem Familienverständnis. Vor zwei, drei Jahren zerriss sich alles bei Hofe das Maul darüber, dass er die Frau seines Sohnes besprungen hatte, nicht nur einmal in der Hitze der Leidenschaft, sondern wieder und wieder, seit sie Edwards Braut war. Die Königin und ihre Vertrauten haben die Geschichte verbreitet. »Wir sind auf hundertzwanzig Mal gekommen«, kicherte Anne. »Nun, Thomas Cromwell hat’s ausgerechnet, und er ist schnell mit Zahlen. Dabei gehen wir davon aus, dass sie sich aus Scham sonntags zurückgehalten haben und in der Fastenzeit mäßiger waren.« Die betrügerische Frau brachte zwei Jungen zur Welt, und als ihr Gebaren ans Licht kam, sagte Edward, er werde beide nicht als Erben anerkennen, könne er doch nicht sicher sein, ob sie seine Söhne oder Halbbrüder seien. Die Ehebrecherin wurde in ein Kloster gesperrt und tat ihm bald schon den Gefallen zu sterben. Jetzt hat er eine neue Frau, die eine abweisende Haltung pflegt und eine Ahle in der Tasche hat für den Fall, dass ihr der Schwiegervater zu nahe kommt.

Doch es ist verziehen, es ist verziehen. Das Fleisch ist schwach. Der königliche Besuch besiegelt die Begnadigung des alten Mannes. John Seymour besitzt eintausenddreihundert Morgen Land, einschließlich eines Wildparks, auf dem Großteil des Rests grasen Schafe, was ihm pro Morgen und Jahr zwei Schillinge einbringt, ziemlich genau fünfundzwanzig Prozent des Ertrags, würde er sie als Ackerland nutzen. Die Schafe sind kleine schwarzgesichtige Tiere, gekreuzt mit walisischen Bergschafen, sie haben knorpeliges Fleisch, aber ausreichend gute Wolle. Als der König (in bukolischer Laune) bei ihrer Ankunft fragt: »Cromwell, was würde so ein Tier wiegen?«, antwortet dieser, ohne es anzuheben: »Dreißig Pfund, Sir.« Francis Weston, ein junger Höfling, sagt mit spöttischem Grinsen: »Master Cromwell war selbst mal ein Scherer. Der täuscht sich nicht.«

Der König sagt: »Ohne unseren Wollhandel wären wir ein armes Land. Dass Master Cromwell das Geschäft kennt, ist keine Schande.«

Aber Francis Weston grient hinter vorgehaltener Hand.

Morgen soll Jane Seymour mit dem König jagen gehen. »Ich dachte, das sei reine Männersache«, hört er Weston flüstern. »Die Königin wäre erzürnt, wenn sie das wüsste.« Er murmelt: Dann sorge dafür, dass sie es nicht erfährt, sei ein braver Junge.

»Wir in Wolf Hall sind alle große Jäger«, gibt Sir John an, »meine Töchter auch. Sie denken, Jane ist schüchtern, aber im Sattel, das versichere ich Ihnen, Sirs, da ist sie die Göttin Diana. Ich habe meine Mädchen nie mit der Schule gequält, wissen Sie. Sir James hier hat ihnen beigebracht, was sie wissen mussten.«

Der Priester am Ende der Tafel nickt und strahlt: ein alter Narr mit weißem Kopf und trüben Augen. Er, Cromwell, wendet sich ihm zu: »Waren Sie es auch, der ihnen das Tanzen beigebracht hat, Sir James? Großes Lob für Sie. Ich habe Janes Schwester Elizabeth bei Hofe gesehen, mit dem König als Partner.«

»Ah, dafür hatten sie einen Lehrer«, gluckst der alte Seymour. »Einen Lehrer fürs Tanzen, einen Lehrer für die Musik, das ist genug. Sie wollen keine fremden Sprachen. Sie reisen nirgends hin.«

»Ich denke anders, Sir«, sagt er. »Ich habe meine Töchter dasselbe lernen lassen wie meinen Sohn.«

Manchmal mag er über sie sprechen, über Anne und Grace: Vor sieben Jahren jetzt sind sie gestorben. Tom Seymour lacht. »Was, Sie haben sie mit Gregory und dem jungen Master Sadler auf den Turnierplatz geschickt?«

Er lächelt. »Das nun nicht.«

Edward Seymour sagt: »Es ist nicht ungewöhnlich für die Töchter eines Haushalts in der Stadt, ihre Buchstaben und etwas mehr zu lernen. Sie hätten sie vielleicht im Kontor gewollt. Man hört so etwas. Es hilft ihnen, gute Ehemänner zu finden, eine Kaufmannsfamilie freut sich über so eine Ausbildung.«

»Stellen Sie sich Master Cromwells Töchter vor«, sagt Weston. »Ich getrau mich nicht. Ich bezweifle, dass ein Kontor sie kontrollieren könnte. Die würden mit der Streitaxt umzugehen wissen, sollte man meinen. Ein Blick auf sie, und unsereinem würden die Knie weich, und nicht aus Liebe.«

Gregory regt sich. Er ist solch ein Träumer, dass man kaum glauben mag, er folge der Unterhaltung, doch in seiner Stimme schwingt Schmerz mit. »Sie beleidigen meine Schwestern und ihr Andenken, Sir, ohne sie je gesehen zu haben. Meine Schwester Grace …«

Er sieht, wie Jane Seymour ihre kleine Hand ausstreckt und seinen Arm berührt: Um ihn zu retten, riskiert sie, die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich zu ziehen. »Ich habe kürzlich erst«, sagt sie, »etwas Französisch gelernt.«

»Tatsächlich, Jane?« Tom Seymour lächelt.

Jane senkt den Kopf. »Mary Shelton unterrichtet mich.«

»Mary Shelton ist eine liebenswürdige junge Frau«, sagt der König, und er sieht, wie Weston seinem Nachbarn den Ellbogen in die Rippen stößt. Es heißt, Shelton war zum König im Bett liebenswürdig.

»Ihr seht also«, sagt Jane zu ihren Brüdern, »dass wir Frauen uns nicht nur in müßigen Verleumdungen und Skandalgeschichten üben. Obwohl wir weiß Gott genug Klatsch kennen, um eine ganze Stadt voller Frauen damit zu beschäftigen.«

»Ist das so?«, sagt er.

»Wir reden darüber, wer in die Königin verliebt ist. Wer ihr Verse schreibt.« Sie senkt den Blick. »Ich meine, wer in uns alle verliebt ist. Dieser Gentleman oder jener. Wir kennen unsere Verehrer und besprechen sie von Kopf bis Fuß. Sie würden rot anlaufen, wenn sie es wüssten. Wir ziehen ihren Landbesitz in Betracht und wie viel sie im Jahr verdienen und entscheiden dann, ob wir ihnen erlauben, uns ein Sonett zu schreiben. Wenn wir nicht annehmen, dass sie uns ein schönes Auskommen zu bieten haben, verschmähen wir ihre Reime. Es ist grausam, sage ich Ihnen.«

Er sagt leicht beklommen, dass kein Schaden darin liege, Damen Verse zu schreiben, selbst verheirateten nicht, bei Hofe sei das üblich. Weston sagt, danke für die netten Worte, Master Cromwell, wir dachten schon, Sie würden vielleicht versuchen, uns Einhalt zu gebieten.

Tom Seymour beugt sich vor und lacht. »Und wer sind deine Verehrer, Jane?«

»Wenn du das wissen willst, musst du ein Kleid anziehen, dein Nähzeug nehmen und dich zu uns setzen.«

»So wie sich Achill unter die Frauen gemischt hat«, sagt der König. »Sie müssen sich Ihren schönen Bart abrasieren, Seymour, um hinter die unzüchtigen kleinen Geheimnisse Ihrer Schwester zu kommen.« Er lacht, doch er ist nicht glücklich. »Es sei denn, wir finden einen Mädchenhafteren für die Aufgabe. Gregory, du bist ein hübscher Junge, doch ich fürchte, deine großen Hände würden dich verraten.«

»Der Enkel eines Schmieds«, sagt Weston.

»Der kleine Mark«, sagt der König. »Der Musiker, kennen Sie ihn? Der hat ein hübsches, mädchenhaftes Gesicht.«

»Oh«, sagt Jane, »Mark ist sowieso bei uns. Er lungert ständig bei der Königin herum. Wir zählen ihn kaum als Mann. Wenn Sie unsere Geheimnisse erfahren wollen, fragen Sie Mark.«

Das Gespräch bewegt sich in eine andere Richtung. Er denkt: Ich habe gar nicht gewusst, dass Jane etwas sagen kann. Er denkt: Weston reizt mich, er weiß, dass ich ihm in Henrys Gegenwart nicht entgegentrete. Er überlegt, in welcher Form er ihn angehen wird, wenn es so weit ist. Rafe Sadler sieht aus dem Augenwinkel zu ihm herüber.

»So«, sagt der König zu ihm, »wie kann der morgige Tag besser werden als der heutige?« Dem Essenstisch erklärt er: »Master Cromwell kann nicht schlafen, wenn er nicht etwas verbessern kann.«

»Ich werde den Hut Ihrer Majestät ein besseres Benehmen lehren. Und jene Wolken, vor Mittag …«

»Wir wollten den Schauer. Der Regen hat uns abgekühlt.«

»Möge Gott Ihrer Majestät nichts Schlimmeres als einen Schauer schicken«, sagt Edward Seymour.

Henry reibt sich den Streifen Sonnenbrand. »Der Kardinal, er dachte, er könne das Wetter ändern. Kein schlechter Morgen, sagte er, aber gegen zehn wird es heller. Und das tat es.«

Henry macht das manchmal, bringt Wolseys Namen ins Gespräch ein, als hätte nicht er, sondern ein anderer Monarch den Kardinal in den Tod getrieben.

»Einige Menschen haben ein Auge fürs Wetter«, sagt Tom Seymour. »Das ist alles, Sir. Es müssen keine Kardinäle sein.«

Henry nickt und lächelt. »Richtig, Tom. Ich hätte nie eine solche Ehrfurcht vor ihm haben sollen, oder?«

»Er war zu stolz für einen Untertan«, sagt der alte Sir John.

Der König sieht ihn, Thomas Cromwell, den Tisch hinunter an. Er hat den Kardinal geliebt. Jeder hier weiß das. Sein Ausdruck ist so achtsam leer wie eine frisch gestrichene Wand.

Nach dem Essen erzählt der alte Sir John die Geschichte von Edgar dem Friedfertigen. Edgar war der Herrscher in dieser Gegend, vor vielen Hundert Jahren, bevor die Könige Nummern bekamen: als alle Mädchen schön waren, die Ritter galant und das Leben einfach, hart und für gewöhnlich kurz. Edgar hatte sich eine Braut erkoren und schickte einen seiner Earls, um sie in Augenschein zu nehmen. Der Earl, ein so lügnerischer wie durchtriebener Kerl, berichtete ihm, Dichter und Maler hätten bei ihrer Schönheit weit übertrieben, in Wirklichkeit, sagte er, hinke und schiele sie. Sein Ziel war es, die zarte Maid für sich zu gewinnen, und tatsächlich verführte und heiratete er sie. Als Edgar den Verrat des Earls entdeckte, lockte er ihn in einen Hinterhalt, in einem Gehölz nicht weit von hier, und rammte ihm einen Speer in den Leib. Er tötete ihn mit einem Stich.

»Was für ein Schurke dieser Earl doch war!«, sagt der König. »Er hat seinen Lohn bekommen.«

»Der Earl war ein Dreckskerl«, sagt Tom Seymour.

Sein Bruder seufzt, als wollte er sich von dieser Bemerkung distanzieren.

»Und was hat die Lady gesagt«, fragt er, Cromwell, »als sie herausfand, dass man den Earl aufgespießt hatte?«

»Die Gute heiratete Edgar«, sagt Sir John. »Im grünen Wald haben sie sich geehelicht und lebten glücklich bis an ihr Ende.«

»Ich nehme an, sie hatte keine Wahl«, seufzt Lady Margery. »Frauen müssen sich anpassen.«

»Und das Landvolk sagt«, fügt Sir John hinzu, »dass der betrügerische Earl noch immer durch die Wälder zieht und sich stöhnend die Lanze aus dem Bauch zu ziehen versucht.«

»Sich das vorzustellen«, sagt Jane Seymour. »Jede Nacht, wenn der Mond scheint, könnte man ihn aus dem Fenster da draußen sehen, wie er zieht und klagt. Zum Glück glaube ich nicht an Geister.«

»Dann bist du eine Närrin, Schwester«, sagt Tom Seymour. »Sie schleichen sich an dich heran, mein Mädchen.«

»Trotzdem«, sagt Henry und mimt den Wurf eines Speers, wenn auch maßvoll, wie es am Essenstisch nötig ist. »Ein sauberer Treffer. Er muss einen guten Wurfarm gehabt haben, der König Edgar.«

Er, Cromwell, sagt: »Ich würde gern wissen, ob die Geschichte aufgeschrieben steht, und wenn, wer sie aufgeschrieben hat und ob er unter Eid stand.«

Der König sagt: »Cromwell hätte den Earl vor Richter und Geschworene gebracht.«

»Gesegnet sei Ihre Majestät«, kichert Sir John, »aber ich glaube nicht, dass es die damals schon gab.«

»Cromwell hätte schon eine Lösung gefunden.« Der junge Weston beugt sich vor, um seinen Beitrag vorzubringen. »Er hätte eine Jury ausgegraben, aus einer Pilzkultur. Dann wäre es mit dem Earl vorbei gewesen, sie hätten ihn verurteilt, hinausgeschafft und ihm den Kopf abgehackt. Es heißt, bei Thomas Mores Prozess ist unser Master Sekretär hier den Geschworenen in ihre Beratung gefolgt, und als sie alle saßen, hat er die Tür zugemacht und das Urteil festgelegt. ›Lassen Sie mich Ihnen alle Zweifel nehmen‹, hat er zu den Geschworenen gesagt. ›Ihre Aufgabe ist es, Sir Thomas für schuldig zu befinden. Es gibt nichts zu essen, bevor Sie das nicht getan haben.‹ Damit ist er hinausgegangen, hat die Tür geschlossen und mit einer Axt in der Hand draußen gewartet, nur für den Fall, dass sie ausbrechen wollten, um nach einem gekochten Pudding zu suchen; und da die Geschworenen Londoner waren, sorgten sie sich vor allem um ihre Bäuche – kaum fingen die an zu knurren, riefen sie: ›Schuldig! More ist so schuldig, wie man nur schuldig sein kann!‹«

Die Augen richten sich auf ihn, Cromwell. Rafe Sadler an seiner Seite ist vor Unmut ganz angespannt. »Eine hübsche Geschichte«, sagt Rafe zu Weston, »aber ich frage Sie, wo ist sie aufgeschrieben? Ich glaube, Sie werden herausfinden, dass sich mein Master mit den Gerichten immer korrekt verhält.«

»Sie waren nicht dabei«, sagt Francis Weston. »Ich habe es von einem der Geschworenen selbst. Sie riefen: ›Weg mit ihm, schafft den Verräter hinaus und bringt uns eine Hammelkeule.‹ Und Thomas More wurde hingerichtet.«

»Sie klingen, als bedauerten Sie es«, sagt Rafe.

»Nicht ich.« Weston hebt die Hände. »Königin Anne sagt, lasst Mores Tod all diesen Verrätern eine Warnung sein. Mag ihr Ansehen auch noch so groß sein, ihr Verrat noch so verschleiert, Thomas Cromwell wird sie überführen.«

Es gibt beipflichtendes Gemurmel, und einen Moment lang denkt er, die Gesellschaft werde sich ihm zuwenden und applaudieren. Da legt Lady Margery einen Finger an die Lippen und nickt dem am Kopf der Tafel sitzenden König zu, der sich langsam nach rechts neigt. Seine geschlossenen Lider flattern, und sein Atem geht ruhig und tief.

Die Gesellschaft tauscht Blicke. »Trunken von frischer Luft«, flüstert Tom Seymour.

Das ist eine Abwechslung von der Trunkenheit durch Trinken. Dieser Tage ruft der König häufiger nach dem Weinkrug als in seiner schlanken, unternehmungslustigen Jugend. Er, Cromwell, beobachtet, wie Henry auf seinem Stuhl vorkippt, als wollte er die Stirn auf den Tisch legen. Dann schreckt er auf, fährt hoch, und ein Sabberfaden rinnt ihm durch den Bart.

Das wäre der Moment für Harry Norris, den obersten der königlichen Kammerherren, Harry mit seinem geräuschlosen Auftreten und der sanften, nicht urteilenden Hand, seinen Souverän zurück in den Wachzustand zu murmeln. Aber Norris reitet über Land und trägt den Liebesbrief des Königs zu Anne. Was also tun? Henry sieht nicht aus wie ein müdes Kind, wie er es vor fünf Jahren vielleicht noch getan hätte. Er sieht aus wie ein beliebiger Mann in den mittleren Jahren, der nach einem zu schweren Essen in Starre verfallen ist. Aufgedunsen und verquollen wirkt er, hier und da ist eine Ader geplatzt, und selbst im Kerzenlicht kann man sehen, dass sein verblichenes Haar grau wird. Er, Cromwell, nickt dem jungen Weston zu. »Francis, Ihre vornehme Hand ist gefordert.«

Weston tut so, als hörte er nicht. Sein Blick ruht auf dem König, sein Ausdruck zeugt offen von Abscheu. Tom Seymour flüstert: »Ich denke, wir sollten ein lautes Geräusch machen, um ihn natürlich zu wecken.«

»Was für ein Geräusch?«, fragt sein Bruder Edward, die Worte mit den Lippen formend.

Tom legt schauspielernd die Hände auf die Rippen.

Edwards Brauen fahren in die Höhe. »Lach, wenn du dich traust. Er wird denken, du lachst, weil er so sabbert.«

Der König beginnt zu schnarchen. Er senkt sich nach rechts, gefährlich weit über die Lehne seines Stuhls.

Weston sagt: »Wecken Sie ihn, Cromwell. Niemand kann so gut mit ihm wie Sie.«

Er schüttelt lächelnd den Kopf.

»Gott schütze Seine Majestät«, sagt Sir John fromm. »Er ist nicht mehr so jung, wie er war.«

Jane erhebt sich. Die Nelkenzweige rascheln steif. Sie beugt sich über den Stuhl des Königs und klopft ihm auf den Handrücken, munter, als prüfte sie einen Käse. Henry fährt hoch, seine Augen springen auf. »Ich habe nicht geschlafen«, sagt er. »Wirklich nicht. Ich habe nur meine Augen etwas ausgeruht.«

Als der König zu Bett gegangen ist, sagt Edward Seymour: »Master Sekretär, es ist Zeit für meine Revanche.«

Zurückgelehnt, das Glas in der Hand: »Was habe ich Ihnen angetan?«

»Eine Partie Schach. In Calais. Ich weiß, dass Sie sich erinnern.«

Der späte Herbst des Jahres 1532: der Abend, an dem der König zum ersten Mal mit der Frau ins Bett ging, die heute die Königin ist. Bevor sie sich für ihn niederlegte, ließ sie ihn auf die Bibel schwören, dass er sie heiraten werde, sobald sie englischen Boden betraten. Aber die Stürme hielten sie im Hafen fest, und der König nutzte die Zeit und versuchte ihr einen Sohn einzupflanzen.

»Sie haben mich matt gesetzt, Master Cromwell«, sagt Edward, »aber nur, weil Sie mich abgelenkt haben.«

»Wie das?«

»Sie haben mich nach meiner Schwester Jane gefragt. Nach ihrem Alter und so weiter.«

»Sie dachten, ich sei an ihr interessiert.«

»Und, sind Sie es?« Edward lächelt, um die grobe Frage abzumildern. »Sie ist noch nicht versprochen, wissen Sie.«

»Stellen Sie die Figuren auf«, sagt er. »Möchten Sie die Partie, wie sie stand, als Ihre Gedanken abschweiften?«

Edward sieht ihn an, bedacht ausdruckslos. Unglaubliche Dinge werden mit Cromwells Gedächtnis verbunden. Er, Cromwell, lächelt in sich hinein. Mit ein wenig Raterei könnte er das Spiel wiederherstellen. Er kennt die Art, wie ein Mann wie Seymour spielt. »Lassen Sie uns neu beginnen«, schlägt er vor. »Die Welt bewegt sich voran. Sind Sie mit den italienischen Regeln einverstanden? Ich mag die Spiele nicht, die sich über eine ganze Woche hinziehen.«

Ihre Eröffnungen zeigen eine gewisse Kühnheit auf Edwards Seite. Doch dann lehnt sich Seymour, einen weißen Bauern zwischen den Fingerspitzen, auf seinem Stuhl zurück, legt die Stirn in Falten und verfällt auf den Gedanken, über den heiligen Augustinus zu sprechen, und vom heiligen Augustinus kommt er auf Martin Luther. »Das ist eine Lehre, die das Herz in Schrecken versetzt«, sagt er. »Dass Gott uns nur schafft, um uns zu verdammen. Dass seine armen Kreaturen, bis auf einige wenige, nur für den Kampf in dieser Welt und dann für das ewige Feuer geboren werden. Manchmal fürchte ich, es ist wahr. Aber ich habe Hoffnung, dass es nicht so ist.«

»Der dicke Martin hat seine Position geändert. Wenigstens habe ich es so gehört. Zu unserer Beruhigung.«

»Was, werden mehr von uns gerettet? Oder sind unsere guten Taten in Gottes Augen nicht völlig nutzlos?«

»Ich sollte nicht für ihn sprechen. Sie sollten Philipp Melanchthon lesen. Ich werde Ihnen sein neues Buch schicken. Ich hoffe, er wird uns hier in England besuchen. Wir reden mit seinen Leuten.«

Edward drückt den kleinen, runden Kopf des Bauern an die Lippen. Es sieht aus, als wollte er damit gegen seine Zähne klopfen. »Wird der König das erlauben?«

»Bruder Martin selbst würde er nicht hereinlassen. Er mag es nicht, wenn sein Name erwähnt wird. Aber Philipp ist ein einfacherer Mann, und es wäre sehr gut für uns, eine Allianz mit deutschen Fürsten begründen zu können, die das Evangelium befürworten. Es würde dem Kaiser einen Schrecken versetzen, wenn wir Freunde und Verbündete in seinem eigenen Herrschaftsbereich hätten.«

»Darum allein geht es Ihnen?« Edwards Pferd springt über die Felder. »Diplomatie?«

»Ich schätze die Diplomatie. Sie ist billig.«

»Und doch heißt es, dass auch Sie das Evangelium lieben.«

»Das ist kein Geheimnis.« Er furcht die Stirn. »Wollen Sie das wirklich tun, Edward? Ich sehe einen Weg zu Ihrer Königin, und ich möchte Sie nicht wieder übervorteilen und Sie später sagen hören, ich hätte Ihnen Ihr Spiel mit Gerede über den Zustand Ihrer Seele verdorben.«

Ein schiefes Grinsen. »Und wie geht es Ihrer Königin dieser Tage?«

»Anne? Sie liegt quer mit mir. Wenn sie mich ansieht, spüre ich, wie mir der Kopf auf den Schultern wackelt. Sie hat gehört, dass ich ein, zwei Mal vorteilhaft über Katherine gesprochen habe, die frühere Königin.«

»Und haben Sie?«

»Nur, um ihre Tatkraft zu bewundern. Die, wie jeder zugeben muss, unerschütterlich bleibt in ihrem Ungemach. Zudem denkt die Königin, dass ich Prinzessin Mary zu wohlgesinnt bin, ich meine, Lady Mary, wie wir sie nun nennen sollten. Der König liebt seine ältere Tochter noch immer, er sagt, er könne es nicht ändern, und es bekümmert Anne, denn sie will, dass Prinzessin Elizabeth die einzige Tochter ist, die er kennt. Sie denkt, wir sind Mary gegenüber zu weichherzig und sollten sie zwingen, zuzugeben, dass ihre Mutter dem Gesetz nach nie mit dem König verheiratet war und sie selbst damit ein Bastard ist.«

Edward dreht den weißen Bauern zwischen den Fingern, sieht ihn zweifelnd an und stellt ihn zurück auf sein Feld. »Aber ist das nicht der Stand der Dinge? Ich dachte, Sie hätten sich das schon anerkennen lassen.«

»Wir lösen das Problem, indem wir es nicht ansprechen. Sie weiß, sie ist von der Thronfolge ausgeschlossen, und ich denke, ich sollte sie nicht über einen gewissen Punkt hinausdrängen. Der Kaiser ist Katherines Neffe und Lady Marys Cousin, und ich versuche, ihn nicht zu provozieren. Karl hält uns in der Hand, verstehen Sie? Aber Anne sieht nicht die Notwendigkeit, Leute zu beschwichtigen. Sie denkt, wenn sie zu Henry nett ist, reicht das.«

»Während man zu Europa nett sein muss.« Edward lacht. Sein Lachen hat einen rostigen Klang. Seine Augen sagen: Sie sind sehr offen, Master Cromwell. Warum?

»Im Übrigen«, seine Finger schweben über dem schwarzen Pferd, »habe ich, seit mich der König zu seinem Vertreter in Kirchenfragen gemacht hat, in den Augen der Königin zu viel Macht. Sie hasst es, wenn Henry auf einen anderen als sie, ihren Bruder George oder den Monseigneur, ihren Vater, hört, wobei selbst ihr Vater mitunter sein Fett abbekommt und sie ihn eine Memme und einen Zeitverschwender nennt.«

»Wie nimmt er das auf?« Edward sieht aufs Brett. »Oh.«

»Sehen Sie genau hin«, drängt er. »Wollen Sie noch weiterspielen?«

»Ich gebe auf. Denke ich.« Ein Seufzen. »Ja. Ich gebe auf.«

Er, Cromwell, wischt die Figuren zur Seite und unterdrückt ein Gähnen. »Dabei habe ich Ihre Schwester Jane mit keinem Wort erwähnt, oder? Was haben Sie also jetzt für eine Entschuldigung?«

Als er nach oben kommt, sieht er Rafe und Gregory beim großen Fenster herumtollen. Sie springen und raufen, die Blicke auf etwas Unsichtbares zu ihren Füßen gerichtet. Erst denkt er, sie spielen Fußball ohne Ball. Aber sie springen wie Tänzer und treten mit der Hacke gegen das Ding, und er sieht, es ist ein daliegender Mann. Sie beugen sich hinunter, um den Ärmsten zu zwicken, zu stoßen und zu verdrehen. »Vorsicht«, sagt Gregory, »brich ihm noch nicht das Genick. Ich will ihn leiden sehen.«

Rafe hebt den Blick und tut, als wischte er sich die Stirn trocken. Gregory stützt sich mit den Händen auf den Knien ab, kommt wieder zu Atem und stößt das Opfer mit dem Fuß an. »Das ist Francis Weston; Sie denken, er hilft den König zu Bett bringen, dabei haben wir ihn in seiner Geisterform hier. Wir haben ihm aufgelauert und ihn mit einem Zaubernetz eingefangen.«

»Wir bestrafen ihn.« Rafe beugt sich nach unten. »Ho, Sir, tut’s Ihnen jetzt leid?« Er spuckt in die Hände. »Was machen wir als Nächstes mit ihm, Gregory?«

»Heb ihn hoch, und aus dem Fenster mit ihm.«

»Vorsicht«, sagt er. »Der König mag Weston.«

»Dann mag er ihn auch mit plattem Kopf«, sagt Rafe, und die beiden raufen und schubsen sich gegenseitig weg, weil jeder der Erste sein will, der Francis platt trampelt. Rafe öffnet das Fenster, und sie holen Schwung und hieven den Geist auf die Fensterbank. Gregory schiebt ihn nach draußen, macht die Jacke los, die sich verfangen hat, und sie werfen ihn kopfüber aufs Pflaster. Sie sehen ihm hinterher. »Er springt hoch wie ein Stehaufmännchen«, beobachtet Rafe. Sie schlagen sich den Staub von den Händen und lächeln ihn an. »Er wünscht Ihnen eine gute Nacht, Sir«, sagt Rafe.

Später sitzt Gregory im Hemd auf dem Fußende des Bettes, das Haar wirr, die Schuhe von den Füßen getreten, und wetzt mit einem Fuß gedankenverloren über die Bodenmatte. »Werde ich also verheiratet? Werde ich mit Jane Seymour verheiratet?«

»Anfang des Sommers hast du gedacht, ich wollte dich mit einer alten Matrone mit einem Wildpark verheiraten.« Die Leute ziehen Gregory auf: Rafe Sadler, Thomas Wriothesley und die anderen jungen Männer in seinem Haus; sein Cousin, Richard Cromwell.

»Ja, aber worüber haben Sie die ganze letzte Stunde mit ihrem Bruder geredet? Erst war es Schach und dann Gerede, Gerede, Gerede. Es heißt, Sie mochten Jane selbst einmal.«

»Wann?«

»Im letzten Jahr. Im letzten Jahr haben Sie Jane gemocht.«

»Wenn es so war, habe ich es vergessen.«

»Die Frau von George Boleyn hat es mir gesagt. Lady Rochford. Sie sagte: ›Sie könnten eine Stiefmutter aus Wolf Hall bekommen, was würden Sie davon halten?‹ Wenn Sie Jane also selbst mögen«, Gregory legt die Stirn in Falten, »heiratet sie besser nicht mich.«

»Denkst du, ich würde dir deine Braut stehlen? Wie der alte Sir John?«

Als sein Kopf auf dem Kissen liegt, sagt er: »Psst, Gregory.« Er schließt die Augen. Gregory ist ein guter Junge, wenn auch all das Latein, das er gelernt hat, und die klangvollen Sätze großer Autoren in seinen Kopf hinein- und gleich wieder herausgerollt sind, Steinen gleich. Da denkt man an Thomas Mores Jungen: den Abkömmling eines Gelehrten, den ganz Europa bewunderte, und der arme John bringt kaum ein Vaterunser zustande. Gregory ist ein ausgezeichneter Bogenschütze, ein exzellenter Reiter, ein Held auf dem Turnierplatz, und auch an seinen Manieren ist nichts auszusetzen. Allen Höhergestellten gegenüber verhält er sich ehrerbietig, scharrt nicht mit den Füßen oder steht auf einem Bein, und mit den Menschen unter sich geht er gnädig und höflich um. Er weiß sich vor ausländischen Diplomaten nach deren Landessitte zu verneigen, sitzt ohne Zappeleien am Tisch, füttert beim Essen keine Spaniels und weiß ein Huhn zu zerlegen und aufzuschneiden, wenn er gebeten wird, die Älteren zu bedienen. Er hängt nicht krumm mit dem Arm in nur einem Ärmel da, starrt nicht in Fensterscheiben, um sich zu bewundern, glotzt nicht in der Kirche herum und unterbricht auch keine alten Männer und beendet ihre Geschichten für sie. Wenn einer niest, sagt er: »Gott sei mit Euch!«

Gott sei mit Euch, Sir oder Madam.

Gregory hebt den Kopf. »Thomas More«, sagt er. »Die Geschworenen. War das wirklich so?«

Er hat die Geschichte des jungen Weston wiedererkannt: im weiteren Sinne, obwohl er den Einzelheiten nicht zustimmen kann. Er schließt die Augen. »Ich hatte keine Axt dabei«, sagt er.

Er ist müde. Er spricht mit Gott. Er sagt: Gott, führe mich. Manchmal kurz vorm Einschlafen huscht die mächtige purpurne Präsenz des Kardinals an seinem inneren Auge vorbei. Er wünschte, der Tote würde ihm weissagen, doch sein alter Förderer redet nur von häuslichen Angelegenheiten, von Arbeitsdingen. Wohin habe ich diesen Brief gelegt, vom Herzog von Norfolk?, fragt er den Kardinal, und am nächsten Tag, in der Frühe schon, fällt ihm der Umschlag in die Hand.