Bisher von Lauren Oliver im Carlsen Verlag erschienen:
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Pandemonium, Amor-Trilogie Band 2
Requiem, Amor-Trilogie Band 3
Annabel / Hana / Raven, Geschichten aus der Welt der Amor-Trilogie
Liesl & Mo und der mächtigste Zauber der Welt
Panic – Wer Angst hat, ist raus
Wenn du stirbst, zieht dein ganzes Leben an dir vorbei, sagen sie
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Alle deutschen Rechte bei Carlsen Verlag GmbH, Hamburg 2017
Originalcopyright © 2015 by Laura Schechter
Originalverlag: HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, New York
Originaltitel: Vanishing Girls
Umschlagbild: Trevillion Images © Mark Owen / shutterstock © Kichigin / Barbol / sumroeng chinnapan / PremiumVector
Umschlaggestaltung und -typografie: formlabor
Aus dem Englischen von Katharina Diestelmeier
Lektorat: Dennis Wohlfeil
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-646-92794-8
Für den echten John Parker aus Dank für seine Unterstützung und Inspiration – und für Schwestern auf der ganzen Welt, inklusive meiner eigenen
Das Komische daran, beinahe gestorben zu sein, ist, dass anschließend alle meinen, du müsstest ununterbrochen auf dem Glückstrip sein, Schmetterlingen im grünen Gras nachjagen oder in jeder Ölpfütze auf dem Highway einen Regenbogen entdecken. Es ist ein Wunder, sagen sie dann mit erwartungsvollem Blick, als hättest du ein großes altes Geschenk erhalten, und wehe, du enttäuschst Oma und schneidest eine Grimasse, wenn du das Paket auspackst und einen unförmigen, ausgeleierten Pullover darin findest.
So ähnlich ist das ganze Leben: voller Löcher, ausgefranster Stellen, Möglichkeiten, hängenzubleiben. Unbequem und kratzig. Ein Geschenk, um das du nie gebeten hast, das du dir nie gewünscht hast, nie haben wolltest. Ein Geschenk, von dem alle erwarten, du müsstest es gerne tragen, Tag für Tag, selbst wenn du lieber im Bett bleiben und nichts tun würdest.
Die Wahrheit ist: Man braucht keinerlei Talent dafür, beinahe zu sterben, genauso wenig wie dafür, beinahe zu leben.
»Spielen wir was?«
Das sind die drei Worte, die ich im Laufe meines Lebens am häufigsten gehört habe. Spielen wir was? Als die vierjährige Dara mit ausgebreiteten Armen durch die Fliegengittertür stürmt und ins Grün unseres Vorgartens fliegt, ohne meine Antwort abzuwarten. Spielen wir was? Als die sechsjährige Dara mitten in der Nacht in mein Bett kriecht, die Augen weit aufgerissen und vom Mondlicht angestrahlt, den Geruch nach Erdbeershampoo im feuchten Haar. Spielen wir was? Die achtjährige Dara, die mit ihrer Fahrradklingel klingelt; die zehnjährige Dara, die Karten auf der feuchten Swimmingpool-Umrandung austeilt; die zwölfjährige Dara, die eine leere Limoflasche auf dem Boden kreisen lässt.
Auch die sechzehnjährige Dara wartet meine Antwort nicht ab. »Rutsch rüber.« Sie stößt ihre beste Freundin Ariana mit dem Knie gegen den Oberschenkel. »Meine Schwester will mitspielen.«
»Es ist kein Platz«, sagt Ariana und kreischt auf, als sich Dara gegen sie lehnt. »Tut mir leid, Nick.« Sie sitzen dicht gedrängt mit einem halben Dutzend anderer Leute in einer ungenutzten Pferdebox der Scheune von Arianas Eltern. Es riecht nach Sägemehl und ganz schwach nach Mist. Auf dem festgestampften Boden steht eine halb leere Wodkaflasche neben ein paar Sixpacks Bier und einem kleinen Haufen bunt zusammengewürfelter Kleidungsstücke: ein Schal, zwei verschiedene Fausthandschuhe, eine dicke Jacke und Daras enges rosa Sweatshirt, auf dem mit Strasssteinen Queen B*tch steht. Es wirkt alles wie ein seltsames rituelles Opfer für die Götter des Strippoker.
»Schon okay«, sage ich schnell. »Ich muss nicht mitspielen. Ich wollte sowieso nur kurz Hallo sagen.«
Dara verzieht das Gesicht. »Du bist doch gerade erst gekommen.«
Ariana knallt ihre Karten offen auf den Boden. »Drilling mit Königen.« Sie reißt eine Bierdose auf und Schaum sprudelt an ihren Fingerknöcheln hervor. »Matt, zieh dein T-Shirt aus.«
Matt ist ein dünner Junge mit einer etwas zu großen Nase und dem trüben Blick eines schon ziemlich Betrunkenen. Nachdem er nichts weiter anhat als ein T-Shirt – es ist schwarz, mit einem geheimnisvollen einäugigen Biber vorne drauf –, kann ich nur vermuten, dass die dicke Jacke ihm gehört. »Mir ist kalt«, sagt er wimmernd.
»Entweder dein T-Shirt oder deine Hose. Das kannst du dir aussuchen.«
Matt seufzt und schält sich aus seinem T-Shirt, wobei ein schmaler, mit Akne übersäter Rücken zum Vorschein kommt.
»Wo ist Parker?«, frage ich bemüht beiläufig. Anschließend ärgere ich mich, dass ich mich überhaupt bemühen muss. Aber seit Dara angefangen hat … was auch immer sie mit ihm macht, ist es unmöglich für mich, über meinen ehemals besten Freund zu sprechen, ohne das Gefühl zu haben, mir würde eine Christbaumkugel im Hals stecken.
Dara erstarrt beim Kartenverteilen. Aber nur einen kurzen Augenblick. Sie wirft Ariana eine letzte Karte hin und nimmt dann ihre eigenen auf. »Keine Ahnung.«
»Ich habe ihm eine Nachricht geschickt«, sage ich. »Er hat mir gesagt, er würde kommen.«
»Ja, na ja, vielleicht ist er schon wieder weg.« Dara wirft mir einen flüchtigen Blick aus ihren dunklen Augen zu und die Botschaft ist deutlich: Lass es gut sein. Wahrscheinlich haben sie sich wieder gestritten. Oder vielleicht haben sie sich auch nicht gestritten und genau das ist das Problem. Vielleicht weigert er sich mitzuspielen.
»Dara hat einen neuen Freund«, sagt Ariana in einem Singsang und Dara stößt ihr den Ellbogen in die Seite. »Na ja, stimmt doch, oder? Einen heimlichen Freund.«
»Halt die Klappe«, entgegnet Dara in scharfem Ton. Ich weiß nicht genau, ob sie wirklich sauer ist oder nur so tut.
Ari zieht einen gespielten Schmollmund. »Kenn ich ihn? Sag mir nur, ob ich ihn kenne.«
»Auf keinen Fall«, erwidert Dara. »Keine Hinweise.« Sie wirft ihre Karten hin. Dann steht sie auf und klopft sich die Rückseite ihrer Jeans ab. Sie trägt pelzbesetzte Stiefel mit Keilabsätzen und ein glänzendes T-Shirt, das ich noch nie gesehen habe und das wirkt, als wäre Metall über ihren Körper gegossen worden und dann dort erstarrt. Ihr Haar – vor kurzem schwarz gefärbt und perfekt glatt geföhnt – fließt wie Öl über ihre Schultern. Wie üblich komme ich mir vor wie die Vogelscheuche neben Dorothy. Ich trage eine unförmige Jacke, die Mom mir vor vier Jahren für eine Skitour in Vermont gekauft hat, und meine langweiligen mäusekackbraunen Haare sind zu ihrem üblichen Pferdeschwanz zurückgebunden.
»Ich hole mir was zu trinken«, sagt Dara, obwohl sie eben ein Bier in der Hand hatte. »Will noch jemand was?«
»Bring ein paar Mixgetränke mit«, sagt Ariana.
Dara lässt nicht erkennen, ob sie sie gehört hat. Sie packt mich am Handgelenk und zieht mich aus der Pferdebox in den Vorraum der Scheune, wo Ariana – oder ihre Mutter? – ein paar Klapptische aufgebaut hat, die mit Schüsseln voller Chips, Brezeln, Guacamole und abgepackten Keksen beladen sind. In einer Schale mit Guacamole steckt eine Zigarettenkippe und in einer riesigen Bowle voller halb geschmolzener Eiswürfel treiben Bierdosen wie Schiffe beim Versuch, die Arktis zu durchqueren.
Offenbar ist ein Großteil von Daras Stufe hier und ungefähr die Hälfte von meiner – auch wenn Zwölftklässler sich normalerweise nicht dazu herablassen, bei einer Elftklässlerparty aufzulaufen, verpassen sie im zweiten Halbjahr allerdings auch keine Gelegenheit zum Feiern. Zwischen den Boxen sind Lichterketten gespannt, nur in dreien stehen wirklich Pferde: Misty, Luciana und Mr Ed. Ich frage mich, ob eins der Tiere sich an dem hämmernden Bass der Musik stört oder daran, dass alle fünf Sekunden ein betrunkener Elftklässler seine Hand durchs Tor schiebt und das Pferd mit Käseflips zu füttern versucht.
In den anderen Boxen, die nicht mit alten Sätteln, Mistgabeln und verrosteten landwirtschaftlichen Geräten vollgestopft sind – denn das Einzige, was Arianas Mutter bewirtschaftet, ist das Geld ihrer drei Exmänner –, spielen Jugendliche Trinkspiele, tanzen aufreizend miteinander oder machen wie Jake Harris und Aubrey O’Brien gleich volle Kanne rum. Die Sattelkammer ist inoffiziell von den Kiffern in Beschlag genommen worden, hat man mir gesagt.
Die großen Schiebetüren der Scheune stehen offen und eisige Nachtluft dringt von draußen herein. Etwas weiter bergab versucht jemand auf der Reitbahn ein Lagerfeuer anzuzünden, aber es regnet leicht und das Holz brennt nicht.
Wenigstens ist Aaron nicht hier. Ich weiß nicht, ob ich eine Begegnung mit ihm heute ertragen hätte – nicht nach dem letzten Wochenende. Es wäre besser, wenn er wütend geworden wäre – wenn er ausgerastet wäre und herumgeschrien hätte oder Gerüchte in der Schule streuen würde, dass ich Chlamydien hätte oder so. Dann könnte ich ihn hassen. Dann würde das alles Sinn ergeben.
Aber seit ich mit ihm Schluss gemacht habe, ist er immer ausgesucht höflich wie der Türsteher bei Gap. Als hoffte er wirklich, ich würde etwas kaufen, wolle mich aber nicht drängen.
»Ich glaube immer noch, dass wir gut zusammenpassen«, hatte er aus heiterem Himmel gesagt, als er mir mein Sweatshirt zurückgab (natürlich gewaschen und ordentlich zusammengelegt) sowie eine Ansammlung von Kleinkram, den ich in seinem Auto gelassen hatte: Stifte, ein Handyladegerät und eine komische Schneekugel, die ich im Drogeriemarkt im Schlussverkauf entdeckt hatte. In der Schulmensa hatte es zum Mittagessen Spaghetti alla Marinara gegeben und in seinem Mundwinkel klebte noch ein winziger Rest neonfarbener Soße. »Vielleicht überlegst du es dir ja noch mal.«
»Vielleicht«, hatte ich gesagt. Und ich hoffte wirklich, mehr als alles andere auf der Welt, dass ich das tun würde.
Dara nimmt sich eine Flasche Southern Comfort und schüttet drei Fingerbreit in einen Plastikbecher, den sie mit Coca-Cola auffüllt. Ich beiße mir von innen auf die Lippe, als könnte ich so die Worte zurückhalten, die ich eigentlich sagen will: Das muss mindestens ihr dritter Becher sein; sie hat deswegen bereits Ärger mit Mom und Dad; warum reißt sie sich nicht mal zusammen? Ihretwegen sind wir beide jetzt in Therapie, verdammt noch mal.
Stattdessen sage ich: »Soso. Ein neuer Freund, hm?« Ich versuche meine Stimme unbeschwert klingen zu lassen.
Daras Mundwinkel verziehen sich zu einem Lächeln. »Du kennst doch Ariana. Sie übertreibt mal wieder.« Sie mixt noch einen Drink und drückt ihn mir in die Hand, dann stößt sie unsere Plastikbecher gegeneinander. »Prost«, sagt sie und trinkt ihren Becher in einem Zug halb leer.
Die Flüssigkeit riecht verdächtig nach Hustensaft. Ich stelle den Becher neben einer Platte kalter Würstchen im Schlafrock ab, die aussehen wie in Gaze gewickelte verschrumpelte Daumen. »Es gibt also keinen geheimnisvollen Typen?«
Dara hebt eine Schulter. »Was soll ich sagen?« Sie hat heute goldenen Lidschatten aufgelegt und ein Hauch davon bedeckt ihre Wangen; sie wirkt wie jemand, der aus Versehen das Feenland durchquert hat. »Ich bin eben unwiderstehlich.«
»Was ist mit Parker?«, frage ich. »Gab’s mal wieder Ärger im Paradies?«
Ich bereue die Frage sofort. Daras Lächeln verschwindet. »Warum?« Ihr Blick ist jetzt trüb, hart. »Damit du wieder sagen kannst: ›Hab ich dir doch gleich gesagt‹?«
»Vergiss es.« Ich wende mich ab, plötzlich erschöpft. »Gute Nacht, Dara.«
»Warte.« Sie fasst mich am Handgelenk. Und schon ist der angespannte Moment verstrichen und sie lächelt wieder. »Bleib doch noch. Bitte bleib, Ninpin«, wiederholt sie, als ich zögere.
Wenn Dara so ist, süß und flehend wie früher, wie die Schwester, die auf meine Brust kletterte und mich mit großen Augen anbettelte endlich aufzuwachen, ist es fast unmöglich, ihr zu widerstehen. Fast. »Ich muss morgen um sieben raus«, sage ich noch, als sie mich schon nach draußen ins Rauschen und Plätschern des Regens begleitet. »Ich habe Mom versprochen, ihr beim Aufräumen zu helfen, bevor Tante Jackie kommt.«
Etwa einen Monat lang, nachdem Dad verkündet hatte, dass er ausziehen würde, verhielt sich Mom so, als hätte sich nichts verändert. Aber in letzter Zeit vergaß sie Dinge: die Spülmaschine anzumachen, ihren Wecker zu stellen, ihre Arbeitsblusen zu bügeln, staubzusaugen. So, als würde jedes Mal, wenn er wieder was von zu Hause mitnimmt – seinen Lieblingssessel, das Schachspiel, das er von seinem Vater geerbt hat, die Golfschläger, die er nie benutzt –, auch ein Stück ihres Gehirns verschwinden.
»Warum?« Dara verdreht die Augen. »Sie bringt einfach ihre komischen Reinigungskristalle mit, die die Arbeit erledigen. Bitte«, fügt sie hinzu. Sie muss die Stimme heben, damit ich sie über die Musik hinweg hören kann, die irgendjemand gerade lauter gestellt hat. »Du gehst nie mit aus.«
»Das stimmt nicht«, sage ich. »Es ist nur so, dass du dauernd ausgehst.« Die Worte klingen schärfer als beabsichtigt. Aber Dara lacht bloß.
»Lass uns heute Abend nicht streiten, okay?« Sie beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. Ihre Lippen sind zuckerklebrig. »Lass uns einfach happy sein.«
Eine Gruppe Jungen – Elftklässler, nehme ich an –, die im Halbdunkel der Scheune zusammenstehen, grölen und klatschen. »Cool!«, ruft einer von ihnen und hebt eine Bierdose. »Lesbensex!«
»Halt’s Maul, du Vollpfosten!«, entgegnet Dara. Aber sie lacht. »Das ist meine Schwester.«
»Das ist jetzt echt mein Stichwort«, sage ich.
Aber Dara hört nicht zu. Ihr Gesicht ist gerötet, ihre Augen glänzen vom Alkohol. »Sie ist meine Schwester«, wiederholt sie, an niemand Speziellen und gleichzeitig an alle gerichtet, denn Dara ist die Art Person, auf die andere schauen, die sie mögen, der sie folgen. »Und meine beste Freundin.«
Weiteres Gegröle; vereinzelter Applaus. Ein anderer Junge ruft: »Los, macht schon!«
Dara legt mir einen Arm um die Schulter, beugt sich vor, um mir etwas ins Ohr zu flüstern. Ihr Atem riecht süßlich, penetrant nach Schnaps. »Beste Freundinnen«, sagt sie und ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie mich umarmt oder sich an mich hängt. »Stimmt’s, Nick? Nichts – gar nichts – kann daran etwas ändern.«
Um 23:55 Uhr traf die Polizei bei einem Unfall auf der Route 101, direkt südlich des Shady Palms Motels, ein. Die Fahrerin, Nicole Warren, 17, kam mit leichten Verletzungen ins Eastern Memorial Hospital. Die Beifahrerin, Dara Warren, 16, die nicht angeschnallt war, wurde im Rettungswagen auf die Intensivstation gebracht. Ihr Zustand ist zum Zeitpunkt dieser Meldung noch immer kritisch. Wir beten alle für dich, Dara.
Unglaublich traurig. Hoffe, sie kommt durch!
mamabear27 um 6:04 Uhr
wohne direkt an der straße, hab den unfall aus 800 metern entfernung gehört!!!
qTpie27 um 8:04 Uhr
Diese Jugendlichen halten sich für unverwundbar. Warum war sie nicht angeschnallt?? Sie ist ganz allein dafür verantwortlich.
markhhammond um 8:05 Uhr
Gute Besserung!
Dara,
es tut mir so leid. Bitte wach auf.
Ich will es wiedergutmachen.
Parker
Es war eine ereignisreiche Nacht für die Polizei von Main Heights. Zwischen Mitternacht und ein Uhr am Mittwochmorgen verübten drei ortsansässige Jugendliche eine beträchtliche Anzahl kleinerer Diebstähle im Gebiet südlich der Route 23. Die Polizei wurde zunächst zum 7-Eleven am Richmond Place gerufen, wo Mark Haas, 17, Daniel Ripp, 16, und Jacob Ripp, 19, einen ortsansässigen Angestellten bedroht und belästigt hatten, bevor sie mit zwei Sechserpacks Bier, vier Packungen Eier, drei Schachteln Twinkies und drei BiFis entkamen. Die Polizei verfolgte die drei Jugendlichen zur Sutter Street, wo sie ein halbes Dutzend Briefkästen zerstört und das Haus von Mr Walter Middleton mit Eiern beworfen hatten. Letzterer ist Lehrer für Mathematik an der Highschool der Jugendlichen und hatte, wie der Reporter erfuhr, in diesem Schuljahr damit gedroht, Haas durchfallen zu lassen, weil er ihn des Abschreibens verdächtigte. Schließlich fasste die Polizei die Jugendlichen im Carren Park und nahm sie fest, nachdem die drei Jungen noch einen Rucksack, zwei Paar Jeans und ein Paar Sneakers aus der Nähe des öffentlichen Freibads gestohlen hatten. Polizeiberichten zufolge gehörten die Kleider zwei jugendlichen Nacktbadenden, die beide zur Polizeiwache von Main Heights gebracht wurden … hoffentlich erst, nachdem sie ihre Kleider wiederbekommen hatten.
dannnnnnny … du held!
grandtheftotto um 12:01 Uhr
Habt ihr nichts Besseres zu tun?
dreifachmom um 12:35 Uhr
Das Ironische an der Geschichte ist, dass diese Jungen wahrscheinlich bald selbst im 7-Eleven arbeiten werden. Irgendwie kann ich mir die drei nicht als Hirnchirurgen vorstellen.
hal.m.woodward um 14:56 Uhr
Nacktbaden? Sind sie nicht erfroren?? :P
prettymaddie um 19:22 Uhr
Wieso nennt der Bericht nicht die Namen der »zwei jugendlichen Nacktbadenden«? Hausfriedensbruch ist schließlich ein Straftatbestand, oder?
vigilantescience01 um 21:01 Uhr
Danke für Ihren Kommentar. Das ist richtig, aber gegen keinen der beiden Jugendlichen wurde Anklage erhoben.
admin um 21:15 Uhr
Mr Middleton isn Arsch.
hellicat15 um 23:01 Uhr
»Nacktbaden, Nicole?«
Es gibt viele Wörter, die man seinen Vater nie sagen hören will. Darmspülung. Orgasmus. Enttäuscht.
Nacktbaden steht ziemlich weit oben auf der Liste, vor allem wenn man gerade um drei Uhr morgens von der Polizeiwache abgeholt wurde und nichts weiter anhat als von der Polizei zur Verfügung gestellte Hosen und ein Sweatshirt, das wahrscheinlich vorher irgendeinem Obdachlosen oder mutmaßlichen Serienmörder gehört hat, weil Kleider, Tasche, Ausweis und Geld vor dem Freibad geklaut worden sind.
»Es war bloß ein Spaß«, sage ich, was dämlich ist; es ist überhaupt nicht spaßig, mitten in der Nacht beinahe splitternackt verhaftet zu werden, während man eigentlich schlafen sollte.
Die Scheinwerfer teilen die Schnellstraße in helle und dunkle Flecken. Ich bin froh, dass ich wenigstens das Gesicht meines Vaters nicht sehen kann.
»Was hast du dir nur dabei gedacht? Das hätte ich nie erwartet. Von dir nicht. Und dieser Junge, Mike …«
»Mark.«
»Wie auch immer er heißt. Wie alt ist er?«
Darauf schweige ich. Zwanzig wäre die richtige Antwort, aber ich bin schlau genug, das nicht laut zu sagen. Dad sucht nur nach jemandem, dem er die Schuld zuschieben kann. Soll er doch denken, dass ich dazu gedrängt wurde, dass irgendein Typ – ein schlechter Einfluss – mich dazu gebracht hat, im Carren Park über den Zaun zu klettern, mich bis auf die Unterwäsche auszuziehen und einen fetten Bauchklatscher ins Schwimmerbecken zu machen, das so kalt war, dass es mir den Atem verschlug und ich lachend und nach Luft schnappend auftauchte und dabei an Dara dachte, daran, dass sie eigentlich dabei sein sollte, dass sie es verstehen würde.
Ich stelle mir vor, wie ein riesiger Felsbrocken aus der Dunkelheit auftaucht, ein Fächer aus massivem Stein, und ich muss die Augen schließen und wieder öffnen. Da ist nichts außer dem Highway, lang und glatt, und den beiden Trichtern aus Scheinwerferlicht.
»Hör zu, Nick«, sagt Dad. »Deine Mutter und ich machen uns Sorgen um dich.«
»Ich dachte, Mom und du redet nicht miteinander.« Ich öffne das Fenster einen Spaltbreit, zum einen, weil die Klimaanlage kaum kalte Luft ausspuckt, und zum anderen, damit das Rauschen des Fahrtwindes Dads Stimme übertönt.
Das ignoriert er. »Ich meine es ernst. Seit dem Unfall …«
»Bitte«, sage ich schnell, bevor er seinen Satz beenden kann. »Nicht.«
Dad seufzt und reibt sich die Augen hinter der Brille. Er riecht leicht nach den Mentholpflastern, die er sich nachts auf die Nase klebt, um nicht zu schnarchen, und er hat noch seine uralte ausgeleierte Schlafanzughose an, die mit den Rentieren. Einen Moment lang fühle ich mich wirklich richtig mies.
Dann fällt mir Dads neue Freundin wieder ein und Moms wortloser, verkniffener Blick wie bei einer Marionette mit viel zu straff gespannten Fäden.
»Du musst darüber reden, Nick«, sagt Dad. Diesmal ist seine Stimme leise, besorgt. »Wenn nicht mit mir, dann mit Dr. Lechmi. Oder mit Tante Jackie. Oder mit irgendjemandem.«
»Nein«, sage ich und lasse das Fenster ganz herunter, so dass der Wind dröhnt und den Klang meiner Stimme verweht. »Muss ich nicht.«
Dr. Leckmich – Pardon, Lechmi – sagt, ich solle jeden Tag fünf Minuten was über meine Gefühle schreiben.
Also gut:
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Ich hasse Parker.
Mir geht’s schon besser.
Seit DEM KUSS sind bereits fünf Tage vergangen und heute Morgen in der Schule hat er noch nicht mal in meine Richtung GEATMET. Als hätte er Angst, ich könne seinen Sauerstoffkreislauf kontaminieren oder so.
Mom und Dad stehen diese Woche auch auf der Scheißliste. Dad, weil er wegen der Scheidung so ernst und besorgt tut, obwohl klar ist, dass er innerlich Rückwärtssaltos macht und Purzelbäume schlägt. Es zwingt ihn schließlich keiner dazu, uns zu verlassen. Und Mom, weil sie sich nicht durchsetzt und kein einziges Mal wegen Paw-Paw geweint hat, noch nicht mal bei der Beerdigung. Sie macht nur mechanisch immer weiter, geht zu SoulCycle und sucht nach verdammten Quinoarezepten, als könnte sie die ganze Welt zusammenhalten, indem sie für genug Ballaststoffe sorgt. Als wäre sie irgendein komischer computeranimierter Roboter in Yogahosen und Vassar-Sweatshirt.
Nick ist auch so. Es macht mich wahnsinnig. Früher war sie nicht so, glaube ich. Oder vielleicht weiß ich es nur nicht mehr. Aber seit sie auf der Highschool ist, verteilt sie dauernd gute Ratschläge, als wäre sie schon fünfundvierzig und nicht genau elf Monate und drei Tage älter als ich.
Ich weiß noch, als Mom und Dad sich letzten Monat mit uns zusammengesetzt haben, um uns das mit der Scheidung zu sagen, da hat sie noch nicht mal geblinzelt. »Okay«, hat sie nur gesagt.
Oh-scheiß-kay. Echt?
Paw-Paw ist tot, Mom und Dad hassen sich und Nick guckt mich die Hälfte der Zeit an, als wäre ich ein Alien.
Hören Sie, Dr. Leckmich, alles, was ich zu sagen habe, ist: Nichts ist okay.
Gar nichts.
Somerville und Main Heights sind keine zwanzig Kilometer voneinander entfernt, aber sie könnten genauso gut in verschiedenen Welten liegen. Main Heights ist ganz neu: Neue Häuser, neue Geschäfte, neuer Kram, frisch geschiedene Väter mit ihren frisch gekauften Eigentumswohnungen, eine kleine Ansammlung von Gipswänden, Sperrholz und frischer Farbe, wie eine Bühnenkulisse, die zu schnell aufgebaut wurde, um realistisch zu sein. Dads Wohnung geht auf einen Parkplatz und auf eine Reihe dürrer Ulmen, die die Wohnanlage vom Highway trennen, raus. Sie ist mit Teppichboden ausgelegt und die Klimaanlage macht überhaupt keine Geräusche, spuckt nur lautlos eisige, frisch aufbereitete Luft aus, so dass man das Gefühl hat, in einem Kühlschrank zu wohnen.
Trotzdem mag ich Main Heights. Ich mag mein komplett weißes Zimmer, den Geruch nach frischem Asphalt und die ganzen Billigbauten, die sich an den Himmel klammern. Main Heights ist ein Ort, wo Leute hinziehen, die vergessen wollen.
Aber zwei Tage nach dem Nacktbadevorfall bin ich auf dem Weg zurück nach Somerville.
»Ein Tapetenwechsel wird dir guttun«, sagt Dad zum zwölften Mal, was total bescheuert ist, denn genau dasselbe hat er gesagt, bevor ich nach Main Heights gezogen bin. »Und deiner Mutter wird es guttun, dich zu Hause zu haben. Sie wird sich freuen.«
Wenigstens lügt er nicht und sagt nicht, dass Dara sich auch freuen wird.
Wir sind viel zu schnell in Somerville. Und ganz plötzlich, auf der anderen Seite der Unterführung, sieht alles alt aus. Riesige Bäume säumen die Straße – Trauerweiden, die nach der Erde tasten, hohe Eichen, die flackernde Schatten auf das Auto werfen. Durch den Vorhang aus sich wiegendem Grün werden riesige Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende über die Kolonialzeit bis hin zu was-weiß-ich-wie-lange-her sichtbar. Somerville war früher der Sitz einer florierenden Spinnerei und Baumwollfabrik, die größte Stadt im ganzen Staat. Jetzt steht die halbe Stadt unter Denkmalschutz. Es gibt ein Stadtgründungsfest, ein Spinnereifestival und eine Pilgerparade. Es hat etwas Rückwärtsgewandtes, an einem Ort zu leben, der so besessen von seiner Vergangenheit ist; es ist, als hätten alle den Gedanken an die Zukunft aufgegeben.
Sobald wir in unsere Straße einbiegen, verspüre ich eine Enge in der Brust. Das ist noch ein Problem an Somerville: zu viele Erinnerungen und Assoziationen. Alles, was passiert, ist schon tausend Mal passiert. Einen Augenblick taucht der Eindruck von tausend anderen Autofahrten vor meinem inneren Auge auf, tausend anderen Nachhausefahrten in Dads großem Suburban mit den rostfarbenen Kaffeeflecken auf dem Beifahrersitz – ein Gemisch aus Erinnerungen an Familienausflüge, Restaurantbesuche und gemeinsame Besorgungen.
Seltsam, wie manche Dinge ewig gleich bleiben und sich dann so schnell verändern.
Dads Suburban steht inzwischen zum Verkauf. Er will ihn gegen ein kleineres Modell eintauschen, genau wie er sein großes Haus und seine vierköpfige Familie gegen eine kleinere Wohnung und eine muntere winzige Blondine namens Cheryl eingetauscht hat. Und wir werden nie wieder als Familie bei Haus Nummer 37 vorfahren.
Daras Wagen steht in der Einfahrt zwischen der Garage und Moms Auto: Er ist so dreckig, dass ich Fingerabdrücke auf dem Tankdeckel sehen kann, und die beiden Kuschelwürfel, die ich ihr bei Walmart gekauft habe, hängen immer noch am Rückspiegel. Dass Dara sie nicht weggeworfen hat, heitert mich etwas auf. Ob sie wohl schon wieder Auto fährt?
Ob sie wohl zu Hause ist, in einem zu großen T-Shirt und fast nicht existierenden Shorts in der Essecke sitzt und an ihren Zehennägeln zupft wie immer, wenn sie mich wahnsinnig machen will? Ob sie aufsieht, wenn ich reinkomme, sich den Pony aus den Augen pustet und sagt: »Hey, Ninpin«, als wäre nichts geschehen, als hätte sie mich nicht die letzten drei Monate komplett ignoriert?
Erst als wir angehalten haben, scheint es Dad leidzutun, mich einfach so hier abzuladen.
»Kommst du klar?«, fragt er.
»Was denkst du denn?«, entgegne ich.
Er hält mich zurück. »Es wird dir guttun«, wiederholt er. »Euch beiden. Dr. Lechmi hat auch gesagt, dass …«
»Dr. Lechmi ist ein verdammter Amateur«, sage ich und steige aus, bevor er etwas einwenden kann. Nach dem Unfall haben Mom und Dad darauf bestanden, dass ich meine Sitzungen bei Dr. Lechmi auf ein Mal wöchentlich erhöhte, als fürchteten sie, ich hätte den Unfall absichtlich gebaut oder die Gehirnerschütterung hätte meinen Kopf dauerhaft geschädigt. Aber irgendwann drängten sie nicht länger darauf, nachdem ich ganze vier Sitzungen zu 250 Dollar die Stunde damit verbracht hatte, in komplettem und absolutem Schweigen dazusitzen. Ich habe keine Ahnung, ob Dara noch hingeht.
Ich klopfe einmal auf den Kofferraum, dann lässt Dad ihn aufklappen. Er macht sich noch nicht mal die Mühe, auszusteigen und mich zu umarmen – nicht dass ich das gewollt hätte –, er lässt nur sein Fenster runter und winkt, als wäre ich ein Passagier auf einem Schiff, das gleich die Segel setzt.
» Ich rufe heute Abend an«, sagt er. »Hab dich lieb.«
»Ja. Ich dich auch.« Ich hänge mir die Tasche über die Schulter und schlurfe auf die Haustür zu. Das Gras ist zu lang und klebt feucht an meinen Knöcheln. Die Haustür müsste mal gestrichen werden und das ganze Haus wirkt zusammengesackt, als wäre etwas Wesentliches darin eingestürzt.
Vor ein paar Jahren war meine Mutter plötzlich überzeugt, dass die Küche sich neigte. Sie reihte Tiefkühlerbsen auf und zeigte Dara und mir, wie sie von einer Seite der Arbeitsplatte zur anderen rollten. Dad erklärte sie für verrückt. Sie hatten einen Riesenstreit deswegen, vor allem weil er dauernd auf Erbsen trat, wenn er nachts barfuß in die Küche ging, um sich etwas zu trinken zu holen.
Schließlich beauftragte Mom jemanden sich das Fundament anzusehen, und es stellte sich heraus dass sie Recht hatte. Da sich der Boden abgesenkt hatte, war unser Haus gut einen Zentimeter nach links gekippt, nicht so weit, dass man es sehen konnte, aber weit genug, um es zu spüren.
Heute wirkt das Haus schiefer denn je.
Mom hat sich noch nicht mal die Mühe gemacht, die zusätzliche Sturmtür gegen die Fliegengittertür auszutauschen. Ich muss mich auf die Klinke lehnen, damit die Tür aufgeht. Im Flur ist es dunkel und riecht leicht säuerlich. Mehrere FedEx-Kartons sind unter dem Garderobentisch aufgestapelt und mitten auf dem Boden steht ein Paar mir unbekannter Gummistiefel, die Sohlen schlammverschmiert. Perkins, unser siebzehnjähriger Tigerkater, miaut klagend, kommt den Flur entlanggetrottet und streicht um meine Knöchel. Wenigstens einer freut sich, mich zu sehen.
»Hallo?«, rufe ich, verlegen, dass ich mich so unbehaglich und orientierungslos fühle, als wäre ich eine Fremde.
»Hier bin ich, Nick!«, ertönt Moms Stimme leise durch die Wände, als wäre sie dort gefangen.
Ich lasse meine Tasche im Flur fallen, darauf bedacht, dem Schlammfleck auszuweichen, und gehe in die Küche, wobei ich mir die ganze Zeit Dara vorstelle: Dara am Telefon, Dara mit hochgezogenen Knien auf dem Fensterbrett, Dara mit frisch gefärbten Strähnen im Haar. Daras Augen, klar wie Schwimmbadwasser, und ihre kleine Stupsnase, die Art Nase, für die andere Leute viel Geld bezahlen. Dara, die auf mich wartet, bereit mir zu verzeihen.
Aber in der Küche ist nur Mom. Na gut. Dann ist Dara entweder nicht zu Hause oder sie hat beschlossen, mich nicht mit ihrer Anwesenheit zu beehren.
»Nick.« Mom wirkt überrascht mich zu sehen, obwohl sie mich natürlich hat reinkommen hören und mich erwartet hat. »Du bist zu dünn«, sagt sie, als sie mich in den Arm nimmt. Und dann: »Ich bin sehr enttäuscht von dir.«
»Ja.« Ich setze mich an den Tisch, auf dem hohe Stapel alter Zeitungen liegen. Daneben stehen zwei Becher, beide halb voll mit Kaffee, der einen milchig weißen Glanz angenommen hat, und ein Teller mit einem Stück halb gegessenem Toast. »Das hat Dad auch gesagt.«
»Ernsthaft, Nick. Nacktbaden?« Sie versucht die missbilligende Mutter zu spielen, aber sie ist nicht so überzeugend wie Dad, wirkt eher wie eine Schauspielerin, die von ihrem Text gelangweilt ist. »Wir haben alle schon genug, mit dem wir fertig werden müssen. Ich will mir nicht auch noch Sorgen um dich machen müssen.«
Da ist sie, flimmert zwischen uns auf wie eine Fata Morgana: Dara in Hotpants und Highheels, die Wimpern dick mit Mascara geschminkt, der Staub auf ihren Wangen hinterlässt; Dara, die lacht, immer lacht, und uns sagt, wir müssten uns keine Sorgen machen, ihr passiere nichts, sie trinke nie, selbst wenn ihr Atem nach Vanillewodka riecht; Dara die Schöne, die Beliebte, das Problemkind, das alle lieben – meine kleine Schwester.
»Dann lass es«, sage ich unverblümt.
Mom seufzt und setzt sich mir gegenüber. Sie sieht aus, als wäre sie seit dem Unfall um hundert Jahre gealtert. Ihre Haut ist kalkweiß und trocken und die Tränensäcke unter ihren Augen sind gelblich blau. Auf ihrer Kopfhaut sieht man den Haaransatz. Einen Moment habe ich den schlimmsten, gemeinsten Gedanken: Kein Wunder, dass Dad uns verlassen hat.
Aber ich weiß, dass das unfair ist. Er hat uns verlassen, noch bevor alles so beschissen geworden ist. Ich habe es tausend Mal zu verstehen versucht, aber es gelingt mir immer noch nicht. Hinterher – das hätte ich verstanden. Als Dara Metallstifte in die Kniescheiben bekam und schwor, dass sie nie wieder mit mir sprechen würde, und als Mom wochenlang verstummte, anfing, jede Nacht Schlaftabletten zu nehmen, und morgens zu groggy war, um zur Arbeit zu gehen, und immer mehr Krankenhausrechnungen eintrudelten wie Herbstblätter nach dem Sturm.
Aber warum waren wir vorher nicht gut genug?
»Entschuldige die Unordnung.« Mom macht eine Handbewegung, die den Tisch und die Fensterbank umfasst, die mit Post bedeckt sind, und die Arbeitsplatte, auf der sich ebenfalls Post und Lebensmittel aus einer halb ausgepackten Tasche türmen. »Es ist immer so viel zu tun. Seit ich wieder angefangen habe zu arbeiten …«
»Schon okay.« Ich hasse es, wenn meine Mutter sich entschuldigt. Nach dem Unfall hat sie nichts anderes gesagt als Es tut mir leid. Ich wachte im Krankenhaus auf und sie hielt mich im Arm, wiegte mich wie ein Baby und wiederholte es immer und immer wieder. Als hätte sie irgendetwas damit zu tun gehabt. Zu hören, wie sie sich für etwas entschuldigte, wofür sie nichts konnte, machte mir ein nur noch schlechteres Gewissen.
Ich war diejenige, die gefahren war.
Mom räuspert sich. »Hast du dir schon überlegt, was du in diesem Sommer machen willst, jetzt, wo du wieder zu Hause bist?«
»Was meinst du?« Ich strecke die Hand aus und beiße ein Stück von dem Toast ab. Trocken. Ich spucke es in eine zusammengeknüllte Serviette und Mom tadelt mich noch nicht mal. »Ich habe immer noch meinen Job im Palladium. Ich muss mir nur Daras Auto leihen und …«
»Auf keinen Fall. Es kommt nicht in Frage, dass du wieder im Palladium arbeitest.«
Mom verwandelt sich plötzlich wieder in ihr früheres Ich: in die Schulleiterin einer der übelsten staatlichen Highschools in Shoreline County, die Mutter, die dazwischenging, wenn sich Zwölftklässler prügelten, und Eltern von Schulschwänzern dazu brachte, sich zusammenzuraufen oder sich zumindest mehr Mühe zu geben, so zu tun. »Und Auto fahren wirst du auch nicht.«
Wut steigt kribbelnd in mir auf. »Das ist nicht dein Ernst.« Zu Beginn des Sommers habe ich einen Job im Kiosk des Palladium ergattert, dem Kino im Bethel-Shoppingcenter außerhalb von Main Heights: den einfachsten, stupidesten Job der Welt. An den meisten Tagen ist das ganze Shoppingcenter leer bis auf Kinderwagen schiebende Mütter in Leggings, und selbst wenn sie zum Palladium kommen, bestellen sie nie etwas anderes als Cola Light. Ich muss nichts weiter tun, als da aufzutauchen, und kriege 10,50 Dollar die Stunde dafür.
»Das ist mein voller Ernst.« Mom faltet die Hände auf dem Tisch und hält sie so fest umklammert, dass ich jeden Knöchel sehen kann. »Dein Vater und ich sind der Meinung, dass du diesen Sommer etwas mehr Struktur brauchst«, sagt sie. Erstaunlich, dass meine Eltern nur dann aufhören, sich zu hassen, wenn sie sich gegen mich verschwören. »Etwas, das dich beschäftigt.«
Beschäftigt. Genau wie gefordert ist dieses Wort nichts anderes als Elternsprech für: die ganze Zeit überwacht und zu Tode gelangweilt.
»Im Palladium bin ich beschäftigt«, sage ich, was gelogen ist.
»Du rührst Butter unter das Popcorn, Nicki.« Zwischen Moms Augenbrauen erscheint eine Falte, als hätte jemand gerade einen Daumen auf ihre Haut gedrückt.
Nicht immer, sage ich fast.
Sie steht auf und schnürt ihren Bademantel fester. Mom unterrichtet von Montag bis Donnerstag bei einem Sommerkurs. Da heute Freitag ist, hat sie sich vermutlich nicht die Mühe gemacht, sich anzuziehen, obwohl es schon nach zwei ist. »Ich habe mit Mr Wilcox gesprochen«, sagt sie.
»Nein.« Das Kribbeln ist zu einer ausgewachsenen Panik geworden. Greg Wilcox ist ein gruseliger alter Typ, der Mathelehrer an Moms Schule war, bis er seinen Beruf an den Nagel gehängt hat, um die Leitung des ältesten und erbärmlichsten Vergnügungsparks der Welt zu übernehmen, des Fantasy Land. Weil der Name klingt, als wäre es ein Stripclub, nennen ihn alle nur FanLand. »Du brauchst es gar nicht erst auszusprechen.«
Offenbar hört sie nicht zu. »Greg hat gesagt, das Personal sei diesen Sommer knapp, vor allem nachdem …« Sie bricht ab und zieht ein Gesicht, als würde sie an einer Zitrone saugen, was bedeutet, dass sie beinahe etwas gesagt hätte, was sie nicht sagen soll. »Na ja, er könnte eine zusätzliche helfende Hand gebrauchen. Es wäre körperliche Arbeit, du wärst draußen und es würde dir guttun.«
Ich bin es ziemlich leid, dass meine Eltern mich zwingen, Dinge zu tun, und gleichzeitig vorgeben, es wäre zu meinem Besten.
»Das ist unfair«, sage ich. Beinahe füge ich hinzu: Dara muss nie irgendwas machen, aber ich weigere mich, sie zu erwähnen, genau wie ich mich weigere zu fragen, wo sie ist. Wenn sie so tut, als gäbe es mich nicht, kann ich das auch.
»Ich muss nicht fair sein«, sagt sie. »Ich bin deine Mutter. Im Übrigen findet Dr. Lechmi …«
»Es ist mir egal, was Dr. Lechmi findet.« Ich stoße mich so fest vom Tisch ab, dass der Stuhl über das Linoleum quietscht. Die Luft im Haus ist schwer vor Hitze und Feuchtigkeit. So wird mein Sommer werden: statt bei hochgedrehter Klimaanlage und ausgeschaltetem Licht in Dads freiem Zimmer zu liegen, werde ich das Haus mit einer Schwester teilen, die mich hasst, und in einem uralten Vergnügungspark schuften, der nur von Freaks und alten Leuten besucht wird.
»Jetzt klingst du auch schon langsam wie sie.« Mom sieht völlig erschöpft aus. »Eine reicht, findest du nicht?«
Es ist typisch für Dara, dass sie nicht nur zum Thema, sondern auch zur bestimmenden Kraft eines Gesprächs werden kann, selbst wenn sie gar nicht dabei ist. Solange ich mich erinnern kann, haben mich die Leute immer mit Dara verglichen statt andersherum. Sie ist nicht so hübsch wie ihre jüngere Schwester … schüchterner als ihre jüngere Schwester … nicht so beliebt wie ihre jüngere Schwester …
Das Einzige, worin ich immer besser war als Dara, war das Normalsein. Und Hockey – als wäre es eine Wahnsinnsgrundlage für die Persönlichkeit, einen Ball übers Feld zu treiben.
»Ich bin überhaupt nicht wie sie«, sage ich und verlasse die Küche, bevor Mom etwas erwidern kann. Ich stolpere beinahe über die blöden Gummistiefel im Flur, dann renne ich immer zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinauf. Überall gibt es Anzeichen des Unvertrauten, kleine Einzelheiten, die fehlen oder neu hinzugekommen sind, wie zum Beispiel mehrere Plastikzwergen-Nachtlichter vor Moms Zimmer und ein kahles Stück Teppich im Arbeitszimmer, wo früher Dads potthässlicher Lieblingsledersessel stand, und immer wieder neue Pappkartons voll mit Kram, als würde eine andere Familie langsam ein- oder wir langsam ausziehen.
Wenigstens ist mein Zimmer unberührt geblieben: alle Bücher Rücken an Rücken aufgereiht, die himmelblaue Tagesdecke ordentlich zusammengefaltet und meine Stofftiere von früher, Benny und Stuart, auf den Kissen sitzend. Auf meinem Nachttisch erblicke ich das gerahmte Foto von Dara und mir an Halloween, als ich in der Neunten war; darauf sind wir beide als Gruselclowns verkleidet, und mit unseren grinsenden geschminkten Gesichtern sehen wir fast identisch aus. Ich durchquere schnell das Zimmer und lege den Rahmen mit dem Bild nach unten. Dann überlege ich es mir anders und schiebe das Foto in eine Schublade.
Ich weiß nicht, was schlimmer ist: dass ich wieder zu Hause bin und sich so viel verändert hat, oder dass ich zu Hause bin und sich so viel anfühlt wie vorher.
Ich höre ein vertrautes Knarren über mir. Dara, die in ihrem Dachzimmer umhergeht. Sie ist also doch zu Hause. Plötzlich werde ich so wütend, dass ich irgendetwas schlagen könnte. Das ist alles Daras Schuld. Dara ist diejenige, die beschlossen hat, nicht mehr mit mir zu reden. Es ist Daras Schuld, dass ich mit dem Gefühl herumlaufe, eine Bowlingkugel in der Brust zu haben, die jeden Moment meinen Magen durchschlagen und meine Eingeweide auf dem Boden verteilen könnte. Es ist ihre Schuld, dass ich nicht schlafen und nicht essen kann und dass mir, wenn ich es tue, sofort übel wird.
Früher hätten wir zusammen über Dads Freundin gelacht und Dara hätte sich einen gemeinen Codenamen ausgedacht, damit wir über sie lästern konnten, ohne dass sie es mitbekam. Früher wäre sie vielleicht mit mir zum Arbeiten ins FanLand gekommen, einfach um mir Gesellschaft zu leisten, damit ich nicht ganz alleine den Alte-Leute-Geruch und die Kleinkindkotze von den uralten Karussells schrubben müsste, und dann hätten wir Wetten abgeschlossen, wer in einer Stunde mehr Gürteltaschen entdeckte oder wer mehr Cola trinken konnte, ohne sich zu übergeben.
Früher hätte sie dafür gesorgt, dass es lustig ist.
Noch bevor ich entschieden habe, was ich zu ihr sagen will, gehe ich zurück in den Flur und die Treppe zum Dachgeschoss hoch. Hier oben ist es sogar noch heißer. Mom und Dad haben Daras Zimmer in der neunten Klasse vom Erdgeschoss unters Dach verlegt, weil sie dachten, so wäre es schwieriger für sie, sich nachts rauszuschleichen. Stattdessen kletterte sie von da an aus dem Fenster und benutzte das alte Rosenspalier als ihre persönliche Leiter.
Daras Zimmertür ist zu. Nach einem Streit hat sie einmal in großen roten Buchstaben ZUTRITT VERBOTEN direkt auf die Tür geschrieben. Mom und Dad zwangen sie, es zu überstreichen, aber je nachdem wie das Licht darauf fällt, kann man die Worte noch unter der Farbschicht Eierschale Nr. 12 durchschimmern sehen.
Ich entscheide mich gegens Anklopfen. Stattdessen stoße ich die Tür auf wie die Polizei im Fernsehen, als rechnete ich damit, dass Dara mich gleich anspringt.
In ihrem Zimmer herrscht wie immer das totale Chaos. Laken und Decke hängen halb vom Bett. Auf dem Boden türmen sich Jeans, Schuhe, paillettenbesetzte Shirts und Neckholder-Tops auf einer Schicht wie aus feinem Laub, bestehend aus Dingen, die sich am Boden einer Handtasche ansammeln: Kaugummipapier, Tic Tacs, Kleingeld, Stiftdeckel, kaputte Zigaretten.
Die Luft riecht noch ganz entfernt nach Zimt: Daras Lieblingsduft.
Aber sie selbst ist weg. Das Fenster steht offen und ein Windhauch bewegt die Vorhänge, bildet Wellenmuster, Gesichter, die auftauchen und wieder verschwinden. Ich durchquere das Zimmer, wobei ich mir Mühe gebe, auf nichts Zerbrechliches zu treten, und beuge mich aus dem Fenster. Wie üblich huscht mein Blick als Erstes instinktiv zu der Eiche, in die Parker früher immer eine rote Fahne hängte, wenn wir zum Spielen rüberkommen sollten und wir eigentlich Hausaufgaben machen oder schlafen mussten. Dann kletterten Dara und ich gemeinsam das Rosenspalier hinunter, wobei wir verzweifelt versuchten, uns das Kichern zu verkneifen, und rannten Hand in Hand zu unserem Geheimplatz, um uns mit ihm zu treffen.
Jetzt hängt da natürlich keine rote Fahne. Aber das Rosenspalier schwankt leicht und mehrere frisch abgerissene Blütenblätter segeln zu Boden. Ich entdecke undeutliche Fußabdrücke im Matsch. Als ich aufblicke, meine ich ein Aufblitzen von Haut zu sehen, einen leuchtend bunten Fleck, ein Flackern dunkler Haare, die sich durch den Wald hinter unserem Haus bewegen.
»Dara!«, rufe ich. »Dara!«
Aber sie dreht sich nicht um.